Ein etwas anderes Liebeslied… zu singen bei einem Becher Wein… - Predigt zu Jesaja 5, 1-7 von Sven Evers

Ein etwas anderes Liebeslied… zu singen bei einem Becher Wein… - Predigt zu Jesaja 5, 1-7 von Sven Evers
5, 1-7

Jakob liebt es, auf dem Markt herum zu schlendern.

Das Stimmengewirr, das ihm jedes Mal erscheint wie ein einziger großer Klangteppich voller Leben.

Die vielen Farben, die Gerüche, die Klänge, das so bunte Leben - wie schön, ein Teil davon zu sein. Wie schön, hier einfach einzutauchen und sich treiben zu lassen. Und neben den vielen Buden und Wagen, an denen es die außergewöhnlichsten Dinge zu kaufen gibt, die vielen Darbietungen von Gauklern und Artisten, von Liedermachern und….

Das ist doch dieser Jesaja da hinten an der Ecke, denkt Jakob. Dem war er schon mal begegnet. Ein ausgemergelter Mann mit einem Blick, in dem so viel Wissen und so viel Wahrheit und auch so viel Leben liegt, dass Jakob auf Anhieb fasziniert war. Jakob drängelt sich durch die Menge und hört gerade noch die Ankündigung eines Liedes

Ein Lied von meinem Freund will ich Euch singen. Es ist das Lied von meinem Freund und seinem Weinberg.

Jakob kennt Weinberge. Er hat sie von klein auf besucht, gemeinsam mit seinem Vater.

Draußen vor der Stadt. Sanft auf Hügeln gelegen, der Sonne zugewandt, wachsen dort die schönsten Trauben. Süß und saftig.

Und sie schimmern in der Sonne. Und es perlt im Becher, wenn sie nach der Lese gekeltert werden und die Winzer probieren, ob sie gelungen sind oder nicht.

Kritisch lassen sie dann den Saft im Becher kreisen, riechen, schmecken, schlürfen mit der Zunge und schauen konzentriert drein. Und wenn dann mit einem zufriedenen Nicken der Becher weiter gereicht wird, dann ist die Freude groß, und Jakob ließ sich gerne anstecken von dieser Freude und schmeckte auch von dem frischen Saft.

Ja er weiß, wie viel Arbeit in einem Becher Wein steckt. Die Trauben, die einzeln gelesen werden an Weinstöcken, die immer wieder beschnitten werden müssen und gewässert und vom Ungeziefer befreit und und und… Da gehört viel Arbeit zu und viel Geduld und ganz viel Liebe.

Und er weiß, wie kostbar so ein Weinberg ist - mit Mauern gesichert, dieser kostbare Besitz, in dessen gelungener Ernte das Leben liegt und das Überleben derer, die daran arbeiten - während Missernten ganze Familien in Hunger und Not stürzen können.

 

Die erste Strophe

Mein Freund hatte einen Weinberg

auf einem fruchtbaren Hügel.

Er grub ihn um, entfernte die Steine

und bepflanzte ihn mit den besten Weinstöcken.

Mittendrin baute er einen Wachturm.

Auch eine Kelter zum Pressen der Trauben hob er aus.

Dann wartete er auf eine gute Traubenernte.

aber der Weinberg brachte nur schlechte Beeren hervor.

 

Jakob glaubt, sich verhört zu haben. Schlechte Beeren? Was ist denn das für ein Liebeslied? Was ist denn das für ein Reim, den der Prophet da macht? Was sind das für Klänge und für Worte, die sich da auf einmal in seinen Vortrag schleichen? Jakob ist in Gedanken noch bei fruchtigem Wein, bei sich im Becher spiegelndem Sonnenlicht, bei Tanz und Fröhlichkeit, wie er sie von den Weinfesten kennt, die im Herbst gefeiert werden. Und nun das?

 

Die zweite Strophe

Jetzt urteilt selbst,

ihr Einwohner von Jerusalem und ihr Leute von Juda!

Wer ist im Recht - ich oder mein Weinberg?

Habe ich irgendetwas vergessen?

Was hätte ich für meinen Weinberg noch tun sollen?

Ich konnte doch erwarten, dass er gute Trauben trägt.

Warum hat er nur schlechte Beeren hervorgebracht?

 

Jakob schaut sich um. Die Menschen um ihn herum schauen ähnlich empört drein wie er selbst. Es ist nur ein Lied - aber dieser Jesaja versteht es, Menschen zu berühren und mit hineinzunehmen in das Geschehen, das muss er ihm lassen. Als ginge es um sie selber schauen die Menschen, und auch Jakob ist ganz außer sich. Was für ein Weinberg! Natürlich hat der Besitzer alles getan - das weiß er aus den Erzählungen derer, die selber Weinberge haben und aus den vielen Besuchen dort. So viel Arbeit, so viel Mühe, so viel Zeit und so viel Geld steckt da drin. Alles hat der Weinbergbesitzer getan, alles hat er geopfert, alles hat er auf eine Karte gesetzt - und dann so etwas! Wenn es irgendeinen Sinn machen würde, Weinberge zu verurteilen: Natürlich ist der Weinberg im Unrecht und natürlich ist der Freund im Recht. Wie groß muss die Enttäuschung sein, wenn nach so viel Einsatz und Mühe nur schlechte Beeren übrigens bleiben. Wie groß muss die Wut sein, wenn all die Arbeit umsonst ist und die Liebe, die darinnen steckt und das Bemühen, das den Weinberg behandelt hat fast als wäre er nicht nur ein Garten mit einer Mauer drumherum, sondern ein guter und geliebter Freund, dessen Liebe und Frucht man doch erwarten darf nach allem, was man für ihn getan. Ich würde… denkt Jakob … ich würde….

 

Die dritte Strophe

Ich will euch sagen,

was ich mit meinem Weinberg tun werde:

Die Hecke um ihn herum werde ich entfernen

und seine Schutzmauer niederreißen.

Dann werden die Tiere ihn kahl fressen und zertrampeln.

Ich werde ihn völlig verwildern lassen:

Die Reben werden nicht mehr beschnitten

und der Boden nicht mehr gehackt.

Dornen und Disteln werden ihn überwuchern.

Den Wolken werde ich verbieten,

ihn mit Regen zu bewässern.

 

Ja, genau das würde ich auch tun, denkt Jakob wütend und stampft geradezu mit dem Fuß auf. Was für ein Weinberg! Was für eine Unverschämtheit. Alles, wirklich alles hat man für ihn getan - und dann so was! Da ist es ja wohl verständlich, dass der Besitzer wütend wird?! Dass er zornig und außer sich Mauern ein und Hecken ausreißt. Hat er doch nicht anders verdient, der Garten mit diesen unnützen Trauben…!

 

Jakob kennt das irgendwie.

Als Kind war es ihm mit seinem Lieblingsspielzeug mal ähnlich ergangen. Er hatte sich alle Mühe geben, es zu verstehen, doch es wollte und wollte nicht funktionieren - bis er es dann wütend in die Ecke warf. Wobei… war es nur Wut, überlegt Jakob? War es nicht eine Mischung aus Wut und aus Trotz und aus Enttäuschung und aus …. Liebe? War nicht vielleicht mancher Wutausbruch des Vaters, der ihm im Nachhinein Leid getan hatte, auch nichts anderes als Enttäuschung darüber, dass er mit seiner Liebe bei Jakob ja durchaus nicht immer das erreichte, was er sich vielleicht erhoffte? Und hatte er selber das nicht auch schon erlebt, dass Wut und Enttäuschung gerade da am größten waren, wo auch die Liebe am größten ist? Wo mir der oder die Andere eben nicht egal ist…? Könnte es am Ende sein…. dass dieses Lied gar nicht nur von Weinbergen, sondern von ganz anderem….

 

Die vierte Strophe

Wer ist dieser Weinberg?

Der Weinberg des Herrn Zebaoth,

das sind die Bewohner von Israel.

Die Leute von Juda,

sie sind sein Lieblingsgarten.

Der Herr wartete auf Rechtsspruch,

doch seht her, da war Rechtsbruch.

Er wartete auf Gerechtigkeit,

doch hört nur, wie der Rechtlose schreit.

 

Jakob hatte es ja gerade geahnt. Manche um ihn herum wohl auch. Betreten schauen sie drein und stellen fest, dass sie in ihrer Wut über den Weinberg gerade sich selber das Urteil gesprochen haben. Ihr seid es - funkelt der Prophet die Menge aus klaren Augen an! Ihr seid es, die Gott, der Herr, geliebt hat von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all seiner Kraft! Aus der Gefangenschaft in die Freiheit hat er euch geführt. Das Land hat er euch gegeben und Frieden und Brot und sein gutes Wort und alles, was ihr zum Leben braucht. Und was tut Ihr? Schaut, wie ihr seine Liebe mit Füßen tretet! Schaut, wie ihr umgeht mit euren Mitmenschen - eure Schwestern und Brüder. Schimpft nicht über den Weinberg, der schlechte Früchte gibt. Weinberge können nicht hören! Seht die Tränen der enttäuschten Liebe eures Gottes und schaut in Eure eigenen Gesichter. Der Weinberg Gottes, sein Lieblingsgarten - Ihr seid es. Und was habt Ihr daraus gemacht!

 

Jakob steht stumm. Die Menschen stehen stumm.  Sie schauen zu Boden. Wütend manche und kopfschüttelnd. Betreten und betroffen andere. Langsam dreht Jakob sich um und geht davon. Fühlt den Blick des Propheten auf sich. Hört nicht mehr das Stimmengewirr um sich herum - nimmt sie nur noch verschwommen wahr: die Geräusche und die Farben und die Gerüche… Ein merkwürdiges Lied auf den Lippen. Ein Lied, das ihm so schnell nicht aus dem Kopf gehen wird.

Epilog - oder: Die letzte Strophe

Die letzte Strophe gibt es nicht.

Jedenfalls nicht im Jesajabuch.

Wie würde das Lied weiter gehen?

Wie würde Jakob es weiter erzählen?
Wie ich?

Wie Gott?

Wie kann ich die Rede von Wut und Zerstörung aus Enttäuschung über nicht erwiderte Liebe mit meinem Bild von Gott zusammen denken?

Andererseits: Laufe ich nicht Gefahr, Liebe zu Beliebigkeit verkommen zu lassen, wenn ich angesichts meines und unseres Handelns Menschen und auch Gott gegenüber nicht auch von Enttäuschung, von Wut, von Gericht spreche?

Und wieder: Wir sind heute hier.

Weil Zerstörung und eingerissene Mauern und zertrampelte Gärten eben nicht das letzte sind.

Weil Gott immer wieder neu anfängt, immer wieder neu pflanzt und pflegt und hegt.

Trotz allem, was wir sind.

Wie gerne würde ich mich darüber mit Jakob austauschen. Ich bin sicher wir hätten einander so vieles zu erzählen und so vieles zu fragen…. am liebsten bei einem guten Becher Wein …

 

Amen.

 

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Dr. Sven Evers

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
„Meine“ Landgemeinde – Menschen aus dem Dorf, alt und jung; Konfirmandinnen, die so mittelmäßig gerne kommen; manche Erwachsene, die kommen, weil zu Corona-Zeiten außer Gottesdiensten nichts stattfindet; Stammgäste – überwiegend geübte Predigthörer*innen, für die allerdings manch interne Diskussion um die Textzusammenstellung zu diesem Sonntag (Jes 5 gg. Mk 12) und die damit gegebene Thematik möglichen Anti-Judaismus überhaupt keine Rolle spielt.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Jakob – in früheren Predigten der „kleine Jakob“ ist mir schon lange lieb, um mich und die Hörer*innen in die Welt der alten Propheten mit hinein zu nehmen. Sich im Eintauchen in die Geschichte selber neu zu verstehen – von der Geschichte verstehen lassen gewissermaßen – das finde ich immer wieder reizvoll. Von daher auch relativ wenig Übertragung nach dem Motto „Was uns das ganze heute sagen will“. Ich vertraue auf das Verstehen, das sich im Mit-Gehen ereignet.

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
„Der Zorn Gottes ist das Brennen seiner Liebe“ – so oder so ähnlich hat es Karl Barth gesagt. Ich mag das nicht mit vollziehen. Andererseits: Das Handeln der Menschen – und auch meines – hat Konsequenzen, ist nicht egal. Das immer wieder zu betonen und den „lieben Gott“ nicht zum Deppen zu machen, der nicht „lieb“, sondern beliebig ist – darüber werde ich sicher weiter nachdenken. Und die Hörer*innen vielleicht ja auch.

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich danke meiner Coachin Beate Schmidtgen ganz herzlich für das tolle Feedback!! Ich habe nicht jede ihrer Anregungen aufgenommen. Vor allem aber die Idee, den kleinen Jakob ein paar Jahre älter werden zu lassen und so ganz neue Identifikationsmöglichkeiten für Hörende zu schaffen, habe ich gerne aufgenommen. Nicht nur dafür ganz herzlichen Dank!

Perikope
28.02.2021
5, 1-7

Ein Hügel im Morgenrot - Predigt zu Jesaja 58, 1-9a von Manfred Wussow

Ein Hügel im Morgenrot - Predigt zu Jesaja 58, 1-9a von Manfred Wussow
58, 1-9a

Rufe laut, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden! Sie suchen mich täglich und wollen gerne meine Wege wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie wollen, dass Gott ihnen nahe sei.

»Warum fasten wir und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib und du willst’s nicht wissen?«

Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter.

Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit oder seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der Herr Wohlgefallen hat?

Ist nicht das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.

Predigt

Der unbekannte Zaungast

Pssst! Da schleicht sich doch ein Mensch ins Bild! Während alle Blicke auf Amanda Gorman gerichtet sind und sogar Tränen fließen, hat sich ein unbekannter Zaungast an den Rand gestellt. Niemand hat ihn kommen sehen. Nicht einmal die Soldaten, die den neuen amerikanischen Präsidenten, J. Biden, bei seiner Einführung und Amtsübernahme schützen. Was waren das vorher für turbulente Zeiten! Sie erinnern sich? Sogar das Capitol wurde gestürmt. Schlagzeilen, Bilder,  Befürchtungen! Rund um die Uhr. Jetzt sind viele Fahnen aufgestellt für die die vielen Menschen, die nicht kommen dürfen. Ein Fahnenmeer in Coronazeiten.

Und Amanda Gorman, eine junge Frau, in leuchtend gelbem Mantel und rotem Haarband, trägt gerade ihr Gedicht vor:

The Hill We Climb1

Der Hügel, den wir erklimmen

„Der Morgen graut, und wir fragen uns, wo nur, in diesen endlosen Schatten, finden wir Licht? Da sind Verluste, die wir mitschleppen, die See, die wir durchwaten müssen. Die gierige Bestie, ihr haben wir getrotzt, gelernt, dass Ruhe nicht wirklich Frieden heißt, dass die Normen, die Vorstellungen, das was just ist, nicht immer auch recht ist. Der Morgen aber gehört uns und das, noch bevor wir's wussten. Wir schaffen das, irgendwie….“

Der Morgen graut. Die Nacht geht zu Ende. Aber wir fragen uns, „wo nur, in diesen endlosen Schatten finden wir Licht?“  Es ist von Verlusten die Rede, die wir mitschleppen, und von der See, die wir durchwaten. Jede, jeder von uns hat jetzt auch eigene Erfahrungen im Kopf und im Herzen. Albträume am Morgen? Bleiern? Danach ist das Aufstehen eine Befreiung.

Amanda Gorman gibt dann auch die Antwort: „Der Morgen aber gehört uns, und das, noch bevor wir’s wussten.“ In dem Bild vom Morgengrauen liegt eine große Gewissheit: So beginnt der neue Tag.

Wir haben gelernt, dass Ruhe – oder auch Stille – nicht wirklich schon Friede ist. Ein ansteckender Satz: „Aber wir schaffen das, irgendwie.“ Merkwürdig: die Offenheit tut gut.

Amanda Gorman soll angeblich dem Präsidenten die Show gestohlen haben. Es wird von bewegenden Momenten erzählt. Viele Gefühle. Und viel Beschwörung. In einer zerbrechlichen Situation.  Ein riesiges Land ist zerrissen. Verschwörungstheorien versprechen einfache Antworten. Die sozialen Klüfte und Verwerfungen sind in Straßenbildern sichtbar und allgegenwärtig. Viele, zu viele Menschen sind an Corona gestorben. Das ist nicht nur in  Amerika so.

Im Gedicht heißt es: „Da ist das versprochene Licht, da der Hügel im Licht, den wir erklimmen, nur den Mut müssen wir finden.“

Das Wörtchen „nur“ fällt auf. „Nur“? Aber – schaut - da ist doch der Mann, der sich eingeschlichen hat! Niemand hat ihn vorher gesehen. Als er nach seinem Namen gefragt wird, sagt er nur: Jesaja. So, als ob ihn alle kennen müssten. Oder kennen würden?

 

Morgenröte

Die Überraschung ist perfekt! Du hier? Aber ich weiß doch, dass Jesaja in einer Predigt gesagt hat:

Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten,  und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen.“

Morgenröte! Nur ein anderes Wort für „der Morgen graut“? Oder doch eine Nuance heller?

Ein Übergang ist markiert, am Anfang eines Tages. Die Nacht schwindet, der Tag zieht herauf und taucht alles in sein morgendliches Licht. Unverbraucht und unbelastet. Im Lied heißt es: „Morgenlicht leuchtet, rein wie am Anfang.“  Jesaja sieht es  aber nicht nur hell werden. Er sieht unser Licht hervorbrechen wie die Morgenröte. Unser Licht! Wir werden Licht!

In den großen Schritten, die du tust, wird heil, was krank, zerstört und zerrissen ist. Schau, deine Gerechtigkeit eilt dir voraus. Sie gleicht einem Boten, der dich ankündigt.  Und wenn du dann zurückschaust, siehst du die Herrlichkeit Gottes. Seine Schönheit. Seine Gegenwart.

Mal schauen wir nach vorne, mal hinter uns. Was sehen wir? Eine neue Welt! Vor uns – und hinter uns. Es hat keinen Sinn mehr, das Dunkle zu beklagen, zu beschwören oder auch zu beschweigen. Während wir aufbrechen, geht Gott hinter uns her und leuchtet unsere Wege aus. Vor uns wächst die Hoffnung. Mit jedem Schritt. Morgenröte! Tolle Bilder! Typisch Jesaja!

Dass Amanda Gorman in seinen Spuren ihr  Gedicht vortragen konnte, konnte Jesaja nicht ahnen. Er ist Zaungast und mehr als das. Zeuge. Vorläufer. Garant. Mit ihm erklimmen wir tatsächlich einen Hügel. Es könnte auch ein Berg sein. Amanda Gorman weiß das gerade noch nicht.

Aber hatte Jesaja nicht gesagt: „Dann wird dein Licht hervorbrechen wir die Morgenröte“? Dann? Wann?

 

Ein hängender Kopf und eine gottlose Faust

Gehen wir doch einmal von Washington nach Babylon. Einen Ort kann ich Ihnen leider nicht nennen. Babylon ist ein Weltreich. Riesige Weiten. Hohe Kultur. Und Wissenschaft vom Feinsten.

Jesaja hat sich gerade hingestellt. Eigentlich Jesaja III.  Er ist Zeitgenosse, Leidensgenosse und Hoffnungsträger in einem. Als Prophet ist er berühmt geworden. Er legt die Heilige Schrift aus, er verkündet Gottes Willen. Die Zeit ist aufgewühlt. Heute predigt er über hängende Köpfe und gottlose Fäuste.

Die Menschen, die Jesaja umringen, sind alles andere als freiwillig hier. Ihre Familien wurden einmal verbannt! Jerusalem, der Tempel, die Stadt Gottes sind zerstört. Ein ganzes Volk wurde einfach weggeführt. Gefragt wurde keiner. Jetzt ist Jerusalem weit weg, die Heimat, ein Sehnsuchtsort und – fast – schon Himmel. Inzwischen sind Jahrzehnte vergangen. Die Alten sind gestorben, die Enkel halten die Nase in den Wind. Auch in der Fremde geht das Leben weiter. Mit schmerzhaften Erinnerungen, Wut im  Bauch und einem großen Trotz. Warum hatte Gott geschwiegen? Warum lässt er sich so verjagen? Warum räumt er dem Feind das Feld?

In der Fremde halten die Menschen fromm und gewissenhaft nach allen Regeln ihre alten Gebräuche und Ordnungen hoch. Das gehört zum Überleben in feindlicher Umwelt. Davon erzählen die Menschen. Sie geben es weiter. Von Generation zu Generation. So, wie sie fasten, fasten die Leute in  Babylon nicht! Das macht auch ein bisschen stolz. Wir sind anders. Nein, wir sind besser. Dabei wollen sie zeigen, wie sie sich an Gott klammern.  An ihren Gott.. Aber sie haben das Gefühl, von Gott nicht gesehen, nicht wahrgenommen zu werden. Du, Gott, sagen sie, siehst nicht an, was wir machen.

Der hängende Kopf ist für Gott …

Jesaja beobachtet, wie sich die Menschen mit ihrer Situation abfinden oder auch anfreunden. Er ist Seelsorger. Schon lange. Er kennt die Namen und die Gesichter, die Geschichten und die Konflikte. Er sieht aber auch die Show, die die Menschen abziehen. Stellt ihr euch nicht selbst dar? Mit frommen abgesenkten Augen, mit hängenden Köpfen bleibt ihr doch ganz unter euch. Ihr übertrumpft euch gegenseitig. Die anderen Menschen – auch in eurer Umgebung - sollen verwundert zuschauen und über euch staunen. Aber was sehen sie? Ihr bedrückt alle eure Arbeiter! Jesaja sagt doch tatsächlich: alle. Ihr nutzt sie aus. Ihr macht Geschäfte, gute Geschäfte, auf dem Rücken von Menschen! Wenn es darauf ankommt, ist euch nichts heilig. Außer euren Gewinnen. Ihr wollt den Markt beherrschen. Ihr wollt euch unliebsame Konkurrenten vom Leib halten. Ihr wollt wissen, wer ihr seid! Abgesenkte Augen? Schaut euch doch an!

Die Faust ist für den Nachbarn …

Aber – was lässt sich mit Faustrecht erzwingen? Eine Hoffnung? Ein Mensch? Gott?

Ist nicht das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“

Wie zufällig geraten wir in diese Predigt. Klar, die Enttäuschung verstehen wir: Wir machen doch alles – aber du,Gott, siehst es nicht. Ist vielleicht die gottlose Faust daran schuld?  Jesaja hat den Vorwurf, Nestbeschmutzer zu sein, schon gehört, ihn aber ignoriert: Es gibt nur einen Weg: Loslassen! Freigeben! „Die du mit Unrecht gebunden hast“, sagt Jesaja. Überdeutlich. Diplomatisch ist das nicht. Mehr: Brich dem Hungrigen dein Brot! Führe die, die im Elend sind, in dein Haus! Dein Brot und dein Haus! Israel ist zwar in der Fremde, aber längst angekommen und arriviert.  Die Frömmigkeit ist ein Stück Folklore, ein Stück Nostalgie geworden. Jesaja ist sogar so verwegen, in seiner Predigt zu sagen, dass wir einfach nur Menschen sind und miteinander verwandt. „Entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut“! Jetzt ist das Brot zu teilen und das Haus zu öffnen. Wir nennen das Solidarität und Gerechtigkeit, Gott nennt es Liebe.

Jesaja hat die hohle Frömmigkeit, die entleere Tradition, die religiöse Selbstdarstellung kritisiert. Genauer: die Selbstgenügsamkeit. Die Selbstzufriedenheit.

Der Kopf ist zu erheben!

Jesaja hat eine Perspektive, eine Zukunft eröffnet mit sozialer Verantwortung und menschlicher Würde. Viele Menschen sind abgeschlagen, zurückgewiesen und ungehört. Die große und kleine Geschichte geht über sie hinweg. Wenn Lebensgrundlagen schwinden.

Die Hand ist zu reichen!

Dabei hat Jesaja nichts anderes gemacht, als sich an Gottes Willen zu orientieren. So hat Gott uns Menschen geschaffen! So geht Gott mit uns durch Dick und Dünn. Mit Brot, das geteilt, mit einem Haus, das geöffnet wird. Das Brot und das Haus – sie werden zu Lichtblicken. Morgenröte eben. Man kann sie schmecken, man kann sie betreten. Man kann sich in sie bergen, in ihr eine Heimat finden. Eine Heimat gewähren!

Jesaja lässt jetzt tatsächlich die Sonne aufgehen, die Morgenröte:  „Dann wird dein Licht hervorbrechen wir die Morgenröte“. Dann!  Gott hat sein Volk nicht verlassen. Sein erstes Wort war: Es werde Licht – und siehe: es ward Licht. Es ist auch sein letztes Wort. In Jesus verbürgt. Er ist das Licht der Welt. Er bricht das Brot. Er ist die Tür. Im Vaterhaus sind viele Wohnungen.

 

Alles andre als geschliffen

Wir schauen nach Washington, wir schauen nach Babylon. Wir schauen unsere Stadt, unser Dorf an. Da sehnen sich Menschen nach Gott und verlieren ihn unbemerkt.  Da lassen sie ihre Köpfe hängen und setzen ihre Fäuste ein.  Da träumen sie von Zukunft und verspielen sie.

Amanda Gorman hat in ihrem Gedicht bei der Einführung des 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten,  vor den Augen der Welt, die unbändige Hoffnung auf eine neue Zukunft für alle Menschen in Worte gefasst.

 „Und, gewiss, wir sind alles andre als geschliffen, alles andre als makellos. Das aber heißt nicht, dass wir uns mühten, eine Gemeinschaft zu schmieden, die perfekt ist. Um eine Gemeinschaft vielmehr mühen wir uns, die Ziel hat und Zweck. Ein Land wollen wir bauen, das allen Kulturen verpflichtet ist, allen Farben, Charakteren und Weisen des Menschseins. Drum richten wir unsere Blicke nicht auf das, was zwischen uns, auf das vielmehr, was vor uns steht.“

Eine Kritikerin des Gedichtes bemäkelte die Euphorie. Es sei zu einfach, kitschig und nicht wahrhaftig genug, was die junge Frau da zu Papier gebracht habe2. Mag sein, doch Jesaja lächelt seiner jungen Kollegin – darf ich das so sagen? –ermunternd  zu. Können wir denn nicht ohne Bedenken, Einreden und politischer Korrektheit von einer „anderen“ Welt reden, die wir nicht nur träumen,  sondern auch in Händen haben? Seht, da ist doch der Hügel, den wir erklimmen können! Und Jesaja zeigt uns das „Morgenrot“.

Amanda Gorman fängt den Ball auf, den ihr Jesaja zuspielt. Es fällt ihr nicht schwer, in Englisch zu sagen, was in Hebräisch zum ersten Mal erklang:

Der Tag wird kommen, und wir treten heraus aus dem Schatten, entflammt und ohne Furcht. Der neue Morgen strahlt, wenn wir ihn befreien. Denn immer ist Licht, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen, nur mutig genug, es zu sein. Mit diesen Worten endet das Gedicht.

Sie hätten noch gerne etwas Konkreteres? Ich weiß nicht, wo ich anfangen, auch nicht, wo ich aufhören könnte. Aber die Vorstellung, für andere Menschen ein  Morgenrot zu werden, gefällt mir so gut, dass ich jeden Tag neu aus Gottes Hand nehmen und geben möchte.

Dann erklimmen wir Hügel. Dann wird dein Licht hervorbrechen. Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

 

2 I Pauline Voss, NZZ 04.02.2021:“ Eine gründliche Lektüre zeigt: Die Zeilen gleichen einer ideologischen Kampfansage“  https://www.nzz.ch/feuilleton/gormans-gedicht-zu-bidens-vereidigung-hae… (04.02.2021)

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Manfred Wussow

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Den Gottesdienst am Sonntag feiern wir mit ZOOM. Ich denke aber auch an Gemeinden, die sich am Sonntag leibhaftig treffen. Mit den bekannten Einschränkungen, an die man sich eigentlich nicht gewöhnen kann. Über Corona zu sprechen, ist aber inzwischen einfallslos. Wir feiern Gottesdienst, unabhängig davon, was Zahlen sagen oder nicht. Der Predigttext legt nahe, in die Morgenröte zu gehen und – mit dem Gedicht von Amanda Gorman – einen Hügel zu erklimmen.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt hat mich, Jesaja mit einer jungen Dichterin in ein Gespräch zu bringen: Amanda Gorman. Sie hat bei der Einführung des neuen amerikanischen Präsidenten vor ein paar Tagen ein Gedicht vortragen können, das kongenial Bilder und Motive aus der prophetischen Überlieferung aufgreift: The Hill We Climb.

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Für mich war es eine Entdeckung, dass Israel nicht nur getröstet wird (s. Jes. 40), sondern auf seine Verantwortung angesprochen wird, die auch unter den Bedingungen der „Fremde“ Gottes Verheißungen aufgreift und übersetzt. Babylon ist – in mehr als einer Hinsicht – auch für Israel die Entdeckung einer weltumspannenden eigenen Identität, die sich in der Diaspora entwickeln muss (und kann).

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Predigt hatte keine/n Coach. Ich habe mit zwar vorgestellt, dass noch ein Mensch mitliest, aber einen Austausch konnte es nicht geben. Manche – möglichen – Einwände habe ich aber zu adaptieren versucht.

 

Perikope
14.02.2021
58, 1-9a

Kommt auf den grünen Zweig! - Predigt zu Jesaja 11, 1-10 von Frank Muchlinsky

Kommt auf den grünen Zweig! - Predigt zu Jesaja 11, 1-10 von Frank Muchlinsky
11, 1-10

Liebe Gemeinde, im Jahre 587 vor Christus beginnt die schlimmste Krisenzeit, die das Volk Israel bis dahin erlebte. Das Land ist zerstört und erobert worden. Der Tempel steht nicht mehr. Gottesdienst kann nicht mehr so stattfinden, wie man es gewohnt ist. Gute Freunde und Nachbarn wurden verschleppt. Das Land liegt am Boden. In dieser Situation tritt Jesaja auf, ein Prophet Gottes. In Gottes Namen sagt er diese Worte:

Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN.
Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften.
Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein kleines Kind wird seine Hand ausstrecken zur Höhle der Natter. Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des HERRN, wie Wasser das Meer bedeckt. Und es wird geschehen zu der Zeit, dass die Wurzel Isais dasteht als Zeichen für die Völker. Nach ihm werden die Völker fragen, und die Stätte, da er wohnt, wird herrlich sein.

Jesaja 11,1-10

2600 Jahr später sind Jesajas Worte unser Predigttext. Wieder ist Krise, wieder sind wir von Menschen getrennt, die wir lieben, wieder können wir Gottesdienst nicht wie gewohnt feiern. Ich will Ihnen sagen, wie ich die alten Worte an diesem Heiligabend 2020 höre. Denn ich glaube, dass es gute Worte für uns sind.

Euer Unglück wird ein Ende haben! ihr denkt vielleicht, es geschieht nichts, weil es zu langsam für eure Augen geschieht. Aber auch Pflanzen wachsen, ohne dass ihr ihnen dabei zuschauen könnt. Die Erlösung, auf die ihr wartet, wächst auf die gleiche Art wie ein grüner Zweig, der sich aus einem trockenen Stamm hervorschiebt: Grün, zart und am Anfang noch zerbrechlich, aber voller Leben! An solchen neuen Zweigen können auch wieder Früchte wachsen.

Vielleicht zweifelt ihr, aber ich sage euch, es wächst bereits! Kommt auf den grünen Zweig!

Eure Erlösung ist schon auf dem Weg, weil Gott längst eingegriffen hat. Woher haben Menschen denn ihre Ideen für Impfstoffe? Woher haben wir unseren Verstand und unser Mitgefühl, die uns verantwortlich handeln lassen? Es ist Gottes Geist, der in uns atmet! Wenn ihr den Eindruck habt, es gäbe nur noch Dummheit, Unrecht und Egoismus, dann schärft euren Blick. Macht die Augen auf für jedes Aufblitzen von Gottes Geist in der Welt! Es ist da und wird größer werden, denn Gott lässt wachsen! Wie ein Kind groß wird, werden Verstand und Einsicht zunehmen in das, was Gott will.

Schaut auf den grünen Zweig, die nächste Genration! Hört ihnen zu, denn sie sehen anders als ihr. Sie sehen, was nötig ist. Sie erkennen, was Gott und seiner Schöpfung dient! Und das ist ihr Antrieb. Sie lassen sich nicht beruhigen, wenn die Welt droht zu verbrennen und das Meer droht, die Küsten zu überfluten. Sie erkennen, was gerecht ist und was nicht, weil sie sich nicht vormachen lassen, eine Hauptfarbe oder ein Geschlecht seien besser als andere.

Eure Erlösung hat begonnen. Gebt acht, dass ihr sie nicht hemmt! Ich weiß, dass Gerechtigkeit weh tut. Aber sie tut denen weh, die von der Ungerechtigkeit profitieren, nicht denen, die unter ihr leiden. Frieden macht denen Schmerzen, die vom Krieg profitieren. Armut ist eine Schande, nicht für Armen, sondern für euch Reiche. Gott wird seine Gerechtigkeit reif werden lassen wie eine Frucht an dem neuen Zweig. Dann hat das Elend endgültig ein Ende.

Wenn die Gerechtigkeit groß wird, werden die Gewalttäter auf die Gewalt verzichten müssen. Die Kriegstreiber werden ohne Rüstung nackt dastehen wie ein neugeborenes Kind. Die Reichen werden lernen, sich daran zu freuen, wie es für alle reicht. Die Unterdrückten werden Gründe sammeln, ihren ehemaligen Unterdrückern zu verzeihen.

Eure Erlösung liegt vor euch. Sie ist in Windeln gewickelt, in Gerechtigkeit und Treue. Seid ebenfalls treu! Hegt und pflegt den neuen Zweig! Hofft nicht allein auf das, was vielleicht morgen möglich ist, sondern lasst der Zukunft Zeit zu wachsen. Vertraut Gottes Verheißung, dann werdet ihr feststellen, dass alles möglich werden kann. Erlaubt Gottes Geist das Stoßlüften in euren Köpfen und Herzen! Denkt euch das Schönste und Unwahrscheinlichste und fangt an, darauf zu hoffen!

Stellt euch vor: Der Neonazi zieht beim Migranten ein. Im Nahen Osten herrscht Frieden! Autokraten kümmern sich um andere, Rüstungsfirmen bauen Windräder, keine Frau muss mehr Angst vor ihrem Mann haben, Hautfarben sind einfach schön!

Ihr dürft euch freuen! Schaut, wie die Erlösung grünt und wächst! Der alte Stamm treibt einen neuen Zweig aus, Ein Kind ist geboren. Gott hat euch alles gegeben, was ihr jemals braucht. ihr könnt dabeistehen und warten, bis diese Erkenntnis höher steigt als der Meeresspiegel, oder ihr könnt anfangen euch zu freuen und zu helfen, dass es wächst. Macht mit beim Frieden! Überall gibt es gute Initiativen, die dem Frieden dienen. Schließt euch der Wahrheit an! Überall wo Propaganda geschieht, werden auch gute Argumente vorgetragen. Schafft Gerechtigkeit! Überall kann man auch Waren kaufen, die gerecht produziert werden. Gebt ab! Brot für die Welt braucht Eure Spende in diesem Jahr mehr denn je. Hört auf Eure Kinder! Überall gibt es Demos, auf die ihr sie begleiten könnt. Verzichtet auf jeden Tag Fleisch, verzichtet niemals auf die Liebe!

Amen

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Frank Muchlinsky

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
In diesem Jahr werden die Präsenz-Weihnachtsgottesdienste kleiner, kürzer und kälter sein. Die Predigten sollten darum schnell auf den Punkt kommen. Ich selbst werde die Predigt voraussichtlich zu Hause aufzeichnen und dann im Internet veröffentlichen. Zuhören werden darum vermutlich vor allem die Abonnent:innen meines "Zuversichtsbriefes", den ich wöchentlich seit Beginn der Coronakrise per E-Mail versende.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Beschreibung des "Friedensreiches" in dem Jesajatext ist so schön, dass ich am liebsten mich gleich zwischen Wolf und Lamm legen und mitkuscheln möchte. Die Vorstellung, dass solch ein Frieden möglich ist, dass wir auf so etwas tatsächlich hoffen, hat mich dazu gebracht, eine Übertragung der Prophezeiung zu schreiben. Gerade angesichts der Corona-Krise möchte ich zu Heiligabend sagen, dass das gute Ende nah und da ist.

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich mag die Idee, dass de Formulierung "Auf einen grünen Zweig kommen" von Jesaja stammt.

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich konnte ein paar vermeintlich besonders pfiffige Formulierungen loswerden, was der Predigt sicher hilft. Ich habe außerdem ausführen und präzisieren können, wo es nötig war.
Ich hoffe, dass die Predigt dadurch noch einladender und weihnachtlicher werden konnte.

Perikope
24.12.2020
11, 1-10

Gott kommt nach Hause - Predigt zu Jesaja 52, 7-10 von Isolde Karle

Gott kommt nach Hause - Predigt zu Jesaja 52, 7-10 von Isolde Karle
52, 7-10

Als Predigttext hören wir Worte aus Jesaja 52:

 

Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße des Freudenboten, der da Frieden verkündigt, Gutes predigt, Heil verkündigt, der da sagt zu Zion: Dein Gott ist König! Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und jubeln miteinander; denn sie werden’s mit ihren Augen sehen, wenn der Herr nach Zion zurückkehrt. Seid fröhlich und jubelt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems; denn der Herr hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst. Der Herr hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, dass aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.

Drei Gedanken will ich im Folgenden nachgehen. Mein erster Gedanke: Gott kommt mit Jubel.

1. Gott kommt mit Jubel

Wie sind Sie heute hier in den Gottesdienst gekommen? Ich vermute eher nicht, dass Ihnen in diesen Pandemiezeiten zum Jubeln zumute ist. Auch dem jüdischen Volk, an das sich die Worte des Propheten richten, war nicht nach Freude und Jubel zumute. Die Deportierten, denen diese Worte gelten, lebten schon seit über 40 Jahren im Exil in Babylonien. Ihr Land, die stolze Stadt Jerusalem, der Tempel und damit alles, was ihnen heilig war, waren zerstört und sie der Heimat fern. Die Zerstörung des Tempels wog dabei besonders schwer. Sie bedeutete für die Exilierten: Gott hat uns verlassen. Unsere Religion, unser Volk, sie haben keine Zukunft mehr. Doch dann wendet sich das Blatt. Nebukadnezar wird entmachtet und der neue Herrscher, der Perserkönig Kyros, ist bereit, die Exilierten zurückkehren zu lassen nach Jerusalem. Doch vielen von den Exilierten scheint dafür der Mut zu fehlen. Sie sind müde und resigniert und können nicht mehr so recht an eine gute Zukunft glauben.

Da kommt der Prophet und verkündet mit großem Enthusiasmus einen neuen Aufbruch. Er will die müde und lethargisch gewordenen Exilierten aufrütteln. Gott kehrt heim nach Jerusalem, er hat sein Volk nicht vergessen, er tröstet sein Volk, er richtet euch wieder auf und rettet euch! Deshalb kommt und freut euch mit! Der Freudenbote bringt diese Botschaft leichtfüßig und schnell und läutet damit eine neue Epoche ein. Die Wächter in Jerusalem sind bereits voller Aufregung und Erwartung, von Haus zu Haus, von Tür zu Tür verbreitet es sich: Gutes, Heil und Frieden sind zum Greifen nah, denn Gott kommt!

Solche Freudenboten kennen wir auch aus der Weihnachtsgeschichte. Als das Jesuskind in Bethlehem geboren wird, da hält es die Engel nicht mehr im Himmel. Sie kommen auf die Erde herab und verkünden den Hirten auf dem Feld „große Freude, die allem Volk widerfahren wird“, denn der Heiland ist heute geboren. Die Engel loben Gott und kündigen Heil und Frieden auf Erden an, ganz wie der Prophet Jesaja. Auch die Hirten, die die Botschaft der Engel hören, und sich sofort aufmachen, um das Kind zu besuchen, werden zu Freudenboten. Sie lassen sich anstecken und anrühren – vom Kind in der Krippe, vom Licht im Dunkel, von einer Zukunft, an die sie nicht mehr geglaubt hatten. 

Gott kommt mit Jubel. Wo Gott kommt, hört die Resignation auf, da erschließen sich neue Perspektiven, da wird ein Neuanfang möglich, da gibt es Grund zum Jubel.

 

2. Gott kommt in die Trümmer

Mein zweiter Gedanke ist: Gott kommt in die Trümmer. Schon beim ersten Lesen fiel mir dieses ungewöhnliche Bild auf: „Seid fröhlich und jubelt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems!“ Was für eine paradoxe Metapher – selbst die Trümmer sollen in den Jubelchor einstimmen! Der Jubel geht nicht über den Schmerz der Trümmer hinweg, sondern nimmt sie mit hinein in seine Bewegung. Das heißt aber auch: Die Trümmer werden nicht missachtet oder ignoriert, sondern wahr- und ernstgenommen. Der Jubel deckt den Schmerz nicht zu, sondern lässt ihn zu.

Trümmer sind nicht unnütz, mit ihnen kann man eine Stadt wiederaufbauen. Nach dem zweiten Weltkrieg war das in Deutschland eine sehr prägende Erfahrung – die Trümmerstädte, die es galt aufzuräumen und aus den Trümmern wiederaufzubauen. In Dresden sorgten engagierte Bürger nach dem Krieg dafür, dass der Trümmerberg der Frauenkirche nicht entfernt wurde. Die Trümmer wurden zunächst zum Mahnmal und dann bewusst beim Wiederaufbau der Frauenkirche verwendet. Die dunklen Trümmersteine in der hellen Frauenkirche sind bis heute eine Mahnung, nicht mehr Krieg zu führen. Sie helfen uns, die Vergangenheit nicht zu vergessen und mit den dunklen, schmerzhaften Flecken der Vergangenheit zu leben und sie in unser Leben zu integrieren. 

Gott geht nicht über die Trümmerfelder in unserem Leben hinweg. Gott erwartet keine heile Welt. Gott lässt aus den Trümmern vielmehr etwas Neues entstehen. Deshalb gilt es, die Schmerzen, die Enttäuschungen, das Abgebrochene in unserem Leben wahrzunehmen und es zu bejahen. Es gehört zu uns und ist ein Teil von uns.

In der Liebe zu den Trümmern zeigt sich Gottes große Treue zu uns, Gott will uns mitten in den Trümmern trösten und aufrichten, damit auch wir andere trösten und aufrichten können. Der Heiland, dessen Geburt wir an Weihnachten feiern, heilt, was in uns zerbrochen ist.

3. Gott kommt nach Hause

Mein dritter Gedanke: Gott kommt nach Hause. Eine tollkühne Vision stellt uns der Prophet mit diesem Bild vor: Gott kündigt sein unmittelbar bevorstehendes Kommen zum Zionsberg an.

Ich habe mich gefragt, wie Israel das eigentlich verkraftet hat – diese großartigen Visionen und dann die Realität, die hinter der Vision doch immer wieder weit zurückblieb. Waren die Erwartungen nicht zu groß? Mussten sie nicht enttäuscht werden?

Die Antwort ist: Ja und nein. Israel hat seine Visionen – wie die von Jesaja 52 – weiterhin überliefert, weil es bei allem Unterschied zwischen vollmundiger Ankündigung und ernüchternder Realität eben auch Erfüllung erfahren hat. Die Deportierten kehren tatsächlich zurück, Stadt und Tempel werden tatsächlich aus den Trümmern wiederaufgebaut. Zur Realität gehört eben nicht nur das Misslingende, sondern auch das Gute, das Rettende, der Frieden, die Heimkehr, der Neubeginn.

Das Christentum hat an diese Tradition angeschlossen – mit Weihnachten zum Beispiel. Weihnachten erzählt eine sehr anrührende Geschichte – Heil und Frieden auf Erden für die ganze Welt verbinden sich mit einem kleinen verletzlichen Kind in der Krippe. Und selbst wenn viele Ereignisse der Weihnachtsverheißung seitdem widersprochen haben – wir erfahren zugleich immer wieder ihre Erfüllung: Den Trost, den Frieden, das Heilende, das Gottes Kommen in die Welt begleitet. Das Gute und Heilende bleibt gefährdet und fragil, aber es ist erkennbar da.

Und mehr noch: Gott wird seinen Heilswillen der Welt gegenüber durchsetzen. Das ist die Hoffnung und das Versprechen der Weihnachtsbotschaft. Christinnen und Christen leben mit diesem Überschuss an Hoffnung. Dorothee Sölle sprach von einem Extratopf Hoffnung. Wir brauchen diesen Extratopf in diesen Zeiten. Er hilft uns, die bösen Zeiten, die wir gerade durchleben, zu überstehen. Und er hilft uns, unser Augenmerk nicht nur auf die Probleme und das Dunkle zu richten, sondern offen zu werden für das, was gelingt, was möglich ist.

Gott kommt mit Jubel. Wo Gott kommt, hört die Resignation auf und werden wir angesteckt uns mitzufreuen. Gott kommt in unsere Trümmer, er weiß um unsere Verletzungen und Abbrüche – sie dürfen sein. Und Gott kommt nach Hause. Er öffnet uns die Augen für das Gute. Er treibt uns an mit seiner Hoffnung für diese Welt. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Prof. Dr. Isolde Karle

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe Menschen vor Augen, die sich dieses Jahr an Weihnachten durch die Pandemiesituation in einer durchaus ambivalenten Situation befinden. In die Freude über Weihnachten mischt sich Sorge, vielleicht auch Trauer, in jedem Fall Unsicherheit. Inwiefern können wir Gutes von der Zu-kunft erwarten? Diese Frage sucht die Predigt zu beantworten – im Blick auf den Trost und die Hoffnung der Weihnachtsbotschaft.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mich hat begeistert, dass in Jes 52 auch die Trümmer zum Jubel aufgefordert werden. Auch der Schmerz, der Abbruch, der Verlust darf sein. Er wird vom Jubel an Weihnachten nicht überdeckt, sondern wahr- und ernstgenommen.

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Siehe Nr. 2 – das empfand ich selbst als tröstlich. Und der Mut Israels, an seinen Visionen festzu-halten, auch wenn sie nie ganz in Erfüllung gingen.

 

 

Perikope
25.12.2020
52, 7-10

Menschenwürde und Ährensammeln - Predigt zu Jesaja 1,10-17 von Julia Neuschwander

Menschenwürde und Ährensammeln - Predigt zu Jesaja 1,10-17 von Julia Neuschwander
1,10-17

Liebe Schwestern und Brüder,

es ist eine idyllische ländliche Szene: Die Männer haben das Kornfeld per Hand abgeerntet, die Garben gestapelt und fort getragen. Was verblüffend ist: So sorgfältig sie auch geerntet haben, so achtlos wirken sie, als sie die herunter gefallene Ähren und Halme einfach liegen lassen. Die Nachlässigkeit hat Methode. Kaum sind die Schnitter vom Feld, kommen Kinder, Jugendliche, Frauen auf den Plan. Auch ein paar Fremde sind da. Sie laufen das Feld ab und sammeln, ohne sich dabei allzu sehr ins Gehege zu kommen. Sie sammeln, was sie sammeln können. In aller Ruhe, vollkommen ungestört, denn mit Recht dürfen sie sammeln, nicht heimlich oder verboten. Es ist ihr Recht. Das Recht der Schwachen und Armen. Mit vollen Tüchern gehen sie wieder zurück in den Ort.

Was hier passiert, folgt einem alten Gesetz Israels: Du sollst keine Sorgfalt walten lassen, wenn Du Dein Feld aberntest, heißt es im Deuteronomium (Dtn 24,17-21), denn was liegen bleibt, sollst Du für die Fremden, die Witwen und Waisen liegen lassen.

Was genau passiert hier eigentlich? Ist es nicht verblüffend, dass in dieser Szene die Schnitter zwar anscheinend sehr fleißig und ordentlich als gute Schnitter routiniert das Feld abernten, aber andererseits lassen sie ganz bewusst herunter gefallene Ähren einfach liegen? Ja, sie lassen ganz bewusst einige Ähren mehr fallen, ernten scheinbar nachlässig das Feld ab, so dass es sich später für die, die die Nachlese betreiben, richtig lohnt. Ganz genau, genau so scheint es zu sein. Denn die am Rand geduldig gewartet haben, bis die Schnitter weg sind, haben noch richtig viel ein zu sammeln. Mit ihren Tüchern prall gefüllt mit Ähren werden sie später nach Hause gehen. Dort die Ähren mit der Hand auslesen, die gewonnenen Körner auf einem Mahlstein zerkleinern, mit Wasser einen Mehlbrei anrühren und in kleinen Öfen und über Feuern zu eine Art Brot backen. Nährendes Brot für alle, für sich und ihre Zugehörigen.

Hier wird so etwas wie ein Prinzip beschrieben, vielleicht kann man sogar sagen, dass dies so etwas wie das Gegenteil unseres gesellschaftlichen Leistungsprinzips ist: nämlich nicht alles bis aufs Letzte abzuernten, nicht das Allerletzte aus dem selbst besäten Feld für sich herausholen, sondern bewusst übrig zu lassen für bedürftige Andere, für hungernde Andere. Ein Minimum an Aufwand und ein Maximum an Effekt: die, die Hunger haben, werden selbst aktiv, laufen zum Feld, sammeln ihre Ähren,  tragen sie nach Hause und versorgen sich selbst und ihre Familien. Ein schönes Prinzip. Im alten Israel scheint diese Prinzip sogar Gesetz gewesen zu sein, ja, sogar mehr: Gottes Gesetz.

Auch für uns Christinnen und Christen heute weltweit gehört so etwas wie „Schwache in der Gesellschaft achten und schützen“ zu unseren Grundprinzipien. Und auch unser Grundgesetz hat als ersten Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Darüber können wir immer wieder froh und dankbar sein. Denn wie wäre das in Deutschland, wenn sich plötzlich gar keine/r mehr für die Schwächsten interessiert? Wenn Kinder, Alte, Schwache, Flüchtlinge oder Menschen mit Beeinträchtigungen grundsätzlich keinen Schutz mehr erfahren sollen? Es ist ein hohes Gut, wenn der Mensch an sich geschützt ist ohne Ansehen der Person. Wir tun gut daran, dies nicht als Luxus zu empfinden, sondern als etwas, das wir in jeder Situation einfordern und verteidigen, der Schutz der Person an sich. Es ist notwendig. Notwendig für das Menschsein.

 „Ethik ist wichtiger als Religion.“ So lautet der Titel eines kleinen Büchleins, in dem ein Interview von Franz Alt mit dem Dalai Lama abgedruckt ist, Friedensnobelpreisträger und als Religionsführer Tibets wohl einer der berühmtesten Flüchtlinge der Welt. 1989 erhielt er in Oslo den Friedensnobelpreis für seine Friedensphilosophie. Darin entwickelt er eine große Ehrfurcht vor allen Lebewesen und die Vorstellung einer universellen Verantwortung, die sowohl die Menschheit als auch die Natur umfasst.

Im Interview aus dem Jahr 2015 legt der Dalai Lama dar, warum er Ethik, also, was das Richtige zu tun ist, für die Zukunft unserer Gesellschaft als für noch wichtiger hält als Religion. Es ist zweitrangig für ihn, welcher Religion wir jeweils angehören, wie wir unsere Gottesbeziehung pflegen oder wie wir sonst geistlich-spirituell unterwegs sind. Stattdessen empfiehlt er als viel dringlicher für die Menschheit, dass wir entwickeln, was für uns jeweils das Richtige ist zu tun. Am besten entwickeln wir eine gemeinsame Ethik für alle Menschen dieser Erde, schlägt er vor. Ein wichtiges Argument wäre für ihn dabei, dass zum Überleben der Menschheit das Gemeinsame wichtiger sei als das Hervorheben des Trennenden.

Ethik ist wichtiger als Religion. Fast 3000 Jahre früher hat der Prophet Jesaja eine ähnliche Botschaft für die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt Jerusalem. Gutes tun, den Schwachen zu ihrem Recht zu verhelfen, es vor Gericht fair und gerecht zugehen lassen – das alles ist auch für ihn nicht nebensächlich, sondern sogar die Voraussetzung für ein gutes Verhältnis mit Gott! Als Prophet verzweifelt er förmlich an den Bewohnerinnen und Bewohnern Jerusalems, wenn er ihnen gegenüber feststellen muss: Eure Verantwortung nehmt ihr nicht wahr! Wenn ihr weiter so vorgeht, dass gerade ihr Oberen die armen Landbewohner ausnutzt und ihre Klagen vor Gericht abweist! Dass gerade ihr euch im Gericht bestechen lasst durch Geschenke und der mittellosen Witwe nicht das zukommen laßt, was ihr zusteht! Dass gerade ihr in der von Gott besonders erwählten Stadt eure Macht als Führungselite missbraucht, um euch selbst zu bereichern! Dann bin nicht nur ich selbst fassungslos, verzweifelt und wütend, nein, dann wird es Gott einfach nur übel.

Der Prophet Jesaja stimmt die Totenklage an, eine Totenklage über eine noch höchst lebendige Stadt Jerusalem: „Ihr seid tot, während ihr noch lebt, weil ihr ethisch tot seid!“ Denn wo gibt es Schutz und Sicherheit, wenn selbst die Burg Jerusalem den Schwachen keine Zuflucht mehr bietet? Wenn selbst hier das Recht des Armen, der Schwächsten, der Witwe und der Waise mit Füßen getreten wird? Der Prophet hält sich jetzt nicht mehr zurück, er übergibt sich, er schmeißt den Führenden den ganzen Ekel Gottes förmlich vor die Füße, Gott selbst sagt: „ich ekel mich vor Euren ganzen Opfern, vor Euren ganzen Festen, vor all dem Blut……“.

Der Predigttext sagt uns damit ganz klar: Wenn die ethische Grundlage nicht stimmt, brauchen wir auch keinen Gottesdienst zu feiern. Der ganze Opferkult kommt an seine Grenzen, wenn sonst etwas faul ist im Staate Dänemark. Es gibt ein altes Gesetz in Israel, demnach der Schwache geschützt werden muss. Wenn dies nicht gewahrt wird, sieht Gott kein Opfer mehr als wohlgefällig an, sei es noch so stattlich. Ethik ist wichtiger als Religion, als Opfer und Kult. Es ist der Schutz der sozial Schwachen, Witwen und Waisen, es geht um Gerechtigkeit. Das ist das, was für Gott an erster Stelle kommt, erst dann kommt alles Weitere.  

Jesaja ist verzweifelt und wütend. Gott wird übel und ekelt sich nur noch vor seinem eigenen Volk.

Der Text lässt an Jesu „Tempelreinigung“ denken, den berühmten Wutanfall des Sohnes Gottes in den Vorhöfen des Tempels in Jerusalem, gleicher Ort viele hunderte Jahre später. Jesus stiebt wütend und verzweifelt durch den ganzen Tempel und wirft Tische und Bänke. Er tobt in gerechtem Zorn gegen diesen ganzen Betrieb im Hause des Vaters, bei dem das eine, das Wesentliche, vergessen wird: die Zuwendung zum Nächsten, zu den Bedürftigen, zu den Schwächsten. Genau das wird verpasst. Jesus kann es nicht fassen. Das, was er Zeit seines ganzen Lebens den Menschen immer wieder vorgelebt hat.

Wascht Euch. Reinigt Euch. Lernt Gutes tun. Trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache. Gottes Wort, so führt es der Prophet Jesaja den Bewohnerinnen und Bewohnern vor Augen. So ist es Jesu Anliegen in seiner Aktion, seiner Zeichenhandlung, heute würde man vielleicht sagen, seiner „performance“ in den Tempelvorhöfen.  

Was sollen wir also tun wir Christinnen und Christen am Buß- und Bettag? Wie entwickeln wir am besten, was jetzt für uns zu tun ist als Gesellschaft, als Kirche? Es liegt auf der ganzen Linie, dass Jesus sich denen zuwendet, die damals gesellschaftlich ausgegrenzt wurden: Aussätzigen, Frauen, Besessenen, Kindern…. , denen zuwendet, die „im Dunkeln sind“. Gerade da blitzt das Reich Gottes auf, erzählt die Bibel. Das sollten wir also auch tun wie Jesus, dahin schauen, wo andere nichts sehen.

Die im Dunkeln sieht man nicht – alleine und verzweifelt im Gefängnis.

Die im Dunkeln sieht man nicht – in Moria im Flüchtlingslager, wenn die Berichterstattung sich längst wieder anderen Themen zuwendet.

Die im Dunkeln sieht man nicht – zuhause allein gelassen, abgehängt in der Schule ohne Eltern, die in der Hausaufgabe betreuen könnten oder als Nachhilfe unterstützen.

Wie entwickeln wir am besten, was jetzt für uns zu tun ist als Gesellschaft, als Kirche? Indem wir bewusst gerade dorthin schauen, wo Dunkel herrscht, wie Jesus das getan hat. Da, wo niemand gerne hinschaut. Indem wir uns den Ausgegrenzten unserer Gesellschaft bewusst zuwenden und uns für gerechte, menschenwürdige Bedingungen einsetzen. Indem auch für uns und gerade in der Kirche für uns selbst gilt „Ethik ist wichtiger als Religion“ in all unseren Vollzügen, in unserem Umgang miteinander und indem wir uns aktiv dafür einsetzen. Indem wir überhaupt grundsätzlich bereit sind, uns weiter zu entwickeln und hinzu zu lernen. Indem wir gemeinsam lernen, Gutes zu tun und nach dem Recht zu trachten, Gottes Recht, das die Schnitter auf dem Feld bei der Ernte dazu bewegt, genügend Ähren für andere übrig zu lassen.

Wenn wir so aufbrechen, sind wir nach unserem Predigttext auf dem richtigen Weg.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Julia Neuschwander

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Vor Augen habe ich Menschen,

                -  die sich wie ich mit dem Ausgang der Wahl in den USA beschäftigen und mit aktuellen allgemein gesellschaftlichen Fragestellungen und Phänomenen
                -  die sich als Christ*innen die Frage stellen – vielleicht auch nach der letzten EKD-Synode und der Veröffentlichung der Zwölf Leitsätzen des Zukunftsteams „Auf ins Freie – Kirche auf gutem Grund“ -  wo es mit der Kirche in Zukunft hingehen soll.
Hilfreicher als Zahlen und Fakten zu Ihrer Gemeinde sind Hinweise dazu, welche Men-schen Sie beim Predigtschreiben vor Augen hatten. Notieren Sie bei Bedarf auch Beson-derheiten zu Anlass, Zeit oder Art des Gottesdienstes, die den Leser/innen den Zugang zu Ihrer Predigt erleichtern.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Entdeckung der Bibelstelle „Du sollst keine Sorgfalt walten lassen, wenn Du Dein Feld aberntest.“ Dtn 24,17-21 als Verdeutlichung von „Gottes Recht“, wie es sich in den Prophetentexten wiederspiegelt.

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wie können wir das „Ährensammelprinzip“ in unserer Zeit effizient umsetzen? Also Gerechtigkeit  zwischen den Generationen (Klimaschutz), Achten der Menschenwür-de, Schutz der Alten…..

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Einen klareren Gedankengang. Ich habe zusätzliche „Moves“ gestrichen.

Perikope
18.11.2020
1,10-17