Der gedeckte Tisch zum Reich Gottes - Predigt zu Jesaja 25,6-9 von Ralf Hoburg

Der gedeckte Tisch zum Reich Gottes - Predigt zu Jesaja 25,6-9 von Ralf Hoburg
25,6-9

Im schweizerischen Rundfunk konnte man vor wenigen Jahren unter der Überschrift „Gutes Essen ist wie eine Offenbarung“ ein Interview lesen, das sich mit der Lust am Kulinarischen beschäftigt. Darin war zu lesen, dass „Essen“ geradezu in der postmodernen Genuss-Gesellschaft zu einer „Ersatzreligion“ geworden ist und viele Menschen im stilvollen Essen eine gewisse Orientierung suchen. Und dann kam in dem Interview der Schlüsselsatz, der mich hat aufhorchen lassen: „Gutes Essen ist wie eine Offenbarung. Ich muss in dem einzelnen Moment des Genusses ganz aufgehen können.“ Der schweizerische Gastrokritiker Daniel Böninger geriert sich hier geradezu zum Theologen. Ästhetik und Offenbarung gehen eine Verbindung miteinander ein.

Eine andere Assoziation drängt sich auf: Bis zuletzt wurde auf dem untergehenden Schiff Titanic gefeiert, getanzt und gegessen. Das letzte Essen auf der Titanic bestand in der ersten Klasse aus einem 11 Gänge Menu mit diversen Zwischenspeisen und als Getränk dem „Punch Romaine“. Dieses Menu, das den Genuss während des Untergangs beschreibt, hat in gewisser Weise – weil es dokumentiert ist – Ewigkeitscharakter erhalten. Wer im Internet sucht, findet die Rezepte zum „Nach-Kochen“. Auch die Henkers-Mahlzeit kann in diesem kulturhistorischen Zusammenhang erwähnt werden. Auch hier wird in der Begründung des tieferen Sinnes dieses absurden Brauches eine metaphysische Dimension erkennbar.

In allen beschriebenen Fällen kommt dem Essen ein Verweischarakter zu. Es steht „für etwas“, das mitschwingt, aber das nicht so recht ausgesprochen werden kann: Im einen Fall die Symbiose von Person und Genuss und im anderen Fall die Panik des Untergangs bzw. der Apokalypse und dem Wegsehen vor dem Untergang. Und im Fall der Henkersmahlzeit vielleicht die Bitte um Vergebung.

Dem Essen – oder dem „Mahl“ – haftet etwas merkwürdig Entrücktes, Spirituelles oder Metaphysisches an. Nicht zuletzt gründet auch die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen in ihrem Stiftungsgeschehen in dem letzten Mahl, das Jesus von Nazareth im Kreise seiner Jüngerinnen und Jünger gefeiert hat. Daran anknüpfend erinnert auch das Osterfrühstück, das am Tag der Auferstehung der religiöse Ausdruck der tiefen Freude ist. Das Osterfrühstück ist dann zum Teil gemeinsam mit der Segnung von Speisen bereits sehr früh im christlichen Brauchtum verankert.  Das Fasten in der katholischen Kirche, das die Passionszeit hindurch bestimmt und das „Fastenbrechen“ zu Ostern mit dem opulenten Essen zu Ostern bilden zwei Pole in der religiösen Festkultur. Auch das Judentum und der Islam haben ebenfalls ein religiöses Brauchtum, in dem Speisen und Essen eine Rolle spielen. Das Ende des Ramadan wird durch das Fest des Fastenbrechens (Bayram) begangen. Hier kommen Familie und Freunde zu einem mehrtägigen Feiern zusammen, bei dem gut gegessen wird.

Ist also in der Tat die Genuss-Gesellschaft von heute im Zelebrieren und in ihrem Drang nach „gutem“ und „teurem“ Essen zutiefst religiös ohne es zu merken? Vielleicht geht diese Vermutung doch zu weit, aber dem Religiösen auf die Spur zu kommen, könnte in dem aktuellen Bibeltext aus Jes. 25,6-9 stecken, der der Predigttext für den Ostermontag ist. 

I/

Das Festmahl im Angesicht der Gerichtspredigt

Der Kontext des Predigttextes aus Jes 25,6-9 mutet auf den ersten Blick eher fremdartig an. Der Abschnitt findet sich inmitten der sog. Jesaja-Apokalypse von Kap. 24-27, das über das Weltgericht und den Untergang der Weltmächte handelt. Das Prophetenbuch Jesaja, dessen Text über einen langen Zeitraum ab 800 v.Chr. entstanden ist, setzt in diesen Kapiteln die Gerichtsworte gegen die Völker fort. Der Verfasser dieses Textabschnittes – darin ist sich die Bibelforschung seit langem einig – ist nicht der historische Prophet, sondern ein späterer Autor.

Der Gesamtzusammenhang des Textbereiches von Kap. 24-27 behandelt als Thema das „Gericht“. Geradezu die Negativ-Folie zu dem freudigen Fest in Kap 25,6, das von gutem Wein spricht, malt Kap. 24 vor Augen, wo davon die Rede ist, dass der Wein dahin ist und „der Weinstock verschmachtet, und alle, die von Herzen fröhlich waren, seufzen.“ (Jes. 24,7) Aber warum dieses Gericht und vor allem gegen wen? Während einerseits das Gericht über die gesamte Erde ergeht und alle Bewohner zerstreut und zerstört, wird dann andererseits wieder nur von einer Stadt gesprochen, die zerstört wird.  Die Stadt selbst bleibt unerwähnt und der Leser wird nicht in Kenntnis gesetzt. Die Bibelwissenschaft spricht hier deshalb von der „anonymen Stadt“. Nur kurz wird an einer Stelle dieser Gerichtspassage in Kap. 24 dann über die Gründe gesprochen, wenn es in V. 20 heißt: „denn ihre Missetat drückt sie, dass sie fallen muss und nicht wieder aufstehen kann.“  Diese Stelle verweist auf einen tiefen Zusammenhang im alttestamentlichen theologischen Kontext, nämlich die Abwendung des Volkes von JHWH als Ursache für Gericht und Strafe. Schon die biblische Erzählung der Sintflut (1. Mose 6-8) deutet diesen Zusammenhang an und das Auftreten der Gerichtspropheten führt diese Tradition fort. Die Vorstellung vom Gericht und dem Zorn JHWH’s gehört fest zum Bestand des jüdischen Glaubens. Aus unserer Sicht ist dies eher fremd. 

Vor allem die frühen Propheten Amos, Jeremia und Jesaja zählen – so könnte man es sagen – zu den Analysten der Gesellschaft. Sie sind Seismographen der jüdischen Gesellschaft in der Zeit des frühen Königtums und prangern in ihren Sprüchen und Texten offen und drastisch die Zustände an. Dabei erheben sie den Anspruch, dass aus ihren Worten und auch Zeichenhandlungen JHWH selbst spricht und sie Mund und Gefäß des göttlichen Wortes sind. Sie legitimieren sich durch ihre eigene „Berufung“ und ihre Gerichtsworte sind vor allem eine Anklage an das Volk. In der Gerichtsrede führt JHWH selbst das Wort.  

Wie aber ist nun konkret das „Festmahl“ im Angesicht des Gerichtes zu verstehen?  In Kapitel 25 nimmt der Prophetentext eine völlig andere Wendung. Die Stadt ist zerstört und der Prophet stimmt jetzt das „Danklied der Erlösten“ an. (Kapitelüberschrift Lutherbibel) Die Stadt ist jetzt offensichtlich eine Stadt der Feinde und sie ist zum Steinhaufen gemacht. Das Lesen dieser Zeilen mutet gerade aus der Perspektive der Gegenwart des Jahres 2019 merkwürdig an. Die zerstörten Städte und Dörfer in Syrien, die Kämpfe um die IS-Terror-Milizen und flüchtende Menschen – wer hat diese medialen Bilder nicht irgendwie im Kopf? Und wenn im Text vom Wüten der Tyrannen (Jes. 25.4) die Rede ist, komme ich heute leider nicht umhin auch an die bedenkliche Entwicklung in Israel zu denken, wo plötzlich über neue Gebietsansprüche auf den Golanhöhen nachgedacht wird und in der politischen Landschaft des Staates Israel ein gefährlicher Kurs in Richtung der „Ultraorthodoxen“ beschritten wird. Der Krieg in Palästina ist eine unendliche Geschichte und wer wollte nicht, dass dies endlich im Namen von Religion aufhört? Gleichzeitig kommen dann aber wieder auch beim Lesen des Textes andere Gedanken in den Kopf und die Opfer sprechen aus dem Text. Die „Armen“, die „Schutz in der Trübsal“ erhalten (Jes. 25,4) werden plötzlich mit ihrer inneren Erleichterung wahrnehmbar. Aber ob sie wirklich ein Fest nach der Zerstörung feiern würden? 

 

II/

Das Fest und das Reich Gottes

Von der Bibelwissenschaft wurde der Textabschnitt Jes. 25.6-8 „Orakel“ verstanden bzw. als ein eschatologisches Gedicht, das also in poetischer Sprache verfasst ist und ein Zukunftsbild nach der Vernichtung entwirft. Auch dies ist tief im Selbstverständnis des jüdischen Glaubens verankert. Die Leidensgeschichte des biblischen Volkes Israel, die nach den alttestamentlichen Erzählungen die ägyptische und babylonische Gefangenschaft erlebt hat – von den Progromen in der späteren Geschichte und der Shoa im 20 Jahrhundert einmal abgesehen – lebt aus einem Hoffnungsgedanken.

Dieser Hoffnungsgedanke verwendet in der hebräischen Tradition Bilder, Symbole und Worte. Eines dieser festen Glaubenssymbole ist der Berg. Der Berg ist der Ort, an dem JHWH dem Mose erschienen ist und ihm die Tafeln der 10 Gebote übereignet hat. Es ist ein heiliger Ort – ein Ort der Offenbarung. Und so bezieht sich der Predigttext mit einigen Andeutungen auch auf das Ereignis der Offenbarung gegenüber Mose. Auf dem Berg war Rauch und so konnte der Prophet Moses JHWH nicht sehen. (1. Mose 19). In der Offenbarung, von der nun der Prophet Jesaja erzählt und bei dem es um ein Festmahl geht, wird die Hülle weggenommen (Jes. 25,7) und können -  so darf vermutet werden – alle und so auch die Heiden JHWH sehen. Es ist also eine Offenbarung, die man mit den Worten des Theologen Karl Barth als das „totaliter aliter“ – also den oder das Ganz Andere – bezeichnen kann. Und in Vers 9 komplettiert Jesaja den Gedanken: „Siehe, das ist unser Gott, auf den wir hofften, dass er uns helfe. … Lasst uns jubeln und fröhlich sein über sein Heil.“

Das Kommen des Reiches Gottes ist also in der Vorstellung der hebräischen Bibel verbunden mit einem großen Freudenmahl. Der Begriff kommt in der Geschichte Israels erst mit der Zeit der Prophetie und Apokalyptik auf. In diesem Begriff finden sich gleich mehrere Vorstellungen vereint, von denen das Kommen Gottes zum Endgericht eine der wichtigsten Elemente darstellt. Die jüdische Prophetie deutet in diesem Begriff die Exilsgeschichte Israels und entwickelt gleichzeitig eine Zukunftsvision. Dabei bleibt in gewisser Weise unklar, ob mit dem Begriff des Reiches Gottes zugleich auch ein politisches Verständnis verbunden ist.

 

III/

Ostern und die Überwindung des Todes

An der Vorstellung des Reiches Gottes und seiner Verwirklichung durch die Auferstehung von Jesus Christus trennen sich letztlich die jüdische und die christliche Vorstellung. Hier sind sich die jüdische und islamische Religion im Übrigen einig, dass Jesus von Nazareth nicht der endgültige Messias und damit Gottes Sohn ist, sondern als außerordentlicher Mensch in der Tradition der jüdischen Propheten gesehen werden muss. Ostern – und damit das christliche Bekenntnis der Auferstehung – trennt die semitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam.   

Für Christinnen und Christen ist der gekreuzigte Jesus von Nazareth der Messias und der Christus. Ein Neutestamentler benutzte dafür einmal die Sentenz:  „Die Sache Jesu geht weiter“ und er meinte, dass Jesu Vorstellung vom nahen Reich Gottes mit seiner Auferstehung Bestandteil in der Wirklichkeit der Welt geworden ist. Im Glauben an den Christus des Neuen Testamentes wird mit der Auferstehung am Ostersonntag die Passage des Textes aus Jes. 25,8 wahr: „Er wird den Tod verschlingen auf ewig“.

Mit der Überwindung des Todes – so die Glaubensaussage im Neuen Testament – hat das Reich Gottes „schon jetzt“ begonnen, auch wenn die Wirklichkeit der Welt eher als ein düsteres Szenario erscheint. Und wenn das Reich Gottes in gewisser Weise schon unter uns ist, dann kann auch das große Freudenmahl beginnen. Ich stelle mir dies in einer wunderbaren Landschaft in Szene gesetzt vor. Einer meiner Lieblingsfilme „Erbsen auf halb sechs“ des Filmregisseurs Lars Büchel bringt ein solches Diner am russischen Lagoda-See in Szene. Leuchtende rote Fahnen wehen und man blickt von einem, mit einer weißen Tischdecke geschmückten langen Tisch  auf das Meer, das den Betrachter die Unendlichkeit erahnen lässt.  Obwohl der Tod mit am Tisch sitzt in dieser Szene, erscheint der Tod dennoch als überwunden in der metaphysischen Atmosphäre des kulinarischen Mahls.

Mit dem Oster-Schmaus zelebrieren wir also letztlich den Vorgeschmack des Reiches Gottes und hier gehen dann wirklich Ästhetik und Offenbarung eine Verbindung ein. Dem Grunde nach hatte also der schweizerische Gastrokritiker (was immer das ist) Recht. Im Genuss bekommt der Mensch ein Vorgeschmack auf das Reich Gottes und enthält die Ästhetik einen Hauch von Offenbarung. Es wäre nun wahrscheinlich zu verwegen, die Sitte des „Probier-Häppchens“ zu theologisieren, aber dem Genuss beim Essen sollten wir vielleicht doch manchmal mehr eine theologische Note beigeben, um aus der Schale der Ästhetik den Kern der Offenbarung zu spüren. Wahrscheinlich nicht umsonst definierte der theologische Altmeister des 19. Jahrhunderts Friedrich D.E. Schleiermacher die Religion in seinen Reden als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“.  In diesem Sinne wünsche ich Ihnen genussvolle Ostern. 

Perikope
22.04.2019
25,6-9

Widerstandsfähigkeit – Predigt zu Jesaja 50, 4 – 9 von Helmut Dopffel

Widerstandsfähigkeit – Predigt zu Jesaja 50, 4 – 9 von Helmut Dopffel
50,4-9

Liebe Gemeinde,

vermutlich kennen alle hier die Geschichte vom Palmsonntag. Jesus reitet auf einem Esel durch das Tor in die Stadt Jerusalem. Die Menschen jubeln ihm zu, sie breiten ihre Mäntel auf dem Boden vor ihm aus, winken mit Palmwedeln, singen „Hosianna“, „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn“. Heute wäre es der rote Teppich, die Lichter der Handys, und „We are the champions“. Jesus ist mindestens ein Star, eher aber einer, in dem viele den kommenden starken Mann sehen, durch den die Dinge besser werden. Hoffnung und Enthusiasmus verbinden sich mit ihm. Was für eine schöne Geschichte! – Aber wer genau hinschaut und hinhört, der wundert sich vielleicht, dass er nur einen Esel reitet und nicht hoch zu Roß; der hört das Gemurmel im Hintergrund, der spürt, dass Spannung in der Luft liegt, dass die Stimmung jederzeit umschlagen kann ins Gegenteil, der sieht, wie sich der Himmel zu verfärben beginnt. Denn der Palmsonntag ist das Tor zur Karwoche. „Kar“ bedeutet vermutlich „weinen, sorgen, klagen“. Heute beginnt also die Woche der Klage, des Weinens, der Trauer. Wir wenden uns den unerfreulichen Seiten des Lebens zu, den schweren Themen: Hass und Verrat, Ungerechtigkeit und Lüge, Bosheit und Sadismus, brutale körperliche und seelische Schmerzen, elendes Leiden und Tod. Das wird ja schon in der Bibel drastisch ausgemalt, es ist schwer zu lesen oder hören, es ist, finde ich, noch schwerer anzuschauen auf den mittelalterlichen oder auch modernen Altarbildern, und es ist absolut nicht auszuhalten in der realistischen Darstellung eines Films. Kein Wunder, dass viele Menschen mit diesen Tagen und ihren Geschichten nichts zu tun haben wollen. Kein Wunder, dass sich Jahr für Jahr der Protest gegen die Stille des Karfreitags erhebt, im Namen von cool und happy und geil und Eideidei. Ich bin aber davon überzeugt, dass es uns, unserer Gesellschaft, unserer Kultur gut tut, wenn wir wenigstens einmal im Jahr so innehalten und uns dem Leiden stellen, dem Leiden, das in der Welt ist, dem Leiden, das um uns und in uns ist, dem Leiden, das uns in Jesus entgegen kommt. – Aber wieder: Wer genau hinschaut und hinhört, der sieht und hört noch etwas anderes in all diesem. Etwas, das sich wie ein zarter Glanz durch diese Tage spinnt: Sehet. Welch ein Mensch! Das ist wahre Menschlichkeit. Und mehr: Sehet. Welch ein Gott! So begegnet uns Gott. So etwas wie Wärme und Liebe ziehen sich durch all diese grausamen Geschichten. Die Christenheit hat das in zwei Worte gefasst: Für uns! Für uns und zu unserem Heil! Und eine Kraft ist spürbar, die nicht nur durchs Leiden hindurchträgt, sondern am Ende sich in überirdischem Triumph erhebt: Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? Gott aber sei Dank…

Einige hundert Jahre vor Jesus lebte ein Mensch, von dem wir nichts und doch vieles wissen. Wir wissen nichts über seine Lebensgeschichte. Aber wir wissen viel über sein inneres Leben. Und was er uns da hinterlassen hat, auf einigen wenigen Seiten Text, das ist so beeindruckend und so hautnah, dass es zu uns heute spricht, genauso wie zu den Menschen zur Zeit Jesu und zu Jesus selbst. Vielleicht hat Jesus über diese oder ähnliche Worte nachgedacht, als er auf dem Esel einritt.

 

Predigttext Jesaja 50, 4-9:

„Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich Morgen um Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. - Aber ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mir den Bart ausrissen. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum habe ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen.“

Wie gesagt, wir wissen so gut wie nichts über diesen Menschen. Und doch verstehen wir jedes Wort. Denn wie er haben wir eine Zunge zum Reden, Ohren zum Hören, Haut die Schläge und Streicheln fühlt, ein Gesicht, das sieht, und eine Seele, die wahrnimmt und spürt. Wir sind eben Menschen mit Körper und Seele und allen Sinnen. Diese unbekannte und doch so bekannte Person von damals führt uns hinein in drei Erfahrungen, die sehr unterschiedlich sind und auf den ersten Anschein nicht viel miteinander zu tun haben. Die erste ist die des Morgens. Der Morgen kann einen Zauber haben. Der Morgen kann den Tag öffnen. Manchmal wache ich auf am Morgen, und Dinge sind klar geworden, die am Abend und in der Nacht verworren waren. Manchmal wache ich auf am Morgen und bin ganz geborgen nach unruhiger Nacht. „Er weckt mich Morgen um Morgen“. Gott öffnet das Ohr und redet. Wie? Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Gottes Stimme akustisch, äußerlich hören kann. Zumindest ist mir das noch nie passiert, und wenn, würde ich schwer ins Grübeln über mich kommen. Aber ich bin sicher, dass Gott zu uns redet, auf seine, andere Weise. Und der Morgen ist vielleicht eine bevorzugte Zeit, um diese Stimme Gottes zu hören und zu verstehen, denn am Morgen sind wir offen und aufmerksam. Wie ein Jünger, wie eine Schülerin. Oder könnten es sein. Worauf hören wir, wenn wir mit Gott den ersten Anfang des Tages beginnen? Da ist vielleicht der Wind. Er erinnert nicht nur an den Geist, an Freiheit und Geborgenheit, sondern bläst ihn in die Seele. Da sind Kinderstimmen: Leben, dessen Zukunft auch von uns abhängt. Lebensfreude schwingt zu mir herüber: So schön ist die Schöpfung. Die Müllabfuhr: Menschen, die schwer und schmutzig und im Halbdunkel für uns andere arbeiten. Da ist dieses Wort in meinem Kopf, ich weiß nicht woher es gerade kommt, vielleicht ein Bibelvers, eine Liedzeile, ein Zitat, das zu mir spricht und dem Tag eine Stimmung und eine Orientierung gibt. Der Mensch neben mir: Eine Liebeserklärung ganz nah und von ganz oben. Und der Wecker: Es ist Zeit, den Tag zu beginnen. So könnte es sein, von Gott geweckt zu werden. So könnte sein Wort in unser Ohr dringen. Und was und wie immer es ist, eine Botschaft bleibt: Er ist da. Er passt auf mich auf. Er denkt an mich und ist bei mir und spricht zu mir, selbst wenn ich ihn vergesse im Trubel des Tages. Welch ein Glück. Unser Leben als Christen ist eine Übung im Hören. Ich erinnere mich an Schul- und Studienzeiten, in denen ich so war, ganz Ohr, ganz aufmerksam, und es erschloss sich mir eine neue Welt.

Und dann, nach dem Morgen, die Erfahrungen des Tages. Die Übung des Hörens hat Sinn und Ziel, und das ist nicht unser eigenes Wohlbefinden. Der Unbekannte formuliert: Mit den Müden zur rechten Zeit zu reden, und auch sie zu wecken. Was da am Morgen geschieht ist mehr als nur ein Auftrag. Wir werden befähigt. Aus dem Hören kommt das rechte Reden mit den Menschen, die müde sind. Das ist meistens nicht lustig. Es ist nicht einfach, denn gerade müde Menschen sind es müde zuzuhören, den guten Ratschlägen, Aufmunterungen, Lösungsvorschlägen. Für all das sind sie einfach – zu müde.  Wenn Jesus sagt: Kommt her zu mir alle, die ihr müde seid und belastet: Ich will euch erquicken – dann ist das zwar ein Auftrag, aber kein Allheilmittel. Da beginnt oft schon die Passion. Gelingen kann es dann, wenn wir Worte finden, in denen wir nicht den Sachverhalt klären, die Lösung aufzeigen, sondern Worte, auf denen wir uns selbst hinübertragen lassen zum anderen, so dass er oder sie etwas von uns spüren kann, unsere Aufmerksamkeit, unsere Nähe, unsere Wertschätzung und Liebe. Da öffnet sich vielleicht ein Ohr und eine Seele. Manchmal. Und dann „fällt ein Tropfen von dem Regen der aus Wüsten Gärten macht.“ Jesus konnte das. Und doch hat auch er sich an der „Herzenshärtigkeit“ der Menschen aufgerieben.

Und schließlich noch die Erfahrungen der Dunkelheit. Nicht nur bleibt das Reden erfolglos und findet kein Gehör. Wenn Menschen, die Gottes Stimme gehört haben, versuchen, Licht in die Dunkelheit zu tragen, dann provoziert das offenbar. Und so erzählt der Unbekannte von damals, wie es ihm heimgezahlt wurde. Verprügelt wurde er, bespuckt, die Haare wurden ihm ausgerissen, und er wurde übel beleidigt. Heute würden wir sagen: Ein böser Übergriff, ein schwerer Fall von Mobbing.  Die Ursachen bleiben unklar. Das ist bei Mobbing oft so. Klar ist aber, dass er für Gott seinen Kopf hingehalten hat, für das Leben, das Licht und die Wahrheit. Spannend und hilfreich finde ich, wie er davon erzählt. Er tut nicht, was naheliegt: Er klagt nicht, er resigniert nicht, er schlägt nicht wild um sich, und er verherrlicht oder bagatellisiert das Leiden auch nicht. Stattdessen erzählt er von seiner Widerstandskraft. Durchaus mit ein bisschen Stolz und großem Selbstbewusstsein. Er gibt sich nicht geschlagen. Er geht nicht zurück. Er bietet den anderen die Stirn. Hart wie Kieselstein hat er sein Gesicht gemacht. Kennen Sie das Gefühl, dieses Gefühl im Gesicht? Hart! Es gibt Situationen, da ist das notwendig. Und trotzdem erfüllt es mich, so gut ich es nachvollziehen kann, mit Unbehagen. Härte ist immer gefährlich. Was macht es mit uns und anderen, wenn wir immer in der Rüstung rumlaufen? Wie Siegfried, der Drachentöter, dessen Haut unverwundbar war. Zwei liebe Menschen habe mir einmal ein kleines Gebet geschenkt: „Wenn wir in Drachenblut baden, schick uns ein Lindenblatt, dass wir verwundbar bleiben.“

Nein, der Weg ist ein anderer. Woher kommt denn diese Widerstandskraft, diese Fähigkeit, standhalten zu können? Die Psychologen sagen, innere Widerstandskraft komme aus Selbstgewissheit und einem guten Netzwerk von Familie und Freunden.  Und ein bisschen ist es unerklärlich. Wie wahr. Aber dieser Unbekannte, der uns erzählt, der hat kein Netzwerk, auf das er sich stützen könnte.  Und woher kommt sein Selbstbewusstsein? Ich glaube, dass da die drei so unterschiedlichen Erfahrungen, die des Morgens, die des Tages, die der Dunkelheit, zusammenfinden. Er schöpft sein Selbstbewusstsein und seine Widerstandskraft nicht einfach aus den unergründlichen Brunnen seiner selbst. Gott gibt ihm, was er braucht, weckt, öffnet, hilft, ist nahe, spricht gerecht. Gott ist der Freund auf unserer Seite. Diese Erfahrung macht er nicht nur einmal, sondern“ Morgen um Morgen“. Dass er standhalten kann, das ist ein Zeichen von Gottes Nähe. Daran ändert auch das Leiden, das Mobbing, die Beleidigung nichts. Im Gegenteil: Auch das wird zum Zeichen der Nähe Gottes. Man kann auch im Leid die Nähe Gottes erfahren. Alle Kraft in den Schwachheiten des Lebens kommt von Gott. Das ist unsere Stärke. Aber zugleich liegt darin ein Versprechen. Jedes kleine Glück, jedes Glücksgefühl ist in sich wertvoll und zugleich mehr, nämlich ein Gleichnis, ein Versprechen des Glücks überhaupt ist. Und so ist auch die Kraft Gottes in unserer Schwachheit, die Nähe Gottes im Leiden ein Versprechen, dass einmal alle Tränen abgewischt werden und, wie der Unbekannte mit großer Gewissheit sagt, „ich nicht zuschanden werde“.  Und das bildet Vertrauen, Selbstgewissheit, Gelassenheit, Widerstandsfähigkeit. „Mein Angesicht verbarg ich nicht.“

Aber da ist doch noch ein großer, ungeklärter, unerlöster Rest: Die Schmerzen an Leib und Seele, die dieser Unbekannte erlitten hat, die wir erleiden, die so viele Menschen erleiden seit Jahrtausenden und bis heute weltweit. Da ist die unerhörte, unfassbare Bosheit und Menschenverachtung, die uns immer wieder entgegenschlägt Bleibt dieses Elend und diese Schuld einfach so liegen und schreit ewig zum Himmel? Muss da nicht noch mehr geschehen? Muss Gott nicht mehr tun als barmherzig zu sein und nah? Für uns und zu unserem Heil wird Gott ein Mensch. Das ist die Geschichte dieser Karwoche. Das ist die Geschichte Jesu.

Ein berühmter, auch umstrittener Schriftsteller unserer Zeit, der, für mich hinreißend und überzeugend und beunruhigend, die Ausgezehrtheit und Müdigkeit einer modernen säkularen Kultur und Gesellschaft und ihrer Menschen zeichnet, den ich aber nie in die Nähe des Christentums gestellt hätte, schreibt am Ende seines jüngsten Romans: „Gott kümmert sich tatsächlich um uns, er denkt in jedem Augenblick an uns, und manchmal gibt er uns sehr genaue Weisungen. Seine überschwängliche Liebe, die in unsere Brust strömt, bis es uns den Atem verschlägt, seine Erleuchtungen, seine Verzückungen, unerklärlich angesichts unserer biologischen Natur, unserer Stellung als einfache Primaten sind äußerst klare Zeichen.

Und heute verstehe ich den Standpunkt Christi, seinen wiederkehrenden Ärger über die Verhärtung der Herzen: Da sind all die Zeichen, und sie erkennen sie nicht. Muss ich wirklich zusätzlich noch mein Leben für diese Erbärmlichen geben? Muss man wirklich so deutlich werden?

Offenbar ja.“ (Michel Houellebecq, Serotonin, 2019, S. 335)

Amen.

Liedvorschläge:

EG 452,1-5      Er weckt mich alle Morgen

EG 87, 1-3       Du großer Schmerzensmann

            oder

EG 91, 1-3.6    Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken

EG 275 , 1-4     In dich hab ich gehoffet, Herr.

EG 638, 1-3     Wo ein Mensch Vertrauen gibt

 

Perikope
14.04.2019
50,4-9

Schweige und Höre - Predigt zu Jesaja 50, 4-9 von Antje Marklein

Schweige und Höre - Predigt zu Jesaja 50, 4-9 von Antje Marklein
50,4-9

Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr. Das haben wir vorhin gesungen. Das schöne Morgenlied von Jochen Klepper… (wdh)

Wer hat Ihnen heute morgen das Ohr geweckt? Was war das erste, was ich heute morgen gehört habe? Radio NDR Kultur. Wer war der erste der zu Ihnen, zu euch gesprochen hat, und was hat er / sie gesagt? War es die Mutter beim Frühstück? Ein Telefonat am Morgen? Oder eine Audio- Nachricht bei  Whatsapp?  Oder waren die ersten Worte, die Sie gehört haben, die Begrüßung am Eingang der Kirche?

Wie wichtig ist das erste Hören am Morgen. Es kann meine Stimmung beeinflussen. Wie gut, wenn ich etwas hören kann, eine fröhliche Stimme im Radio, oder Menschen um mich, die zu mir sprechen. Nicht vorstellbar, wenn ich nichts hören würde.

Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr.

Was hören wir alles an einem Tag. Was dürfen, ja was müssen wir alles hören? Ich nehme Sie einmal mit durch ein paar Hörerfahrungen der letzten Tage:

Am Tresen beim Bäcker habe ich die gestresste Verkäuferin gehört. Ich war im Aufzug in einem Seniorenheim und habe das kurze Gespräch zweier Bewohnerinnen gehört. In der U-Bahn haben neben mir eine Mutter und ihr Kind ganz konzentriert ‚Ich sehe was, was du nicht siehst‘ gespielt. In einem Wartezimmer habe ich eine ganze Lebensgeschichte gehört. In einer Kita den Streit zweier vierjährigen Kinder; im Fernsehen eine Frau in Mozambique, die plötzlich die Verantwortung für ihre drei Enkelkinder übernehmen muss nach dem Tod der Tochter in den Fluten. Ich habe gehört, was mir mein Mann über einen Konflikt erzählt hat. Ich habe meine Mutter von früher erzählen gehört. …

Was habt ihr gehört in der letzten Woche? Das Vogelgezwitscher am Morgen? Die Traurigkeit der Freundin nach einem Streit? Das Rauschen der Bundesstraße? Die Krankengeschichte aus der Nachbarschaft? Den Ärger über den fernen Sohn? Den Unmut anderer Ehrenamtlicher über eine frische Auseinandersetzung? Erschütternde Nachrichten aus Palästina?

Unser Ohr muss viel leisten, um all das zu hören. Manchmal hilft, sich taub zu stellen, wenn ich es nicht mehr hören kann. Aber ich frage Sie, ich frage mich: Wie kann ich all das aushalten was ich höre, woher habe ich die Kraft, hin zu hören?

HÖREN wir dazu einen alten Bibeltext, einen Abschnitt aus dem Jesajabuch im 50. Kapitel.

Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen?

Der das schreibt, ist ein Prophet. Er soll handeln im Namen Gottes. Und er muss dabei viel Leid und Schmach aushalten. 

Ein Satz klingt bei mir nach: ‚Gott hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.‘  (wdh)

Der Prophet muss sich viel anhören: Das Volk Israel ist unzufrieden, nach langem Exil muss es wieder im Land Fuß fassen. Das Trauma des Exils sitzt tief. Verzweiflung schlägt dem Propheten entgegen. Das alles ficht ihn an. Er muss sich abhärten, um auszuhalten, was er zu hören kriegt.

Ist das eine Lösung, um auszuhalten was wir alles hören? Uns abhärten, hart werden gegen andere, eine Fassade aufbauen, an der abprallt, was uns zu viel wird?

Ja, wenn der Prophet nur auf das jammernde Umfeld hören würde, könnte er das nicht lange aushalten. Wer nur nach außen ausgerichtet hört, brennt aus. Wer nur sein Ohr bei den Anderen hat, wird irgendwann erschöpft. Wer keine innere Kraftquelle hat, wird krank.

Gott spricht den Propheten von innen an. Gott spricht uns von innen an. Hören Sie das?

Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr.

Es ist Gott, der mich alle Morgen weckt und mir das Ohr öffnet. Nicht der Wecker oder das Handy. Gott. Gott weckt mich alle Morgen und öffnet mir das Ohr. Gott macht es möglich, dass ich höre und handle. Eine steile Behauptung von mir, ich weiß. Kann aber entlastend sein. So ein Perspektivwechsel hilft. Gott ist der erste, der morgens zu mir spricht.

Aber hör ich das? Hören Sie das?

Vielleicht kann ich hören üben. Was höre ich von Gott? Wie spricht er zu mir? Durch wen, durch was spricht Gott zu mir? Melodie hineinspielen Schweige und höre; neige deines Herzens Ohr; suche den Frieden.

Schweige und höre – singen  (aus: freitöne, Nr. 2)

(Melodie wird weiter im Hintergrund gespielt) Die Woche die vor uns liegt, ist die Karwoche. Wir gehen an jedem Tag durch Stationen des Lebensweges von Jesus. Die Stationen seines Leidens, das letzte Abendmahl am Gründonnerstag, die Todesstunde am Karfreitag, die Grabesruhe am Samstag und dann der Jubel am Ostermorgen. Für mich ist das eine Woche, in der ich nach innen hören übe. Hören auf die Bibel, hören auf Gott und sein Wort hinter allem Leid. Ich höre gern Passionsmusik in dieser Woche. Ich höre gern in die Stille einer Andacht hinein, ich höre auch in der Gottesdienstgemeinschaft an diesen besonderen Tagen.

Eine Hörübung für die Karwoche – Schweige und höre. Neige deines Herzens Ohr. Suche den Frieden. (Ende der Musik)

Tun wir das gemeinsam – und jeder für sich in dieser Woche: Hören üben. Und dann, nach der Karwoche, wenn wir das Hören auf Gott neu gelernt habe, dann haben wir auch wieder ein Ohr für andere. Dann können wir auch wieder anderen zuhören, uns der lauten Welt aussetzen. Dann können wir auch wieder reden, vollmundig und überzeugt, wie der Prophet. Dann, nach Ostern, beflügelt von der neuen Lebenskraft, können wir Konflikte ansprechen, Menschen trösten, auch unbequeme Worte sagen und dafür auch Kritik einstecken.  Nach Ostern können wir uns wieder lautstark einsetzen für das Leben in Gottes Welt.

Heute, am Palmsonntag,  möchte ich aus dem Gottesdienst hinausgehen mit den Worten und den Tönen ‚Schweige und höre‘ auf den Lippen und im Herzen. Vielleicht tun wir das gemeinsam.

Literatur: Predigtstudien 2018/2019 1. Halbband S. 208ff

Perikope
14.04.2019
50,4-9

Die unsichtbare Wand - Predigt zu Jesaja 51, 1 + 2 + 4-6 von Ulrich Kappes

Die unsichtbare Wand - Predigt zu Jesaja 51, 1 + 2 + 4-6 von Ulrich Kappes
51,1,2,4-6

Seit Jahrzehnten wird für den Silvestertag unter den sechs Predigtreihen ein Abschnitt aus dem Buch des Propheten Jesaja ausgewählt. Es ist genau gesagt, der sog. „Zweite Jesaja“, der die Tradition der „Ersten Jesaja“ fortsetzt I1I , von dem wir hören. Aus dem 51. Kapitel des Jesajabuches stammt der heutige Predigttext.

Wir hören darin keine Worte zum letzten Tag eines Jahres. Unsere Stimmung, die wir beim Jahreswechsel zumeist haben, bleibt unerwähnt. Es geht aber dennoch um Themen, die zu Silvester gehören: einen Rückblick, eine Übergangssituation und einen Ausblick.

Ich halte es zum Verständnis des Textes für sinnvoll, wenn ich vorab einige wenige Worte über den Autor sage. Der zweite Jesaja, auch „Deuterojesaja“, ist in der babylonischen Gefangenschaft aufgewachsen I2I  und wirkte im letzten Abschnitt des babylonischen Exils, also etwa zwischen 550-540 v. Christus. I3I

Ein Kapitel vor unserem Predigttext (50,5) wird berichtet, dass sich der Prophet einem Gerichtsverfahren unterziehen musste. Danach wandten sich offenbar nicht wenige Juden von ihm ab. Selbstzweifel, ob seine Mission gescheitert war (49,4), ergriffen ihn. War sein Dienst als Prophet umsonst? Die Lieder vom leidenden Gottesknecht entstehen. I4I Er ringt um Gefolgschaft, um Menschen an seiner Seite, die ‚Gott suchen‘, und (mit ihm) „der Gerechtigkeit nachjagen“.

Hört mir zu, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, die ihr den Herrn sucht: Schaut den Fels an, aus dem ihr gehauen seid, und des Brunnens Schacht, aus dem ihr gegraben seid. Schaut Abraham an, euren Vater, und Sara, von der ihr geboren seid. Denn als einen einzelnen berief ich ihn, um ihn zu segnen und zu mehren. Merkt auf mich, ihr Völker, und ihr Menschen, hört mir zu! Denn Weisung wird von mir ausgehen, und mein Recht will ich gar bald zum Licht der Völker machen. Denn meine Gerechtigkeit ist nahe, mein Heil tritt  hervor, und meine Arme werden die Völker richten. Die Inseln harren auf mich und warten auf meinen Arm. Hebt eure Augen auf gen Himmel und schaut unten auf die Erde! Denn der Himmel wird wie ein Rauch vergehen und die Erde wie ein Kleid zerfallen, und die darauf wohnen, werden wie die Mücken dahinsterben. Aber mein Heil bleibt ewiglich, und meine Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen.

Hört mir zu, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, die ihr den HERRN sucht.“ Es ist eine Rede an die, die an der Seite des Knechtes geblieben sind und an der Zukunft Jerusalems festhalten. Ihre Gegenwart ist „Babylon“. Babylon bedeutet, dass die freie Rede eines Propheten gnadenlos mit Gericht und Gefängnis geahndet, ja mit dem Tod bestraft wird. Als ihre Zukunft sehen die Getreuen an einem fernen Horizont Jerusalem. Das bedeutet, die Hoffnung nicht fallen zu lassen und eine zweite Wüstenwanderung zurück nach Judäa nicht zu scheuen. Jerusalem muss neu aus seinen Trümmern entstehen.

Zwischen diesem „jetzt noch in Babylon“ und „morgen oder übermorgen in Jerusalem“ ist der Kompass zur Hand zu nehmen und zu prüfen, ob der Glaube stimmt. Zwei anspruchsvolle Bildworte gebraucht Deuterojesaja.

‚Ihr, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, die ihr den Herren sucht: Schaut den Fels, aus dem ihr gehauen seid und des Brunnens Tiefe, aus der ihr herkommt.“ „Schaut den Fels, aus dem ihr gehauen seid …“

Woran lässt der Prophet denken, was assoziiert er mit diesem Bildwort? Die Deutung ist nicht einfach. Ich meine, dass er an Skulpturen denkt, die aus einer Felswand herausgehauen werden. I5I Ein Bildhauer schlägt aus einem Felsbrocken eine Gestalt heraus. Die Friese der antiken Tempel beispielsweise hatten bisweilen Menschen – und Göttergestalten, die unmittelbar aus dem Stein heraus gehauen wurden. Fertige Statuen von Pharaonen, Königen und Priestern wurden nicht nur nachträglich vor eine Attika gestellt und befestigt, sondern bildeten eine in Stein gehauene Einheit mit der Wand hinter ihnen. Das war höchste Bildhauerkunst.

Schaut den Fels, aus dem ihr heraus gehauen seid …!“ Die „nach Gerechtigkeit streben und Gott suchen“, sind wie aus einem Stein herausgearbeitet. Sie stehen nicht für sich. Sie stehen, indem sie mit dem „Fels“, aus dem sie geschlagen wurden, fest verbunden sind. „Schaut den Fels, aus dem ihr gehauen seid …!“ Was ist nun der „Fels“?

Was steht hinter uns, gibt uns Halt und Standfestigkeit? Ist es Gott? Das liegt nahe, wird doch Gott vor allem als der Fels der Frommen in vielen Psalmen beschrieben. Ist das hier anwendbar? Sind wir aus „Gott“ heraus geschlagen wie aus einem Felsen? Das könnte ich nicht sagen.

Was ist dann mit dem Felsen gemeint, aus dem heraus wir geformt wurden? Was war es, aus dem heraus Abraham gebildet wurde, auf den Deuterojesaja verweist? Ich denke, sein Glaube war sein Fels, sein Glaube an den Gott, der ihn aus Ur wegführte und dann wunderbar in dem neuen Land bewahrte. Uns wird gesagt, dass Glaube eine unsichtbare Wand ist, die uns den Rücken stärkt und Sicherheit gibt.

Das Bildwort sagt uns, dass der Glaube an Gott die Felswand hinter uns ist, die uns hält. Wir sind nicht aus „Lehm und Ton“ herausgeformt wie einst Adam nach der Schöpfungserzählung. Darüber geht der Prophet hinaus. Das passt nicht zu dem, was er seinen Gefolgsleuten sagen wollte. Der Glaube ist ein Fels, der uns vor dem Absturz und Abgleiten schützt. Er lässt uns in Wind und Wetter feststehen. Mit dem Glauben im Rücken, oder „aus dem Glauben herausgehauen“ gewinnen wir Sicherheit und Festigkeit.

Das zweite Bildwort führt uns in eine andere Dimension: ‚Schaut in des Brunnens Tiefe, aus dem ihr gehoben seid‘.

Ich werde an Worte erinnert, mit denen Thomas Mann seiner Romantrilogie „Joseph und seine Brüder“ beginnt: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.“. Thomas Mann fordert die Leser auf, hinabzusteigen in den Brunnen der Vergangenheit, um sich nach diesem Weg in die eigene Vergangenheit neu zu verstehen. Es gelte für die Gegenwart, Orientierung aus der Geschichte zu holen. I6I

Blicken wir in die nähere Vergangenheit zurück, so liegt das Jahr 2018 hinter uns. Es war für uns als evangelische Kirche das Jahr „danach“, das Jahr Eins nach der 500-Jahr-Feier der Reformation. Was ist geblieben? Geblieben ist aus meiner Sicht mehr als eine Äußerlichkeit: wir dachten gemeinsam mit den Katholiken an Luther zurück. Das „Feindbild Luther“, bisweilen zur eigenen Profilschärfung aufgebaut, ist gewichen.

Was bedeutet das „Jahr Eins“ inhaltlich für uns?

Zentral für unseren Glauben ist Luthers Rechtfertigungslehre, von Gott ohne Leistungen und ohne Erfolge angenommen zu sein. Das gleiche gilt für seine Lehre vom Abendmahl, bei dem uns Christus in Brot und Wein real begegnet. Eine Kirche ohne die Begegnung mit Christus über die Brücke von Brot und Wein wird verkümmern. (Meine ich.)

Blicken wir tiefer in den Brunnen der Vergangenheit, so sehen wir, dass sich Generationen von Christen zweitausend Jahre am Neuen Testament ausrichteten. Sie haben vieles falsch gemacht. Das ist wohl war. Es hat aber immer wieder Menschen gegeben, die, von diesem Wort geleitet, die Kirche auf den biblischen Weg zurück brachten. Ja, noch einmal, wir haben Fehler gemacht - was wäre jedoch eine Welt ohne Menschen, die trotz Schwächen und Fehlern immer von neuem den Weg der Liebe zu gehen versuchen?

‚Schaut in den tiefen Brunnen eurer Vergangenheit!‘ Wir sind Teil einer unübersehbaren Kette derer, die den Brunnen Gottes aufsuchen und aus ihm das Wasser des Lebens empfingen.

Im letzten Teil unseres Predigttextes gibt es einen Bruch, der etwas Schockierendes an sich hat. Wir hören Worte, die uns verstören. Ein schlimmes Szenario wird entrollt, bei dem die Welt vergeht, die Erde in Rauch sich auflöst und die Menschen wie die Mücken sterben.

Auf dem Weg dorthin, auf dem Weg in eine neue Welt, die Gott auf den Ruinen der alten Welt schaffen wird, befindet sich das pilgernde Volk Gottes. Die Rückkehr nach „Jerusalem“ ist nur eine Station. Vor diesem düsteren Horizont, den der Prophet entfaltet, wird freilich so etwas wie ein Zielband ausgerollt. Es ist als sollten wir darauf vor allem unsere Augen richten. Auf diesem Spruchband oder Banner schreibt er die Worte: „Lebt in Gerechtigkeit!“

Erinnern wir uns! Gott spricht: „Weisung wird von mir ausgehen, und mein Recht will ich gar bald zum Licht für die Völker machen. Meine Gerechtigkeit ist nahe. Meine Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen.“ Weil Gott in seiner Gerechtigkeit nahe ist, schließt das ein, dass auch seine Menschen in Gerechtigkeit leben I7I, auf Gottes Gerechtigkeit antworten.

Was ist mit Gerechtigkeit gemeint? I8I Was heißt das für uns, die wir auf dieses Ziel hin streben sollen?

„Gerechtigkeit“ drückt für den Hebräer und den Urchristen in der Schule des Paulus eine Beziehung, ein Verhältnis aus. Der „Gerechte“ sucht eine feste Beziehung zu Gott, ein immer neues Verhältnis: „Ich hier und DU, Gott da, aber nichts geschehe ohne Dich.“ Gottes Gerechtigkeit zu entsprechen, heißt in aller Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit ihn nachahmen, ihm gerecht werden.

Gerechtigkeit ist also in erster Linie nicht, Gottes Geboten gerecht zu werden, so wichtig sie als Regel in unserem Leben sind. Gerechtigkeit ist zuerst, Gott als ein Gegenüber zu sehen und dabei seinem Willen gerecht zu werden.

Dieses Leben im Angesicht des gerechten Gottes kann heute das und morgen ein anderes bedeuten, weil Gott von uns heute das und morgen jenes will.

Wir laufen, folgen wir Deuterojesaja, auf das Banner „Lebt in Gerechtigkeit!“ zu. Wir stolpern dabei, wir fallen, wir zweifeln. Wir gehen weg von diesem  Ziel und wählen ein anderes Das ist bitter. Das Banner sagt uns: „Steh wieder auf!“ Gott spricht: ‚Meine Gerechtigkeit ist nahe. Das wird sich immer von neuem als unsere Rettung erweisen.

ANMERKUNGEN

Anm.1  Nach Hans-Jürgen Hermisson: Deuterojesaja. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, 2. Band, Tübingen 1999, Sp. 684-688., Sp. 684.

Anm. 2  Arthur Weiser: Einleitung in das Alte Testament, Berlin 1963, S.177.

Anm. 3  Hermisson Sp. 684. Anders Weiser, S. 182, der Deuterojesaja bis 530 n. Chr. (Eroberung Babylons durch Kyros) datiert.

Anm. 4  Mit Weiser, S. 182.

Anm. 5  Das von mir gewählte Bild ist sehr hypothetisch. Ich stehe dazu. Ulrich Berges überträgt die Metaphorik Fels „Fels und Brunnen“ auf den Schiloahtunnel. Ulrich Berges: Jesaja 49-54. Übersetzt und ausgelegt. Freiburg/Basel/Wien (HThKAT), S. 119.

Anm.6  Es dauert einige hundert Seiten, bis sich nach meinem Dafürhalten der Kreis in dem 1. Band des Romans zum Eingang schließt: „Der Mann (erg. Abraham) hätte zu sich selber sagen können … Es genügt, dass ich irgendeinem Elchen oder Ab- und Untergott diene, es liegt nichts daran. ‘ So hätte er es bequemer gehabt. Er aber sprach: ‚Ich, Abram, und in mir der Mensch, darf ausschließlich dem Höchsten dienen.‘ Damit fing es an. (Dem Joseph gefiel es.)“ Thomas Mann: Joseph und seine Brüder, Berlin und Weimar 1972, S.424.

Anm.  7 „Nicht nur formal, sondern auch semantisch sind die vier Strophen (V1-3.4-5.7-8) eng aufeinander abgestimmt. Alle durchzieht das Leitwort … Gerechtigkeit …, gefolgt von den ebenfalls theologisch zentralen Begriffen …. Tora, … Recht…, Rettung.“ Berges, S. 114.

Anm.  8  Eine kurze, prägnante Darstellung dieses Gerechtigkeitsbegriffes gibt Thomas Schumacher: Der Römerbrief als Wechselspiel philologischer Entscheidung und theologischer Aussage. In: www.bibelwerk.de.

Perikope
31.12.2018
51,1,2,4-6

Wunderbares: im Entstehen begriffen - Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Markus Nietzke

Wunderbares: im Entstehen begriffen - Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Markus Nietzke
9,1-6

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt. Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er's stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth. (Lutherbibel 2017)

I.

„Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort“ heißt es im Weihnachtsevangelium nach Johannes. Immer, wenn Gott spricht, ist Wunderbares im Entstehen begriffen. So war es, als alles anfing. Als Gott sprach: „Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis...“ Da wurde aus Abend und Morgen der erste Tag.  Mal entsteht Wunderbares mit Blitz und Donner und Erdbeben und großem Hagel, wenn ein Kind geboren wird (Offb. 11,19-12,2), mal geschieht es in einer stillen, ja heiligen, Nacht.

II.

In einem Raum mit abgetönten Licht wiegt eine junge Mutter ihr Kind im Arm sanft hin und her. Das Kind schmiegt sich an die Brust der Mutter. Die durch die tägliche Arbeit auf dem Feld rau gewordenen Finger der Frau streifen kurz das Gesicht des Kleinen. Sie hat ihr Kind mit warmen Wasser gewaschen. Alles riecht frisch und neu. Sie wiegt ihr Kind im Arm und leise spricht die junge Mutter auf ihr Kind ein und flüstert: „Aus Dir wird mal ein großer, starker Junge. Du wirst wunderbare Pläne ausdenken! Du bist jetzt schon ein Held. Du sorgst dich um die Deinen. Treu und zuverlässig. Du bist einer, der sich für den Frieden einsetzt. Für Recht und gerechtes Handeln im Reden und Tun. Nicht aus Dir selbst – aus Gott.“ Dann drückt sie das Kind, dass über diese herrlichen Zusagen der Mutter sanft eingeschlafen ist, kurz an sich und legt es in die Wiege. In ihren Augen spiegelt sich die Hoffnung, das durch dieses Kind endlich alles anders werden wird. Die Mutter sagt das, obwohl in unmittelbarer Nähe Stiefel von Soldaten auf der Straße dröhnen, schwer bewaffneten Soldaten mit grauen Mänteln bekleidet eilig vorüberziehen. Angetrieben von  Befehlen von Männern mir grober Stimme. Trotz solch widriger Umstände durch Unterdrückung und Fremdherrschaft: Die Hoffnung bleibt: Durch die Geburt eines Kindes ist Wunderbares im Entstehen begriffen.

III.

So mag es gegenwärtig sein, in Ländern, wo heute keine friedlichen Weihnachten, sondern Krieg herrscht. So mag es heute sein in Ländern, in denen Christen Anfeindungen und Übergriffen anderer ausgeliefert sind. So mag es 1939 an der Oder und Neiße, so mag es 1917/18 an der Somme und Marne gewesen sein. So mag es zur Zeit des Pharao gewesen sein, als Mose geboren wurde, zur Zeit des Herrschers Herodes als Jesus geboren wurde. So mag es zur Zeit der Propheten Israels gewesen sein. Eine Mutter, die fast gedankenverloren ihr kleines Kind in den Armen wiegt, allen Umständen zum Trotz. Immer wieder voller Hoffnung auf Neues, auf Veränderung. Befreiung von aller Not.

IV.

„Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben“ Wer mag dieses Kind sein? Hiskia, ein König zur Zeit des Propheten Jesaja (so Rashi, Ibn Ezra)? Jemand anderes? Auf wenn auch immer diese Aussage: „Uns ist ein Kind geboren“ zur Zeit des Propheten zutreffen mag -  es schwingen eine Reihe von Erwartungen mit. Er wird als Befreier erwartet, als Hoffnungsträger, der durch sein Auftreten als erwachsener Mann wie ein König und Herrscher mit Macht Wunderbares entstehen lässt.

V.

Wir sind jetzt da, bei der Krippe, am Tannenbaum und haben den Altar in der Kirche vor Augen. Wir sind da in „unserer“ Kirche, die das ganze Jahr über tagsüber geöffnet ist. Pilgerinnen und Touristen gehen hier ein und aus, Gäste und Besucher aus aller Welt tragen sich im Gästebuch ein. Sie ist ja irgendwie immer da, die Kirche, bzw. das Kirchengebäude. Ob wir selbst hingehen oder nicht. Jetzt feiern wir Gottesdienst. Hier, in dieser Kirche. Herrlich geschmückt ist sie. Müde und zugleich aufgeregt, ungeduldig und voller Erwartung sind wir hier. Wir suchen den Weg zur Krippe. Wir kommen herzu und bestaunen Wunderbares, dass im Entstehen begriffen ist, weil diese Worte im Raum nachklingen: „...uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben...“ Wir schauen in die Krippe und sehen weit darüber hinaus ein Kind, das uns als erwachsener, 33-jähriger Mann durch seinen Tod am Kreuz von Golgatha befreit. Von Sünde. Von Schuld. Seine offenen Arme am Kreuz wollen sich um uns schließen, er will uns annehmen, wo wir rot vor Scham erkennen: Ich habe ihn durch mein Verhalten beschämt.

VI.

„Große Freude" verkündet der Engel den Hirten auf den Feldern von Bethlehem. Von „großer Freude“ weiß auch schon der Prophet Jesaja. Gott macht sie möglich, in beiden Fällen. Wir kennen das: Geteilte Freude ist doppelte Freude. Jeder und jedem im Land gilt diese große Freude, die Gott schenkt. So sagt der Engel es den Hirten an. Geteilte Freude ist doppelte Freude, wenn gemeinsam geteilt wird, was geerntet wurde. So erleben es die Menschen zur Zeit des Propheten Jesaja. Geteilte Freude ist doppelte Freude, wenn die Hirten später anderen von dieser Erfahrung mit dem Kind in der Krippe berichten. Geteilte Freude ist doppelte Freude, wo wir uns gegenseitig beschenken. Geteilte Freude ist dankbare Freude, wo wir uns freuen vor Gott. In dieser Kirche, in dieser Gemeinde. Wir freuen uns miteinander über das, was Gott tut. Was er uns schenkt. Uns. Ausgerechnet uns. „Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben“. Dieser Sohn Gottes, - er ist für jede, für jeden da - aber für keinen nur allein.

VII.

Wir beziehen den Jubel und die Freude darüber, dass Gott ein Kind schafft, „das uns gegeben ist“ auf Jesus Christus. Wir halten uns damit die Hoffnung auf Gottes immer neues Handeln offen. Selbst wenn es Befreiung aus Unterdrückung und Fremdherrschaft gibt, und schon oft gegeben hat, wird sie weiterhin von Gott erhofft und erwartet, von uns:  jetzt, hier und heute, und von Menschen, die heute Bedrückung erleiden und darunter am Heiligen Abend eher seufzen und leiden als jubeln und singen.

VIII.

Was sind das für Namen für dieses Kind? Kosenamen? Vielleicht. Anhand der vier Namen des Kindes, für uns das Christuskind ist, lässt sich Hoffnung vierfach durchbuchstabieren:

a) Planer von Wundertaten: Erwarten wir sie noch, Wundertaten? Rechnen wir damit, das wunderbare Dinge im Entstehen begriffen sind? Erwarten wir sie noch, solche wunderbaren Dinge, von Gott? Rechnen wir damit, dass wunderbare Dinge von Gott her im Entstehen begriffen sind? Das mag ein unverhoffter Anruf eines Angehörigen sein. Ein unerwartet friedliches Zusammentreffen in der Großfamilie. Kurze, fröhliche Festmomente, trotz Krankheit.„Fröhliche Weihnachten“, während wir das Sterben eines Menschen in der Weihnachtsstube oder am Bett im Krankenhaus begleiten: Als Ehepartner. Als Kinder und Schwiegerkinder. Als Enkel. Als Gemeindeglieder, die daran Anteil nehmen, wenn einer von uns in diesen Tagen stirbt und uns vorausgeht und erlebt wie Wunderbares im Entstehen begriffen ist.

b) Starker Gott: Was für ein Name! Ein Gott voller Macht und Kraft und Stärke. Allerdings, Gott, der seine Stärke ganz anders zeigt als erwartet. Da, wo wir wir die Krippe vor Augen haben, und trotzdem unser Kreuz im Alltag tragen. Starker Gott, der verspricht: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!" (2. Kor. 12,9)

c) Ewig-Vater: Was schwingt da nicht alles mit? Ein Attribut Gottes: Von Ewigket zu Ewigkeit ist er Gott. Treu. Voller Fürsorge. Wir bitten ihn im Vater Unser um alles, wir zum Leben brauchen – und er ermöglicht es – auch in diesem Weihnachtstagen.

d) Fürst des Friedens: Groß ist die Sehnsucht nach Frieden, Frieden in den Familien, Frieden zwischen Einheimischen und Zugewanderten, Migranten und Geflüchteten. Groß ist die Sehnsucht nach Frieden in Syrien und Myanmar und anderswo. Auch nach dem Frieden auf Erden, von dem die Engel zu Weihnachten singen. Frieden bei Gott und den Menschen seines Wohlgefallens.

IX.

Weihnachten als Fest der Freude ist für die meisten Menschen ein Ereignis.  Weihnachten ist auch ein Fest ehrlicher Erfahrungen. Gott macht einen den Glauben nicht unbedingt leicht. Manchmal fällt die Hoffnung schwer. Sehr, sehr schwer. Wir leiden an Gott, seinen Engeln, die versprochen sind und die doch so weit entfernt sind. Gerade dann, wenn wir  in den Strudel der Untergänge geraten. Es gibt sie, die großen und unüberbrückbaren Widersprüche zwischen den Versprechungen und Verheißungen Gottes und den Zustand dieser Welt. Hoffnung garantiert nicht immer einen guten Ausgang aller Dinge. Aber sie bleibt uns bei, die Hoffnung, dass es möglich wäre. Weil Weihnachten in uns diese Hoffnung bestärkt. Wir bleibe (als Christen und Juden) voller Hoffnung. Offen für Gottes Handeln. Voller Hoffnung für diese Welt. Voller Erwartung, was Gott, der Ewige, tun kann und tun wird. So wie Gott es getan hat, als er sein Volk aus der Sklaverei in die Freiheit führt. So wie Gott am Sinai versprochen hat: Ich bin der Herr, dein Gott. So wie er garantiert: „ich bin bei euch, alle Tage!“

X.

Noch einmal schaut die junge Mutter in die Wiege, in der ihr kleiner Junge liegt. Mit der Geburt des Kindes wird es hell. Jedenfalls im Leben dieser Familie. Ein Ende der Finsternis ist abzusehen. Ein Ende von Gewalt wird erhofft. Eine Befreiung. Wir schauen  in die Krippe, sehen im übertragenen Sinne, wie es hell wird. In unseren Leben. Durch Jesus Christus. Amen.

Benutzte Literatur:

Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe IV. Plus. Nun gehe hin und lerne! Herausgegeben von Studium in Israel e.V. Berlin, 2017.

Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe I. Plus. Jüdische Theologinnen und Theologen liegen die Bibel aus: Die neuen alttestamentlichen Texte der Reihe 1. Herausgegeben von Studium in Israel e.V. Berlin, 2018.

Goldschmidt, Stephan: Denn du bist unser Gott. Gebete, und Impulse für die Gottesdienste des Kirchenjahres. Zur neuen Perikopenordnung 2018. Neukirchen-Vluyn, 2018.

Steffensky, Fulbert: Was unsere Hoffnung nährt. Vortrag am 11. Juni 2016 auf dem 7. Ostfriesischen Kirchentag in Rhauderfehn.

 

Perikope
24.12.2018
9,1-6