Liebe Gemeinde,
manchmal wünscht man sich einfach ein bisschen Ruhe. Ein bisschen Abstand. Dann braucht es keine Höhepunkte, keine Aufregung. Man sehnt sich nach Normalität.
Ja, vielleicht haben wir genug gesehen, genug erlebt. Das Leben hat uns erschöpft, abgeschliffen. Wir tragen unsere Spuren, wir haben unsere Kraft verbraucht. Wir sind nicht mehr die jungen Wilden. Wir sehnen uns nach der Verlässlichkeit des Alltags. Unsere Lebenshaut borkig gewachsen, gezeichnet von Wind und Wetter - überwachsen mit moosiger Feuchtigkeit - nur in den Furchen noch ein Knistern von Sehnsucht.
Claire Krähenbühl notiert in einem ihrer Gedichte (L' Ecorce/die Rinde):
> La lumière a mangé tout le cru
> des images
> ne reste que l´écorce
>
> das licht bleicht alles grelle
> der bilder
> zurück bleibt nur die rinde
Mose hatte auch genug gesehen. Er, der sein Leben als Findelkind der Tochter des Pharos retten konnte und nur so dem Todesurteil entkam, das der Pharao über die männlichen Säuglinge der Hebräer gesprochen hatte. Er, der im Palast des Pharao aufgewachsen war. Er, der in einem Augenblick der Unbeherrschtheit alles verlor, als er einen ägyptischen Aufseher erschlug. Er, der erleben musste, wie sich sein Volk gegen ihn stellte und er vom Privilegierten zum Verfolgten mutierte.
Er flieht. Er zieht sich zurück ins Private. Heiratet. Hütet die Ziegen. Endlich Frieden.
Mose aber hütete die Schafe Jitros, seines Schwiegervaters, des Priesters in Midian, und trieb die Schafe über die Steppe hinaus und kam an den Berg Gottes, den Horeb.
Und doch, auch wenn die Ruhe eingekehrt ist. Wenn der Alltag gemächlich hinfliesst. Wir das Gefühl haben, es sei endlich wieder überschaubar geworden. Das Leben bleibt durchlässig für das Unerwartete. Bleibt brüchig. Ein Einfallstor für Unvorhersehbares. Und vielleicht stirbt auch die Neugier nicht ganz. Die Sehnsucht nach Leben, das sie nicht bändigen lässt.
Claire Krähenbühl dichtet weiter:
> celle qui rêve devant l´évier
> dit qu´elle voudrait aller
> vers le sauvage elle voudrait
> l´espace alors
> qu´elle monte et descend l´escalier
>
> die da träumt vor dem spültisch
> sagt sie möchte weg
> in die wildnis sie möchte
> den raum doch
> sie läuft treppauf treppab
Und der Engel des HERRN erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde. Da sprach er: Ich will hingehen und die wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt.
Mitten im sandigen und meckernden Alltag begegnet Moses das Ungewöhnliche, das Unerwartete. Er reagiert wie wir alle, wenn uns solches begegnet. Mit Neugier, einer menschlichen, allzumenschlichen Eigenschaft. Das Ungewöhnliche, das den Trott des Vertrauten durchbricht, es weckt unsere Aufmerksamkeit. Aber wie sie so oft, wenn so etwas passiert, ist es nicht einfach, diese Aufmerksamkeit zu halten. Es ist ja auch nicht ganz klar, ob Moses nun wirklich interessiert ist, zu verstehen, was da passiert. Oder ob er nur nachschauen will, was da den Gang des Gewohnten stört. So wundersam wie uns die Rede vom Engel und vom Feuer, das nicht verzehrt uns auch vorkommen mag, Moses sieht sie zunächst nicht. Neugier ist manchmal nur ein Reflex, ein Aufschauen, der sich bald wieder in die Reihen des Altvertrauten eingliedert.
Als aber der HERR sah, dass er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich. Gott sprach: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land! Und er sprach weiter: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Und Mose verhüllte sein Angesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen.
Jetzt wird es spannend. Denn was zunächst nur eine Störung des Alltags ist, die Neugier aufruft, wird sprechend.
Dass uns das, was über das Vertraute hinausweist, aufmerken, vielleicht innehalten lässt, das kennen wir. Dass der Alltag durchbrochen wird und den Blick auf bisher Ungesehenes freigibt, das ist möglich. Aber damit es nicht nur eine kleine Rythmusstörung ist, nach der wir monte et descend l´escalier (treppauf, treppab) weiterfahren, braucht es mehr.
Dafür muss eine Situation sprechend werden. Und zu Mose spricht nicht ein blindes Schicksal, ein dummer oder glücklicher Zufall, sondern Gott selbst.
Und Gott spricht ihn persönlich an. Die zweifache Nennung seines Namens weist darauf hin, dass Gott Mose persönlich meint. Es ist ein Ausdruck der Nähe. Auch wohl Ausdruck dafür, dass Gott weiss, was Moses durchgemacht hat und wo er jetzt steht.
Mit wem er es hier zu tun bekommen hat, schwant Moses erst jetzt. Gott macht mit dem Hinweis, nicht näher zu treten und die Schuhe auszuziehen deutlich, dass wir Menschen im Blick auf ihn immer zurückbleiben. Gottesbegegnung geschieht in Nähe und Distanz. Gott ist der, der aufgebrochen ist zu uns. Gott ist es, der ruft. Er kommt uns nahe, er wendet sich uns zu. Er brennt für uns, aber verzehrt sich nicht darin. So wie der Zufall unvorhersehbar in unser Leben einbricht, so umverfügbar bleibt Gott.
Das was Moses erlebt, ist nicht nur ein glücklicher Augenblick. Keine nette Begegnung im Alltagstrott. Hier begegnet ihm der Grund der Welt selber.
Moses verhüllt sein Haupt. Wenn der Alltag auf einmal durchbrochen wird, wenn sich Wesentliches zeigt, dann können wir ins Staunen, aber auch Erschauern kommen. Wir ahnen in solchen Momenten, dass eine Unterbrechung eine Lebenswende bedeuten kann.
Ich treffe einen Menschen, der mir vorher völlig unbekannt war und der mein Herz so berührt, dass ich ihn nicht vergessen kann.
Mitten in einer alltäglichen Arbeit spüre ich, dass sich etwas verändert.
Plötzlich begreife ich etwas, worüber ich lange schon nachgedacht habe.
Ein Mensch stirbt plötzlich und die gewohnte Ordnung der Dinge zerfällt.
Mose trifft auf Gott. Und Gott, der ihn kennt und persönlich anspricht, stellt sich vor als der „Gott seines Vaters“.
Damit erinnert er Mose an die Geschichte, die Gott längst mit uns Menschen hat. Er erinnert Mose daran, dass sein Vater und dessen Väter doch alle gehofft haben für die Kinder, für die Enkel. Das er eingewoben ist in eine grössere Geschichte. Du mit Deiner Geschichte, deinem Bewahrten und Deinem Scheitern, Du mit Deinem Rückzug ins Private, das kann es doch nicht gewesen sein. Es gibt doch mehr als Deine Geschichte. Ich sehe Dich ja. Dein Leben, Deine Fragen. Aber da war doch noch mehr. Vergiss das nicht.
Und der HERR sprach: Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört; ich habe ihre Leiden erkannt. Und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie herausführe aus diesem Lande in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt, in das Gebiet der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter. Weil denn nun das Geschrei der Israeliten vor mich gekommen ist und ich dazu ihre Not gesehen habe, wie die Ägypter sie bedrängen, so geh nun hin, ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führst.
Gottes Geschichte mit den Menschen ist eine Befreiungsgeschichte. Eine Geschichte, die niemals geendet hat und auch bis heute nicht endet. Es ist seine Geschichte mit uns. Es ist eine konkrete Geschichte mit Namen, Orten und Zeiten. Es ist eine Geschichte der Erwählung, des Suchens und des Findens. Es ist seine Geschichte mit dem Volk Israel, in die er uns mit hinein nimmt. Sie lässt uns nicht in Ruhe. So wie Gott nicht ruht, wenn er unsere Nöte und Sorgen wahrnimmt, wenn sie ihn berühren und bewegen, aufbrechen lassen. Gott nimmt uns mit hinein in diese Geschichte. Er will uns mitnehmen in seine Bewegung. Seine Bewegung, die Zuwendung und Nähe bedeutet. Die Teilen bedeutet von all dem, was uns bedrängt.
Wer wollte bestreiten, dass wir heute genügend Ängste und Sorgen haben, Ängste und Sorgen, die auch weit über unsere privates Glück und unsere privaten Sorgen hinausgehen?
Die Brandherde und Kriege, die Flüchtlingsströme die sie produzieren. Die Gewalt und der Terrorismus. Die Frage nach Gerechtigkeit und einem verantwortungsvollen Umgang mit der zerbrechlichen Schöpfung. Das Gespenst eines wiederkehrenden, egoistischen und kaltblütigen Nationalismus. Wie grausam klingt der Satz: „WIR ZUERST!“?
Wer kann übersehen, dass Millionen von Menschen darauf warten, dass ihre Leiden erkannt, ihr Schreien gehört wird? Und wie zynisch klingt es, wenn die, die sich kümmern, die sich berühren lassen vom Elend und Leid anderer als „Gutmenschen“ bespöttelt werden?
Einen Aufbruch, eine Befreiung, so scheint es, haben wir nötiger denn je. Gott sieht uns mit unserem scheinbar kleinen Leben. Er spricht uns an. Und er sendet uns, wie er Mose sendet. Er will uns braucht uns als Mitarbeiter. Wir können nicht stehen bleiben bei unserem kleinen Horizont, unseren kleinen, privaten Sorgen.
Mose sprach zu Gott: Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe und führe die Israeliten aus Ägypten? Er sprach: Ich will mit dir sein. Und das soll dir das Zeichen sein, dass ich dich gesandt habe: Wenn du mein Volk aus Ägypten geführt hast, werdet ihr Gott opfern auf diesem Berge.
Natürlich haben wir Einwände. Wie Mose. Ist unser Leben nicht zu klein, zu gewöhnlich für die grossen Träume? Was können wir schon bewirken? Werde ich dem gewachsen sein. Lohnt sich das überhaupt?
Immer haben wir das Gefühl, es spräche viel dagegen und unser Leben sei zu klein.
Oder wie Claire Krähenbühl in ihrem Gedicht schreibt:
> vie trop courte et trop lente
> das leben zu kurz und zu langsam
Und die Gefahr besteht, dass wir die Unterbrechung wegwischen, uns wieder dem Alltag zuwenden. Dass wir am Spültisch den Augenblick verträumen und uns nicht aufraffen können.
Mose findet Ausreden. Die plausibel sind. Entweder es liegt an mir oder an anderen. Wenn wir weiterlesen in der Bibel, dann sehen wir, dass Mose auch weiterhin Einwände finden wird. Er hat ja auch schon seine Erfahrungen gemacht. Er weiss, wie brüchig das Leben ist, wie schnell man scheitern kann.
Gott lässt sich davon nicht aufhalten. Er bleibt geduldig. Er bleibt zugewandt. Er geht auf die Einwände Moses ein. Aber Mose bekommt nicht Recht mit ihnen. Gott nimmt seinen Auftrag nicht zurück. Er will Mose helfen. Gott sagt sich selbst zu. Ich werde mit Dir sein. Ich werde Dir Deine Zweifel und Unsicherheiten nicht nehmen. Du musst Dich wagen. So, wie ich, Gott, mich wage in die Welt. Du wirst berührt werden, so wie ich, Gott, vom Schicksal meines Volkes berührt bin. Sie wird Dich in Bewegung versetzen, so wie ich mich immer wieder aufmache zu den Menschen. Meine Kraft wird in Dir sichtbar sein.
Ich weiss, dass Du Bestätigungen haben willst und Sicherheiten. Aber alles, was Du bekommst, wird sein, dass ich bei Dir bin. Ich bin bei Dir, wenn Du lebst. Wenn Du Dich in Deiner Begrenztheit annimmst und mir vertraust. Wenn Du Dir etwas zutraust, so brüchig und unplanbar das Leben auch ist. Ich bin bei Dir, wenn Du nicht davonläufst. Wenn Du Dich den Herausforderungen und Fragen stellst. Und Du wirst sehen, dass Dich das wachsen lassen wird. Ich werde vorangehen und Dich frei machen, zu handeln und zu gehen.
Im neuen Leitbild für Pfarrpersonen, das in der Landeskirche in Zürich vorgestellt wurde, heisst es: Dies ist kein Modell für Helden, sondern für Menschen, die bereit sind, Fehler zu machen.
Gott wählt nicht den Helden. Er achtet und schätzt das Niedrige. Er, der sich in einem kleinen verdorrten Busch dem Mose offenbart, nicht in einem mächtigen und beeindruckenden Baum. Er spricht den gescheiterten Mose an. Er ruft ihn. Er sendet ihn. Er spricht Dich und mich an. Heute.
Dass sich im Alttag so was auftut, dass sich in einem Augenblick so viel zeigt, kann man das glauben?
Mose sprach zu Gott: Siehe, wenn ich zu den Israeliten komme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt!, und sie mir sagen werden: Wie ist sein Name?, was soll ich ihnen sagen? Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde.
Der Widerstand kann hartnäckig sein. Unsere Zweifel sind schwer zu überwinden. Wir lassen uns nur schwer fallen. Selbst wenn Gott sich uns naht. Wenn wir auf den Grund der Welt treffen.
Und noch einmal bekommen wir einen Zuspruch. Gott zeigt sich. Er zeigt sich in seinem Namen.
Ich werde sein, der ich sein werde. Ich werde der sein, der für euch da ist. Ich bin (für euch) da, ich werde (für euch) da sein. In Gottes Namen zeigt sich die Nähe und die Unverfügbarkeit dieses Gottes, der in Moses Alltag hereinbricht und auch uns heute morgen anspricht. Sein Name ist offen. auf die Zukunft ausgerichtet. Wenn wir ihm vertrauen, uns im Glauben auf ihn einlassen, wird er sich zeigen als der, der nahe ist und versteht, als der der vorangeht und verändert, der führt und befreit. Und wir selbst werden uns dabei neu entdecken. Wie Mose bekommen wir keine fertigen Lösungen. Gott macht uns Mut, zu vertrauen und los zu gehen. Darauf zu vertrauen, dass wir wachsen können, dass wir reifen, uns neu erfinden. Dass wir uns auch unserem Scheitern stellen können. Und mit Gott einen Weg der Befreiung gehen Nicht nur für uns, sondern für viele.
Ob wir bereit sind, als Fragende und Suchende unterwegs zu sein? Im Blick auf den Gott, der mitgeht, der vorangeht? „Wer hat uns das denn beigebracht, aus Verunsicherung Freude zu ziehen?“, schrieb Christa Wolf einmal. Und jene Offenheit, jenes Fragen, jenes Vertrauen, sich auch auf das Ungewisse einzulassen, bräuchten wir als Gesellschaft, als Gemeinde wohl mehr alles andere.
Manchmal denken wir:
> vie trop courte et trop lente
> das leben zu kurz und zu langsam
Und geben uns mit dem Offensichtlichen zufrieden.
Dabei ist es nie zu spät, mitten im Alltag den Dornbusch zu finden und in ihm Gott, das Leben selbst.
Amen