Rundfunkgottesdienst
I. Jeden Abend dasselbe Einschlaf-Ritual.
„Mama, mir ist soo langweilig – ich kann nicht einschlafen! Erzähle mir ein bisschen.“ Wir kuscheln uns in die Kissen. Ich schalte die Nachttischlampe aus. Und dann geht es über Gott und die Welt. Warum wir sonntags in den Gottesdienst gehen. Warum wir genau dieses Tischgebet beten und kein anderes. Warum ich an Gott glaube. Ob er jetzt auch da ist. Und warum es trotzdem Unglück in der Welt gibt. Mit den Jahren werden die Fragen immer anspruchsvoller. Immer seltener habe ich eine fertige Antwort darauf. Wir suchen gemeinsam danach. Kinder fragen – zum Glück. Sie fordern ihre Eltern heraus. Was ist euch lebenswichtig? Warum lebt ihr so, wie ihr lebt? Regeln, die zum Leben helfen. Das, was mir lieb und teuer ist, weitergeben – an die, die mir am liebsten und am teuersten sind.
Wenn dich dein Kind morgen fragt: Was sind das für Gebote und Rechte, die euch der Herr, unser Gott, geboten hat? so sollst du deinem Kind sagen: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der Herr führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand. Und der Herr hat uns geboten, nach all diesen Rechten zu tun, …auf dass es uns wohl gehe allezeit und er uns am Leben erhalte, so wie es heute ist. Und das wird unsere Gerechtigkeit sein, dass wir alle diese Gebote tun und halten vor dem Herrn, unserm Gott, wie er uns geboten hat.
II. Das hier war eine Frage an jüdische Eltern.
Und ihre Antwort ist klar. Sie erzählen. Und sie erinnern an die Befreiung ihres Volkes aus der Sklaverei. Freiheit! Frei sein von den Knebeln der Mächtigen. Nicht mehr buckeln müssen. Keine Angst mehr vor den Schlägen der Bewacher. Ihrem ohrenbetäubenden Kommandoton. Nachts machten sie sich auf, auf in die Freiheit. Uralte Erinnerung und zugleich ganz jung und frisch. So frisch, als seien die Eltern gerade eben von Gott durchs Schilfmeer geführt worden. Als sei der Saum ihrer Kleider noch nass. Als hörten sie gerade noch das Geschrei der Krieger, das Hufgetrappel, das wilde Wiehern der Pferde, mit denen die Ägypter ihnen nachgejagt waren.
Wir waren Knechte… und der Herr führte uns aus Ägypten.
Jüdinnen und Juden haben diese Befreiung wie leibhaftig erlebt. Und geben die Erinnerung immer wieder an ihre Kinder und Enkel weiter. Auch an Jesus. Von frühester Kindheit an hat ihn diese Geschichte der Freiheit geprägt. Und damit auch die Regeln der Freiheit. Damit alle in Frieden und Gerechtigkeit leben können. Ihr Auskommen haben, genug für sich und die Kinder.
Uns Christen gehört diese Erinnerung an die Freiheit nicht.
Aber sie ist unsere Wurzel. Sie trägt uns. Die Erinnerung an Gott, der das Leben liebt. Und unsere Freiheit will.
III. 95 Thesen – Am 31. Oktober 1517 schlug Martin Luther seine 95 Thesen zu Ablass und Buße an die schwere Tür der Schlosskirche zu Wittenberg. Wahrscheinlich griff er nicht selbst zum Hammer.
Der Hausmeister übernahm das. Aber nicht Hammerschläge – Worte waren es gegen „die Herrschaft des Geldes über die Menschen“. Gegen die Herrschaft über ihre Gewissensfreiheit. Mit der Macht des Wortes protestierte Luther „gegen die Vorstellung, man könne das Seelenheil mit Geld erkaufen.“
Mit der Not der Menschen auch noch Geschäfte machen. (H. Prantl, Der letzte Rest, in: W. Genazino (Hg.),
Freiheit und Verantwortung. 95 Thesen heute, Stuttgart 2016) Damit fing alles an.
500 Jahre ist das jetzt her. Ein Jahr lang haben wir gefeiert. In Gottesdiensten und Gemeindefesten,
mit Ausstellungen und Vorträgen, mit dem Luther-Oratorium, auf Kirchentagen in Berlin, Wittenberg und in den vielen Reformationsstädten Europas. Denn kaum ein Ereignis in der Geschichte hat unser Leben derart geprägt wie die Reformation. War’s das jetzt? „Außer Thesen nix gewesen?“ (M. Engelmann, L. Veit, Außer Thesen nix gewesen? In: J. Arnold, F. Baltruweit, K. Oxen (Hg.), Reformation erinnern, predigen und feiern. Hannover 2016)
IV. Doch – da war und ist etwas Besonderes in all den Feierlichkeiten:
Zum 1. Mal feiert die Evangelische Kirche nicht allein.
Wie wir hier heute. Gemeinsam mit … haben wir dieses Festjahr begangen. Und so feiern wir auch heute den Festgottesdienst – gemeinsam. Was hat sich verändert? Wir schlagen nicht mehr wie über Jahrhunderte aufeinander ein! Gemeinsam sind wir auf der Suche nach der Wahrheit. Die Unterschiede kehren wir dabei nicht unter den Teppich. Zusammen sind wir ein Leib, sagt Paulus. Wenn ein Körperteil leidet, leiden alle anderen mit; wenn ein Körperteil geehrt wird, freuen sich die anderen alle mit. Wenn sich die Evangelischen freuen, dass ihnen die gute Botschaft Gottes neu erschlossen wurde – mögen sich die Katholiken und die Freikirchen einfach mitfreuen! Umgekehrt: wenn die Katholiken an der Spaltung der Kirchen schmerzhaft leiden – mögen auch die Evangelischen und die Freikirchen diesen Schmerz teilen.
Nicht die Spaltung der Kirchen feiern wir. Vorbei sind hoffentlich endlich die Zeiten, in denen sich die Evangelischen so abgrenzen müssen, als hätten sie allein die Wahrheit für sich gepachtet. Wir feiern das Evangelium – und das gehört den Evangelischen nicht allein. Gott kennt meine Abgründe. Und dennoch geht seine Liebe „wie ein fahrender Platzregen“ (M. Luther) auf mich nieder. Diese gute Botschaft Gottes steht allen offen.
V. Den Schmerz der anderen teilen und sich dann auch mit den anderen freuen können.
Wir geben die alten Feindbilder auf. Und hören zu: wie sehen uns die anderen? Wie haben sie unter uns gelitten? Umkehren. Einen neuen Weg einschlagen. Frei werden und neu aufbrechen zum Anderen. Diesen Weg in die Freiheit sind wir hier gegangen. Was ich vor allem dabei gelernt habe: Wie besonders die kleinen Kirchen noch heute unter den beiden Großkirchen zu leiden haben. Unter Worten wie Schläge. Die 1. These der 95 Thesen Martin Luthers lautet: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht ‚Tut Buße‘, hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.“ Umkehren, sich wieder und wieder auf den Weg in die Freiheit machen. Das verbindet uns Kirchen in der ganzen bewohnten Erde, der „Ökumene“.
VI. „Außer Thesen nix gewesen?“ Doch – da ist noch viel zu reformieren.
Nicht nur meine Kinder suchen Orientierung. Ich selbst brauche sie, jeden Tag neu. Deshalb: Gemeinsam mit anderen zurück an die Quelle gehen – so wie Martin Luther vor 500 Jahren zurück an die Quelle der Bibel ging und sie neu für sich entdeckte. Die Geschichten von der Freiheit entdecken, und sie denen weitererzählen, die uns am liebsten und wichtigsten sind. Zurück an die Quelle der ganzen Bibel. Besonders das Alte Testament lege ich Ihnen ans Herz. Ihm ist nichts Menschliches fremd. Uralte Erfahrung mit Gott und dem Leben und zugleich jung und frisch. Als seien wir Christen zusammen mit dem jüdischen Volk aus der Sklaverei in die Freiheit ausgezogen – und der Saum unserer Kleidung sei noch nass. Zurück an die Quelle - nach Jerusalem. Da, wo alles Entscheidende für uns Christen geschah. Von dort kommt Gottes Weisung für ein Leben in Freiheit. Da hat es Gott gefallen, für uns Mensch zu werden aus Fleisch und Blut. Unser ganzes Leben mit all seinen Fragen und Konflikten findet dort seine Sprache, seinen Ort, seinen Trost. Wenn dein Kind dich morgen fragt, dann findest du dort eine Antwort.
Amen.
Eingangsgebet
Hab Dank, Gott,
für Dein befreiendes Wort!
Hab Dank, dass Du Deine Kirche
immer wieder durch Deinen Heiligen Geist erneuerst!
Ohne Dich wäre Deine gute Botschaft von der Freiheit
längst verloren gegangen.
Aber immer wieder droht Anderes
Dich in den Hintergrund zu drängen:
die Sorge um den Bestand der Kirche,
die Sorge um uns selbst.
Kleinkrämerei macht Dein großartiges Wort
von der Freiheit unglaubwürdig.
Wir bitten Dich:
Vergib uns unser Kreisen um uns selbst.
Öffne unser Herz, mach es weit, um Dich zu loben.
Lass uns Dein Wort so hören,
dass es unser Herz erreicht.
In der Stille bringen wir vor Dich, was uns auf der Seele liegt: ---
Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten,
und du sollst mich preisen.
Fürbitten
Wir beten für eine Kirche,
in der das eine Wort wichtiger genommen wird als viele Wörter,
in der die eine Botschaft mehr zählt als viele Schlagzeilen.
Wir beten für eine Kirche,
die ihre Stimme erhebt im Konzert der Mächtigen
und sich auf die Seite derer stellt,
die in ihrer Ohnmacht Hilfe brauchen.
Wir rufen zu Dir: Herr, erbarme Dich.
Wir beten für eine Kirche,
die Neues annimmt und Bewährtes pflegt,
die Fragen zulässt und Antworten nicht scheut.
Wir beten für eine Kirche,
die in die Welt hinausgeht und sich nicht hinter Mauern versteckt,
die offen ist für viele Strömungen,
aber nicht mit dem Strom schwimmt.
Wir rufen zu Dir: Herr, erbarme Dich.
Wir beten für eine Kirche,
die nach Einheit strebt und nicht nach Einheitlichkeit,
die nach Gemeinsamkeiten sucht und Unterschiede anerkennt.
Wir beten für eine Kirche,
in der der Mensch zählt
und nicht die Menschen gezählt werden,
in der die Liebe gelebt und das Leben geliebt wird.
Wir rufen zu Dir: Herr, erbarme Dich.
Wir beten für eine Kirche,
die nicht nur Gotteshäuser unterhält,
sondern in der Gott ein Zuhause hat,
die sich vom Geist leiten lässt und deren Leitung Geist hat.
Wir beten für eine Kirche,
in der nicht die vom „Dienen“ reden, die Herrschen meinen,
sondern in der der herrscht, der uns dient alle Tage bis an der Welt Ende.
Wir rufen zu Dir: Herr, erbarme Dich
(Nach einem Fürbittengebet von E. Hermann, in: ders., Neue Gebete für den Gottesdienst II, München 2004)