„Es war einmal ein König“, liebe Gemeinde, „der war krank, und niemand glaubte, dass er mit dem Leben davonkäme. Er hatte aber drei Söhne, die waren darüber betrübt, gingen hinunter in den Schlossgarten und weinten. Da begegnete ihnen ein alter Mann, der fragte sie nach ihrem Kummer. Sie sagten ihm, ihr Vater wäre so krank, dass er wohl sterben würde, denn es wollte ihm nichts helfen. Da sprach der Alte: »Ich weiß noch ein Mittel, das ist das Wasser des Lebens, wenn er davon trinkt, so wird er wieder gesund; es ist aber schwer zu finden.«“
Mit diesen Worten beginnt das Märchen der Brüder Grimm vom „Wasser des Lebens“. Der Fortgang wird spannend, fast verwirrend erzählt. Nach mancherlei Verwicklungen und Gefährdungen bekommt der schwerkranke Vater endlich das Wasser und wird geheilt. Und es gibt anschließend noch weitere Intrigen, ehe der jüngste der drei Söhne endlich die schöne Königstochter heiraten kann, die ihm begegnet war.
Das Wasser des Lebens: Über Jahrtausende hin bewegt uns Menschen die Sehnsucht danach. Niemals mehr ausgetrocknet zu werden vom Durst nach Leben, nie mehr der Krankheit und dem Leid ausgesetzt zu sein, sondern sich erquicken können an diesem wunderbaren Wasser, das Erfüllung und Lebenskraft in sich birgt – ein großer Menschheitstraum!
Schon in der Bibel, nicht erst in Grimms Märchenbuch finden wir ihn – auch in dieser eigenwilligen Begegnung zwischen Jesus und der Frau aus Samaria in der vollen Gluthitze des Mittags. Und wie der Evangelist Johannes uns diese Geschichte erzählt, klingt sie wie ein Märchen. Denn auch die Geschichte der Beiden am Brunnen weiß von der Sehnsucht nach gelingendem Leben, weiß vom Lebensdurst, der sich allen Versuchen zum Trotz nicht stillen lässt, weiß von verqueren Beziehungen und dem großen Wunsch nach wahrem Glück und ungetrübter Lebensfülle. Aber der Weg dahin ist schwer zu finden, sagt der Alte im Märchen – und auch die Frau am Brunnen versteht zunächst überhaupt nicht, wovon Jesus spricht. Sie sieht die Dinge nüchtern und abgeklärt: Sie sieht den Brunnen und den unbekannten Mann, der nichts in den Händen hält, womit er Wasser schöpfen könnte und der unverständliche Worte zu ihr sagt. Natürlich würde sie sofort dieses Wunderwasser haben wollen. Sie könnte sich den mühevollen Weg aus der Stadt heraus sparen. Wasser holen war harte Frauenarbeit. Also: „Gib mir solches Wasser.“
Wie im Märchen geht es auch in der biblischen Geschichte nicht von jetzt auf gleich! Der Alte hätte den drei Söhnen ein Fläschchen vom Wasser des Lebens in die Hand drücken können. Sie hätten auf dem Absatz kehrt gemacht, hätten es ihrem Vater gebracht, und der wäre alsbald geheilt worden. Aber nein: So erzählt man keine Märchen! Die machen meist einen Umweg, der tief in Irrungen und Wirrungen und Herausforderungen hineinführt, die es zu bestehen gilt. Und auch Jesus nimmt jene Frau auf einen Weg mit, der zunächst von lauter Missverständnissen gesäumt ist, ehe sie erkennt, worum es Jesus eigentlich geht. Nein, der kann ihr nicht das märchenhafte „Wasser des Lebens“ geben, das fortan die alltäglichen Mühen erübrigt. Sondern der spricht von etwas ganz anderem, von einer Erfüllung, die all unsere Sehnsucht ans Ziel bringt: „Wer von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten.“
Um Jesus, die Quelle allen Lebens, geht es also – und um uns, wie wir dazu stehen; es geht um eigene Erfahrungen, die alle Kategorien sprengen und uns die große Freiheit der Kinder Gottes erleben lassen. Sich selbst bietet Jesus der fremden Frau dar: sich als den verheißenen Messias, als den, der den Kummer und die Sehnsucht des Herzens stillt, als den, der von sich sagt: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid: Ich will euch erquicken.“
Auch weiterhin wird die Frau zum Jakobsbrunnen gehen müssen, um Wasser zu holen. Doch als sie erkennt, was Jesus wirklich meint, wandelt sich alles für sie: Denn in der Begegnung mit Jesus hat sie viel über sich erfahren, über ihre eigene Suche nach Liebe, nach Glück und Heil. Sie ist endlich zu sich selbst gekommen. Und sie wird von jetzt an anders leben: klarer, eindeutiger, selbstbewusster, freier. Sie wird in Samarien zur ersten Botin Jesu. Denn sie hat das Entscheidende, hat das „Wasser des Lebens“ gefunden: Jesus selbst. Am Ende der Geschichte glauben viele Menschen in der Stadt Sychar an Jesus, den Messias. Ein happy end!
Das mag märchenhaft klingen, liebe Gemeinde. Aber es ist wahr! Die Frau am Brunnen ist eine von uns! Denn auch wir leben von diesem „lebendigen Wasser“. Auch wir erfahren seine Kraft! Und wo, werden Sie fragen? Die Antwort lautet: In unserer Taufe! Da sind wir mit dem Wasser des Lebens hautnah in Berührung gekommen: sind mit ihm gereinigt und belebt worden. Lebendiges Wasser fließt in die Taufschale – und wenn wir einen Täufling, sei es als kleines Kind oder als Erwachsenen, mit diesem Wasser benetzen, dann bringen wir ihn in unmittelbare Beziehung zu Jesus. Und wir glauben daran, dass die Taufe uns Menschen von Grund auf verändert: Nicht mehr wir selbst sind es, sondern Christus lebt in uns. Er ist der tiefe Grund und die Quelle unseres Lebens – allen Gefahren und Bedrohungen zum Trotz.
Nein, das ist nicht magisch verstanden! Es ist auch keine Zauberei! Wasser bleibt Wasser. Aber weil Jesus seine Verheißung dazu gibt, wird die Taufe für uns zum „Wasser des Lebens“. Nicht das Wasser wandelt sich, sondern wir werden gewandelt – wie schon die Frau am Brunnen. Denn wir wissen, wo unser Leben Sinn und Erfüllung findet: in Jesus Christus.
Für die Söhne im Märchen war der Weg nicht leicht zu finden, für die Frau am Jakobsbrunnen galt es eine Menge Irritationen zu beseitigen. Für uns steht der Weg zum „Wasser des Lebens“ offen: Jesus ruft uns in seine Gemeinschaft, in die Gemeinschaft derer, die in seinen Tod und in sein neues Leben getauft sind. So werden wir befähigt, unsererseits für ein geheiltes, erneuertes Leben in dieser Welt einzutreten.
Wir werden, so sagt es Jesus, selbst zu einer Quelle des Lebens, können anderen helfen, dass auch ihr Durst nach Lebensglück und Lebensfülle gestillt wird: können sie auf den Weg zu Jesus mitnehmen und in seinem Auftrag die Wunden heilen, die das Leben geschlagen hat.
Die Taufe hat den Anfang unserer engen Beziehung zu Jesus gesetzt. Das mag für viele von uns Jahrzehnte zurückliegen. Aber die Kraft ist nicht versiegt. Sie hält an. Das „Wasser des Lebens“ wirkt weiter. Jesus ist unter uns lebendig. Immer, wenn ich eine katholische Kirche betrete, finde ich am Eingang das Weihwasserbecken. Dieses Wasserbecken ist eine stumme Einladung für mich, den Finger einzutauchen, ihn zu benetzen, das Kreuzzeichen zu machen und dabei zu sagen: „Ich bin getauft.“ Mehr nicht. Mit diesem einen Satz ist alles gesagt: Ich bin ein neuer Mensch, denn Christus lebt in mir; und ich gehöre zur großen, weltweiten, die Jahrhunderte übergreifenden Gemeinschaft aller Getauften.
Und einst, in Gottes Ewigkeit, ist uns dieses „Wasser des Lebens“ in Hülle und Fülle verheißen. So lesen wir es im letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung des Johannes: „Wen dürstet, der komme; und wird da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst“. Dann sind wir am Ziel angelangt – bei Gott, in seinem Reich. Was für eine wunderbare Aussicht ist das – schön ist sie, märchenhaft schön: Wasser des Lebens! Amen.