Sie ist, wie eine kleine graue Katze – Predigt zu Offenbarung 21,4 von Juliane Rumpel
21,4

Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.    Offenbarung 21,4

Friede sei mit euch und Gnade, von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Sie ist, wie eine kleine graue Katze. Sie kommt, wann sie will, manchmal bleibt sie tagelang weg, manchmal ist sie anhänglich, liegt lange auf meinem Schoß, will gar nicht wieder gehen. Sie ist, wie eine kleine graue Katze. Eine Katze, die ich mir nicht ausgesucht hat, die zu mir kam, ohne, dass ich mitreden durfte, sie war einfach da und ich ahne, dass sie noch lange bleiben wird.

Sie ist, wie eine kleine graue Katze – meine Trauer. Sie kommt, wann sie will, manchmal bleibt sie tagelang weg, manchmal ist sie anhänglich, liegt lange auf meinem Schoß, will gar nicht wieder gehen. Und manchmal, manchmal, da halte ich sie auch fest, die kleine graue Katze, will sie nicht gehen lassen, halte sie fest und lasse den Tränen freien Lauf, den Tränen, von denen ich gar nicht wusste, wie viele ich davon besitze.

Ich weine, weil Du nicht mehr bist. Weil ich Dich für immer verloren habe. Seit Du weg bist, kommt die Katze, seit Du weg bist, kommen die Tränen. Ich weine, weil meine Mutter starb. Ich weine, weil es weh tut, obgleich ich weiß, dass meine Mutter nun dort ist, wo sie ohne Schmerz sein darf, ohne Leid und ohne Tränen. Das weiß ich, das glaube ich – und trotzdem tut es mir weh, trotzdem weine ich, obgleich ich fühle, da, wo meine Mutter ist, der Ort, den ich Gott nenne, da wo sie ist, da werden ihr alle Tränen abgewischt. Jede Träne, die die Krankheit brachte, jede Träne, die ihr ihre Lebensjahre brachten, jede Träne wischt er ihr zärtlich von der Wange. Wie schön! …für sie. Doch für mich, hier, fließen meine Tränen weiter, denn die, die sie abwischte, die die meine Tränen Tag für Tag und Jahr für Jahr abwischte, sie ist nicht mehr und meine Tränen fließen hemmungslos.

Meine Tränen fließen, weil ich unendlich traurig bin und noch nicht so recht weiß, wie es weitergeht. Nur: dass es weitergeht, das weiß ich inzwischen, alles geht weiter, alles geht einfach so weiter, obwohl alles anders ist, geht alles einfach so weiter. Jeden Morgen geht die Sonne auf, jeden Abend geht sie wieder unter. Der Sommer war wieder durchwachsen, der Herbst war wieder golden, der November ist immer noch grau, alles wie immer. Der Bus morgens ist voll, die Schlange an der Kasse ist lang, die Menschen, die immer grüßten, grüßen weiterhin, immer kommen Tage und immer wieder gehen die Tage wieder.

Alles ist wie immer? Nein! Nichts ist wie immer.

Da ist die kleine graue Katze, die kommt, wann sie will und da fehlt die Mutter, die anrief, wann sie wollte. Nichts ist mehr wie immer, denn der Ehemann starb, unerwartet nach jahrzehntelanger Ehe, er war immer da, schraubte und reparierte und tat und machte und nun, ist alles furchtbar still. Nichts ist mehr wie immer, denn die Tochter starb, unerwartet, viel zu früh, noch mitten im Leben, sie lässt ihre Mutter zurück und ihre Tochter, beide haben einander, doch sie, sie haben sie nicht mehr. Nichts ist mehr wie immer, denn die Mutter starb, Anfang des Jahres schon starb und dennoch hört die Tochter noch immer Geräusche im Haus, und sie denkt: Sie ist noch da, meine alte Mutter, gepflegt zuhause bis zum Ende. Nichts ist mehr wie immer, egal wie lange man schon damit rechnete, egal, wie lange der Mann, die Schwiegermutter, die Tochter, der Vater, ganz egal wie lange sie schon nicht mehr sind.

Nichts ist mehr wie immer, denn unsere Liebe ist heimatlos geworden. Unsere Liebe (zu ihnen) hat nun keinen Ort mehr, irrt umher und findet nicht, was sie sucht, unsere Liebe irrt umher, sucht nach ihrer Heimat, irrt und weint und weint und sucht…

Von Zeit zu Zeit findet sie etwas, für einen Moment nur, findet es und hält sich daran fest: den Pullover der Großmutter, sie schlüpft hinein und fühlt sich ihr ganz nahe. Von Zeit zu Zeit findet sie etwas, für einen Moment nur, findet es und hält sich daran fest: das Rezeptbuch der Mutter, sie weiß nun wieder wie der Hefeteig geht. Apfelkuchen kauend ist sie wieder Kind und wieder wischt die Mutter alle Tränen ab. Von Zeit zu Zeit findet sie etwas, für einen Moment nur, findet es und hält sich daran fest: die Drechselbank des Vaters, er kennt fast jeden Handgriff, hatte ihm oft genug zugeschaut, am Ende aber nicht alles gelernt, zu wenig miteinander gesprochen.

Wenn meine Liebe umherirrt, bin ich froh, dass ich weiß, wo ich hingehen kann: Dorthin, wo sie begraben liegt, dorthin, wo er seine letzte Ruhe fand. Und das mach ich nicht nur, mit der grauen Katze im Arm, sondern auch ohne sie, dann wenn Mama Geburtstag hat, dann kaufe ich wie jedes Jahr, einen großen bunten Blumenstrauß. Dann zünde ich wie jedes Jahr eine Kerze an, dann stoße ich wie jedes Jahr mit einem Glas Sekt auf sie an. Mit ihr kann ich nicht mehr feiern, mit ihr kann ich nicht mehr anstoßen, aber auf sie und auf ihr Leben. Dann ist alles wieder ein bisschen wie immer, obgleich doch alles ganz anders ist. Es ist gut, die zu erinnern, die gestorben sind. Es tut gut, ihre Namen zu hören. Es ist gut, der heimatlos gewordenen Liebe wieder Halt zu geben.

Alles ist wie immer und zugleich ist alles anders …Wir wissen, dass die Welt da draußen nicht untergeht, wenn ein Mensch stirbt – aber hier drinnen (auf Herz klopfen) da ist eine Welt zu Ende. Wir wissen, dass die Katze immer seltener kommen wird - aber hier drinnen (auf Herz klopfen) da ist auch die Angst zu vergessen, zu verstummen oder zu erkalten. Wir wissen, dass jeder von uns eines Tages sterben wird - aber hier drinnen (auf Herz klopfen) da ist auch die Freude und die Hoffnung, wieder vereint zu sein, mit denen, die wir jetzt so sehr vermissen wieder vereint zu sein und frei zu sein, frei von Schmerz und Leid, denn dann ist da wieder einer, der die Tränen abwischt

Das glaube und hoffe ich und das wünsche ich uns allen, nicht, weil es uns hilft, leichter zu leben, sondern weil es uns das Schwere ertragen lässt nicht, weil es uns verführt, einfacher zu leben, sondern weil es uns dankbar sein lässt für das, was wir hatten miteinander und weil es uns getröstet auf das zuleben lässt, was wir haben werden, miteinander und mit Gott.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne bei denen, die wir lieben und die wir bei Christus Jesus glauben, unserem Herrn.

Amen

Perikope
26.11.2017
21,4