[15] So spricht Jhwh:
»Horch! Ein Wehklagen in Rama:
Bitterliches Weinen!
Rachel weint um ihre Kinder,
weigert sich, sich trösten zu lassen
wegen ihrer Kinder - ach, keines ist mehr.«
[16] So spricht Jhwh:
»Versage deiner Stimme das Weinen,
verwehre deinen Augen die Tränen,
denn es wird dir Lohn für deine Arbeit,
Spruch Jhwhs:
deine Kinder kehren zurück aus Feindesland.
[17] Da ist Hoffnung für deine Zukunft,
Spruch Jhwhs:
die Kinder kehren zurück in ihre Heimat.«
[Eigene Übertragung; siehe Anm. unten.]
Liebe Gemeinde!
»Immer / dort wo Kinder sterben / werden Stein und Stern / und so viele Träume / heimatlos«. Mit diesen Worten erinnert Nelly Sachs in ihrem Gedicht ›Fahrt ins Staublose‹ an die Kinder, die der organisierten Inhumanität Nazi-Deutschlands zum Opfer gefallen sind. Sie gelten - Gott sei’s geklagt - heute noch, wenn Kinder vernachlässigt, verprügelt, vergewaltigt werden, verheizt als Kindersoldaten, verbraucht als billige Arbeitskräfte in Steinbrüchen, Bergwerken, Fabriken. Und wieviele Kinder ertrinken im Mittelmeer, ›mare nostrum‹, Europas derzeit größtem Massengrab?!
In welcher Todesgefahr Jesus, das Kind von Maria und Josef, von Anfang an war, davon haben wir heute gehört in der biblischen Geschichte vom ›Kindermord zu Bethlehem‹ (Mt 2,13-18). In der wird an Rachels Weinen und Wehklagen in Rama erinnert. Mag die Geschichte historisch zweifelhaft sein, unzweifelhaft spricht aus ihr die schockierende Wahrheit: Durch Menschenschuld sterben Kinder, bevor sie wirklich leben können. Wo Kinder fehlen, fehlt das Erleben von Anfänglichkeit. Ohne Anfänglichkeit aber gibt es keine Freiheit. Denn frei ist, wer etwas anfangen kann. Mit der Preisgabe von Kindern verachtet die Menschheit ihre Gegenwart, bevor sie sich ihre Zukunft verbaut.
Davor bewahre uns der Himmel!
Dem Himmel sei Dank, es gibt den ›Tag der unschuldigen Kinder‹!
Seit dem 6. Jahrhundert begeht ihn die Christenheit - wenige Tage nach dem Fest der erbärmlichen Geburt Jesu im ärmlichen Stall. Von Region zu Region und je nach christlicher Tradition unterschiedlich. Im Bayerischen soll es den ›Fetzertag‹ geben, an dem Kinder Späße machen wie zum 1. April. Die am 28. Dezember übliche Wahl eines ›Kinderbischofs‹ wurde im Mittelalter auf den ›Nikolaustag‹ vorverlegt. Im Grunde geht es, vom Kind in der Krippe angestoßen, um Kinder als die verletzlichsten, schutzbedürftigsten Menschenwesen: »Stein und Stern und Träume» sollen wieder eine Heimat haben. Statt dorthin verbannt, sollen sie herausgeholt werden aus dem Exil, aus dem Feindesland, aus der unerreichbaren Ferne. Im lauten Wehklagen und bitteren Weinen wird diese Ferne erreicht, näher herangeholt: »Horch! Ein Wehklagen in Rama: Bitterliches Weinen! Rachel weint um ihre Kinder, weigert sich, sich trösten zu lassen wegen ihrer Kinder - ach, keines ist mehr.«
▷ Orgel: Melodie EG 50
Wer ist diese Rachel, diese „Stimme“ in Rama? Nach 1. Mose 29 bis 35 eine der biblischen Erzmütter: Eine hübsche Hirtin, ihr Name: „Mutterschaf“. Jakobs erste Liebe und zweite Frau. Trotz ihrer Eifersucht hilft sie ihrer älteren Schwester, damit Jakob erst morgens merkt, statt mit ihr hat er mit Lea die Hochzeitsnacht verbracht. Doch den jahrelangen Gebärwettstreit mit Lea verliert sie. Rachel: schön, begehrenswert, aber lange Zeit kinderlos. Eine Gotteskämpferin wie Jakob: ständig geht sie Gott um Kindersegen an, doch sie muss sich zunächst mit dem einen Sohn Josef begnügen. Wenn es um den Segen geht, eine Trickserin wie ihr Mann: Beim heimlichen Wegzug stiehlt sie Vater Laban dessen Hausgötter und verhindert mit Hinweis auf ihr Frausein jedes Nachforschen. Doch unüberlegt verflucht Jakob die Person, die Laban bestohlen hat. Deshalb machen Teile der jüdischen Tradition ihn für Rachels Tod verantwortlich: Sie stirbt unter der Geburt ihres zweiten Sohnes Benjamin - in der Wüste, bei Rama, nahe Bethlehem.
Die Erzmutter Rachel wünschte sich nichts sehnlicher als Kinder. Sie starb, als sie ihre letzte „Lebenskraft“ ihrem Kind schenkte. So wurde sie zur Erinnerungsfigur für das ganze Volk Israel, mehr als Sara, Rebekka und andere Frauen eine „Heldin zum Anfassen“ (Christine Ritter). Der Name ›Rachel‹ hat in der jüdischen Tradition Spuren hinterlassen: als Fürsprecherin für alle Nachkommen in Nöten und Gefahren, als prophetische Stimme, als Stimme des zur Toratreue mahnenden und ermutigenden Geistes Gottes selbst. Noch heute ist Rachels Grab bei Rama die meistbesuchte Pilgerstätte im Heiligen Land, vor allem für Frauen, die um Kinder bitten. Zudem gehört Rachels Klage zu den Texten zu ›Rosh ha-Schanah‹, dem jüdischen Neujahrsfest: ein neues Jahr, ein neues Beginnen, Anfänglichkeit pur. So wird ihre Stimme immer noch gehört. Im Blick auf das Exil, in das Israel immer wieder gerät, und die Shoa wird Rachels Klagelied zum poetisch-politischen Totengesang. Auch in der modernen säkularen Lyrik Israels, z. B. bei Rachel Bluwstein und Dahlia Ravikovitch, spielt Rachel eine wichtige Rolle als spezifisch weibliche Identifikationsfigur, subversiv und tragisch. Stefan Zweig rückt Rachel sogar in die Nähe von Hiob: „Rachel rechtet mit Gott“. Thomas Mann schildert in „Joseph und seine Brüder“, wie Rachel ebenso listig wie geduldig auf ihren geliebten Jakob wartet, aber einen schmerzvollen Tod am Wegesrand erleiden muss, weil Jakobs Leidenschaft für Gott größer war als die für seine Frau.
Dabei gilt Rama als der Ort, an dem sich die gesamte judäische Oberschicht mit vielen anderen aus dem Volk Israel zum erzwungenen Wegzug ins Exil sammeln musste, als Jerusalem erobert und im Jahr 587 v. Chr. von den Babyloniern der Tempel zerstört wurde. Israels Kinder sind Rachels Verwandte, Freunde, Nachbarn, ihr eigenes Volk im Exil - um sie weint Rachel bitterlich, ihnen gilt ihr Wehklagen zu Gott. So finden in Rachels Trauer Menschen jüdischen Glaubens ihre eigene wieder. Gleichermaßen erhoffen sie sich Rettung durch Rachels mutiges Eintreten, hinter dem sie Gottes Geist selbst wahrnehmen.
▷ Orgel: Melodie EG 50
Rachel: voller Liebe, List und Leidenschaft für das Leben. Warum weigert sie sich, sich trösten zu lassen? Weil der schnelle Trost ganz und gar unangebracht ist. Denn der gewaltsame Verlust von Menschen, erst recht der von Kindern muss bleibend beunruhigen. Gerade im Weinen über ihren Verlust bleibt die Erinnerung bewahrt an das, was Kinder bedeuten: neues Beginnen, offene Möglichkeiten. Rachels Weigerung hat darum noch eine andere Seite als die unstillbarer Trauer. Sie ist Widerstand. „Mir reicht’s!“ Zuallererst muss ja auch das Ende von Gemeinheit und Gewalt, von Verachtung und Vernichtung verlangt werden. Mit ihren Tränen pro-testiert Rachel für das Leben. Mit ihrer widerständigen, ja widerborstigen Weigerung bietet sie dem Tod die Stirn statt des Nackens. So kehrt sie um zu Gott, zum Leben selbst, zu der Segenskraft, die noch in unseren Verdrehtheiten und Versehrtheiten, Beschädigungen und Begrenzungen waltet. Vor keinem anderen als Gott schüttet sie ja auch ihr Herz aus. Indem sie zu Ende sprechen will, was nicht das letzte Wort behalten soll, vernimmt sie eine große Verheißung: So spricht Jhwh: »Versage deiner Stimme das Weinen, verwehre deinen Augen die Tränen, denn es wird dir Lohn für deine Arbeit, Spruch Jhwhs: deine Kinder kehren zurück aus Feindesland.«
War jetzt schon mit dieser Verheißung zu rechnen? Unverkennbar ist ja der Bruch zwischen Vers 15, der von Rachels Untröstlichkeit handelt, und Vers 16, der die Rückkehr der Betrauerten ankündigt und vorher die Trauernde unvermittelt, ja geradezu barsch dazu auffordert, das Klagelied und den Tränenfluss zu beenden. Der Bruch ist unvermeidbar. Denn aus menschlicher Sicht ist die Verheißung etwas derart anderes, dass sie sich vom Klagelied deutlich und eindeutig unterscheiden muss. So stehen ja auch unsere Gefühle bisweilen gegeneinander, gibt es in unserem Leben unauflösbare Widersprüche. Es ist wie mit dem Schmerz: Ich beklage ihn und verlange sein sofortiges Ende - doch gerade so gehört er zu mir, zu meinem verletzlichen Selbst, ohne ihn, den ich unbedingt und unverzüglich loswerden möchte, wäre ich nicht, der ich bin. In ähnlich widersprüchlicher Weise ist Rachels Trauergesang mit Gottes Lebensverheißung verbunden. So wirkt Gott in der weinenden Rachel - und sie kann auf Gottes andere Stimme achten. Dafür gibt uns der kurze Text Jeremia 31,15-17 drei Anhaltspunkte:
Zunächst handelt es sich um den Teil eines Gedichts, um Poesie also. In der Erzählung kommt es, damit sie verständlich bleibt, auf einen einigermaßen geradlinigen Handlungsverlauf an. Im Gedicht darf sich alles reiben, hart aufeinander treffen, sich widersprechen. Sodann wird das gesamte Gedicht durch ein zweimaliges So spricht Jhwh und ein zweimaliges Spruch Jhwhs, den Ausdrücken für das allgemeine Gotteswort und für die prophetische Gottesrede, zusammengehalten. Auch Rachels Klagelied, ihr Weinen, ja selbst ihre Weigerung, Ruhe zu geben, sind hier mehr als der Ausdruck menschlicher Befindlichkeit, sondern eingebettet in Gottes Wort! Rachels Geschrei - Gott ist es recht! Gott ist ihr gerade darin unendlich nahe! Das gehört zum Unsagbaren zwischen Gott und Mensch, zum Geheimnis des Glaubens.
Schließlich wird hier eine Verheißung ohne Vorbedingung ausgesprochen: als sei das kommende Befreiende schon in dem noch zu Beklagenden enthalten, als müsse das neue Leben nur aus dem Tod erweckt werden. Sonst im Prophetenbuch Jeremia folgt die Rückkehr der Verbannten der Umkehr des Volkes. Hier ist es anders. Hier geht allein die Verheißung voraus, sie trägt die Klage, die Trauer, das Weinen - die Umkehr beginnt. Indem sie Rückkehr in die Heimat verspricht, ermöglicht sie Umkehr zu dem, dem wir Hoffnung auf Zukunft verdanken. Ja, auch in Rachels Klage ist Gott gegenwärtig. Deshalb bedeutet der Bruch keine Zurechtweisung. Umso kraftvoller jedoch fordert der Stimmenwechsel zwischen Vers 15 und Vers 16 zu einem neuen Wahrnehmen auf: Weil Rachel im Recht und Gott schon ganz bei ihr ist, gibt es noch ein anderes Wort für sie. Hat sie darauf schon gewartet? Jedenfalls soll sie es jetzt hören: »Da ist Hoffnung für deine Zukunft, Spruch Jhwhs: die Kinder kehren zurück in ihre Heimat.« Gottes schlechthin unvergleichliches Wort. Das Wort, das wir uns nicht selbst sagen können. Das Versprechen der Rückkehr aus dem Exil, eines vorbehaltlosen, restlosen Neubeginns. Ein solches Wort erheischt, damit der Anfang nicht verpasst wird, eine unbedingte, ungeteilte Aufmerksamkeit. Und verhindert, sich an den eigenen Tränen zu verschlucken, in der Trauer keinen Weg mehr finden zu können.
Trauern ist mehr, als im Abschied zu verharren und den Verlust zu beklagen. Es bedeutet zugleich, im Gedenken an die Toten und so in ihrer Gegenwart zu leben. Wo Gott, in dem auch die Toten aufgehoben sind, in uns lebendig ist, sind sie wie in einer zweiten Gegenwart bei uns, in der „Gemeinschaft der Lebenden und der Toten“. Dann blicken wir gemeinsam in jene Zukunft, in der Gott alle Tränen abwischen und der Tod nicht mehr sein wird (OffJoh 21,4). In diesem Sinn war Rachels bitterliches Weinen, war schon ihre Arbeit beim Aufwachsen und bei der Geburt der Kinder alles andere als umsonst. Es ist immer richtig, sich vor Gott für neues Leben einzusetzen - und für gefährdete, bedrohte Menschen, auf der Seite der Opfer zu stehen, statt die Verbrechen der Täter stillschweigend hinzunehmen. Zwar erfüllt Gott nicht alle unsere Wünsche, aber alle seine Verheißungen (Dietrich Bonhoeffer). So wollen auch wir zu Ende sprechen, was nicht das letzte Wort haben darf. Zugleich rechnen wir damit, dass Gott uns ins Wort fällt. Im Licht der Verheißung, dürfen wir alles anders, im Ende den Anfang sehen.
▷ Orgel: Melodie EG 50
Heute erweist Rachel uns wieder einen wichtigen Dienst. An ihr erkennen wir, wie zu unserem Menschsein das „untröstlich Ungetröstete“ (Andrea Peschke) gehört. Wir sind nämlich ›pathische Existenzen‹. Zwar wollen ›Transhumanisten‹ unsere biologische Ausstattung so verbessern, dass wir bis zu 1.500 (!) Jahre alt werden können. Solcher und anderer Glücksversprechen unserer Zeit zum Trotz: Wir bleiben verwundbar und sterblich, verletzlich und hinfällig. Doch in dieser Welt voller Sieger - wer achtet da schon unserer Verwundbarkeit? Wir selbst scheuen uns davor - und tragen unsere Wunden lieber innen. Dagegen legt ein Wehklagen - wie das der Rachel - die verborgenen Wunden offen und vertraut sie Gottes Erbarmen an.
Für das ›Pathische‹ unserer Existenz steht unverwechselbar Jesus Christus, vom Beginn bis zum Ende seines Lebens. Am Anfang der Stall - am Ende der Galgen. Jesus stellte sich immer wieder an die Seite weinender, bedrängter Frauen. Kraft seiner eigenen Wunden und Schmerzen, kraft seines Rufes: Mein Gott, warum hast du mich verlassen?!, mit dem er am Kreuz auf Golgatha den großen jüdischen Klagepsalm 22 betete, ist Gott uns auch im Leiden und Sterben nah. Seither geht der Sinn unseres Lebens über die bloße Intaktheit unserer Sinne hinaus. Kontrollverlust ist kein Würdeverlust. Wir dürfen einander „zur Last“ fallen. Wir brauchen uns weder zu optimieren noch zu perfektionieren. Auch die Kinder, die Jesus segnete, waren einfach nur Kinder, die die Welt entdecken, die das Anfangenkönnen erproben und in der Welt Platz und Heimat finden wollten.
Mut machte in den Adventstagen diese Meldung: Den Friedensnobelpreis 2014 erhielt die erst 17-jährige Kinderrechtlerin Malala Yousafzai aus Pakistan, auf die ein Taliban-Trupp einen Mordanschlag verübt hatte. In ihrer bewegenden Dankesrede sagte Malala: „Soweit ich weiß, bin ich einfach nur eine engagierte und sture Person, die eine gute Ausbildung für alle Kinder, gleiche Rechte für Frauen und Frieden in jeder Ecke der Welt sehen will.“ Und scherzhaft fügte sie hinzu, sie streite noch mit ihren jüngeren Brüdern: „Ich will, dass überall Frieden ist, aber meine Brüder und ich arbeiten noch daran.“ Malalas 60-jähriger indischer Mitpreisträger Kailah Satyarthi hat es, ähnlich wie Nelly Sachs, in seiner Dankesrede auf den Punkt gebracht: „Es gibt keine größere Gewalt, als unseren Kindern ihre Träume zu verwehren.“ Und denken wir an die junge Frau Tuğçe Albayrak, die zu Tode geprügelt wurde, als sie zwei andere junge Frauen vor Übergriffen in Schutz nahm.
Diese Gewalt hat ihr Recht verloren. Aber sie hat noch Macht. Deshalb steht uns eine Zeit des Weinens bevor. Lassen Sie es mich persönlich sagen: Das jetzt vergehende Jahr 2014 empfinde ich als Schlüsseljahr für die nächsten 100 Jahre. Vor zwei Wochen sind wir bei der Klimaschutzkonferenz in Lima wieder nur bei einem Minimalkonsens gelandet. Die Energiewende wird nur mit halber Kraft in Angriff genommen. Die Endlagersuche brauchte mehr Unterstützung. Wie sollen wir denn unserer wichtigsten Aufgabe gerecht werden, unserer Langfristverantwortung, unseren Nachkommen eine lebenswerte Welt zu hinterlassen?! »Da ist Hoffnung für deine Zukunft, Spruch Jhwhs: die Kinder kehren zurück in ihre Heimat.« Warum tun wir soviel gegen Gottes Verheißung?! So wenig wir sie erfüllen können, so sehr sollen wir uns an ihr orientieren, statt ihr im Weg zu stehen! Noch etwas macht mir große Sorge: Der Ukraine-Konflikt, vor allem aber der IS-Terror im Nahen Osten lässt mich vermuten, dass wir eine jahrzehntelange Friedlosigkeit und Unsicherheit vor uns haben. Schon mit unseren bisherigen Mitteln ließen sich die Nester des Hasses nicht befrieden, die Brandsätze der Brutalität nicht löschen. Hat die Politik des Westens das alles mitverursacht? Wer von einer „Islamisierung des Abendlands“ schwafelt, baut einen Popanz auf. Dafür gibt es weder einen Grund noch ist dieser Irrweg von Vorurteil und Furcht ein Weg für Christen. Der christliche Weg ist, Menschen, vor allem Kindern neue Heimat zu geben, wenn ihre alte Heimat ihnen zur Fremde gemacht wurde. Das wird, keine Frage, gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen bei uns zur Folge haben. Unsere Lebensformen werden zerbrechlicher als je zuvor. Umso mehr brauchen wir die Kräfte, die uns von Jesus Christus, dem gekreuzigten Gott, her zuwachsen.
Eine Lösung ist noch zu entwickeln. Wir brauchen keine weitere ›Hominisierung der Welt‹, die Inbesitznahme von allem und jedem, sondern eine tiefere ›Humanisierung des Menschen‹. Sie beginnt damit, dass wir Kindern in die Augen blicken, ihrem Gespür fürs Anfangen folgen - und in den Augen der Kinder heute die Kinder morgen erkennen. Wer wollte dann garantieren, dass es keine Hoffnung, keine Zukunft gibt?! Im Licht der Verheißung Gottes, das aufging über Rachel, als sie weint um ihre Kinder, wird unser Mut stets eine Spur stärker sein als unsere Furcht. Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. (Psalm 126,5) Weil wir über diese Welt hinaus hoffen, hoffen wir in sie hinein. Amen.
▷ Orgel und Gemeinde: „Du Kind, zu dieser heilgen Zeit…“ - EG 50,1-5
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Anmerkungen:
1. Statt Jhwh bitte Adonaj lesen. Wer eine andere Übertragung als die obige des Predigt-Vf. verwenden will, dem sei die der ›Zürcher Bibel 2007‹ empfohlen, die ebenfalls versucht, die Gedichtform von Jer 31,15-22, dem 6. Gedicht im ›Trostbuch für Ephraim‹, erkennbar zu lassen.
2. Neben den einschlägigen Kommentaren sei verwiesen auf folg. Literatur: Anat Feinberg: Biblische Motive in der hebräischen Dichtung, Freiburger Rundbrief - Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung NF 2/2006, S. 104-110 [‹www.freiburger-rundbrief.de]; Siegfried Herrmann: Die prophetischen Heilserwartungen im Alten Testament, BWANT 85, Stuttgart 1965; Siegfried Herrmann: Jeremia. Der Prophet und das Buch, Darmstadt 1990; Sven Chr. Puissant: Rachel und das Gottesvolk. Ein Vergleich von Jer 31 mit den Genesistraditionen, Heidelberg 2006 [‹http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/6476/›]; Christine Ritter: Rachels Klage im antiken Judentum und frühen Christentum, Leiden u. a. 2003. Mit Chr. Ritter gehe ich davon aus, dass es in Jer 30+31 um die Exilierten aus dem Nordreich im 7. und die aus dem Südreich im 5. Jh. v. Chr. geht. Der Text dürfte aus nach-exilischer Zeit stammen. Der Ort Rama wird in 1. Mose 35,19 zwischen Jerusalem und Bethlehem (Efrata) lokalisiert, in Jer 31,15 dürfte eher angespielt werden auf 1. Sam 10,2, wonach Rachels Grab nördlich von Jerusalem an einer Wegmarke an der Grenze des Stammes Benjamin liegen soll.
3. Aus der Literatur des 20. Jh.s sei hingewiesen auf: Stefan Zweig: Rachel rechtet mit Gott, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1990; Thomas Mann: Joseph und seine Brüder, 15. Aufl., Frankfurt/M. 1991
4. Für den Gottesdienst muss die Predigt gekürzt werden.
5. Für die Liturgie empfohlen wird das wenig bekannte Jochen-Klepper-Lied „Du Kind, zu dieser heil’gen Zeit…“ (EG 50,1-5), dessen Melodie einige Male zwischen den Predigtabschnitten von der Orgel gespielt und nach der Predigt von der Gemeinde gesungen werden könnte. Eine Liedpredigt zu EG 50 bei Hans Joachim Schliep: Mehr als meine Augen sehen - Kronsberger Predigten 3, Saarbrücken 2013, S. 86-91.