Wechselnde Zeiten - Predigt zu Jeremia 1,4-9 von Matthias Storck
1,4-9

Wechselnde Zeiten - Predigt zu Jeremia 1,4-9 von Matthias Storck

Und des HERRN Wort geschah zu mir: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete,  und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest,  und bestellte dich zum Propheten für die Völker.  Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.  Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR.  Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund.

 

Wechselnde Zeiten

„Kein Wort ist nur das, was das Wörterbuch ihm zuschreibt. Jedes Wort enthält auch die Person, die es ausspricht, die Situation, in der sie es ausspricht und den Grund, warum sie es ausspricht.“ (Vaclav Havel)

Es gibt Worte, die es vermögen, die lärmende Welt für Augenblicke zum Schweigen zu bringen. Ein solches Wort ist das Zwiegespräch zwischen Gott und seinem Propheten Jeremia, einer der innigsten und eindringlichsten Texte der Bibel.

 

Der Himmel hält still

 

Als Kind bin ich gern aus dem dunklen Hausflur unter den freien Himmel gelaufen. Dann sah ich einen Moment lang nichts. Es brauchte Zeit, bis die Augen sich wieder an das Licht gewöhnt hatten. So kam das Dunkel jedes Mal mit über die Schwelle und brachte die ganze Welt aus dem Trott. Nur der Himmel hielt still.

 

Die trotzige Gewissheit, dass Gottes Welt sich mit innigen Gebeten und kleinen Übungen hinters Licht führen ließ, trieb freudige Blüten im kindlichen Gemüt. Dem ehrwürdigen Pfarrhaus am Nordrand von Berlin wuchsen im Sommer Klatschmohn und Stockrosen ins Fenster. Der Himmel türmte Wolkenberge in die platte Landschaft. Der Herbst polterte mit Erntewagen übers Kopfsteinpflaster und fegte in der Abenddämmerung Laub in die Kartoffelfeuer. Der Winter malte zarte Eisblumen an die Fenster, bis auf der Friedhofswiese mit tausend gelben Glocken der Ostertag herbei geläutet wurde. Zwischen Blumenbeeten und ehrwürdigen Linden, auf Streuobstwiesen und Kuhweiden habe ich immer von neuem die leuchtende Partitur des lieben Gottes auswendig gelernt. Ehe das erste Gebet über meine Lippen kam, war die Welt schon voll von Gott. Ich brauchte jedes dieser Bilder, denn Gott schwieg.

Er ließ mich - in Ruhe.

 

V.5: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete…  Ganz anders erging es dem Kind aus gutem Hause, dem Priestersohn aus Anatot. Zwar dürfte das Licht des Glaubens ihm kaum anders in die Kindheit geschienen haben. Auch sein Himmel hielt sicher still. Aber Gott ließ ihn keinen Augenblick in Ruhe.

Zur kargen Überlieferung gesellt sich viel Vermutung.   Als der künftige Prophet geboren wurde, war die große Welt in Unruhe, sie „ordnete“ sich neu, auf Kosten der kleinen Leute.

„Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne / Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt /. Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne / Es wechseln die Zeiten, / da hilft kein Gewalt“, dichtet Bertolt Brecht zeitlos. Ob Assur, Ägypten oder Babylon. Die Weltgeschichte legt keine Pause ein. Nur der Himmel hielt still. Die Menschen sind sich gleich geblieben, wenig mehr als zweieinhalbtausend Jahre wurden dazwischen gezählt.

 

Sonntagsübung

 

Worte und Bilder bewegen und helfen glauben, Menschen erst recht. Am liebsten lernte ich Menschen auswendig, denn ich wollte sie behalten. Ich merkte mir Gesicht und Stimme, Schritt und Schatten, Lachen und Leidenschaft. Manche erfasste ich nur flüchtig in einem Augenblick, andere lernte ich langsam und beständig, mit Herz und Gemüt und Haut und Haaren. Seltsam genau wie ein gutes Gedicht. Manchmal lernte ich übers Ziel hinaus. Einen Konfirmanden mitsamt der Kirchenbank, auf der er saß, einen Posaunenbläser mit der Oberstimme, die er spielte. Die Tochter des Küsters mitsamt dem Mittagsgeläut am Sonntag um zwölf vor einer weißen Hauswand. Während der Gottesdienste, die ich als Pfarrerskind jeden Sonntag besuchen musste, lernte ich die Besucher auswendig. Das ging schnell, denn die saßen alle brav und still in den Bänken wie Modelle im Atelier. Die Seele ist ein guter Fotograf, und diese Übung schärfte mir auf ihre Weise den „Sinn und Geschmack für das Unendliche“(Schleiermacher).

 

„Für immer jung“

 

V.6: Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. Auch mit Gott gleichzeitig zu bleiben ist Übungssache. Diese Wahrheit lernte ich von Bob Dylan. Seine ewig junge Liedzeile buchstabiere ich mir zurecht, wenn ich sie brauche. Meine Menschen von damals leben alle noch. Sie sind zuverlässig und sofort zur Stelle, wenn ich sie suche. Und sie bleiben. Der alte Küster und die fröhliche Organistin, der Chorleiter und der Gastwirt, die Klassenlehrerin und selbst der Bürgermeister. Scharf gezeichnet, bis in die Bewegungen.

V.7: Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete.

Wie anders erging es dem Priesterkind aus Anatoth. Keine Erinnerung, kein Bild, kein Gesicht vermochte ihm beizustimmen oder beizustehen. Gott hat sich in sein Leben hineingeredet.  Seither hat der zum Propheten berufene Jüngling seine beste Zeit damit verbracht, die Hoffnung der Menschen aus Buchstaben und Steinen in lebendige Herzen zu retten. Dafür ist er immer wieder verspottet, beleidigt, gequält und eingesperrt worden. Hätte er besser in den Chor der Hofpropheten eingestimmt?

Den drohenden Mächten und Gewalten der Welt kann niemand auf Dauer ein Schnippchen schlagen.  Es wechseln die Zeiten. Aber die göttlichen Verheißungen sind zeitlos.  Und sie bleiben menschlich. „Seid ihr nicht selbst Fremdlinge gewesen?“ Dann wisst ihr, was zu tun ist. Die Erinnerung wird euch wecken. Geht es den Fremden gut, wird es auch dem Volk gut gehen, das sie beherbergt. „Bessert euer Leben, dann will ich bei euch wohnen“ (Kap. 7,3). Dass der große Gott unter kleinen Leuten in seinem Volk „herbergen“ will, ist und bleibt ein unfassbares Wunder. Wie gibt sich der himmlische Fremdling seinen irdischen Geschwistern zu erkennen? Auch darauf weiß der Prophet eine Antwort.

„Ich werde ihnen ein erkennendes Herz geben“, heißt es an anderer Stelle (Kap.24,7). Das menschliche Herz schlägt die Augen auf und kommt an Gottes Liebe nicht vorbei. Wenn diese Liebe die Menschen erfasst, geht sie in der Liebe zum Nächsten auf. „Wer dem leidenden Geschöpf beisteht, steht dem Schöpfer selbst bei“, sagt Martin Buber. Wer Gott von ganzem Herzen sucht, muss unweigerlich auf Menschen treffen.

 

Wort für Wort

 

V.8: Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR. V.9: Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund.

Die Wahrheit haust nicht in toten Buchstaben.  Sie hat nun einen Namen, der für sie bürgt: Jeremia - in Gott gegründet. Das Wort Gottes wird im Mund des Propheten wahr: ein göttliches Geschehen, es wird Geschichte.  Gottesbegegnungen gibt es nicht zweiter Hand. Gott lässt sich nur Wort für Wort aus der Alltagswelt heraus buchstabieren, immer von neuem. Wer ihn entdeckt, muss ihn zur Sprache bringen - und wird beim Wort genommen. Dabei geht es um die eigene Anschauung, die eigene Freude, den eigenen Ton - nicht zuletzt auch um das eigene Gesicht.  Noch deutlicher sagt es Martin Luther:

„Der Mensch und das Wort Gottes, sie können nicht einander gegenüber stehen. Das eine verwandelt das andere ständig in sich. Entweder der Mensch verwandelt Gott und sein Wort in seine Welt und seine Art. Oder umgekehrt: Gott verwandelt uns in sein Wort.“  Wir werden seine Boten. Aber Wort bleibt Wort und Welt bleibt Welt.

Gottes Sehnsucht

„Du schöpfst die Verheißung nicht aus.“

Jeremia versucht unermüdlich, seine Zuhörer aus der vermeintlichen Geborgenheit und Sicherheit ihrer Gebete aufzuschrecken. Er kennt den Preis jedes Wortes. Nichts von dem, was er sagt, ist zweiter Hand, alles kommt aus dem von Gott entfachten Herzen. Der Prophet will das Wort und die Menschen losreißen von den Trutzmauern falscher Gewissheit und sie vorbereiten auf den drohenden Aufbruch in eine ungewisse, ungesicherte Zukunft. Gott muss mitkommen können. Er selbst muss durchs Tor. Er muss ins Lager. Er muss durchs Feuer. Er muss ins Exil. Wer bei den Menschen wohnen will, muss das Menschsein bis ins Letzte einüben. Auch Gott.

Er bindet sich nicht an eine Stadt. Er bindet sich nicht an einen Altar. Aber er bindet sich fest an das menschliche Herz. „Gottes Sehnsucht ist der Mensch“, schreibt der Kirchenvater Augustinus (354-430) später. Wo der Mensch dem Menschen ein Mensch wird, will Gott wohnen. Dort ist des Herrn Tempel.

Wortfremde

Was aber geschieht, wenn mühsam eingeübte, gehütete und vertraute Worte unerwartet ihren Sinn verlieren? Wenn sie nicht mehr halten können, was sie versprechen? Es gibt Zerreißproben, denen auch fest gefügte Gewissheiten nur schwerlich standhalten. Die äußerste, dunkel lastende Seelennot in den Tagebuchaufzeichnungen Jochen Kleppers (1903-1942) oder auch die dumpfe Angst in Dostojewkijs „Totenhaus“ belegen, wie Worte sehr plötzlich sang- und klanglos, sogar ersatzlos vergehen können. Die Dichterin Anna Achmatowa(1889-1966) beschreibt vielfach solche und ähnliche Erfahrungen:

„...Die Erstarrungen und Schreie/ all meine schlaflosen Nächte/ legte ich in ein stilles Wort/ und ich sprach es vergebens.“

 

Was mag aus dem Propheten geworden sein, in dessen Leben sich Gott selbst von Anfang an Wort für Wort hineingesprochen hat?

Wir wissen es nicht.

Das vertraute Leuchten in den Fenstern des Vaterhauses verliert sich schon an der nächsten Straßenecke. Prophet oder nicht, sofort beginnt die Wortfremde. Ab jetzt ist selbst Gott ein gewagtes Wort. Die Einsamkeit wächst. Der Himmel bleibt als erster daheim. Oft ist die Morgensonne eine kalte Neonstange und der Mond ein Hundertwattgespenst. Jeder Tag hat blinde Flecken. Die Nacht kennt kaum  noch gutes Dunkel. Die Seele wird eine Angstherberge. Bis in die Herzkammern hausen Eisheilige. Die Sehnsucht gefriert. Aber Gott ist oft nur ein einziges Wort weit entfernt.

 

Keimzellen

Was bleibt von den Worten, für die dieser einzigartige Prophet mit der Wahrheit seines ganzen Lebens einsteht?  Worte sind Keimzellen.

„Die Keimzellen eines unabhängigen Lebens sind wie kleine Boote im Ozean der Ohnmacht. Sie werden vom Wellengang hin und her geschleudert. Doch sie tauchen immer wieder auf. Sie sind sichtbare Boten des Überlebens in der Wahrheit“  (Vaclav Havel).

Dieses ermutigende Bild des Bürgerrechtlers und ehemaligen tschechischen Präsidenten ist voller lebendiger Sehnsucht. Aber jedes Wort bleibt auch umlagert von teuer bezahlter, ernüchternder Welterfahrung.

Auch das erschließen die Worte: Die Wahrheit hat immer einen eigenen Lebenslauf. Und zwar lange, ehe sie sich entfaltet. Bevor sie zur Wirkung kommen kann, hat sie einen weiten, oft unsicheren Weg hinter sich, meist voller Mühsal. Immer von neuem muss sie aus dem Ungeordneten ins Ungewisse. Hinnehmen und Hergeben, Jubeln und Verstummen, Tränen und Glück, Streit und Friede, Not und Tod lösen einander ab.

Die eigene Erfahrung lehrt: Es gibt radikale Veränderungen, die ein ganzes Leben umwandeln können. Sie beginnen eher beiläufig und unscheinbar. Man muss sie nur für möglich halten. Man muss sie wahrnehmen und ausprobieren. Und – wie die kleinen Boote im Ozean der Ohnmacht – muss man sich selbst leicht nehmen und loslassen können, auch auf die Gefahr hin, den Halt zu verlieren.