Der aufmüpfige Knabe - Predigt zu Lukas 2,41-52 von Klaus Pantle
Der aufmüpfige Knabe
Seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest.
Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes.
Als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem und seine Eltern wussten's nicht. Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn.
Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten.
Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: „Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“
Und er sprach zu ihnen: „Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte.
Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen untertan.
Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen.
1
Kommt ein Kind auf die Welt ist die Freude groß. Aber kaum ist des da, beginnen die Probleme. Es wird größer, krabbelt aus dem Nest, entwächst seinen Eltern und versucht ihren Fittichen zu entfleuchen. Nicht nur manchen Eltern in deutschen Großstädten fällt es schwer, ihre Kinder loszulassen. Auch für die Eltern des „göttlichen Kindes“ ist das so.
Anfang Dezember schrieb der Schulleiter einer Stuttgarter Grundschule einen Brief an die Eltern seiner Schülerinnen und Schüler:
„’Persönlichkeit stärken – Gemeinschaft entwickeln’, dieser Leitspruch unserer Schule lässt sich, zumindest im ersten Teil, immer schwerer verwirklichen. Das liegt auch daran, dass Eltern zunehmend Schwierigkeiten haben, loszulassen. So erleben wir täglich, wie viele Eltern ihre Kinder mit dem Auto zur Schule bringen, verkehrswidrig und häufig gefährlich an der Kreuzung und vor dem Haupteingang der Schule parken, Kind und Schulranzen ausladen, den Ranzen teilweise bis ins Klassenzimmer tragen, dem Sohn oder der Tochter die Jacke abnehmen, helfen, die Hausschuhe anzuziehen, die unterschiedlichen Dinge mit der Klassenlehrerin besprechen. Und dies nicht selten nach Beginn des Unterrichts um 7.45 Uhr. … Neben der fehlenden Selbstständigkeit der Kinder kommt es durch die große Zahl der im Haus befindlichen Eltern immer wieder zu Störungen des Unterrichts, etwa durch Elterngespräche vor Unterrichtsende auf dem Flur oder winkende Eltern an den Fenstern.“ Im Gespräch erzählt er: „Bringt ein Kind eine mit einer 2-3 benotete Mathematik-Arbeit nach Hause, auf der der Lehrer vermerkt hat: ‚Wenn du dich noch mehr anstrengst, dann kannst du eine Zwei schaffen‘, dann stehen am nächsten Morgen die Eltern im Klassenzimmer und verlangen eine Erklärung.“
Solche Eltern würden Maria und Josef für ihren Umgang mit Jesus heute vermutlich beim Jugendamt anzeigen.
2
Maria, Josef und ihr Halbwüchsiger pilgern im Kreise ihrer Dorfgemeinschaft am Freitag nach dem ersten Frühjahrsvollmond zum Passafest nach Jerusalem. Wie in jedem Jahr begehen sie dort die rituelle Erneuerung des Auszugs des Volkes Israel aus Ägypten. In der Antike taten ihnen das Abertausende von Juden aus Kleinasien, Mesopotamien, Syrien und Ägypten gleich. Man schloss sich für diese Tour zum Schutz vor Überfällen in Karawanen zusammen. So kamen damals geschätzte 90.000 Feiertags-Touristen in diese Stadt, die normalerweise nur ca. 30-50.000 Einwohnern hatte. Dass die erhebliches Gedränge verursachen, in dem ein zwölfjähriger Knabe schon einmal verloren gehen kann, ist nachvollziehbar.
Jesus verschwindet in den Tempel und diskutiert dort mit Schriftgelehrten. Die Erzählung lässt vermuten, dass Jesus als Sohn des „mittelständischen Bauunternehmers“ Josef von Pharisäern in der jüdischen Tradition unterrichtet worden war. In seinem Alter war er religionsmündig. Der jüdische Historiker Flavius Josephus (ca. 37-100 n. Chr.) berichtet von sich selbst, dass er so gewaltige Fortschritte in seiner Ausbildung gemacht hätte, dass er im Ruf überragender Gedächtnis- und Verstandeskraft gestanden hätte. Schon in seinem 14. Lebensjahr hätte ihn deshalb der Hohepriester wegen seiner Schriftkenntnisse gelobt und hätten die Hohenpriester und Vornehmsten Jerusalems von ihm genauere Auskünfte über einzelne Gesetzesbestimmungen gebeten (Jos.vit. 8-10) „So bleibt die Erzählung von dem Zwölfjährigen, der mit Schriftgelehrten über das Gesetz zu diskutieren verstand, im Rahmen des für die Zeitgenossen Wahrscheinlichen“ (Otto Kaiser). Das Interessante an dieser Geschichte ist der inhaltliche Aspekt. Hier scheint früh auf, was für Jesu späteres Wirken bestimmend wird: Das ist sein Ringen um die richtige Auslegung der Tora. Und es ist die Freiheit, die er sich nimmt, darüber offen zu diskutieren und zu streiten.
Auch Jesu Selbstverständnis als „Sohn Gottes“, das in seiner Antwort auf Marias Vorwurf zum Ausdruck kommt, ist nichts Besonderes. Als Söhne und Töchter Gottes verstanden sich in dieser Zeit alle Jüdinnen und Juden. Als Gotteskind galt jeder, der sich um Gottes Weisheit bemühte, der sich ihr öffnete und nach ihr lebte (Jesus Sirach 6, 18-37). Das Interessante an dieser Geschichte ist die Radikalität und die Konsequenz, mit der Jesus das schon als Knabe tut.
3
Auffällig an dem verbalen Schlagabtausch zwischen Jesus und seinen Eltern im Tempel sind zwei Dinge. Zum einen wird das spannungsvolle Verhältnis Jesu zu seiner Mutter offenbar. Zum zweiten stellt sich die Frage, was Jesus mit seiner geheimnisvollen Entgegnung: „Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ meint.
Die Eltern finden ihren Sohn wieder und die Mutter schaltet sofort in den Vorwurfs-Modus. Der Vater steht stumm daneben. Josef, von dem kein einziges gesprochenes Wort überliefert ist, wird nach dieser Szene nicht mehr erwähnt. Starke Väter stellen sich ihren Söhnen, schwache Väter entziehen sich. Josef, so scheint es, hat nichts zu sagen. Jesu komplizierte Geschichte mit seinen verschiedenen „Vätern“ bleibt in mythisches Dunkel gehüllt. Seine Mutter dagegen bleibt präsent bis zu seinem Tod. Der hier aufscheinende Mutter-Sohn-Konflikt zieht sich durch das gesamte Evangelium. Erst nach Jesu Tod wird Maria „verstehen“. Erst dann bekommt sie ihren mythischen Glanz. Trotz oder vielleicht wegen seines prekären Verhältnisses zu Josef spricht Jesus im Evangelium nur von Vaterliebe und nie von Mutterliebe. Im weiteren Verlauf zitiert Lukas eine Frau aus dem Volk, die Jesu Mutter selig preist: „Selig ist der Leib, der dich getragen hat, und die Brüste, an denen du gesogen hast.“ Kühl entgegnet Jesus: „Ja, selig sind, die das Wort Gottes hören und bewahren“ (Lukas 11, 27-28). Als ihm an anderer Stelle berichtet wird, dass seine Mutter und seine Brüder draußen auf ihn warten, antwortet er lakonisch: „Meine Mutter und meine Brüder sind diese, die Gottes Wort hören und tun“ (Lukas 8, 21). Sprich: Meine wahre Familie sind nicht meine Blutsverwandten, sondern diejenigen, die sich entschieden haben, in der von Gott geschenkten Heilsordnung mit ihrem ethisch-moralischen Bezugssystem zu leben. Jesu Bio-/Patchwork-Familie gibt kein Beispiel ab für eine idyllische „Heilige Familie“. Er pflegt eine ausgesprochen familienkritische Tradition. Von seiner Blutsfamilie hat er sich nicht mit freundlichen Abschiedsworten gelöst, sondern er hat sich losgerissen, Wahlverwandte gesucht und zusammen mit ihnen eine Gegenfamilie gegründet. Im Tempel verhält sich der Vierzehnjährige wie ein arrogantes „Pubertier“. Er ignoriert den Vorwurf der Mutter, dass sie ihn tagelang gesucht und sich Sorgen um ihn gemacht haben. Geradeheraus kanzelt er die Eltern ab: „Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ Die Mutter ist perplex, der Vater sprachlos. Gelingende Kommunikation sieht anders aus. Heile Familie auch.
Was Jesus wegtreibt von seiner Bio-/Patchwork-Familie, das ist die Suche nach seinem „wirklichen Vater“. Es ist die Suche nach dem Vater, der ihn lehrt, wie er leben kann, der ein vollkommenes Vorbild ist und das ihn zur Identifizierung einlädt. Es ist die Suche nach dem Vater, der alles vermag und die Welt heilt und heiligt. Aber wo lässt sich dieser Vater finden?
In der Mitte dieser Erzählung steht das griechische Wort meso, „Mitte“. Im Tempel, „mitten unter den Lehrern“, hat der Zwölfjährige seinen Platz, seine „Mitte“ gefunden. Jesus folgt hier nicht nur der religiösen Konvention, die den „Glanz Gottes“ (Psalm 50, 2) auf dem Berg Zion im Allerheiligsten des Tempels wohnend findet und davon ausgeht, dass Gott die dort gesprochenen Gebete erhört. Aus der Erzählung wird noch etwas anderes deutlich: Jesus sucht und findet „seinen Vater“ in der Diskussion, im Disput - im Ringen um das richtige Verständnis des Gesetzes. Das bezeichnet man zu dieser Zeit als „Weisheit“. Die „Weisheit Gottes“ erweist sich als Erkenntnis der Schrift. Gerade bei den Gesprächen mit den Schriftgelehrten, den „Weisen Israels“, ist Jesus „mitten in dem, was seines Vaters ist“. Gott ist in der Weisheit gegenwärtig. Und in der Weisheit zu sein, bedeutet in dem zu sein, was des Vaters ist. Jesus, der später selbst als menschgewordene Weisheit Gottes bezeichnet wird (1. Kor. 1, 21-25), begibt sich nach dem Zeugnis des Lukas schon als Knabe in freier Entscheidung hinein in den Bezugsrahmen dieser Weisheit. Innerhalb dieses Bezugsrahmens entwickelt er im Laufe seines Heranwachsens Leitideen für ein „erwachsenes“ Leben aus einem freien Verständnis der Tora heraus. Es ist ein Bezugsrahmen, der um die Liebe Gottes zentriert ist. Das von Gott geliebte und auserwählte Kind liebt den Vater wie seinen Nächsten und sich selbst (Lukas 10, 25-28). Sogar der Feind wird einbezogen in diese Liebe (Lukas 6, 27-28). Diese grundlegende Entscheidung wird ihn geradezu zärtlich die Berührung suchen lassen mit den Randständigen und Ausgestoßenen, mit den Armen und Kranken, den Sündern und Huren. Sie lädt er an seinen Tisch und holt sie damit hinein in die lichte Welt Gottes. Dahinter mag die Erkenntnis stehen: „Jedes Wissen muss theoretisch bleiben, wenn es nicht zur eigenen Weisheit wird und zur konkreten Berührung führt. Die einzige Lehrerin, die uns auf Dauer wirksam verwandelt, ist die Erfahrung“ (Marica Bodrožić). Im allerersten von Jesus überlieferten Satz scheint schon sein gesamtes Lebensschicksal auf. Im Bekenntnis, in dem sein zu müssen, was seines Vaters ist, zeigt sich seine „Passion“: Sein Passion in Gestalt seiner Leidenschaft für den heilsgeschichtlichen und ethisch-moralischen Bezugsrahmen, der sich aus der göttlichen Weisheit herleitet. Und seine Passion im Sinne von Leidensbereitschaft, sich mit Haut und Haaren dafür einzusetzen. So wird der Sohn tatsächlich zum Gleichnis für den Vater, zur menschgewordenen Weisheit Gottes, bei dem Sein und Handeln nicht auseinander fallen.
Noch einmal kehrt der Knabe mit seinen Eltern nach Hause zurück. Was in den darauffolgenden 18 Jahren bis zu seinem endgültigen Auf- und Ausbruch geschieht ist nicht überliefert. Aber die Fortsetzung folgt. Am Ende geht er noch einmal nach Jerusalem und erfährt die Ablehnung der „Weisheit Gottes“ auf äußerst schmerzhafte Weise.
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Vielleicht wäre es sinnvoll, Kinder gelegentlich Kinder sein zu lassen und nicht ständig zu versuchen, sie zu bremsen und zu lenken, sprich: sie zu erziehen. Sondern als Erwachsene ihnen in ihren Suchbewegungen und in ihrem Entdeckerdrang neugierig zu folgen. Vielleicht wäre es gut, zu versuchen, gelegentlich die Welt mit Kinderaugen zu betrachten und die natürliche Weisheit von Kindern als gottgeschenkt zu begreifen. Wenn Kinder nicht von Erwachsenen entsprechend vorprogrammiert sind, gehen sie beispielsweise vollkommen vorurteilsfrei miteinander um. Ein Kind schert sich nicht um den sozialen Hintergrund oder die ethnische, kulturelle oder religiöse Tradition, der sein Gegenüber entstammt. Menschen, die mit Kindern arbeiten, erfahren jeden Tag, was Verhaltensforscher wissen: Mitgefühl und Gerechtigkeitssinn, Gemeinsinn und der Drang zur Gemeinschaft sind dem Menschen angeboren. „Bereits im Vorschulalter teilen Kinder fair, auch wenn sie sich selber mehr zuschanzen könnten. Sie bestrafen Egoisten sogar dann, wenn es zu ihrem eigenen Nachteil ist und helfen und leiden mit, wenn sie Gleichaltrige in Not sehen. Fast alle Lebewesen ‚verhalten sich im richtigen Moment solidarisch und kooperativ’, schreibt der Verhaltensforscher Frans de Waal. Nämlich dann, wenn keine unmittelbare Konkurrenz und Gefahr droht, wenn Kleinmut und Angst (zum Beispiel der Erwachsenen) gerade keinen Ausgang haben – und sich das Gute ungebremst ausleben kann“ (Werner Bartens).
„Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“ (Matthäus 18, 3) sollte der im Tempel einst aufmüpfige Knabe in seinem späteren Erwachsenenleben einmal seinen Jüngerinnen und Jüngern sagen – in der Hoffnung, dass ihnen dieser Satz helfe, dass ihr Leben gelinge.
Literatur:
Rektor wehrt sich gegen uneinsichtige Eltern, in: Stuttgarter Zeitung 3.12.2014, S. 17
Otto Kaiser, Gottes bedürfen ist des Menschen Vollkommenheit. 40 Predigten aus sechs Jahrzehnten, Gütersloh 2013, S. 108-115
Marica Bodrožić, Mein weisser Frieden, München 2014, S. 66
Werner Bartens, Die gute Seite, in: Süddeutsche Zeitung 24./25./26.12.2014, S. 16