Umsonst und ohne Geld – Predigt zu Jesaja 55, 1-5 von Martin Weeber

Umsonst und ohne Geld – Predigt zu Jesaja 55, 1-5 von Martin Weeber
55,1-5

„There is no such thing as a free lunch“ – auf deutsch: Niemand spendiert Dir einfach so ein Mittagessen. In dieser sprichwortartigen Sentenz verdichtet sich die Lebenseinstellung des Misstrauens: Niemand gibt Dir etwas umsonst. Oder: Wer Dir etwas anscheinend umsonst gibt, der will in Wirklichkeit doch etwas dafür.

Diese Erfahrung findet vielfache Bestätigung. So haben wir inzwischen ja doch gemerkt, dass wir für viele der so praktischen Dienstleistungen des Internets zwar nicht mit Geld, aber eben doch mit unseren Daten bezahlen.

Wenn uns jemand etwas „einfach so“ anbietet, „umsonst und ohne Geld“, dann werden wir schnell misstrauisch: Die Sache muss doch einen Haken haben.

 

Umsonst und ohne Geld bietet uns im heutigen Predigttext einer etwas an, ein Marktschreier, der Aufmerksamkeit erwecken will. Stellen wir uns vor, wir seien auf einem Markt im Alten Orient.

Da kommt einer daher, bepackt mit seinen Waren, und er schreit mit lauter Stimme:

 

Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch! Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben. Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben! Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen, euch die beständigen Gnaden Davids zu geben. Siehe, ich habe ihn den Völkern zum Zeugen bestellt, zum Fürsten für sie und zum Gebieter. Siehe, du wirst Völker rufen, die du nicht kennst, und Völker, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen um des HERRN willen, deines Gottes, und des Heiligen Israels, der dich herrlich gemacht hat.

 

Wasser, Wein und Milch bietet er an, der Mann auf dem Markt. Ein Getränkehändler offensichtlich. Er geht davon aus, dass wir durstig sind. Und durstig sind wir Menschen ja alle. Vielleicht nicht in jedem einzelnen Moment, aber dem Grunde nach sind wir alle durstig. Ohne Wasser halten wir es nicht lange aus. Das wird besonders deutlich in einem heißen und trockenen Land, aber man kann es auch eindrücklich erfahren an einem heißen Sommertag bei uns, zumal wenn man körperlich arbeitet oder auf einer Wanderung unterwegs ist und die Wasservorräte erschöpft sind. Wie wunderbar, wie erfrischend, wenn man dann einen kühlen Schluck Wasser bekommt.

Dass wir durstig sind, das ist zunächst ein elementarer biologischer Sachverhalt, der uns übrigens mit den Tieren und auch mit den Pflanzen verbindet. Wie schnell gehen in Zeiten der Trockenheit die meisten Pflanzen zugrunde, wie sehr leiden Tiere, wenn sie nicht genügend zu trinken haben. Wie schlimm war für viele Landwirte der trockene Sommer des vorigen Jahres.

Wir brauchen Wasser. Und es ist schrecklich, dass Menschen in vielen Ländern unserer Erde keinen sicheren oder gar bequemen Zugang zu frischem und sauberem Wasser haben.

Aber dass wir Wasser brauchen – das ist auch ein Symbol dafür, dass wir Menschen überhaupt bedürftige Lebewesen sind: Wir haben Durst, wir haben Hunger, wir haben Bedürfnisse von vielerlei Art.

Wasser bietet der Getränkehändler an, aber auch Milch und Wein. Und jetzt müssen wir, wenn wir sein Angebot würdigen und verstehen wollen, ausnahmsweise mal nicht auf Ärzte oder Ernährungsberater hören, sondern uns klarmachen, worin nach biblischem Verständnis die Bedeutung von Milch und Wein liegen: Milch und Wein sind der Inbegriff von Überfluss und Freude. Wenn man Milch und Wein zu trinken hat, dann sind nicht nur die Grundbedürfnisse gestillt, sondern dann geht es einem richtig gut.

Wir Menschen brauchen mehr als nur das Notwendige: Wir brauchen auch das, was mehr ist als notwendig: Genuss, Geschmack, Fülle und Fest, Schönheit und Glanz. Die weiße Milch und der funkelnde Wein stehen in der Bibel für all das, was hinübergeht über das bloß Notwendige.

All das, was uns die Kultur bietet an Schönem und vordergründig Nutzlosem – all das brauchen wir auch. Und wir brauchen nicht nur die Zweckmäßigkeit der Schöpfung, sondern auch deren oft so überwältigende Schönheit. Furchtbar traurig wäre sonst das Leben. Und wo man Menschen die Schönheit nicht gönnt, da gönnt man ihnen im Grunde das Leben nicht.

Wir streben danach, uns das Leben schön zu machen. Aber ob wir dabei immer nach den richtigen Gütern streben – diese Frage stellt uns der orientalische Getränkeverkäufer auch: „Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht?“

Wir wenden Geld und Mühe auf für Dinge, die uns doch nicht wirklich satt machen. Dass man zeigen kann, was man sich leisten kann: Das ist für viele Menschen offensichtlich ungeheuer wichtig. Demonstrativer Konsum. Ich will das gar nicht verächtlich machen; ich freue mich ja auch, wenn ich etwas Schönes besitze. Aber der merkwürdige Getränkeverkäufer, der gar kein Geld will für Wasser, Milch und Honig, der weist schon auf ein wichtiges Problem hin: Manches Mal sind die Mühen wirklich gar zu groß, die Menschen sich auferlegen, um an Dinge zu gelangen, die begehrt und teuer sind. Anderes wird dann oft vernachlässigt. Etwa, wenn jemand unglaublich viel Zeit und Kraft in seine Karriere steckt, aber dann gar keine Zeit mehr findet für Familie und Freunde oder für sich selber. Gute Frage deshalb: „Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht?“

Irgendwann offenbart der merkwürdige Getränkehändler sein Geheimnis: Er verschenkt gar nicht nur Getränke, er verschenkt Worte, Worte des Lebens: „Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben!“

Auch das brauchen wir zum Leben und im Leben: Gute Worte, die zu uns gesagt werden. Für den Getränkehändler sind diese guten Worte die Zusagen, die Gott einst dem David und durch ihn dem Volk Israel und schließlich allen Völkern gemacht hat. Er spricht nun gewissermaßen mit Gottes eigener Stimme, wenn er sagt: „Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen, euch die beständigen Gnaden Davids zu geben. Siehe, ich habe ihn den Völkern zum Zeugen bestellt, zum Fürsten für sie und zum Gebieter. Siehe, du wirst Völker rufen, die du nicht kennst, und Völker, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen um des HERRN willen, deines Gottes, und des Heiligen Israels, der dich herrlich gemacht hat.“

Wir Menschen sind bedürftige Lebewesen. Wir brauchen das Notwendige und das Mehr-als-Notwendige. Und wir brauchen gute Worte: Wasser, Milch, Wein, Schönheit, Fülle, Überfluss – und Worte, die für uns sind, als redete Gott selber direkt zu uns.

Solche Worte finden wir mit großer Zuverlässigkeit in der Bibel – und darum lohnt sich deren Lektüre immer wieder. Wir finden da auch manches, was uns fremd bleibt und manches, was uns verstört. Aber eben doch immer wieder können wir es erleben, dass biblische Geschichten und Worte und sprachliche Bilder so zu uns zu sprechen beginnen, dass wir merken: Hier spricht mich Gott ganz passend und persönlich an, so als sei diese oder jene Passage geradewegs für mich geschrieben. Wenn wir das erleben, dann können wir den Sinn der alten Formeln nachvollziehen, die in prägnanter Kürze sagen, die Bibel sei nichts anderes als Gottes Wort. Solche Formeln verlieren für uns dann den Charakter bloßer Behauptungen. Sie werden dann zum verdichteten Ausdruck von Erfahrungen, die wir selber auch machen können: Ja, hier spricht Gott mich an.

Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!

 

Das Notwendige und auch das Schöne – wir bekommen es umsonst und ohne Geld.

Ganz so allgemein und ohne Einschränkungen kann man das freilich doch nicht sagen: Wie unglaublich müssen sich viel zu viele Menschen in viel zu vielen Ländern immer noch abmühen und anstrengen, um ihr nacktes Überleben zu sichern. Wie mühsam müssen sie ihr weniges Geld verdienen. Das dürfen wir nicht ausblenden. Nicht überall geht es den Menschen so gut wie uns in unseren Breiten und Zeiten. Wie nachvollziehbar ist es deshalb, dass Menschen sich auf den Weg zu uns machen.

Aber auch wenn wir die blanke Not, die anderswo herrscht, nicht ausblenden, so tut es doch gut, wenn wir daran erinnert werden, wie gut es uns tatsächlich geht. Denn die Dankbarkeit für unser Wohlergehen bringt uns doch dazu, Menschen zu unterstützen, denen es nicht so gut geht, wie uns. Und es ist ja wirklich immer wieder beeindruckend, wie sehr Menschen bereit sind, sich für andere Menschen einzusetzen, die der Unterstützung bedürfen. Da wird ganz viel getan und gegeben.

Das Notwendige und auch das Schöne – wir bekommen es umsonst und ohne Geld.

 

Ein amerikanischer Philosoph, Michael J. Sandel, hat ein Buch geschrieben. Es trägt den Titel: „Was man für Geld nicht kaufen kann.“ Er geht aus von der Beobachtung, dass in unseren modernen Gesellschaften sehr vieles käuflich geworden ist. So kaufen sich zum Beispiel Konzerne die Namensrechte an großen Stadien: Aus dem Frankfurter Waldstadion wurde so die „Commerzbank-Arena“ und aus dem Stuttgarter Neckarstadion die „Mercedes-Benz-Arena“. Auf diese Art und Weise geht aber leicht das Gefühl dafür verloren, dass es Dinge oder Einrichtungen gibt, die uns allen gehören. Sandel beschreibt, wie zerstörerisch es für unser Zusammenleben ist, wenn der Eindruck erweckt wird, alles sei käuflich. Das Problem freilich ist kein modernes. Seit ältesten Zeiten gibt es etwa die sogenannte „käufliche Liebe“ – und es war schon immer klar, dass diese gekaufte Liebe keine wahre Liebe ist, sondern höchstens ein vorgespieltes Begehren. Was mit einem Preis versehen wird, verliert sehr schnell seinen Wert. Es muss Dinge geben, die wir für Geld nicht kaufen können.

Ein Leben, in dem wir für alles bezahlen müssten, wäre ein furchtbares Leben. Es muss im Leben immer auch noch vieles geben, was wir „umsonst und ohne Geld“ bekommen. Und es ist wichtig, dass wir den Sinn dafür nicht verlieren, was uns alles geschenkt wird: Das Licht der Sonne, die Liebe der Menschen, der Klang der Musik, die Schönheit der Sprache, der Glanz in den Augen eines Kindes, das sich freut. Es ist so unendlich viel, was Gott uns da gibt und gönnt.

 

Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!

 

Noch einmal zurück zu dem Angebot des Getränkeverkäufers und zu seiner Werbeparole: „Das Wesentliche umsonst.“ Hat es nicht doch einen Haken?

Wir haben vorhin, als wir gedanklich dem Text entlanggegangen sind, gemerkt, dass es Gott ist, der sich in die Gestalt des Getränkeverkäufers verkleidet.

Gott selber sagt das zu uns: Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!

Hat Gottes Angebot einen Haken? Ist es im Blick auf Gott doch auch so, dass man sagen muss: „There is no such thing as a free lunch“ – auf deutsch: „Niemand spendiert Dir einfach so ein Mittagessen.“

Ich muss gestehen: Ich tue mich hier schwer mit einer Antwort.

Eigentlich bin ich es gewohnt, so zu denken, dass Gott uns zwar viel gibt, dass er aber auch etwas dafür von uns will: Vertrauen, Gehorsam, Anbetung, Lob.

„Gebt unserm Gott die Ehre!“ Mit dieser Aufforderung endet jede Strophe eines alten Gesangbuchliedes („Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut“, EG 326).

Also doch ein Angebot mit Haken? Berechtigtes Misstrauen?

Versuch einer Antwort: Wenn wir merken, wie viel Gutes Gott an uns tut, dann schenken wir ihm Vertrauen, Gehorsam, Anbetung, Lob und Ehre.

Aber wir schenken ihm das alles aus freien Stücken – nicht, weil wir es müssten. Nicht, weil wir im Kleingedruckten etwas übersehen hätten. Gottes Güte öffnet uns Herz und Hände. Umsonst und ohne Geld geben wir, was wir geben können – Gott und den Menschen. Gottes gutes, sein gütiges Wort lässt uns herzlich sein und großzügig und gütig. Und genau darin erweist es sich uns als göttliches Wort. Amen

Perikope
30.06.2019
55,1-5

Sind wir noch durstig? – Predigt zu Jesaja 55,1-5 von Heiko Naß

Sind wir noch durstig? – Predigt zu Jesaja 55,1-5 von Heiko Naß
55,1-5

Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch! Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben. Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben! Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen, euch die beständigen Gnaden Davids zu geben. Siehe, ich habe ihn den Völkern zum Zeugen bestellt, zum Fürsten für sie und zum Gebieter. Siehe, du wirst Völker rufen, die du nicht kennst, und Völker, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen um des Herrn willen, deines Gottes, und des Heiligen Israels, der dich herrlich gemacht hat.

 

Liebe Gemeinde,

aus ferner prophetischer Vergangenheit bringen wenige Worte der Bibel etwas Unfassbares in unsere Gegenwart hinein: Es ist genug für alle da. Genug an frischem Wasser, genug an nahrhaftem Brot.

Wohlan alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser,“ steht in dieser prophetischen Rede. Keiner ist ausgeschlossen – alle sind angesprochen, alle sind gemeint.

Alle, die durstig sind? Wenn es rein um das Wasser geht, dann haben wir an Wasser immer noch genug in den Leitungen zu Hause, in den Mineralwasserkisten im Supermarkt. Schon lange aber wissen wir, dass Wasser nicht umsonst zu haben ist. Es muss aufbereitet werden, immer aufwendiger gereinigt werden, zumal weil durch Überdüngung Nitrate das Grundwasser weit über die Richtwerte versalzen.

Vergangenen Sommer merkten wir umso mehr, dass Wasser knapp werden könnte, die Grundwasserspeicher langsam sich zu leeren begannen. Da erlebten wir eine neue Sensibilität für das Wasser, Wasser als ein knappes Gut, dem wir mehr Sorge zukommen lassen müssen. Noch haben wir in unseren, klimagünstigen Regionen dieser Erde an Wasser genug.

Dennoch ist das Versprechen, dass ein Zugang zu sauberem trinkbarem Wasser für alle möglich ist, für alle Menschen dieser Erde, noch lange nicht eingelöst. Von den auf dieser Erde lebenden 7 Mrd. Menschen haben 850 Millionen weltweit immer noch keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, vom Abwasser ganz zu schweigen: jeder Dritte lebt ohne sanitäre Einrichtungen.

Bis 2030 sollen nach den UN Nachhaltigkeitszielen alle Menschen dieser Erde Zugang zu sauberem Wasser und zu sanitärer Versorgung erhalten. Bis dahin gibt es noch viel zu tun.

Die Folgen von Wassermangel ist eine der größten Fluchtursachen, warum Menschen ihre Heimat verlassen. Wenn der Regen infolge des Klimawandels immer häufiger ausbleibt und zu viel Wasser in wasserintensiver Landwirtschaft für den Export verbraucht wird, wenn Konflikte die Wasserversorgung verhindern, bekommen viele Menschen für ihre Ackerböden und ihr Vieh nicht mehr ausreichend Wasser. Tiere sterben, Ernten fallen dürftig aus und Hunger ist die Folge, dann machen sich die Menschen auf die Suche, nach anderen Orten, wo sie ihr Überleben sichern können.

In diesem Jahr habe ich auf einer Projektreise mit Brot für die Welt nach Indien dort ein eindrucksvolles Engagement von Menschen erlebt, die sich gegen Wassermangel, gegen Austrocknung und Verkarstung ihrer Böden gestemmt haben und der Verheißung von Wasser und Brot für alle wieder ein Stück nähergekommen sind.

Dort haben die Menschen erkannt, dass sie, um ihrer Armut entrinnen zu können, sich besonders um das Land zu kümmern haben, von dem sie leben. Das gelingt, in dem sie sorgsamer mit Land und Boden umzugehen gelernt haben. Bis vor 20 Jahren hatte der Boden infolge von Monokulturen in vielen Regionen des Berglandes seine Aufnahmekapazität für Wasser verloren. Wenn nun der Monsun einsetzte, wurde mit den reißenden Wassermassen die fruchtbare Humusschicht weggeschwemmt. Auch technisch veränderte Saat schafft es nicht mehr, auf die zunehmende Vertrocknung der Böden zu reagieren. Mit den Böden verarmten auch die Menschen. Viele verließen Haus und Grund, machten auf den Weg Stadt, wo die Lichter der Metropole die Verheißung eines besseren Lebens ausstrahlten. Doch die wenigsten fanden, was sie sich versprachen. Viele endeten in den Slums vor oder inmitten der Stadt, manche nahmen sich aus lauter Verzweiflung das Leben. Die von Brot für die Welt unterstützten Projekte haben neues Wissen in die Dörfer gebracht, wie langsam furchtbare Erde zurückgewonnen werden kann. Selbsthilfegruppen wurden gegründet, die Dorfgemeinschaft gewonnen, die Hänge zu terrassieren, in viele Stufen zu gestalten und jeweils an der Außenkante einen kleinen Wall anzubringen. So sammelt sich dort der Regen und der bis dort angeschwemmte Schlamm bis das Becken voll ist und das Wasser langsam in die nächste Terrassenstufe hinablaufen kann. Nach zwanzig Jahren ist aus dem unfruchtbaren Land wieder ein grünes Land geworden, mit frischem Wasser. Und die Menschen kehren zurück.

Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser!“ Dieses prophetische Wort der Bibel aus ferner Vorzeit spricht bis heute in unsere Gegenwart, dass die Verheißung, an den Grundlagen des Lebens teil zu haben, für alle Menschen gilt.

Wenn Jesus 500 Jahre danach in seiner Bergpredigt sich auf diese Worte bezieht, alle Menschen anspricht, die hungern und dürsten und die Worte ergänzt mit dem Zusatz „nach Gerechtigkeit“, dann vertieft er damit den Anspruch, dass sich aus dem Wissen, wovon das Leben erschüttert und bedroht wird, eine Verantwortung erwächst, an der Belastungen und der Not der anderen mitzutragen und sie davor zu schützen und zu bewahren. Jesus will, dass Menschen auf der Schattenseite des Lebens zur Anerkennung und ihr Mangel zur Wahrnehmung in die Öffentlichkeit gebracht werden.

Alle Menschen brauchen Wasser und Brot und alle haben ein Anrecht, daran teil zu haben. Doch da ist noch mehr:

„Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? … Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben!“

Liebe Gemeinde, wir erleben heutzutage, dass die Sprachlandschaft des Glaubens von immer weniger Menschen erkundet wird. Vielleicht liegt es daran, dass nicht nur die nur die Worte des Glaubens, sondern auch Erfahrungsräume, in denen sich solche Worte mit eigenem Erleben verbinden lassen, immer weiter zurückgedrängt werden. Unser spiritueller Weg durch den Tag gleicht doch oft einer verkarsteten Fläche. Da gibt es zu viel, was die Tage ausfüllt und beschäftigt: ein vollgefüllter Kalender, überquellende Nachrichten im Email Eingangsordner oder auf WhatsApp. Und daran schließt sich den Drang an, gleich darauf zu antworten. Aber macht das wirklich Sinn? Ruht in diesem Tun eine Erfüllung, die unsere Sehnsucht stillt? Liebe Gemeinde, sind wir durstig?

Vor kurzem habe ich einen Nachmittag in einer therapeutischen ambulanten Wohngruppe der Jugendhilfe verbracht. Die Kinder und Jugendlichen erzählten von ihrem Wochenende. Ein Junge erzählt, dass er am Sonnabend und am Sonntag, den Vormittag und den Nachmittag am Busbahnhof verbracht hat. Warum, frage ich ihn. Um Filme zu gucken, weil es dort freies WLAN gibt. Flucht vor einem unerträglichen Zuhause, Vereinzelung und eine Traurigkeit waren in diesen Worten zu spüren. Und gleichzeitig hielt mir diese Schilderung des Kindes ein Spiegel vor, wie auch wir uns immer wieder verlieren in unserem Alltag, an denen wir unsere Tage füllen und beschäftigen, und trotzdem merken, dass etwas unerfüllt bleibt.

Wer eine besondere Stimme hört, wendet sich ihr zu, folgt dem Ohr mit dem Blick, mit dem Körper und beginnt ihr nachzugehen. Nichts Anderes will dieses Wort bewirken: „Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben!“

In manchen Momenten weht uns Gottes Wort an, dringt zu unserem Herzen, durch all das Nicht-Satt-Machende hindurch. In manchen Momenten gelingt uns, dass wir uns dem hingeben, was geschieht. In manchen Momenten öffnet sich unser Herz für den Gedanken, dass Gott mit uns fühlt. Es ist der Beginn des Hörens.

Es erinnert uns: Gott ruft – ruft wie einer, der weiß, wie es schwer ist, sich gegen die gehaltlosen Lebensfüllstoffe zu behaupten: gegen das Nicht – Brot und alles, was mehr Kraft fordert als es bringt. Doch er ruft, seine Einladung bleibt, sie ist da und um uns herum. Und sie scheint in Gesten, in Wahrnehmung, in Gerüchen durch unseren Alltag immer wieder durch.

Denn auch das geschah bei meinem Besuch in der therapeutischen Wohngruppe für Jugendliche: Bei Mittag saßen wir zusammen um den Tisch.  Aufmerksamkeit füreinander und für das Essen war spürbar. Berührt hat mich folgende Situation: Der Erzieher, der von seiner Erscheinung her über jeden Geist des Paternalismus erhaben ist, schnitt zum Nachtisch einen Apfel in Stücke, entkernte sie und teilte sie aus an alle. Und es nahmen alle davon. Eine vielleicht nur kleine Geste, die Gemeinschaft und Achtsamkeit stiftete. Aber mehr muss manchmal gar nicht geschehen, um Sinn und Geschmack für das Unendlich zu spüren.

Das prophetische Wort unseres Textes erinnert zuletzt an den Bund, den Gott mit dem Hause Davids geschlossen hat. Gott geht mit uns einen Bund ein.

Die Geschichte der Bibel redet immer wieder davon, dass Gott seinen Bund erneuert und uns daran erinnert und alle Menschen zu seinen Bundesgenossen ruft. Denn die Grundlagen dieses Bundes kommen allen zugut. Es ist der Zyklus von

Saat und Ernte
Frost und Hitze

Sommer und Winter
Tag und Nacht,
der nicht aufhören soll, solange die Erde besteht.

Gott will, dass dieser Bund bewahrt bleibt und dass Menschen diesen Bund bewahren. Dafür ist es nötig, dass wir als Menschheit gemeinsam diese uns anvertrauten Güter sorgsam behandeln, die Folgen unserer Lebensweise bedenken und uns Zeit und die Orte nehmen, von Gottes Sorge und von seinem Ruf ansprechen zu lassen.

Amen

 

Perikope
30.06.2019
55,1-5

Wohlan - Predigt zu Jesaja, 55,1-5 von Frank Muchlinsky

Wohlan - Predigt zu Jesaja, 55,1-5 von Frank Muchlinsky
55,1-5

Wohlan, liebe Gemeinde, gut dass Ihr da seid, denn ich habe Euch Gutes zu sagen.

Haben Sie, habt Ihr eigentlich ein göttliches Berufungserlebnis, an das Ihr Euch erinnern könnt? Könntet Ihr von diesem Erlebnis berichten? Keine Angst, es muss jetzt niemand nach vorn kommen, das Mikro in die Hand nehmen und davon erzählen, wie er oder sie ihren göttlichen Ruf bekam. In unseren verfassten Kirchenkreisen wäre das recht ungewöhnlich. Es würde sicherlich zu gehobenen Augenbrauen und gerunzelten Stirnen führen. In kirchlichen Kreisen, die sich als "erweckt" verstehen, ist das anders. Da erzählt man wie selbstverständlich von dem Moment, in dem einem klar wurde: Gott will etwas von mir. Eine wunderschöne Überspitzung eines solchen Erlebnisses läuft derzeit auf Netflix. Dort hat man die "Blues Brothers" ausgegraben, das etwas andere Musical. In einer entscheidenden Szene steht John Belushi als "Jake Blues" in einer Kirche, in der gerade James Brown eine ausgesprochen mitreißende Predigt hält. Mitreißend vor allem, weil während der Predigt ein Gospelchor singt und tanzt. Dann geschieht das Wunderbare: Ein Lichtstrahl fällt durch ein Fenster in die Kirche und trifft Jake, der sofort bekehrt wird, anfängt zu tanzen und weiß, was von diesem Moment an seine Aufgabe ist.

Wie gesagt, eher eine Zuspitzung. Es gibt aber durchaus eine Reihe von Menschen, die mit ähnlichen Erlebnissen aufwarten können. Sie können Tag und Stunde nennen, an denen ihnen klar wurde, dass sie von nun an "im Namen des Herrn unterwegs" sein wollen. Als Pfarrer bekommt man diese Frage nach dem Berufungsmoment durchaus mal gestellt. Die klingt dann so: "Wie kommt es, dass du Pfarrer geworden bist?" Manchmal wünsche ich mir, ich könnte dann mit einer spektakulären Geschichte aufwarten, à la Jake Blues. Denn so wundersam sie auch klingt, wenn man so etwas erlebt hat, glauben die Leute einem wenigstens, dass man es ernst meint mit dem Glauben. Aber bei mir war es wie mit den meisten Menschen, die in einem irgendwie christlichen mitteleuropäischen Umfeld aufgewachsen sind. Wir sind irgendwie hineingewachsen in das Christentum. Mein Entschluss, Theologie zu studieren, Pfarrer zu werden, kam auch nicht plötzlich, er reifte in mir.

Im Kontakt mit Brüdern und Schwestern, denen die bewusste Entscheidung für Jesus Christus sehr wichtig ist, habe ich es manchmal bedauert, "nur" als Vierzehnjähriger bei der Konfirmation mal "Ja, mit Gottes Hilfe" gesagt zu haben. Andere haben ihre Leben Gott übergeben. Haben sich ganz bewusst für Jesus Christus entschieden. Andere waren irgendwie "echt berufen".

Lasst uns noch an anderer Stelle schauen, was so eine Berufung ausmacht. Diesmal nicht im Film, diesmal in der Bibel. Da beruft Jesus den Simon, der später Petrus heißen darf, weil er so felsenfest ist. Die Geschichte wird mehrfach in den Evangelien erzählt, und immer in kleinen Varianten. Besonders gut gefällt mir die Variante bei Markus, wo Jesus an Simons Boot vorbeikommt, ihm und seinem Bruder Andreas sagt: "Kommt, folgt mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen!" Und dann heißt es: "Und sogleich verließen sie ihre Netze und folgten ihm nach." Beeindruckend! Die beiden lasen buchstäblich alles stehen und liegen und folgen Jesus nach. Ihre Arbeit, ihre Familie, ihr Hab und Gut. Alles lassen sie hinter sich. Kein Wunder, dass das Maßstäbe gesetzt hat für die Art und Weise der Nachfolge. Wir können festhalten: Wer berufen ist, handelt augenblicklich und radikal. Wen das Licht sieht, fängt an zu tanzen und lässt sein altes Leben hinter sich, ohne zu zögern.

Wohlan, was bleibt da noch für uns "Hineingewachsene"? Was ist möglich für die, die Gott lieben und immer noch mit ihren Familien leben? Uns bleibt eine wunderbare Verheißung, und die beginnt mit "Wohlan!"

Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch! Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben. Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben! Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen, euch die beständigen Gnaden Davids zu geben. Siehe, ich habe ihn den Völkern zum Zeugen bestellt, zum Fürsten für sie und zum Gebieter. Siehe, du wirst Völker rufen, die du nicht kennst, und Völker, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen um des HERRN willen, deines Gottes, und des Heiligen Israels, der dich herrlich gemacht hat. (Jes 55,1-5)

Das sind Worte, die der Prophet Jesaja im Namen Gottes sagt. Sie beginnen mit diesem wunderschönen hebräischen Wort "Hoj", das Luther mit dem ebenso schönen "wohlan" übersetzt hat. Hoj, durstige! Kommt und trinkt Wasser! Hoj, Arme, kommt und kauft ein ohne Geld! Hoj, hört auf mich, wenn ihr wirklich satt werden wollt! Hoj, hört und lebt! Ich will mit Euch einen Bund schließen, ich will einen ewigen Vertrag unterzeichnen. Ich, Gott selbst, sage Dir: Es wird auf der Erde ein Heil entstehen, wie es noch niemals da war. Kein Volk bleibt außen vor. Komm! Hoj!

Wohlan, liebe Gemeinde, was uns bleibt, ist dieser Ruf. Es ist die Aufforderung an die Zögerlichen, an diejenigen, die lieber zweimal nachdenken, bevor sie handeln. Gott ruft uns, und er hat einen ausgesprochen langen Atem. Was Jesaja da in Gottes Namen sagt, ist nicht weniger anspruchsvoll, als das "Komm mit!" von Jesus. Denn auch hier heißt es: "Halt dich an mich! Vertraue mir doch! Hör auf, dich vollzustopfen mit dem, was dich niemals wirklich satt macht!" Aber bei Jesaja hört man die Zeit mit, die Gott uns lässt. Dies ist nicht die erste Aufforderung Gott zu vertrauen. Und darum tut diese Verheißung so gut. Sie ist keine "Jetzt oder nie"-Situation. Gott ruft: "Vertraut mir" Und Vertrauen darf wachsen. Es muss nicht sofort und vollständig da sein. Es darf auch immer wieder erschüttert oder sogar verschüttet werden. Du darfst zweifeln, du darfst wieder vertrauen, und dann wirst du schon sehen!

Was traust du Gott zu? Dass du satt wirst? Dass dir schmeckt, was du isst und trinkst? Traust du Gott zu, dass du leben wirst? Versuch es! Wohlan, trau Gott so viel zu, wie du kannst. Das ist kein Wettbewerb und keine Leiter, die du emporklimmen müsstest. Nur die Verheißung kennt kein Limit. Und wenn die Enttäuschungen kommen, wenn die Zweifel groß werden, dann schau, was noch da ist. Wenn da noch Durst ist, dann komm zum Wasser. Wenn du nichts mehr hast, mit dem du etwas kaufen kannst, lass dich beschenken.

Und da diese Verheißung keine Grenzen kennt, lasst uns zusammen vertrauen, dass wir nicht allein sind. Lasst uns gegenseitig Hoffnung geben, dass Gott es unendlich gut meint mit uns. Darum kommen wir doch zusammen, damit wir einander gut sind! Hoj! Denn es geht nicht nur um jede und jeden von uns allein. Jesaja spricht im Namen Gottes in der Mehrzahl: Hoj, ihr! Wenn Ihr miteinander vertraut, wenn ihr miteinander Gott zuhört, dann soll es gut werden – letztendlich mit der ganzen Welt. Fangt schon mal an zu tanzen!

Amen

Perikope
30.06.2019
55,1-5

Durst auf Leben - Predigt zu Jesaja 55,1-3a von Hansjörg Biener

Durst auf Leben - Predigt zu Jesaja 55,1-3a von Hansjörg Biener
55,1-3a

„Durst auf Leben“. Mit dieser Werbelinie warb vor einigen Jahren eine Sprudelfirma (Überkinger) für ihren Sprudel und wirbt in den letzten Monaten eine Brauerei für ihr Weizen (Weihenstephaner). Wahrscheinlich wussten die Werbeleute, dass sie mehr versprechen, als Sprudel halten kann, geschweige denn Bier. Doch gleichzeitig haben sie für ihre Werbestrategie etwas Richtiges erkannt: Durst ist etwas, was jeder kennt. Und wahrscheinlich hat auch jeder einen ganz besonderen Durst nach Leben, der ihn aufmerken lässt, wenn etwas seine Stillung verspricht.

 

Schon natürlicher Durst ist unangenehm: Zunge und Gaumen sind trocken, die Lippen spröde. Die Kehle ist dörr, weil die Spucke wegbleibt, es ist, als ob auf den Stimmbändern Staub liegen würde. Dann möchte man wirklich eine ganze Flasche Sprudel trinken, um zu spüren, wie das Wasser die Lebensgeister wieder weckt. Die Überkinger-Werbung versprach, dass ihr Sprudel sogar „Durst auf Leben“ löschen kann. Wie jüngst auch das Weihenstephaner Weizen. Doch die Getränkehändler haben Konkurrenz. Nicht nur andere Firmen, sondern Gott selber. Im heutigen Predigttext geht auch Gott unter die Menschen und preist wie ein Verkäufer den Glauben an:

»Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die, ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!«

Und es muss nicht nur Wasser sein. Wein und Milch sind auch möglich, um den „Durst auf Leben“ zu stillen.

 

Die Alltagserfahrung mit dem Durst ist immer wieder auch auf religiöse Dinge übertragen worden. Man sagte: Gewiss löscht Wasser den Durst. Doch auch das ist gewiss: Der Durst nach Wasser kommt wieder. Und dann sagte man: So, wie der Mensch immer wieder Durst nach Wasser hat, so hat er auch einen weiteren Durst, der nicht durch Wasser oder irgendein anderes Getränk gestillt werden kann. Es ist der „Durst nach Leben“. Nichts kann diesen Durst stillen außer die Quelle des Lebens, Gott. Nur Gott kann den „Durst nach Leben“ befriedigen, nicht der Überkinger, Gerolsteiner, Kondrauer und auch nicht der Höllensprudel (Naila). [durch Marken ersetzen, die in der eigenen Region verkauft werden] Was im übrigen auch heißt: Wer das nicht erkennt, muss weiter leben wie ein Mensch in der Wüste. Der Durst herrscht vor, und man muss sich mit dem begnügen, was man hat.

 

Es mag sein, dass wir wissen, dass ein Sprudel oder ein Bier den Durst nach Leben nicht löschen kann. Doch offensichtlich muss auch Gott Werbung machen. Es geht ihm so, wie dem Hersteller von „Spezi“. Lassen Sie mich diese Geschichte kurz erzählen. Vor Jahrzehnten wollte ein Gastwirt seinen Gästen etwas Neues bieten: Er mischte Cola und gelbes Limo (Orangenlimonade) und nannte es „Spezial“. Daraus wurde später „Spezi“, als eine Brauerei die Mischung übernahm und einen bereits geschützten Markennamen auf die Flasche klebte. Doch wir wissen: Nicht immer, wenn man ein Spezi bestellt, ist auch Spezi drin. Das Mischgetränk gibt es heute von verschiedenen Herstellern, obwohl es nicht immer geschmeckt hat. [Bayern: Wie sonst wäre es wohl zu dem Namen „Gwasch“ gekommen? (siehe unten Anmerkung 1)] Darum kommt Spezi seit einiger Zeit mit folgendem Werbespruch daher: „Trink das Original.“

 

Auch Gott muss für das Original werben, weil die Menschen so viele Dinge für wichtiger halten, wenn sie glauben, damit mehr vom Leben zu haben. Kostenlos und umsonst will er uns mit Wasser des Lebens, Wein der Freude und Milch der seelischen Gesundheit versorgen. Man könnte auch sagen: mit Zuwendung, Liebe und Zufriedenheit. Mit diesen Gaben will er einen jeden von uns auf seinem Lebensweg begleiten und stärken. Nicht jedem genügt dieses Angebot; manche haben es vielleicht auch noch nie so gehört. Deshalb müssen manche Menschen erst mühsam lernen, dass alles andere nicht befriedigt. Es ist wie mit dem natürlichen Sprudel, bei dem man wieder Durst bekommt, oder beim Cola-Limo-Mischgetränk, das manchmal so labrig schmeckt, dass man es lieber stehen lässt.

 

Vielleicht beobachten auch Sie so manchen Lebensweg, und fragen sich, warum Menschen solche Umwege gehen, warum Frauen Liebe suchen und nur Liebhaber finden, wenn Männer alles haben, doch keine Ruhe. Vor einiger Zeit fand ich im Kummerkasten einer Zeitschrift folgende Zeilen eines 32-jährigen, die mir typisch schienen und die ich deshalb zum heutigen Predigttext notiert habe.

„Bis vor einem Jahr habe ich mein Leben sehr genossen. Schöne Frauen, schnelle Autos, teure Reisen. Konsum bis zum Letzten. Genuss in vollen Zügen. Ich verdiene sehr gut, besitze ein Superappartement bester Lage in einer süddeutschen Großstadt, dazu zwei Ferienwohnungen, eine am Mittelmeer, eine zweite auf Borkum. Seit einiger Zeit allerdings kommen Momente, in denen sich das alles in mir in Frage stellt. Hohl kommt es mir vor und leer. Abgestanden. (...) Können Sie mir etwas Hilfreiches dazu sagen?“

Ein Mensch, der so viele Dinge hat, nach denen sich andere Menschen vergeblich sehnen. „Schöne Frauen, schnelle Autos, teure Reisen.“ Doch gleichzeitig ist der Lebensdurst dieses Mannes nicht gestillt, und er sucht bei der Redaktion um Lebenshilfe nach. Ich weiß nicht mehr, ob das Sonntagsblatt meiner Kirche etwas Hilfreiches anzubieten hatte, doch ist das für uns hier auch nicht wichtig. Mit unserem Predigttext würde Gott den Lebensweg dieses Mannes so kommentieren:

»Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben. Neigt eure Ohren her und kommt zu mir! Höret, so werdet ihr leben!«

 

Es besteht Hoffnung für diesen Mann. Er spürt, dass „schöne Frauen, schnelle Autos, teure Reisen“ zur Erfüllung seines Lebens nicht genügen. Liebe und Sexualität sind schöne Dinge; Autos, Häuser und anderer Besitz machen das Leben angenehm; und Reisen erweitert den Horizont. Doch für sich alleine genommen können diese Erlebnisse und Güter den Durst auf Leben nicht stillen. Die Schöpfung muss auf den Schöpfer bezogen sein, sonst bleibt ihr Genuss Völlerei und kann das Leben nicht erfüllen. Nicht jeder von uns geht die Wege dieses 30-Jährigen, um das zu lernen. Es mag sein, dass wir andere Wege gehen und auf anderen Wegen in einem religiösen Sinne „durstig“ bleiben. Selig sind jedenfalls die Menschen, die den „Durst nach Leben“ noch spüren, die es immer noch zum Wasser des Lebens zieht.

 

Gott lädt uns zu sich ein, um uns mit seinem Geist der Zuwendung, Zärtlichkeit und Liebe für die Seele zu tränken. Mit ihm will er einen jeden von uns auf seinem Lebensweg begleiten und stärken. Denn das ist die Arbeit des Heiligen Geistes: Er will unser Leben so aufnehmen und gestalten, dass wir mit ihm zufrieden werden. So wie wir lernen können, dass Wasser nicht gleich Wasser ist und sich Fusel für 3 Euro 99 vom Burgunder unterscheidet, so können wir auch für unser Leben unterscheiden lernen. Dabei geht es zum Beispiel um das Gespür und die Unterscheidung von gut und böse. Aber nicht nur. Es geht vielmehr um die Prägung der ganzen Person, um eine Lebenshaltung, die mit Lebenskraft und Lebensfreude erfüllt. Der Umgang mit Gott lehrt den Unterschied zwischen Fülle und Völlerei, zwischen Quantität und Qualität, zwischen Masse und Maß. Um bei unserem jungen Mann zu bleiben: Es geht nicht mehr um die Liebschaften, die man irgendwann nur noch zählt, sondern um die eine Frau. Es geht nicht mehr um die Schnelligkeit der Autos, die irgendwann keine Spannung mehr vermittelt, sondern um die Harmonie von Mensch, Technikgebrauch und Umwelt. Es geht auch nicht mehr um die teure Reise, wo man sich im exklusiven Resort nur selber begegnet, sondern um die Erweiterung der Persönlichkeit durch die Begegnung mit einem anderen Land, einer anderen Kultur und anderen Menschen. Dazu will der Heilige Geist uns anleiten, und wo das geschieht, erleben wir auch erfülltes Leben. Das ist dann jener Schluck Leben, den die Werbung verheißt, den Sprudel aber nicht geben kann.

 

Doch die Verbindung mit der Quelle des Lebens kommt nicht von allein; sie muss gesucht und gepflegt werden. Manchmal bedarf es einer bewussten Umkehr, so wie es jener junge Mann spürt, wenn er um Hilfe nachsucht. Ein jeder, der ähnlich empfindet, möge es jenem jungen Mann gleichtun. Vielleicht bist du dann wieder mehr „im Reinen mit Dir“ (Elisabethenquelle), wie ein anderer Sprudelspruch lautet. Aber auch die Menschen, die keine so sichtbare Neuorientierung brauchen, brauchen Gottes Wegweisung. Immer wieder muss unsere Wahrnehmung überprüft und ausgerichtet werden. Ein Ort, das in Gemeinschaft zu tun, ist die Gemeinde hier am Ort oder eine andere Gemeinde, wenn Sie von woanders her kommen. Die Unterscheidung von Leben in Völle und Leben in Fülle ist ein hoher Anspruch, für den wir in der christlichen Gemeinde gestärkt werden. Die Aufgabe der Verkündigung ist die innere Stärkung, das Zeichen für die äußere Stärkung ist das Abendmahl. Sie erinnern uns daran, dass sich unser Leben einmal in Gottes Hand runden wird und bei ihm aller Lebensdurst gestillt sein wird. Um unseren Durst auf Leben zu stillen, wirbt auch Gott mit dem Slogan: „Trink das Original!“

 

Liturgische Stücke

Eingangsgebet

 

Gott, du Quelle allen Lebens,

du hast uns neues Leben verheißen und willst uns immer wieder erfrischen auf unserem Lebensweg.

Dafür danken wir dir und bitten dich: Lass uns immer wieder den Weg zu dir finden,

durch Jesus Christus unseren Herrn. Amen.

Fürbitten

Ich möchte Sie bitten, die einzelnen Fürbitten aufzunehmen und für sich zu füllen mit den Worten „Wir bitten dich, erhöre uns“:

Unser Gott, wir bitten dich für die Menschen, die sich auf einer Durststrecke des Lebens befinden. Werde Ihnen zur Quelle des Lebens und gib ihnen in ihrer Not neue Perspektiven. Segne alle, denen die Not ihrer Nachbarn nicht egal ist, und lass auch uns Menschen sein, die in anderen Lebensmut und Gottvertrauen stärken können.

Wir bitten dich: Erhöre uns.

Unser Gott, wir bitten dich für die Frauen in Krisensituationen, privat, in der Familie oder im Beruf. Werde ihrem Durst auf Leben zur Quelle des Lebens und gib ihnen in ihrer Not neue Perspektiven. Segne alle, die Frauen in Lebenskonflikten beistehen, in Frauenhäusern und Beratungsstellen, und lass auch uns Menschen sein, die in anderen Lebensmut und Gottvertrauen stärken können.

Wir bitten dich: Erhöre uns.

Unser Gott, wir bitten dich für die Männer in Lebenskrisen, privat, in der Familie oder im Beruf. Werde ihrem Durst auf Leben zur Quelle des Lebens und gib ihnen in ihrer Not neue Perspektiven. Segne alle, die Männer in der Krise begleiten, und lass auch uns Menschen sein, die in anderen Lebensmut und Gottvertrauen stärken können.

Wir bitten dich: Erhöre uns.

Unser Gott, wir bitten dich für die heranwachsenden Jugendlichen in ihrer Suche nach einem Platz im Leben. Werde Ihrem Durst auf Leben zur Quelle des Lebens und begleite sie wie ein guter Freund. Segne alle, die sich um Jugendliche bemühen, und lass auch uns Menschen sein, die in anderen Lebensmut und Gottvertrauen stärken können. 

Wir bitten dich: Erhöre uns.

Unser Gott, wir bitten dich für uns, wenn wir uns auf Durststrecken befinden. Führe auch uns dann zum frischen Wasser, und sende uns dann Menschen, die uns begleiten können und Lebensmut und Gottvertrauen stärken können.

Wir bitten dich: Erhöre uns.

(Anmerkung 1)

'Gwasch' ist in Altbayern die Bezeichnung für ein 'Spezi', ein Cola-Mixgetränk. A 'Gwasch' sagt man hier genauso zu einer dünnen Suppe, einem dünnen Tee, zu Dünnbier, oder auch zu Spülwasser, in dem man eben gewaschen hat. Das ursprüngliche Wort 'Gewäsch' ist also entweder ein trübes Wasser, mit dem gewaschen wurde, oder es ist eine trübe Flüssigkeit, die zwar trinkbar ist, aber die nix gescheites ist, nicht so wie ein gescheites Bier.

https://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/wir-in-bayern/wir-in-bayern-ho…

Perikope
30.06.2019
55,1-3a

Der gedeckte Tisch zum Reich Gottes - Predigt zu Jesaja 25,6-9 von Ralf Hoburg

Der gedeckte Tisch zum Reich Gottes - Predigt zu Jesaja 25,6-9 von Ralf Hoburg
25,6-9

Im schweizerischen Rundfunk konnte man vor wenigen Jahren unter der Überschrift „Gutes Essen ist wie eine Offenbarung“ ein Interview lesen, das sich mit der Lust am Kulinarischen beschäftigt. Darin war zu lesen, dass „Essen“ geradezu in der postmodernen Genuss-Gesellschaft zu einer „Ersatzreligion“ geworden ist und viele Menschen im stilvollen Essen eine gewisse Orientierung suchen. Und dann kam in dem Interview der Schlüsselsatz, der mich hat aufhorchen lassen: „Gutes Essen ist wie eine Offenbarung. Ich muss in dem einzelnen Moment des Genusses ganz aufgehen können.“ Der schweizerische Gastrokritiker Daniel Böninger geriert sich hier geradezu zum Theologen. Ästhetik und Offenbarung gehen eine Verbindung miteinander ein.

Eine andere Assoziation drängt sich auf: Bis zuletzt wurde auf dem untergehenden Schiff Titanic gefeiert, getanzt und gegessen. Das letzte Essen auf der Titanic bestand in der ersten Klasse aus einem 11 Gänge Menu mit diversen Zwischenspeisen und als Getränk dem „Punch Romaine“. Dieses Menu, das den Genuss während des Untergangs beschreibt, hat in gewisser Weise – weil es dokumentiert ist – Ewigkeitscharakter erhalten. Wer im Internet sucht, findet die Rezepte zum „Nach-Kochen“. Auch die Henkers-Mahlzeit kann in diesem kulturhistorischen Zusammenhang erwähnt werden. Auch hier wird in der Begründung des tieferen Sinnes dieses absurden Brauches eine metaphysische Dimension erkennbar.

In allen beschriebenen Fällen kommt dem Essen ein Verweischarakter zu. Es steht „für etwas“, das mitschwingt, aber das nicht so recht ausgesprochen werden kann: Im einen Fall die Symbiose von Person und Genuss und im anderen Fall die Panik des Untergangs bzw. der Apokalypse und dem Wegsehen vor dem Untergang. Und im Fall der Henkersmahlzeit vielleicht die Bitte um Vergebung.

Dem Essen – oder dem „Mahl“ – haftet etwas merkwürdig Entrücktes, Spirituelles oder Metaphysisches an. Nicht zuletzt gründet auch die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen in ihrem Stiftungsgeschehen in dem letzten Mahl, das Jesus von Nazareth im Kreise seiner Jüngerinnen und Jünger gefeiert hat. Daran anknüpfend erinnert auch das Osterfrühstück, das am Tag der Auferstehung der religiöse Ausdruck der tiefen Freude ist. Das Osterfrühstück ist dann zum Teil gemeinsam mit der Segnung von Speisen bereits sehr früh im christlichen Brauchtum verankert.  Das Fasten in der katholischen Kirche, das die Passionszeit hindurch bestimmt und das „Fastenbrechen“ zu Ostern mit dem opulenten Essen zu Ostern bilden zwei Pole in der religiösen Festkultur. Auch das Judentum und der Islam haben ebenfalls ein religiöses Brauchtum, in dem Speisen und Essen eine Rolle spielen. Das Ende des Ramadan wird durch das Fest des Fastenbrechens (Bayram) begangen. Hier kommen Familie und Freunde zu einem mehrtägigen Feiern zusammen, bei dem gut gegessen wird.

Ist also in der Tat die Genuss-Gesellschaft von heute im Zelebrieren und in ihrem Drang nach „gutem“ und „teurem“ Essen zutiefst religiös ohne es zu merken? Vielleicht geht diese Vermutung doch zu weit, aber dem Religiösen auf die Spur zu kommen, könnte in dem aktuellen Bibeltext aus Jes. 25,6-9 stecken, der der Predigttext für den Ostermontag ist. 

I/

Das Festmahl im Angesicht der Gerichtspredigt

Der Kontext des Predigttextes aus Jes 25,6-9 mutet auf den ersten Blick eher fremdartig an. Der Abschnitt findet sich inmitten der sog. Jesaja-Apokalypse von Kap. 24-27, das über das Weltgericht und den Untergang der Weltmächte handelt. Das Prophetenbuch Jesaja, dessen Text über einen langen Zeitraum ab 800 v.Chr. entstanden ist, setzt in diesen Kapiteln die Gerichtsworte gegen die Völker fort. Der Verfasser dieses Textabschnittes – darin ist sich die Bibelforschung seit langem einig – ist nicht der historische Prophet, sondern ein späterer Autor.

Der Gesamtzusammenhang des Textbereiches von Kap. 24-27 behandelt als Thema das „Gericht“. Geradezu die Negativ-Folie zu dem freudigen Fest in Kap 25,6, das von gutem Wein spricht, malt Kap. 24 vor Augen, wo davon die Rede ist, dass der Wein dahin ist und „der Weinstock verschmachtet, und alle, die von Herzen fröhlich waren, seufzen.“ (Jes. 24,7) Aber warum dieses Gericht und vor allem gegen wen? Während einerseits das Gericht über die gesamte Erde ergeht und alle Bewohner zerstreut und zerstört, wird dann andererseits wieder nur von einer Stadt gesprochen, die zerstört wird.  Die Stadt selbst bleibt unerwähnt und der Leser wird nicht in Kenntnis gesetzt. Die Bibelwissenschaft spricht hier deshalb von der „anonymen Stadt“. Nur kurz wird an einer Stelle dieser Gerichtspassage in Kap. 24 dann über die Gründe gesprochen, wenn es in V. 20 heißt: „denn ihre Missetat drückt sie, dass sie fallen muss und nicht wieder aufstehen kann.“  Diese Stelle verweist auf einen tiefen Zusammenhang im alttestamentlichen theologischen Kontext, nämlich die Abwendung des Volkes von JHWH als Ursache für Gericht und Strafe. Schon die biblische Erzählung der Sintflut (1. Mose 6-8) deutet diesen Zusammenhang an und das Auftreten der Gerichtspropheten führt diese Tradition fort. Die Vorstellung vom Gericht und dem Zorn JHWH’s gehört fest zum Bestand des jüdischen Glaubens. Aus unserer Sicht ist dies eher fremd. 

Vor allem die frühen Propheten Amos, Jeremia und Jesaja zählen – so könnte man es sagen – zu den Analysten der Gesellschaft. Sie sind Seismographen der jüdischen Gesellschaft in der Zeit des frühen Königtums und prangern in ihren Sprüchen und Texten offen und drastisch die Zustände an. Dabei erheben sie den Anspruch, dass aus ihren Worten und auch Zeichenhandlungen JHWH selbst spricht und sie Mund und Gefäß des göttlichen Wortes sind. Sie legitimieren sich durch ihre eigene „Berufung“ und ihre Gerichtsworte sind vor allem eine Anklage an das Volk. In der Gerichtsrede führt JHWH selbst das Wort.  

Wie aber ist nun konkret das „Festmahl“ im Angesicht des Gerichtes zu verstehen?  In Kapitel 25 nimmt der Prophetentext eine völlig andere Wendung. Die Stadt ist zerstört und der Prophet stimmt jetzt das „Danklied der Erlösten“ an. (Kapitelüberschrift Lutherbibel) Die Stadt ist jetzt offensichtlich eine Stadt der Feinde und sie ist zum Steinhaufen gemacht. Das Lesen dieser Zeilen mutet gerade aus der Perspektive der Gegenwart des Jahres 2019 merkwürdig an. Die zerstörten Städte und Dörfer in Syrien, die Kämpfe um die IS-Terror-Milizen und flüchtende Menschen – wer hat diese medialen Bilder nicht irgendwie im Kopf? Und wenn im Text vom Wüten der Tyrannen (Jes. 25.4) die Rede ist, komme ich heute leider nicht umhin auch an die bedenkliche Entwicklung in Israel zu denken, wo plötzlich über neue Gebietsansprüche auf den Golanhöhen nachgedacht wird und in der politischen Landschaft des Staates Israel ein gefährlicher Kurs in Richtung der „Ultraorthodoxen“ beschritten wird. Der Krieg in Palästina ist eine unendliche Geschichte und wer wollte nicht, dass dies endlich im Namen von Religion aufhört? Gleichzeitig kommen dann aber wieder auch beim Lesen des Textes andere Gedanken in den Kopf und die Opfer sprechen aus dem Text. Die „Armen“, die „Schutz in der Trübsal“ erhalten (Jes. 25,4) werden plötzlich mit ihrer inneren Erleichterung wahrnehmbar. Aber ob sie wirklich ein Fest nach der Zerstörung feiern würden? 

 

II/

Das Fest und das Reich Gottes

Von der Bibelwissenschaft wurde der Textabschnitt Jes. 25.6-8 „Orakel“ verstanden bzw. als ein eschatologisches Gedicht, das also in poetischer Sprache verfasst ist und ein Zukunftsbild nach der Vernichtung entwirft. Auch dies ist tief im Selbstverständnis des jüdischen Glaubens verankert. Die Leidensgeschichte des biblischen Volkes Israel, die nach den alttestamentlichen Erzählungen die ägyptische und babylonische Gefangenschaft erlebt hat – von den Progromen in der späteren Geschichte und der Shoa im 20 Jahrhundert einmal abgesehen – lebt aus einem Hoffnungsgedanken.

Dieser Hoffnungsgedanke verwendet in der hebräischen Tradition Bilder, Symbole und Worte. Eines dieser festen Glaubenssymbole ist der Berg. Der Berg ist der Ort, an dem JHWH dem Mose erschienen ist und ihm die Tafeln der 10 Gebote übereignet hat. Es ist ein heiliger Ort – ein Ort der Offenbarung. Und so bezieht sich der Predigttext mit einigen Andeutungen auch auf das Ereignis der Offenbarung gegenüber Mose. Auf dem Berg war Rauch und so konnte der Prophet Moses JHWH nicht sehen. (1. Mose 19). In der Offenbarung, von der nun der Prophet Jesaja erzählt und bei dem es um ein Festmahl geht, wird die Hülle weggenommen (Jes. 25,7) und können -  so darf vermutet werden – alle und so auch die Heiden JHWH sehen. Es ist also eine Offenbarung, die man mit den Worten des Theologen Karl Barth als das „totaliter aliter“ – also den oder das Ganz Andere – bezeichnen kann. Und in Vers 9 komplettiert Jesaja den Gedanken: „Siehe, das ist unser Gott, auf den wir hofften, dass er uns helfe. … Lasst uns jubeln und fröhlich sein über sein Heil.“

Das Kommen des Reiches Gottes ist also in der Vorstellung der hebräischen Bibel verbunden mit einem großen Freudenmahl. Der Begriff kommt in der Geschichte Israels erst mit der Zeit der Prophetie und Apokalyptik auf. In diesem Begriff finden sich gleich mehrere Vorstellungen vereint, von denen das Kommen Gottes zum Endgericht eine der wichtigsten Elemente darstellt. Die jüdische Prophetie deutet in diesem Begriff die Exilsgeschichte Israels und entwickelt gleichzeitig eine Zukunftsvision. Dabei bleibt in gewisser Weise unklar, ob mit dem Begriff des Reiches Gottes zugleich auch ein politisches Verständnis verbunden ist.

 

III/

Ostern und die Überwindung des Todes

An der Vorstellung des Reiches Gottes und seiner Verwirklichung durch die Auferstehung von Jesus Christus trennen sich letztlich die jüdische und die christliche Vorstellung. Hier sind sich die jüdische und islamische Religion im Übrigen einig, dass Jesus von Nazareth nicht der endgültige Messias und damit Gottes Sohn ist, sondern als außerordentlicher Mensch in der Tradition der jüdischen Propheten gesehen werden muss. Ostern – und damit das christliche Bekenntnis der Auferstehung – trennt die semitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam.   

Für Christinnen und Christen ist der gekreuzigte Jesus von Nazareth der Messias und der Christus. Ein Neutestamentler benutzte dafür einmal die Sentenz:  „Die Sache Jesu geht weiter“ und er meinte, dass Jesu Vorstellung vom nahen Reich Gottes mit seiner Auferstehung Bestandteil in der Wirklichkeit der Welt geworden ist. Im Glauben an den Christus des Neuen Testamentes wird mit der Auferstehung am Ostersonntag die Passage des Textes aus Jes. 25,8 wahr: „Er wird den Tod verschlingen auf ewig“.

Mit der Überwindung des Todes – so die Glaubensaussage im Neuen Testament – hat das Reich Gottes „schon jetzt“ begonnen, auch wenn die Wirklichkeit der Welt eher als ein düsteres Szenario erscheint. Und wenn das Reich Gottes in gewisser Weise schon unter uns ist, dann kann auch das große Freudenmahl beginnen. Ich stelle mir dies in einer wunderbaren Landschaft in Szene gesetzt vor. Einer meiner Lieblingsfilme „Erbsen auf halb sechs“ des Filmregisseurs Lars Büchel bringt ein solches Diner am russischen Lagoda-See in Szene. Leuchtende rote Fahnen wehen und man blickt von einem, mit einer weißen Tischdecke geschmückten langen Tisch  auf das Meer, das den Betrachter die Unendlichkeit erahnen lässt.  Obwohl der Tod mit am Tisch sitzt in dieser Szene, erscheint der Tod dennoch als überwunden in der metaphysischen Atmosphäre des kulinarischen Mahls.

Mit dem Oster-Schmaus zelebrieren wir also letztlich den Vorgeschmack des Reiches Gottes und hier gehen dann wirklich Ästhetik und Offenbarung eine Verbindung ein. Dem Grunde nach hatte also der schweizerische Gastrokritiker (was immer das ist) Recht. Im Genuss bekommt der Mensch ein Vorgeschmack auf das Reich Gottes und enthält die Ästhetik einen Hauch von Offenbarung. Es wäre nun wahrscheinlich zu verwegen, die Sitte des „Probier-Häppchens“ zu theologisieren, aber dem Genuss beim Essen sollten wir vielleicht doch manchmal mehr eine theologische Note beigeben, um aus der Schale der Ästhetik den Kern der Offenbarung zu spüren. Wahrscheinlich nicht umsonst definierte der theologische Altmeister des 19. Jahrhunderts Friedrich D.E. Schleiermacher die Religion in seinen Reden als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“.  In diesem Sinne wünsche ich Ihnen genussvolle Ostern. 

Perikope
22.04.2019
25,6-9

Widerstandsfähigkeit – Predigt zu Jesaja 50, 4 – 9 von Helmut Dopffel

Widerstandsfähigkeit – Predigt zu Jesaja 50, 4 – 9 von Helmut Dopffel
50,4-9

Liebe Gemeinde,

vermutlich kennen alle hier die Geschichte vom Palmsonntag. Jesus reitet auf einem Esel durch das Tor in die Stadt Jerusalem. Die Menschen jubeln ihm zu, sie breiten ihre Mäntel auf dem Boden vor ihm aus, winken mit Palmwedeln, singen „Hosianna“, „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn“. Heute wäre es der rote Teppich, die Lichter der Handys, und „We are the champions“. Jesus ist mindestens ein Star, eher aber einer, in dem viele den kommenden starken Mann sehen, durch den die Dinge besser werden. Hoffnung und Enthusiasmus verbinden sich mit ihm. Was für eine schöne Geschichte! – Aber wer genau hinschaut und hinhört, der wundert sich vielleicht, dass er nur einen Esel reitet und nicht hoch zu Roß; der hört das Gemurmel im Hintergrund, der spürt, dass Spannung in der Luft liegt, dass die Stimmung jederzeit umschlagen kann ins Gegenteil, der sieht, wie sich der Himmel zu verfärben beginnt. Denn der Palmsonntag ist das Tor zur Karwoche. „Kar“ bedeutet vermutlich „weinen, sorgen, klagen“. Heute beginnt also die Woche der Klage, des Weinens, der Trauer. Wir wenden uns den unerfreulichen Seiten des Lebens zu, den schweren Themen: Hass und Verrat, Ungerechtigkeit und Lüge, Bosheit und Sadismus, brutale körperliche und seelische Schmerzen, elendes Leiden und Tod. Das wird ja schon in der Bibel drastisch ausgemalt, es ist schwer zu lesen oder hören, es ist, finde ich, noch schwerer anzuschauen auf den mittelalterlichen oder auch modernen Altarbildern, und es ist absolut nicht auszuhalten in der realistischen Darstellung eines Films. Kein Wunder, dass viele Menschen mit diesen Tagen und ihren Geschichten nichts zu tun haben wollen. Kein Wunder, dass sich Jahr für Jahr der Protest gegen die Stille des Karfreitags erhebt, im Namen von cool und happy und geil und Eideidei. Ich bin aber davon überzeugt, dass es uns, unserer Gesellschaft, unserer Kultur gut tut, wenn wir wenigstens einmal im Jahr so innehalten und uns dem Leiden stellen, dem Leiden, das in der Welt ist, dem Leiden, das um uns und in uns ist, dem Leiden, das uns in Jesus entgegen kommt. – Aber wieder: Wer genau hinschaut und hinhört, der sieht und hört noch etwas anderes in all diesem. Etwas, das sich wie ein zarter Glanz durch diese Tage spinnt: Sehet. Welch ein Mensch! Das ist wahre Menschlichkeit. Und mehr: Sehet. Welch ein Gott! So begegnet uns Gott. So etwas wie Wärme und Liebe ziehen sich durch all diese grausamen Geschichten. Die Christenheit hat das in zwei Worte gefasst: Für uns! Für uns und zu unserem Heil! Und eine Kraft ist spürbar, die nicht nur durchs Leiden hindurchträgt, sondern am Ende sich in überirdischem Triumph erhebt: Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? Gott aber sei Dank…

Einige hundert Jahre vor Jesus lebte ein Mensch, von dem wir nichts und doch vieles wissen. Wir wissen nichts über seine Lebensgeschichte. Aber wir wissen viel über sein inneres Leben. Und was er uns da hinterlassen hat, auf einigen wenigen Seiten Text, das ist so beeindruckend und so hautnah, dass es zu uns heute spricht, genauso wie zu den Menschen zur Zeit Jesu und zu Jesus selbst. Vielleicht hat Jesus über diese oder ähnliche Worte nachgedacht, als er auf dem Esel einritt.

 

Predigttext Jesaja 50, 4-9:

„Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich Morgen um Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. - Aber ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mir den Bart ausrissen. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum habe ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen.“

Wie gesagt, wir wissen so gut wie nichts über diesen Menschen. Und doch verstehen wir jedes Wort. Denn wie er haben wir eine Zunge zum Reden, Ohren zum Hören, Haut die Schläge und Streicheln fühlt, ein Gesicht, das sieht, und eine Seele, die wahrnimmt und spürt. Wir sind eben Menschen mit Körper und Seele und allen Sinnen. Diese unbekannte und doch so bekannte Person von damals führt uns hinein in drei Erfahrungen, die sehr unterschiedlich sind und auf den ersten Anschein nicht viel miteinander zu tun haben. Die erste ist die des Morgens. Der Morgen kann einen Zauber haben. Der Morgen kann den Tag öffnen. Manchmal wache ich auf am Morgen, und Dinge sind klar geworden, die am Abend und in der Nacht verworren waren. Manchmal wache ich auf am Morgen und bin ganz geborgen nach unruhiger Nacht. „Er weckt mich Morgen um Morgen“. Gott öffnet das Ohr und redet. Wie? Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Gottes Stimme akustisch, äußerlich hören kann. Zumindest ist mir das noch nie passiert, und wenn, würde ich schwer ins Grübeln über mich kommen. Aber ich bin sicher, dass Gott zu uns redet, auf seine, andere Weise. Und der Morgen ist vielleicht eine bevorzugte Zeit, um diese Stimme Gottes zu hören und zu verstehen, denn am Morgen sind wir offen und aufmerksam. Wie ein Jünger, wie eine Schülerin. Oder könnten es sein. Worauf hören wir, wenn wir mit Gott den ersten Anfang des Tages beginnen? Da ist vielleicht der Wind. Er erinnert nicht nur an den Geist, an Freiheit und Geborgenheit, sondern bläst ihn in die Seele. Da sind Kinderstimmen: Leben, dessen Zukunft auch von uns abhängt. Lebensfreude schwingt zu mir herüber: So schön ist die Schöpfung. Die Müllabfuhr: Menschen, die schwer und schmutzig und im Halbdunkel für uns andere arbeiten. Da ist dieses Wort in meinem Kopf, ich weiß nicht woher es gerade kommt, vielleicht ein Bibelvers, eine Liedzeile, ein Zitat, das zu mir spricht und dem Tag eine Stimmung und eine Orientierung gibt. Der Mensch neben mir: Eine Liebeserklärung ganz nah und von ganz oben. Und der Wecker: Es ist Zeit, den Tag zu beginnen. So könnte es sein, von Gott geweckt zu werden. So könnte sein Wort in unser Ohr dringen. Und was und wie immer es ist, eine Botschaft bleibt: Er ist da. Er passt auf mich auf. Er denkt an mich und ist bei mir und spricht zu mir, selbst wenn ich ihn vergesse im Trubel des Tages. Welch ein Glück. Unser Leben als Christen ist eine Übung im Hören. Ich erinnere mich an Schul- und Studienzeiten, in denen ich so war, ganz Ohr, ganz aufmerksam, und es erschloss sich mir eine neue Welt.

Und dann, nach dem Morgen, die Erfahrungen des Tages. Die Übung des Hörens hat Sinn und Ziel, und das ist nicht unser eigenes Wohlbefinden. Der Unbekannte formuliert: Mit den Müden zur rechten Zeit zu reden, und auch sie zu wecken. Was da am Morgen geschieht ist mehr als nur ein Auftrag. Wir werden befähigt. Aus dem Hören kommt das rechte Reden mit den Menschen, die müde sind. Das ist meistens nicht lustig. Es ist nicht einfach, denn gerade müde Menschen sind es müde zuzuhören, den guten Ratschlägen, Aufmunterungen, Lösungsvorschlägen. Für all das sind sie einfach – zu müde.  Wenn Jesus sagt: Kommt her zu mir alle, die ihr müde seid und belastet: Ich will euch erquicken – dann ist das zwar ein Auftrag, aber kein Allheilmittel. Da beginnt oft schon die Passion. Gelingen kann es dann, wenn wir Worte finden, in denen wir nicht den Sachverhalt klären, die Lösung aufzeigen, sondern Worte, auf denen wir uns selbst hinübertragen lassen zum anderen, so dass er oder sie etwas von uns spüren kann, unsere Aufmerksamkeit, unsere Nähe, unsere Wertschätzung und Liebe. Da öffnet sich vielleicht ein Ohr und eine Seele. Manchmal. Und dann „fällt ein Tropfen von dem Regen der aus Wüsten Gärten macht.“ Jesus konnte das. Und doch hat auch er sich an der „Herzenshärtigkeit“ der Menschen aufgerieben.

Und schließlich noch die Erfahrungen der Dunkelheit. Nicht nur bleibt das Reden erfolglos und findet kein Gehör. Wenn Menschen, die Gottes Stimme gehört haben, versuchen, Licht in die Dunkelheit zu tragen, dann provoziert das offenbar. Und so erzählt der Unbekannte von damals, wie es ihm heimgezahlt wurde. Verprügelt wurde er, bespuckt, die Haare wurden ihm ausgerissen, und er wurde übel beleidigt. Heute würden wir sagen: Ein böser Übergriff, ein schwerer Fall von Mobbing.  Die Ursachen bleiben unklar. Das ist bei Mobbing oft so. Klar ist aber, dass er für Gott seinen Kopf hingehalten hat, für das Leben, das Licht und die Wahrheit. Spannend und hilfreich finde ich, wie er davon erzählt. Er tut nicht, was naheliegt: Er klagt nicht, er resigniert nicht, er schlägt nicht wild um sich, und er verherrlicht oder bagatellisiert das Leiden auch nicht. Stattdessen erzählt er von seiner Widerstandskraft. Durchaus mit ein bisschen Stolz und großem Selbstbewusstsein. Er gibt sich nicht geschlagen. Er geht nicht zurück. Er bietet den anderen die Stirn. Hart wie Kieselstein hat er sein Gesicht gemacht. Kennen Sie das Gefühl, dieses Gefühl im Gesicht? Hart! Es gibt Situationen, da ist das notwendig. Und trotzdem erfüllt es mich, so gut ich es nachvollziehen kann, mit Unbehagen. Härte ist immer gefährlich. Was macht es mit uns und anderen, wenn wir immer in der Rüstung rumlaufen? Wie Siegfried, der Drachentöter, dessen Haut unverwundbar war. Zwei liebe Menschen habe mir einmal ein kleines Gebet geschenkt: „Wenn wir in Drachenblut baden, schick uns ein Lindenblatt, dass wir verwundbar bleiben.“

Nein, der Weg ist ein anderer. Woher kommt denn diese Widerstandskraft, diese Fähigkeit, standhalten zu können? Die Psychologen sagen, innere Widerstandskraft komme aus Selbstgewissheit und einem guten Netzwerk von Familie und Freunden.  Und ein bisschen ist es unerklärlich. Wie wahr. Aber dieser Unbekannte, der uns erzählt, der hat kein Netzwerk, auf das er sich stützen könnte.  Und woher kommt sein Selbstbewusstsein? Ich glaube, dass da die drei so unterschiedlichen Erfahrungen, die des Morgens, die des Tages, die der Dunkelheit, zusammenfinden. Er schöpft sein Selbstbewusstsein und seine Widerstandskraft nicht einfach aus den unergründlichen Brunnen seiner selbst. Gott gibt ihm, was er braucht, weckt, öffnet, hilft, ist nahe, spricht gerecht. Gott ist der Freund auf unserer Seite. Diese Erfahrung macht er nicht nur einmal, sondern“ Morgen um Morgen“. Dass er standhalten kann, das ist ein Zeichen von Gottes Nähe. Daran ändert auch das Leiden, das Mobbing, die Beleidigung nichts. Im Gegenteil: Auch das wird zum Zeichen der Nähe Gottes. Man kann auch im Leid die Nähe Gottes erfahren. Alle Kraft in den Schwachheiten des Lebens kommt von Gott. Das ist unsere Stärke. Aber zugleich liegt darin ein Versprechen. Jedes kleine Glück, jedes Glücksgefühl ist in sich wertvoll und zugleich mehr, nämlich ein Gleichnis, ein Versprechen des Glücks überhaupt ist. Und so ist auch die Kraft Gottes in unserer Schwachheit, die Nähe Gottes im Leiden ein Versprechen, dass einmal alle Tränen abgewischt werden und, wie der Unbekannte mit großer Gewissheit sagt, „ich nicht zuschanden werde“.  Und das bildet Vertrauen, Selbstgewissheit, Gelassenheit, Widerstandsfähigkeit. „Mein Angesicht verbarg ich nicht.“

Aber da ist doch noch ein großer, ungeklärter, unerlöster Rest: Die Schmerzen an Leib und Seele, die dieser Unbekannte erlitten hat, die wir erleiden, die so viele Menschen erleiden seit Jahrtausenden und bis heute weltweit. Da ist die unerhörte, unfassbare Bosheit und Menschenverachtung, die uns immer wieder entgegenschlägt Bleibt dieses Elend und diese Schuld einfach so liegen und schreit ewig zum Himmel? Muss da nicht noch mehr geschehen? Muss Gott nicht mehr tun als barmherzig zu sein und nah? Für uns und zu unserem Heil wird Gott ein Mensch. Das ist die Geschichte dieser Karwoche. Das ist die Geschichte Jesu.

Ein berühmter, auch umstrittener Schriftsteller unserer Zeit, der, für mich hinreißend und überzeugend und beunruhigend, die Ausgezehrtheit und Müdigkeit einer modernen säkularen Kultur und Gesellschaft und ihrer Menschen zeichnet, den ich aber nie in die Nähe des Christentums gestellt hätte, schreibt am Ende seines jüngsten Romans: „Gott kümmert sich tatsächlich um uns, er denkt in jedem Augenblick an uns, und manchmal gibt er uns sehr genaue Weisungen. Seine überschwängliche Liebe, die in unsere Brust strömt, bis es uns den Atem verschlägt, seine Erleuchtungen, seine Verzückungen, unerklärlich angesichts unserer biologischen Natur, unserer Stellung als einfache Primaten sind äußerst klare Zeichen.

Und heute verstehe ich den Standpunkt Christi, seinen wiederkehrenden Ärger über die Verhärtung der Herzen: Da sind all die Zeichen, und sie erkennen sie nicht. Muss ich wirklich zusätzlich noch mein Leben für diese Erbärmlichen geben? Muss man wirklich so deutlich werden?

Offenbar ja.“ (Michel Houellebecq, Serotonin, 2019, S. 335)

Amen.

Liedvorschläge:

EG 452,1-5      Er weckt mich alle Morgen

EG 87, 1-3       Du großer Schmerzensmann

            oder

EG 91, 1-3.6    Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken

EG 275 , 1-4     In dich hab ich gehoffet, Herr.

EG 638, 1-3     Wo ein Mensch Vertrauen gibt

 

Perikope
14.04.2019
50,4-9

Schweige und Höre - Predigt zu Jesaja 50, 4-9 von Antje Marklein

Schweige und Höre - Predigt zu Jesaja 50, 4-9 von Antje Marklein
50,4-9

Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr. Das haben wir vorhin gesungen. Das schöne Morgenlied von Jochen Klepper… (wdh)

Wer hat Ihnen heute morgen das Ohr geweckt? Was war das erste, was ich heute morgen gehört habe? Radio NDR Kultur. Wer war der erste der zu Ihnen, zu euch gesprochen hat, und was hat er / sie gesagt? War es die Mutter beim Frühstück? Ein Telefonat am Morgen? Oder eine Audio- Nachricht bei  Whatsapp?  Oder waren die ersten Worte, die Sie gehört haben, die Begrüßung am Eingang der Kirche?

Wie wichtig ist das erste Hören am Morgen. Es kann meine Stimmung beeinflussen. Wie gut, wenn ich etwas hören kann, eine fröhliche Stimme im Radio, oder Menschen um mich, die zu mir sprechen. Nicht vorstellbar, wenn ich nichts hören würde.

Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr.

Was hören wir alles an einem Tag. Was dürfen, ja was müssen wir alles hören? Ich nehme Sie einmal mit durch ein paar Hörerfahrungen der letzten Tage:

Am Tresen beim Bäcker habe ich die gestresste Verkäuferin gehört. Ich war im Aufzug in einem Seniorenheim und habe das kurze Gespräch zweier Bewohnerinnen gehört. In der U-Bahn haben neben mir eine Mutter und ihr Kind ganz konzentriert ‚Ich sehe was, was du nicht siehst‘ gespielt. In einem Wartezimmer habe ich eine ganze Lebensgeschichte gehört. In einer Kita den Streit zweier vierjährigen Kinder; im Fernsehen eine Frau in Mozambique, die plötzlich die Verantwortung für ihre drei Enkelkinder übernehmen muss nach dem Tod der Tochter in den Fluten. Ich habe gehört, was mir mein Mann über einen Konflikt erzählt hat. Ich habe meine Mutter von früher erzählen gehört. …

Was habt ihr gehört in der letzten Woche? Das Vogelgezwitscher am Morgen? Die Traurigkeit der Freundin nach einem Streit? Das Rauschen der Bundesstraße? Die Krankengeschichte aus der Nachbarschaft? Den Ärger über den fernen Sohn? Den Unmut anderer Ehrenamtlicher über eine frische Auseinandersetzung? Erschütternde Nachrichten aus Palästina?

Unser Ohr muss viel leisten, um all das zu hören. Manchmal hilft, sich taub zu stellen, wenn ich es nicht mehr hören kann. Aber ich frage Sie, ich frage mich: Wie kann ich all das aushalten was ich höre, woher habe ich die Kraft, hin zu hören?

HÖREN wir dazu einen alten Bibeltext, einen Abschnitt aus dem Jesajabuch im 50. Kapitel.

Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen?

Der das schreibt, ist ein Prophet. Er soll handeln im Namen Gottes. Und er muss dabei viel Leid und Schmach aushalten. 

Ein Satz klingt bei mir nach: ‚Gott hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.‘  (wdh)

Der Prophet muss sich viel anhören: Das Volk Israel ist unzufrieden, nach langem Exil muss es wieder im Land Fuß fassen. Das Trauma des Exils sitzt tief. Verzweiflung schlägt dem Propheten entgegen. Das alles ficht ihn an. Er muss sich abhärten, um auszuhalten, was er zu hören kriegt.

Ist das eine Lösung, um auszuhalten was wir alles hören? Uns abhärten, hart werden gegen andere, eine Fassade aufbauen, an der abprallt, was uns zu viel wird?

Ja, wenn der Prophet nur auf das jammernde Umfeld hören würde, könnte er das nicht lange aushalten. Wer nur nach außen ausgerichtet hört, brennt aus. Wer nur sein Ohr bei den Anderen hat, wird irgendwann erschöpft. Wer keine innere Kraftquelle hat, wird krank.

Gott spricht den Propheten von innen an. Gott spricht uns von innen an. Hören Sie das?

Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr.

Es ist Gott, der mich alle Morgen weckt und mir das Ohr öffnet. Nicht der Wecker oder das Handy. Gott. Gott weckt mich alle Morgen und öffnet mir das Ohr. Gott macht es möglich, dass ich höre und handle. Eine steile Behauptung von mir, ich weiß. Kann aber entlastend sein. So ein Perspektivwechsel hilft. Gott ist der erste, der morgens zu mir spricht.

Aber hör ich das? Hören Sie das?

Vielleicht kann ich hören üben. Was höre ich von Gott? Wie spricht er zu mir? Durch wen, durch was spricht Gott zu mir? Melodie hineinspielen Schweige und höre; neige deines Herzens Ohr; suche den Frieden.

Schweige und höre – singen  (aus: freitöne, Nr. 2)

(Melodie wird weiter im Hintergrund gespielt) Die Woche die vor uns liegt, ist die Karwoche. Wir gehen an jedem Tag durch Stationen des Lebensweges von Jesus. Die Stationen seines Leidens, das letzte Abendmahl am Gründonnerstag, die Todesstunde am Karfreitag, die Grabesruhe am Samstag und dann der Jubel am Ostermorgen. Für mich ist das eine Woche, in der ich nach innen hören übe. Hören auf die Bibel, hören auf Gott und sein Wort hinter allem Leid. Ich höre gern Passionsmusik in dieser Woche. Ich höre gern in die Stille einer Andacht hinein, ich höre auch in der Gottesdienstgemeinschaft an diesen besonderen Tagen.

Eine Hörübung für die Karwoche – Schweige und höre. Neige deines Herzens Ohr. Suche den Frieden. (Ende der Musik)

Tun wir das gemeinsam – und jeder für sich in dieser Woche: Hören üben. Und dann, nach der Karwoche, wenn wir das Hören auf Gott neu gelernt habe, dann haben wir auch wieder ein Ohr für andere. Dann können wir auch wieder anderen zuhören, uns der lauten Welt aussetzen. Dann können wir auch wieder reden, vollmundig und überzeugt, wie der Prophet. Dann, nach Ostern, beflügelt von der neuen Lebenskraft, können wir Konflikte ansprechen, Menschen trösten, auch unbequeme Worte sagen und dafür auch Kritik einstecken.  Nach Ostern können wir uns wieder lautstark einsetzen für das Leben in Gottes Welt.

Heute, am Palmsonntag,  möchte ich aus dem Gottesdienst hinausgehen mit den Worten und den Tönen ‚Schweige und höre‘ auf den Lippen und im Herzen. Vielleicht tun wir das gemeinsam.

Literatur: Predigtstudien 2018/2019 1. Halbband S. 208ff

Perikope
14.04.2019
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