Die unsichtbare Wand - Predigt zu Jesaja 51, 1 + 2 + 4-6 von Ulrich Kappes

Die unsichtbare Wand - Predigt zu Jesaja 51, 1 + 2 + 4-6 von Ulrich Kappes
51,1,2,4-6

Seit Jahrzehnten wird für den Silvestertag unter den sechs Predigtreihen ein Abschnitt aus dem Buch des Propheten Jesaja ausgewählt. Es ist genau gesagt, der sog. „Zweite Jesaja“, der die Tradition der „Ersten Jesaja“ fortsetzt I1I , von dem wir hören. Aus dem 51. Kapitel des Jesajabuches stammt der heutige Predigttext.

Wir hören darin keine Worte zum letzten Tag eines Jahres. Unsere Stimmung, die wir beim Jahreswechsel zumeist haben, bleibt unerwähnt. Es geht aber dennoch um Themen, die zu Silvester gehören: einen Rückblick, eine Übergangssituation und einen Ausblick.

Ich halte es zum Verständnis des Textes für sinnvoll, wenn ich vorab einige wenige Worte über den Autor sage. Der zweite Jesaja, auch „Deuterojesaja“, ist in der babylonischen Gefangenschaft aufgewachsen I2I  und wirkte im letzten Abschnitt des babylonischen Exils, also etwa zwischen 550-540 v. Christus. I3I

Ein Kapitel vor unserem Predigttext (50,5) wird berichtet, dass sich der Prophet einem Gerichtsverfahren unterziehen musste. Danach wandten sich offenbar nicht wenige Juden von ihm ab. Selbstzweifel, ob seine Mission gescheitert war (49,4), ergriffen ihn. War sein Dienst als Prophet umsonst? Die Lieder vom leidenden Gottesknecht entstehen. I4I Er ringt um Gefolgschaft, um Menschen an seiner Seite, die ‚Gott suchen‘, und (mit ihm) „der Gerechtigkeit nachjagen“.

Hört mir zu, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, die ihr den Herrn sucht: Schaut den Fels an, aus dem ihr gehauen seid, und des Brunnens Schacht, aus dem ihr gegraben seid. Schaut Abraham an, euren Vater, und Sara, von der ihr geboren seid. Denn als einen einzelnen berief ich ihn, um ihn zu segnen und zu mehren. Merkt auf mich, ihr Völker, und ihr Menschen, hört mir zu! Denn Weisung wird von mir ausgehen, und mein Recht will ich gar bald zum Licht der Völker machen. Denn meine Gerechtigkeit ist nahe, mein Heil tritt  hervor, und meine Arme werden die Völker richten. Die Inseln harren auf mich und warten auf meinen Arm. Hebt eure Augen auf gen Himmel und schaut unten auf die Erde! Denn der Himmel wird wie ein Rauch vergehen und die Erde wie ein Kleid zerfallen, und die darauf wohnen, werden wie die Mücken dahinsterben. Aber mein Heil bleibt ewiglich, und meine Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen.

Hört mir zu, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, die ihr den HERRN sucht.“ Es ist eine Rede an die, die an der Seite des Knechtes geblieben sind und an der Zukunft Jerusalems festhalten. Ihre Gegenwart ist „Babylon“. Babylon bedeutet, dass die freie Rede eines Propheten gnadenlos mit Gericht und Gefängnis geahndet, ja mit dem Tod bestraft wird. Als ihre Zukunft sehen die Getreuen an einem fernen Horizont Jerusalem. Das bedeutet, die Hoffnung nicht fallen zu lassen und eine zweite Wüstenwanderung zurück nach Judäa nicht zu scheuen. Jerusalem muss neu aus seinen Trümmern entstehen.

Zwischen diesem „jetzt noch in Babylon“ und „morgen oder übermorgen in Jerusalem“ ist der Kompass zur Hand zu nehmen und zu prüfen, ob der Glaube stimmt. Zwei anspruchsvolle Bildworte gebraucht Deuterojesaja.

‚Ihr, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, die ihr den Herren sucht: Schaut den Fels, aus dem ihr gehauen seid und des Brunnens Tiefe, aus der ihr herkommt.“ „Schaut den Fels, aus dem ihr gehauen seid …“

Woran lässt der Prophet denken, was assoziiert er mit diesem Bildwort? Die Deutung ist nicht einfach. Ich meine, dass er an Skulpturen denkt, die aus einer Felswand herausgehauen werden. I5I Ein Bildhauer schlägt aus einem Felsbrocken eine Gestalt heraus. Die Friese der antiken Tempel beispielsweise hatten bisweilen Menschen – und Göttergestalten, die unmittelbar aus dem Stein heraus gehauen wurden. Fertige Statuen von Pharaonen, Königen und Priestern wurden nicht nur nachträglich vor eine Attika gestellt und befestigt, sondern bildeten eine in Stein gehauene Einheit mit der Wand hinter ihnen. Das war höchste Bildhauerkunst.

Schaut den Fels, aus dem ihr heraus gehauen seid …!“ Die „nach Gerechtigkeit streben und Gott suchen“, sind wie aus einem Stein herausgearbeitet. Sie stehen nicht für sich. Sie stehen, indem sie mit dem „Fels“, aus dem sie geschlagen wurden, fest verbunden sind. „Schaut den Fels, aus dem ihr gehauen seid …!“ Was ist nun der „Fels“?

Was steht hinter uns, gibt uns Halt und Standfestigkeit? Ist es Gott? Das liegt nahe, wird doch Gott vor allem als der Fels der Frommen in vielen Psalmen beschrieben. Ist das hier anwendbar? Sind wir aus „Gott“ heraus geschlagen wie aus einem Felsen? Das könnte ich nicht sagen.

Was ist dann mit dem Felsen gemeint, aus dem heraus wir geformt wurden? Was war es, aus dem heraus Abraham gebildet wurde, auf den Deuterojesaja verweist? Ich denke, sein Glaube war sein Fels, sein Glaube an den Gott, der ihn aus Ur wegführte und dann wunderbar in dem neuen Land bewahrte. Uns wird gesagt, dass Glaube eine unsichtbare Wand ist, die uns den Rücken stärkt und Sicherheit gibt.

Das Bildwort sagt uns, dass der Glaube an Gott die Felswand hinter uns ist, die uns hält. Wir sind nicht aus „Lehm und Ton“ herausgeformt wie einst Adam nach der Schöpfungserzählung. Darüber geht der Prophet hinaus. Das passt nicht zu dem, was er seinen Gefolgsleuten sagen wollte. Der Glaube ist ein Fels, der uns vor dem Absturz und Abgleiten schützt. Er lässt uns in Wind und Wetter feststehen. Mit dem Glauben im Rücken, oder „aus dem Glauben herausgehauen“ gewinnen wir Sicherheit und Festigkeit.

Das zweite Bildwort führt uns in eine andere Dimension: ‚Schaut in des Brunnens Tiefe, aus dem ihr gehoben seid‘.

Ich werde an Worte erinnert, mit denen Thomas Mann seiner Romantrilogie „Joseph und seine Brüder“ beginnt: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.“. Thomas Mann fordert die Leser auf, hinabzusteigen in den Brunnen der Vergangenheit, um sich nach diesem Weg in die eigene Vergangenheit neu zu verstehen. Es gelte für die Gegenwart, Orientierung aus der Geschichte zu holen. I6I

Blicken wir in die nähere Vergangenheit zurück, so liegt das Jahr 2018 hinter uns. Es war für uns als evangelische Kirche das Jahr „danach“, das Jahr Eins nach der 500-Jahr-Feier der Reformation. Was ist geblieben? Geblieben ist aus meiner Sicht mehr als eine Äußerlichkeit: wir dachten gemeinsam mit den Katholiken an Luther zurück. Das „Feindbild Luther“, bisweilen zur eigenen Profilschärfung aufgebaut, ist gewichen.

Was bedeutet das „Jahr Eins“ inhaltlich für uns?

Zentral für unseren Glauben ist Luthers Rechtfertigungslehre, von Gott ohne Leistungen und ohne Erfolge angenommen zu sein. Das gleiche gilt für seine Lehre vom Abendmahl, bei dem uns Christus in Brot und Wein real begegnet. Eine Kirche ohne die Begegnung mit Christus über die Brücke von Brot und Wein wird verkümmern. (Meine ich.)

Blicken wir tiefer in den Brunnen der Vergangenheit, so sehen wir, dass sich Generationen von Christen zweitausend Jahre am Neuen Testament ausrichteten. Sie haben vieles falsch gemacht. Das ist wohl war. Es hat aber immer wieder Menschen gegeben, die, von diesem Wort geleitet, die Kirche auf den biblischen Weg zurück brachten. Ja, noch einmal, wir haben Fehler gemacht - was wäre jedoch eine Welt ohne Menschen, die trotz Schwächen und Fehlern immer von neuem den Weg der Liebe zu gehen versuchen?

‚Schaut in den tiefen Brunnen eurer Vergangenheit!‘ Wir sind Teil einer unübersehbaren Kette derer, die den Brunnen Gottes aufsuchen und aus ihm das Wasser des Lebens empfingen.

Im letzten Teil unseres Predigttextes gibt es einen Bruch, der etwas Schockierendes an sich hat. Wir hören Worte, die uns verstören. Ein schlimmes Szenario wird entrollt, bei dem die Welt vergeht, die Erde in Rauch sich auflöst und die Menschen wie die Mücken sterben.

Auf dem Weg dorthin, auf dem Weg in eine neue Welt, die Gott auf den Ruinen der alten Welt schaffen wird, befindet sich das pilgernde Volk Gottes. Die Rückkehr nach „Jerusalem“ ist nur eine Station. Vor diesem düsteren Horizont, den der Prophet entfaltet, wird freilich so etwas wie ein Zielband ausgerollt. Es ist als sollten wir darauf vor allem unsere Augen richten. Auf diesem Spruchband oder Banner schreibt er die Worte: „Lebt in Gerechtigkeit!“

Erinnern wir uns! Gott spricht: „Weisung wird von mir ausgehen, und mein Recht will ich gar bald zum Licht für die Völker machen. Meine Gerechtigkeit ist nahe. Meine Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen.“ Weil Gott in seiner Gerechtigkeit nahe ist, schließt das ein, dass auch seine Menschen in Gerechtigkeit leben I7I, auf Gottes Gerechtigkeit antworten.

Was ist mit Gerechtigkeit gemeint? I8I Was heißt das für uns, die wir auf dieses Ziel hin streben sollen?

„Gerechtigkeit“ drückt für den Hebräer und den Urchristen in der Schule des Paulus eine Beziehung, ein Verhältnis aus. Der „Gerechte“ sucht eine feste Beziehung zu Gott, ein immer neues Verhältnis: „Ich hier und DU, Gott da, aber nichts geschehe ohne Dich.“ Gottes Gerechtigkeit zu entsprechen, heißt in aller Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit ihn nachahmen, ihm gerecht werden.

Gerechtigkeit ist also in erster Linie nicht, Gottes Geboten gerecht zu werden, so wichtig sie als Regel in unserem Leben sind. Gerechtigkeit ist zuerst, Gott als ein Gegenüber zu sehen und dabei seinem Willen gerecht zu werden.

Dieses Leben im Angesicht des gerechten Gottes kann heute das und morgen ein anderes bedeuten, weil Gott von uns heute das und morgen jenes will.

Wir laufen, folgen wir Deuterojesaja, auf das Banner „Lebt in Gerechtigkeit!“ zu. Wir stolpern dabei, wir fallen, wir zweifeln. Wir gehen weg von diesem  Ziel und wählen ein anderes Das ist bitter. Das Banner sagt uns: „Steh wieder auf!“ Gott spricht: ‚Meine Gerechtigkeit ist nahe. Das wird sich immer von neuem als unsere Rettung erweisen.

ANMERKUNGEN

Anm.1  Nach Hans-Jürgen Hermisson: Deuterojesaja. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, 2. Band, Tübingen 1999, Sp. 684-688., Sp. 684.

Anm. 2  Arthur Weiser: Einleitung in das Alte Testament, Berlin 1963, S.177.

Anm. 3  Hermisson Sp. 684. Anders Weiser, S. 182, der Deuterojesaja bis 530 n. Chr. (Eroberung Babylons durch Kyros) datiert.

Anm. 4  Mit Weiser, S. 182.

Anm. 5  Das von mir gewählte Bild ist sehr hypothetisch. Ich stehe dazu. Ulrich Berges überträgt die Metaphorik Fels „Fels und Brunnen“ auf den Schiloahtunnel. Ulrich Berges: Jesaja 49-54. Übersetzt und ausgelegt. Freiburg/Basel/Wien (HThKAT), S. 119.

Anm.6  Es dauert einige hundert Seiten, bis sich nach meinem Dafürhalten der Kreis in dem 1. Band des Romans zum Eingang schließt: „Der Mann (erg. Abraham) hätte zu sich selber sagen können … Es genügt, dass ich irgendeinem Elchen oder Ab- und Untergott diene, es liegt nichts daran. ‘ So hätte er es bequemer gehabt. Er aber sprach: ‚Ich, Abram, und in mir der Mensch, darf ausschließlich dem Höchsten dienen.‘ Damit fing es an. (Dem Joseph gefiel es.)“ Thomas Mann: Joseph und seine Brüder, Berlin und Weimar 1972, S.424.

Anm.  7 „Nicht nur formal, sondern auch semantisch sind die vier Strophen (V1-3.4-5.7-8) eng aufeinander abgestimmt. Alle durchzieht das Leitwort … Gerechtigkeit …, gefolgt von den ebenfalls theologisch zentralen Begriffen …. Tora, … Recht…, Rettung.“ Berges, S. 114.

Anm.  8  Eine kurze, prägnante Darstellung dieses Gerechtigkeitsbegriffes gibt Thomas Schumacher: Der Römerbrief als Wechselspiel philologischer Entscheidung und theologischer Aussage. In: www.bibelwerk.de.

Perikope
31.12.2018
51,1,2,4-6

Wunderbares: im Entstehen begriffen - Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Markus Nietzke

Wunderbares: im Entstehen begriffen - Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Markus Nietzke
9,1-6

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt. Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er's stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth. (Lutherbibel 2017)

I.

„Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort“ heißt es im Weihnachtsevangelium nach Johannes. Immer, wenn Gott spricht, ist Wunderbares im Entstehen begriffen. So war es, als alles anfing. Als Gott sprach: „Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis...“ Da wurde aus Abend und Morgen der erste Tag.  Mal entsteht Wunderbares mit Blitz und Donner und Erdbeben und großem Hagel, wenn ein Kind geboren wird (Offb. 11,19-12,2), mal geschieht es in einer stillen, ja heiligen, Nacht.

II.

In einem Raum mit abgetönten Licht wiegt eine junge Mutter ihr Kind im Arm sanft hin und her. Das Kind schmiegt sich an die Brust der Mutter. Die durch die tägliche Arbeit auf dem Feld rau gewordenen Finger der Frau streifen kurz das Gesicht des Kleinen. Sie hat ihr Kind mit warmen Wasser gewaschen. Alles riecht frisch und neu. Sie wiegt ihr Kind im Arm und leise spricht die junge Mutter auf ihr Kind ein und flüstert: „Aus Dir wird mal ein großer, starker Junge. Du wirst wunderbare Pläne ausdenken! Du bist jetzt schon ein Held. Du sorgst dich um die Deinen. Treu und zuverlässig. Du bist einer, der sich für den Frieden einsetzt. Für Recht und gerechtes Handeln im Reden und Tun. Nicht aus Dir selbst – aus Gott.“ Dann drückt sie das Kind, dass über diese herrlichen Zusagen der Mutter sanft eingeschlafen ist, kurz an sich und legt es in die Wiege. In ihren Augen spiegelt sich die Hoffnung, das durch dieses Kind endlich alles anders werden wird. Die Mutter sagt das, obwohl in unmittelbarer Nähe Stiefel von Soldaten auf der Straße dröhnen, schwer bewaffneten Soldaten mit grauen Mänteln bekleidet eilig vorüberziehen. Angetrieben von  Befehlen von Männern mir grober Stimme. Trotz solch widriger Umstände durch Unterdrückung und Fremdherrschaft: Die Hoffnung bleibt: Durch die Geburt eines Kindes ist Wunderbares im Entstehen begriffen.

III.

So mag es gegenwärtig sein, in Ländern, wo heute keine friedlichen Weihnachten, sondern Krieg herrscht. So mag es heute sein in Ländern, in denen Christen Anfeindungen und Übergriffen anderer ausgeliefert sind. So mag es 1939 an der Oder und Neiße, so mag es 1917/18 an der Somme und Marne gewesen sein. So mag es zur Zeit des Pharao gewesen sein, als Mose geboren wurde, zur Zeit des Herrschers Herodes als Jesus geboren wurde. So mag es zur Zeit der Propheten Israels gewesen sein. Eine Mutter, die fast gedankenverloren ihr kleines Kind in den Armen wiegt, allen Umständen zum Trotz. Immer wieder voller Hoffnung auf Neues, auf Veränderung. Befreiung von aller Not.

IV.

„Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben“ Wer mag dieses Kind sein? Hiskia, ein König zur Zeit des Propheten Jesaja (so Rashi, Ibn Ezra)? Jemand anderes? Auf wenn auch immer diese Aussage: „Uns ist ein Kind geboren“ zur Zeit des Propheten zutreffen mag -  es schwingen eine Reihe von Erwartungen mit. Er wird als Befreier erwartet, als Hoffnungsträger, der durch sein Auftreten als erwachsener Mann wie ein König und Herrscher mit Macht Wunderbares entstehen lässt.

V.

Wir sind jetzt da, bei der Krippe, am Tannenbaum und haben den Altar in der Kirche vor Augen. Wir sind da in „unserer“ Kirche, die das ganze Jahr über tagsüber geöffnet ist. Pilgerinnen und Touristen gehen hier ein und aus, Gäste und Besucher aus aller Welt tragen sich im Gästebuch ein. Sie ist ja irgendwie immer da, die Kirche, bzw. das Kirchengebäude. Ob wir selbst hingehen oder nicht. Jetzt feiern wir Gottesdienst. Hier, in dieser Kirche. Herrlich geschmückt ist sie. Müde und zugleich aufgeregt, ungeduldig und voller Erwartung sind wir hier. Wir suchen den Weg zur Krippe. Wir kommen herzu und bestaunen Wunderbares, dass im Entstehen begriffen ist, weil diese Worte im Raum nachklingen: „...uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben...“ Wir schauen in die Krippe und sehen weit darüber hinaus ein Kind, das uns als erwachsener, 33-jähriger Mann durch seinen Tod am Kreuz von Golgatha befreit. Von Sünde. Von Schuld. Seine offenen Arme am Kreuz wollen sich um uns schließen, er will uns annehmen, wo wir rot vor Scham erkennen: Ich habe ihn durch mein Verhalten beschämt.

VI.

„Große Freude" verkündet der Engel den Hirten auf den Feldern von Bethlehem. Von „großer Freude“ weiß auch schon der Prophet Jesaja. Gott macht sie möglich, in beiden Fällen. Wir kennen das: Geteilte Freude ist doppelte Freude. Jeder und jedem im Land gilt diese große Freude, die Gott schenkt. So sagt der Engel es den Hirten an. Geteilte Freude ist doppelte Freude, wenn gemeinsam geteilt wird, was geerntet wurde. So erleben es die Menschen zur Zeit des Propheten Jesaja. Geteilte Freude ist doppelte Freude, wenn die Hirten später anderen von dieser Erfahrung mit dem Kind in der Krippe berichten. Geteilte Freude ist doppelte Freude, wo wir uns gegenseitig beschenken. Geteilte Freude ist dankbare Freude, wo wir uns freuen vor Gott. In dieser Kirche, in dieser Gemeinde. Wir freuen uns miteinander über das, was Gott tut. Was er uns schenkt. Uns. Ausgerechnet uns. „Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben“. Dieser Sohn Gottes, - er ist für jede, für jeden da - aber für keinen nur allein.

VII.

Wir beziehen den Jubel und die Freude darüber, dass Gott ein Kind schafft, „das uns gegeben ist“ auf Jesus Christus. Wir halten uns damit die Hoffnung auf Gottes immer neues Handeln offen. Selbst wenn es Befreiung aus Unterdrückung und Fremdherrschaft gibt, und schon oft gegeben hat, wird sie weiterhin von Gott erhofft und erwartet, von uns:  jetzt, hier und heute, und von Menschen, die heute Bedrückung erleiden und darunter am Heiligen Abend eher seufzen und leiden als jubeln und singen.

VIII.

Was sind das für Namen für dieses Kind? Kosenamen? Vielleicht. Anhand der vier Namen des Kindes, für uns das Christuskind ist, lässt sich Hoffnung vierfach durchbuchstabieren:

a) Planer von Wundertaten: Erwarten wir sie noch, Wundertaten? Rechnen wir damit, das wunderbare Dinge im Entstehen begriffen sind? Erwarten wir sie noch, solche wunderbaren Dinge, von Gott? Rechnen wir damit, dass wunderbare Dinge von Gott her im Entstehen begriffen sind? Das mag ein unverhoffter Anruf eines Angehörigen sein. Ein unerwartet friedliches Zusammentreffen in der Großfamilie. Kurze, fröhliche Festmomente, trotz Krankheit.„Fröhliche Weihnachten“, während wir das Sterben eines Menschen in der Weihnachtsstube oder am Bett im Krankenhaus begleiten: Als Ehepartner. Als Kinder und Schwiegerkinder. Als Enkel. Als Gemeindeglieder, die daran Anteil nehmen, wenn einer von uns in diesen Tagen stirbt und uns vorausgeht und erlebt wie Wunderbares im Entstehen begriffen ist.

b) Starker Gott: Was für ein Name! Ein Gott voller Macht und Kraft und Stärke. Allerdings, Gott, der seine Stärke ganz anders zeigt als erwartet. Da, wo wir wir die Krippe vor Augen haben, und trotzdem unser Kreuz im Alltag tragen. Starker Gott, der verspricht: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!" (2. Kor. 12,9)

c) Ewig-Vater: Was schwingt da nicht alles mit? Ein Attribut Gottes: Von Ewigket zu Ewigkeit ist er Gott. Treu. Voller Fürsorge. Wir bitten ihn im Vater Unser um alles, wir zum Leben brauchen – und er ermöglicht es – auch in diesem Weihnachtstagen.

d) Fürst des Friedens: Groß ist die Sehnsucht nach Frieden, Frieden in den Familien, Frieden zwischen Einheimischen und Zugewanderten, Migranten und Geflüchteten. Groß ist die Sehnsucht nach Frieden in Syrien und Myanmar und anderswo. Auch nach dem Frieden auf Erden, von dem die Engel zu Weihnachten singen. Frieden bei Gott und den Menschen seines Wohlgefallens.

IX.

Weihnachten als Fest der Freude ist für die meisten Menschen ein Ereignis.  Weihnachten ist auch ein Fest ehrlicher Erfahrungen. Gott macht einen den Glauben nicht unbedingt leicht. Manchmal fällt die Hoffnung schwer. Sehr, sehr schwer. Wir leiden an Gott, seinen Engeln, die versprochen sind und die doch so weit entfernt sind. Gerade dann, wenn wir  in den Strudel der Untergänge geraten. Es gibt sie, die großen und unüberbrückbaren Widersprüche zwischen den Versprechungen und Verheißungen Gottes und den Zustand dieser Welt. Hoffnung garantiert nicht immer einen guten Ausgang aller Dinge. Aber sie bleibt uns bei, die Hoffnung, dass es möglich wäre. Weil Weihnachten in uns diese Hoffnung bestärkt. Wir bleibe (als Christen und Juden) voller Hoffnung. Offen für Gottes Handeln. Voller Hoffnung für diese Welt. Voller Erwartung, was Gott, der Ewige, tun kann und tun wird. So wie Gott es getan hat, als er sein Volk aus der Sklaverei in die Freiheit führt. So wie Gott am Sinai versprochen hat: Ich bin der Herr, dein Gott. So wie er garantiert: „ich bin bei euch, alle Tage!“

X.

Noch einmal schaut die junge Mutter in die Wiege, in der ihr kleiner Junge liegt. Mit der Geburt des Kindes wird es hell. Jedenfalls im Leben dieser Familie. Ein Ende der Finsternis ist abzusehen. Ein Ende von Gewalt wird erhofft. Eine Befreiung. Wir schauen  in die Krippe, sehen im übertragenen Sinne, wie es hell wird. In unseren Leben. Durch Jesus Christus. Amen.

Benutzte Literatur:

Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe IV. Plus. Nun gehe hin und lerne! Herausgegeben von Studium in Israel e.V. Berlin, 2017.

Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe I. Plus. Jüdische Theologinnen und Theologen liegen die Bibel aus: Die neuen alttestamentlichen Texte der Reihe 1. Herausgegeben von Studium in Israel e.V. Berlin, 2018.

Goldschmidt, Stephan: Denn du bist unser Gott. Gebete, und Impulse für die Gottesdienste des Kirchenjahres. Zur neuen Perikopenordnung 2018. Neukirchen-Vluyn, 2018.

Steffensky, Fulbert: Was unsere Hoffnung nährt. Vortrag am 11. Juni 2016 auf dem 7. Ostfriesischen Kirchentag in Rhauderfehn.

 

Perikope
24.12.2018
9,1-6

Unerwartet – Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Barbara Bockentin

Unerwartet – Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Barbara Bockentin
9,1-6

Vollkommen unerwartet kommt die Nachricht, nach der sie sich so sehr gesehnt haben. Endlich ist sie schwanger. Sie kann es kaum erwarten, es ihm zu erzählen. Als sie die Haustür öffnet, kommt er ihr entgegen: „Und?“ Sie strahlt ihn an. Später schmieden die beiden Pläne: für das Kinderzimmer, wann sie es den anderen sagen, wie das Kind heißen soll…

In den Wochen und Monaten darauf beginnt sich ihr Leben zu verändern. Zuerst merken sie es kaum. Mit der Zeit fällt es ihnen immer mehr auf. „Wenn unser Kind erst da ist, ...“ so reden oder denken sie oft. Manches erscheint in einem ganz anderen Licht. Anderes wiederum nehmen sie besonders bewusst war. Die vielen schwangeren Frauen zum Beispiel. Oder die Kinderwagen, die von Vätern geschoben werden. Auch sie selbst beginnen, sich zu ändern. Wenn es ihnen auffällt, dann lachen sie darüber: „Das sind nur die Hormone.“ Insgeheim freut sie sich darüber, dass er aufmerksamer geworden ist. Und er genießt es, dass sie ruhiger ist.

Die Zeit bis zur Geburt können sie kaum abwarten. Wenn sie daran denken, überzieht ein Lächeln ihre Gesichter mit einem besonderen Glanz.

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.

Früher – ja früher, da haben sie oft darüber gesprochen, ob es verantwortungsvoll ist, ein Kind in diese Welt zu setzen. Was sie sich da nicht alles ausgemalt haben! So vieles ist nicht in Ordnung auf der Welt. So vieles muss besser gemacht werden. So vieles gehört gestoppt. Der Klimawandel, die Kriege, die nicht in Gang gekommene Energiewende, und, und, und … Da sind sie sich einig gewesen, in so eine Welt soll kein neuer Erdenbürger geboren werden. So haben sie gedacht und geredet. Bis dann doch die Sehnsucht nach einem Kind in ihnen gekeimt ist.

Jetzt ist vieles anders. Sie sind voller Ideen, wie sie etwas verändern können. Es ist, als ob das Kind neue Energie in ihnen freisetzt. Sie werden sich auf den Weg machen. Sie wollen Vorbild sein für ihr Kind. Dass die Welt verändert werden kann, davon sind sie fest überzeugt. Dass treibt sie an. Davon reden sie jetzt und suchen andere zu überzeugen.

Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.

Dann ist es soweit: das Kind, ein Junge, erblickt das Licht der Welt. Es ist ein verregneter Tag. Im Radio ist zu hören, dass die Hungersnot im Jemen sich immer mehr ausweitet. Dass alles nehmen sie nur am Rand wahr. In dem Moment als sie ihrem Sohn in die Augen blicken, bleibt die Welt draußen. Für diesen Augenblick bleibt sie stehen. Später am Tag kommen die ersten Besucher. Alle bewundern das Baby. Wetteifern darin, eine Ähnlichkeit zu Mutter, Vater, Großeltern festzustellen. Versuchen das Kind zum Lachen zu bringen. Vor allem aber lachen sie sich gegenseitig an. Die Freude und das Glück über dieses kleine Wunder will geäußert werden.

Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben.

Später, als wieder Ruhe im Zimmer eingekehrt ist, fragt sie ihn, wie denn ihr Sohn heißen soll. „Lass uns einen Namen wählen, der aus unseren Familien kommt.“ schlägt er vor. „Ich erinnere mich gerne an meinen Opa. Von ihm habe ich viel gelernt. Wie wäre es mit seinem Namen?“ Sie möchte einen zweiten Namen hinzufügen. Sie stellt sich einen Namen vor, der jetzt und auch noch in dreißig Jahren zu ihrem Sohn passt. Einen Namen, der in sich eine Botschaft trägt, der eine Bedeutung hat.

Er heißt Wunder-Rat, Gott- Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er´s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit.

Monate später schauen die beiden die Bilder aus den ersten Tagen ihres Sohnes an. Gotthilf heißt er nach dem Großvater und Benjamin mit Rufnamen. Die Nachrichten sind im Hintergrund zu hören. Der Krieg in Syrien ist auf einem neuen Höhepunkt. In immer mehr Schulen wird am Freitag gestreikt. Jugendliche protestieren so gegen die Politik, die dem Klimawandel zusieht. Von solchen Aktionen werden sie ihrem Sohn erzählen. Und davon, wie sehr seine Geburt, ihre Einstellung verändert hat. Sie vertrauen darauf, dass sie etwas in Gang bringen können. Wer, wenn nicht sie. Wenn Benjamin erwachsen ist, werden sie mit Stolz auf das blicken, was sich dann verändert hat.

Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.

Vollkommen unerwartet kommt die Nachricht, nach der sie sich so sehr gesehnt haben. Ein Kind ist geboren worden, dass alle Welt in Bewegung setzt. Viele werden sich von ihm begeistern lassen. Viele werden sich von seinem Glauben anstecken lassen, dass schon heute Gott da ist. Viele werden dafür brennen, dass seine Worte wahr geworden sind.

Perikope
24.12.2018
9,1-6

Christvesper - Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Bernd Vogel

Christvesper - Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Bernd Vogel
9,1-6

I. Er saß über dem leeren Blatt Papier. Seit Tagen ging die Arbeit nicht voran. Nach dem Anfang, der da stand, ging es nicht weiter. Es ging einfach nicht weiter. 

Da es nun schon viele unternommen haben, Bericht zu geben von den Geschichten, die sich unter uns erfüllt haben, wie uns das überliefert haben, die es von Anfang an selbst gesehen haben und Diener des Wortes gewesen sind, habe auch ich's für gut gehalten, nachdem ich alles von Anfang an sorgfältig erkundet habe, es für dich, hochgeehrter Theophilus, in guter Ordnung aufzuschreiben, auf dass du den sicheren Grund der Lehre erfährst, in der du unterrichtet bist“ (Lukas 1, 1 ff.).

Das stand da schon schwarz auf weiß. Und weiter – nichts. Das Vorhaben war ihm völlig klar: Es musste einfach jemand wagen, die Jesus-Geschichte noch ein Mal ganz neu zu erzählen. Keine Ergänzungen nur, keine Anmerkungen, sondern zurück auf Anfang. Ein neues Buch. Eine neue Erzählung.

Das, was bisher im Umlauf war, reichte einfach nicht aus. Insbesondere ging es Lukas darum, die Sache mit Jesus, den Glauben der Christusleute in der Geschichte zu verankern und im konkreten politischen Geschehen seiner Zeit.

Bei aller Wertschätzung für den Römer Markus und sein epochales ‚Evangelium‘ von vor 20 Jahren: Das war in diesem in vieler Hinsicht einerseits herrlich knappen, andererseits geheimnisvollen Markus-Text nicht deutlich geworden: Was hat die Jesus-Geschichte „für uns heute“ (Dietrich Bonhoeffer 1944) zu bedeuten – und zwar im Zusammenhang von Geschichte, Politik und sozialer Wirklichkeit?

Wie soll man diesen geheimnisvollen ‚Christus‘ des Evangelisten Markus verstehen, von dem ausgerechnet der römische Hauptmann unter dem Kreuz sagt, ausgerechnet dieser Geschundene und qualvoll Gestorbene sei ‚Gottes Sohn‘ ‚gewesen‘? Wie das denn? Was heißt denn das? Das kapiert doch kein normaler Mensch! Und christlicher Glaube – das war dem Historiker Lukas glasklar – hatte nicht nur etwas mit einem frommen Erlebnis zu tun, sondern vor allem mit durchaus vernünftiger ‚Erkenntnis‘

Die Aufgabe war ihm klar, Allein, es ging nicht voran. „Da es nun schon viele unternommen haben, Bericht zu geben von den Geschichten, die sich unter uns erfüllt haben, wie uns das überliefert haben, die es von Anfang an selbst gesehen haben und Diener des Wortes gewesen sind, habe auch ich's für gut gehalten …“

Ja, was denn nun, du Großmaul? Den Mund zu voll genommen? „Habe auch ich es für gut gehalten …“ Ja, was denn? Von „Anfang an aller erkundet“ … Ja, was heißt denn das?

Wo ist denn der Anfang dieser Geschichte? So ging das tagelang. Kein Vorankommen. Nur Grübelei.

II. Dass es das Lukas-Evangelium und in ihm die Weihnachtsgeschichte überhaupt gibt, verdanken wir im Rahmen dieser Erzählung über den Evangelisten Lukas wohl zweierlei:

Lukas war willens, alles von Anfang an und d. h. ganz NEU zu denken. Er hatte den Mut dazu und ließ den Mut dazu nie ganz sinken.

„ … habe auch ich's für gut gehalten, nachdem ich alles auf’s NEUE  … erkundet habe …“ So lässt sich das „von Anfang an“ eben auch und vielleicht besser als bei Luther übersetzen.

Es ist Neues möglich. Viel stärker gewagt gesagt: Das Neue ist die eigentliche Wirklichkeit. Es können die Verhältnisse unter den Menschen sich zum Guten erneuern. Es kann Versöhnung geben, wo Feindschaft war. Es kann Friede werden, wo Streit, Krieg und Gewalt waren.

Es kann ein Mensch neu anfangen mitten im Leben. Ein Kind, ein Mann, eine Frau, ein alter Mensch, Inländer und Ausländer, Bekannte und Fremde, So- und Anders-Denkende, Religiöse und Nichtreligiöse, Kirchgänger und Nicht-Kirchgänger, Naive und Zyniker, Muntere und müde gekämpfte Leute … es ist möglich; und es ist auch so, dass in ihnen und zwischen ihnen NEUES geschieht.

Lukas war zweitens ein genauer Mensch. Mit ‚Akribie‘ – so lautet unser  deutsches Lehnwort für den von Lukas verwendeten griechischen Begriff – ging er an die Sache heran. Ein akribisch arbeitender Historiker und Erzähler liest zunächst einmal genau, was vor ihm schon andere geschrieben haben. Da gab es nicht nur Markus und diverse mündliche und schriftliche Quellen über den Mann aus Nazareth. Vor allem gab es das Erste Testament, die jüdische Bibel, und darin den großen Geschichts-Propheten Jesaja. Der hatte sich in seiner Zeit, fast 800 Jahre vor Lukas, mit einer ähnlichen Fragestellung beschäftigt, die wir versuchsweise einmal so formulieren:

Wie kann es unter den Menschen zu den so ersehnten wie notwendigen Neuanfängen kommen? Stimmt das, dass Gott in der Geschichte handelt? Oder ist das nur ein frommer Traum, genau genommen eine Illusion?

Lukas – das meine ich hinter den ersten Kapiteln im uns bekannten Lukas-Evangelium ausreichend klar zu erkennen – hat Jesaja aufmerksam studiert. Und er schreibt die Geschichte Jesu weiter in dem Augenblick, als ihm Jesajas Botschaft deutlich wurde. Eines Tages begriff er. Da ‚erkannte‘ er den Sinn der alten Worte. Dann schrieb er auf:

„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging …“ Auf Befehl des die Welt beherrschenden Potentaten seiner Zeit setzt sich ein Geschehen in Gang, das eines Tages sich als weltumstürzend und welterneuernd erweisen wird. Ironischer, humorvoller und geschickter lässt sich Gottes Geschichte in der Menschengeschichte kaum darstellen. Lukas überblendet seine eigene Zeitgeschichte, genauer: Die Zeit ungefähr 50 Jahre vor seiner eigenen Geburt, mit der Geschichte der Geburt des Gottessohnes in einem Futtertrog.

Lukas schrieb von diesem ‚Anfang‘ an alles der Reihe nach auf. Er komponierte sein Werk frisch und neu, setzte Texte darein, die bisher niemand kannte, entwarf ein Bild von Jesus Christus als der Mitte von Zeit und Geschichte. Er erzählte gleich noch die Geschichte der frühen Kirche hintendran, von Petrus und Paulus, von namhaften Frauen, die halfen, das Evangelium vom Juden Jesus Christus in die heidnische Völkerwelt zu tragen.

III. Einen der entscheidenden Jesaja-Texte, bei denen dem Lukas tausend Lichter aufgegangen sein mussten und wohl auch aufgegangen sind, sollt ihr hören. Ihr könnt ihn euch zu Herzen nehmen und mit dem Kopf verstehen wollen:

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt. Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er's stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaoth“ (Jesaja 9,1-6).

Ein Text zu groß für ein paar dürre Worte. Für ein paar kleine Versuche, ihn auf unser Leben praktisch ‚anzuwenden‘. Anders herum mag ein Schuh draus werden. Steigen wir ein in die Welt dieses großen Textes und schauen wir, was uns geschieht …

Eine kleine Vorbemerkung dazu, zum Verhältnis von großen Texten und uns Menschen, die wie sie lesen – oder auch nicht: Neulich habe ich mit meinen Religions-Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufen 8 und 9 Integrierte Gesamtschule Lüneburg den Weihnachtsgottesdienst gefeiert. Es ist bei Kindern und Jugendlichen kaum anders als bei Erwachsenen. Einige sind ganz bei der Sache. Sie haben den Bibeltext studiert oder ihren eigenen Text gut formuliert und ihn laut zu lesen geübt. Sie haben sich auf meine Hilfestellungen eingelassen und ihren Teil mit Konzentration und Hingabe abgeliefert. Andere rappeln ihre zwei Sätze schnell herunter. Sie schämen sich ihres Auftritts. Viele sind dazwischen: Dass Gott in diesem Gottesdienst zu vernehmen sein könnte, wie der Pastor vorab sie eingestimmt hat – das können sie nicht wirklich glauben; aber trotzdem macht man irgendwie gute Miene zum Spiel und liefert was Ordentliches ab.

Lukas wusste, wie Menschen sind. Den Jesaja, dachte er sich, musst du deinen Lesern und Leserinnen verdaulich in einer Geschichte erzählen. Je spannender und bildreicher, desto besser. Die Geschichte des Jesus Christus kannst du ihnen nicht in Form einer akademischen Vorlesung vor den Kopf knallen, mit philosophischen Begriffen gespickt und allerlei schweren Gedanken. Die meisten Leser und Leserinnen werden das Buch gar nicht erst lesen, wenn sie nicht auf den ersten Seiten schon in der spannend erzählten Geschichte ‚drin‘ sind.

„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell …“

Da ist ein aufmerksamer Leser sofort ‚drin‘. Es ‚scheint‘ „hell“. Die das jetzt lesen, denen leuchtet das Licht schon. Lukas hat sein Evangelium so geschrieben, als hätte er so gedacht. So kamen die Hirten ins Spiel, die natürlich „des Nachts“ ihre Herden hüten auf den Feldern Bethlehems. Des Nachts, denn nur dann ist für uns vorstellbar, was das wohl bedeutet haben könnte für sie, als da plötzlich dieses ‚große Licht‘ (Jesaja 9,1) war:

Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. 9 Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. 10 Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; 11 denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids“ (Lukas 2,8 f.).

Die Hirten sind nun durch des Lukas Erzählung die Vertreter des ‚Volkes, das im Finstern‘ wandelt.

Kann sich jede und jeder von euch die eigenen Dunkelheiten hineindenken. Ich mag keine Litaneien erzählen von zerbrochenen Ehen, gestorbenen Lieben, von Aleppo und rechten Aufmärschen überall in Europa, von Klimawandel und Despoten  … Das finstere Land … das helle Licht … kann sich jeder seinen Reim drauf machen.

Lukas wusste um die Not nicht nur der Hirten auf dem Felde, sondern von viel, viel Not und Schmerz und Geschrei im Land Israel und in Rom. Er wusste das alles, aber er verwirrte sich nicht in dem heillosen Wirbel endloser und heilloser Klagen. Er erzählte stattdessen und trotzig eine unverschämte Gegen-Geschichte gegen die Weltgeschichte seiner Zeit.

Noch ein Beispiel aus seiner mutmaßlichen Vorlage Jesaja:

Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich …“ (Jes 9,5 f.)

Das Kind, das Jesaja in einer Vision sehnsuchtsvoller Zuversicht als den zukünftigen Friedenskönig Israels gesehen hatte, ist für Lukas das Krippenkind, der Heiland. „Uns … geboren“ hieß bei Jesaja: Uns im Hause Juda, in Israel. Für den Evangelisten ist der Jude Jesus das Licht für alle Völker aller Länder der ganzen Welt. Er, Jesus Christus, ist das Licht, der Wunder-Rat, der Gott-Held.

Bei ihm ist „Rat“ in allen wesentlichen Fragen des Lebens und des Sterbens. Stärker als Depression, Verzweiflung, Finsternisse im Herzen und im Geist, leuchtet sein Licht. Dieses Licht erneuert die Vernunft. Es klärt das Denken auf. Auch das Denken der Politiker und Politikerinnen. Auch das der Bürger und Bürgerinnen, Verbraucher und Verbraucherinnen, das Denken aller Berufstätigen und aller Rentner und Rentnerinnen. Der „Wunder-Rat“ ist der Gedanken-Erneuerer. Jesus wird es „Metanoia“ nennen. Luther übersetzte ‚Buße‘. Es heißt aber: Etwas neu denken, eine aufgeklärte Vernunft bekommen, weiter und neu denken, möglichst jeden Tag neu.

Lukas erzählt in seinem Evangelium diverse Geschichten, in denen es um das Umdenken, Weiterdenken, Neudenken und daraus dann: Neu-Handeln geht. Der barmherzige Samariter ist nicht nur mit einem großen Herzen gesegnet. Er ist auch lebensklüger. Der ‚verlorene Sohn‘ hört in sich die Stimme seines Vaters, die Stimme des ‚Wunder-Rates‘, der ihn nach Hause ruft. Das ist klug; denn die tatsächliche Alternative wäre gewesen, bei den Schweinen zu krepieren und vor die Hunde zu gehen.

Jesus Christus ist für Lukas der ‚Gott-Held‘ des Jesaja. Während Jesaja wohl an einen echten König dachte, der nach gewonnenem Krieg die Nachfahren seiner von ihm getöteten Feinde zur Versöhnung einlädt, denkt Lukas an Jesu Kreuz und Auferstehung. Der „Gott-Held“ ist der Sieger über jeden Tod, über den Tod überhaupt. Wer diesem von Gott gesandten Helden, welcher selber Gott ist (Wunder über Wunder …)  sich anvertraut, wird hineingenommen in die Geschichte dieses Gottes mitten in der Geschichte. Der Tod hat trotz aller Schrecken nicht das entscheidende Wort. Im Sterben vergibt der lukanische Jesus seinen Feinden. Nach der Auferstehung schickt er seine Zeuginnen und Zeugen in die Welt, den Sieg des Lebens über den Tod in all seinen Formen anzusagen.

Das ist Weihnachten. Heilige Nacht. Das Licht der ganzen biblischen Botschaft Ersten und Neuen Testaments leuchtet in dieser Nacht besonders deutlich. Die Erzählung davon ist offen für uns alle. Wir kommen mit den Hirten zur Krippe mit unseren Geschichten. Das Neue geschieht.

Perikope
24.12.2018
9,1-6

Ein Wort für die Nacht – Predigt zu Jesaja 51,1-8 von Kathrin Nothacker

Ein Wort für die Nacht – Predigt zu Jesaja 51,1-8 von Kathrin Nothacker
51,1-8

Wir wünschen uns ein Wort für die Nacht. Für den Jahreswechsel, der kommt. Für das unbekannte Land, das vor uns liegt. Gottfried Benn hat gedichtet:

Ein Wort, ein Satz -: aus Chiffren steigen, erkanntes Leben, jäher Sinn, die Sonne steht, die Sphären schweigen, und alles ballt sich zu ihm hin.

Wir wünschen uns ein Wort für die Nacht. Für den Jahreswechsel, der kommt. Ein Wort, auf das wir uns konzentrieren und besinnen können. Ein Wort, das Trost und Hoffnung gibt für das unbekannte Land, das vor uns liegt. Es ist ein Wort des Propheten Jesaja, ein großes Gedicht, kunstvoll komponiert, das uns für diesen Jahreswechsel 2018/2019 mitgegeben wird. Jesaja 51, 1-8: Hört mir zu, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, die ihr den Herrn sucht: Schaut den Fels an, aus dem ihr gehauen seid, und des Brunnens Schacht, aus dem ihr gegraben seid. Schaut Abraham an, euren Vater, und Sara, von der ihr geboren seid. Denn als einen Einzelnen berief ich ihn, um ihn zu segnen und zu mehren. Ja, der Herr tröstet Zion, er tröstet alle ihre Trümmer und macht ihre Wüste wie Eden und ihr dürres Land wie den Garten des Herrn, dass man Wonne und Freude darin findet, Dank und Lobgesang. Merke auf mich, mein Volk, hört mich, meine Leute! Denn Weisung wird von mir ausgehen, und mein Recht will ich gar bald zum Licht der Völker machen. Denn meine Gerechtigkeit ist nahe, mein Heil tritt hervor, und meine Arme werden die Völker richten. Die Inseln harren auf mich und warten auf meinen Arm. Hebt eure Augen auf gen Himmel und schaut unten auf die Erde! Denn der Himmel wird wie ein Rauch vergehen und die Erde wie ein Kleid zerfallen, und die darauf wohnen, werden wie Mücken dahinsterben. Aber mein Heil bleibt ewiglich, und meine Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen. Hört mir zu, die ihr die Gerechtigkeit kennt, du Volk, in dessen Herzen mein Gesetz ist! Fürchtet euch nicht, wenn euch die Leute schmähen, und entsetzt euch nicht, wenn sie euch verhöhnen! Denn die Motten werden sie fressen wie ein Kleid, und Würmer werden sie fressen wie ein wollenes Tuch. Aber meine Gerechtigkeit bleibt ewiglich und mein Heil für und für.

„Hört mir zu, schaut her, merkt auf, hebt eure Augen auf“ – die Imperative scheinen gar kein Ende zu nehmen. Schaut weg von euch! Lasst eure schweren Gedanken in dieser einen Stunde heute Abend einmal ruhen. Denkt nicht an euch! Lasst eure eigenen Sorgen nicht wachsen. Sondern schaut einmal auf. Und von euch weg. Da klingt nochmal das Wort aus dem Advent nach: „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“

Ein Blick auf die Realität

Der Blick von mir weg, ist aber keine Realitätsverweigerung. Die Realität mit ihrer ganzen Vergänglichkeit ist schmerzlich präsent. Da ist von der Wüste und vom dürren Land die Rede. Wenn wir auf dieses Jahr und den extrem heißen Sommer in unseren Breitengraden zurückblicken, dann macht uns das schon Sorge. Die Flüsse haben sich noch immer nicht von der Trockenheit erholt und die Wälder auch nicht, und die Experten weisen darauf hin, dass der Klimawandel auch uns erreicht und dies ganz konkrete Folgen für unser Leben hat. Für das, was auf unseren Feldern in Zukunft wachsen wird und was nicht. Für die Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen und welche nicht. Für unseren Konsum, was wir essen, was wir trinken, womit wir uns kleiden und was uns wärmen wird – und was nicht.

Und wenn in diesem alten Text von den Inseln geredet wird, die auf Gott harren und auf seinen Arm warten, dann stehen mir die Regierungschefs der pazifischen Inselstaaten vor Augen, die auf der Weltklimakonferenz in Kattowitz vor allem die großen Industrienationen so verzweifelt darum gebeten haben, alles dafür zu tun, die Klimaerwärmung aufzuhalten. Denn ihre Inseln werden untergehen, ihr Lebensraum wird einfach im Meer versinken, weil Menschen auf der anderen Seite der Erdkugel nicht bereit sind, ihren Wohlstand ein wenig einzuschränken und die nötigen Strukturveränderungen schnell in die Wege zu leiten. „Die Inseln harren auf mich und warten auf meinen Arm“.

„Die Erde wird wie ein Kleid zerfallen, und die darauf wohnen, werden wie Mücken dahinsterben.“ Alle zehn Minuten stirbt ein Kind im Jemen an Unterernährung. Nach Schätzung von Hilfswerken sind im Jemen zwischen April 2015 und Oktober 2018 85.000 Kleinkinder an Hunger und Krankheit gestorben. Und die Situation spitzt sich weiter zu, wenn es nicht sehr bald eine politische Lösung für den Jemen gibt und die unsäglichen militärischen Stellvertreterkriege ein Ende nehmen.

Sehnsucht nach Gerechtigkeit

Der Blick auf die Realität löst eine große Sehnsucht nach Gerechtigkeit aus. Gerechtigkeit ist der cantus firmus dieses Liedes. Der Kehrvers des Gedichtes. Viermal kommt es vor. Viermal wiederholt. Viermal von Gott gesprochen: „Ihr, die ihr die Gerechtigkeit kennt“. „Aber meine Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen.“ „Meine Gerechtigkeit ist nahe.“ „Meine Gerechtigkeit bleibt ewiglich“.

Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist groß in dieser Welt. Und auch drängend. Es geht schon in unserer kleinen und nahen Welt so ungerecht zu. Auch in unserem reichen Land, im reichen Europa gibt es immer mehr Superreiche und immer mehr Menschen, vor allem Kinder, die unter der Armutsgrenze leben. Etwas ist aus dem Lot geraten. Die sozialen Unruhen in unserem Nachbarland Frankreich zeugen davon. Gerechtigkeit ist ein Sehnsuchtswort, eins, zu dem sich – um mit Gottfried Benn zu sprechen – „alles in uns hinballt“. Und es ist ein Sehnsuchtswort geblieben, obwohl es in fast allen Parteiprogrammen auftaucht. Vielleicht gerade deshalb. Gerechtigkeit hat in der Bibel immer etwas damit zu tun, dass Recht geschaffen wird, sich das Recht durchsetzt und dass Barmherzigkeit geübt wird. Gerechtigkeit ist nicht zu denken ohne diese Korrespondenz von Recht und Barmherzigkeit.  Gerechtigkeit ist auch nicht zu denken, ohne dass Gott und Mensch miteinander wirken. Kleine menschliche Schritte zu mehr Gerechtigkeit und die Hoffnung darauf, dass Gott seine Gerechtigkeit, sein Reich aufrichten wird. „Blinde werden sehen und Lahme gehen und den Armen wird das Evangelium verkündigt.“

„Meine Gerechtigkeit bleibt ewiglich und mein Heil für und für“, sagt Gott. Große Worte. Können wir sie in diese unsere Welt übersetzen? Der Abstand ist so groß zwischen dem, was wir sehen und dem, was wir uns wünschen. Der Abstand ist so groß zwischen dem, was wir erleben und dem, was wir erhoffen. Und Sie und ich, wir tun ja gern unseren Teil im Hinblick auf Recht und Barmherzigkeit. Aber vermögen wir letzten Endes gerecht zu leben? Und denen, die unter großer Ungerechtigkeit leiden, wirklich Gerechtigkeit zu verschaffen. Den Hungernden, den Versklavten, den Leidtragenden, den Kranken, den Verlassenen?

Gott sagt: „Mein Heil bleibt ewiglich und meine Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen.“ Das Wort in diese Nacht des Jahreswechsels hinein ist ein großes Wort, ein Gotteswort. Es klingt hinein – wie ein Glockenschlag. Ist Zeichen einer größeren Wirklichkeit, einer noch anderen Dimension. Und vielleicht ist es so, dass wir heute nicht unbedingt zum Handeln aufgefordert werden, nicht zum Nachdenken, wie wir alles besser und gerechter machen können. Sondern vielmehr staunen dürfen, dass es etwas gibt, was größer ist als das, was wir können, vermögen, sehen, leisten. „Meine Gerechtigkeit ist nahe und mein Heil tritt hervor“. Später heißt es: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr.“

Wie ein Glockenschlag klingt es in die Nacht. Unser Gott ist größer als das, was wir denken und verstehen und tun und sehen können.

Hilfe ist da

Noch einmal Gottfried Benn, der Dichter und Pfarrersohn:

Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer, ein Flammenwurf, ein Sternenstrich – und wieder Dunkel, ungeheuer, im leeren Raum um Welt und Ich.

Nein, nicht „wieder Dunkel, ungeheuer, im leeren Raum um Welt und ich.“ Sondern: Heil, Hilfe, Befreiung schafft Gott. Das ist seine ganz konkrete Zusage. Ich will euch helfen, Licht in die Nacht zu bringen, ich will euch aus dem Dunkel befreien, ich will den leeren Raum in und um euch füllen. Immer wieder. Wenn der Tod seine Schatten wirft, weil die Diagnose der Ärzte schlecht ist. Wenn Beziehungen zerbrochen sind oder am Zerbrechen sind und die Zukunft wie dunkle Nacht ist. Wenn die Verletzungen in der Familie, zugefügte und erlittene, großen Raum einnehmen. Wenn die berufliche Zukunft unklar ist und die Sorgen um die Existenz das Denken blockieren. „Meine Hilfe ist nahe“, sagt Gott. „Mein Heil ist nahe.“ Das hebräische Wort dafür heißt: Jeshua.

Mit Gottes Hilfe

Ich erinnere mich an eine sehr fromme alte Tante. Sie hat viele Sätze abgeschlossen: Mit Gottes Hilfe. Mit Gottes Hilfe werden wir uns wiedersehen. Mit Gottes Hilfe werden wir das Haus bauen können. Mit Gottes Hilfe schlafen wir ein und wachen morgen früh wieder auf. Mit Gottes Hilfe wirst Du Deine Prüfung schaffen und einen Beruf finden. Mit Gottes Hilfe kommen wir vom alten Jahr hinüber ins neue.

Ich habe diesen Ausspruch früher immer etwas belächelt. Und er erschien mir als junger Mensch auch irgendwie zu fromm. Heute hat er für mich nichts Formelhaftes mehr. Es ist ja so, dass so viele Dinge, die wir uns vornehmen oder die auf uns zukommen und bewältigt werden müssen, die wir vielleicht noch gar nicht kennen, zu groß und zu schwer für uns sind. Auch die Angst und die Sorge um das Morgen. Es ist gut, dass ich sagen kann: Mit Gottes Hilfe. Da ist eine große und starke Macht, die hilft.

„Meine Hilfe ist nahe“. Jeshua. Jesus.

Jeshua

Von Sophie Scholl wird erzählt: Als sie sich kurz vor ihrer Hinrichtung von ihrer Mutter im Gefängnis verabschiedete, brachte die Mutter kein Wort über die Lippen. Nur das: „Gelt Sophie, Jesus.“ Und Sophie antwortete nur das eine: „Ja, aber du auch, Mutter.“

Gehen wir mit dem Kind in der Krippe, dessen Ankunft uns vor wenigen Tagen froh gemacht hat, getrost vom alten Jahr ins neue. Gehen wir mit Jesus über die Schwelle des Jahres. Getrost, voller Hoffnung, dass es ein Jahr des Herrn werden wird, ein anno domini. Getröstet, dass Gottes Hilfe und Heil ewig bleiben und seine Gerechtigkeit nicht zerbrechen wird. Amen.

Perikope
31.12.2018
51,1-8

Auf leisen Tönen - Predigt zu Jesaja 9, 1-6 von Claudia Bruweleit

Auf leisen Tönen - Predigt zu Jesaja 9, 1-6 von Claudia Bruweleit
9,1-6

Liebe Gemeinde,

als ich einer Bekannten erzählte, dass ich Heiligabend Gottesdienst feiern und predigen dürfe, fragte sie mich mit leuchtenden Augen: Und, haben Sie schöne Musik dabei? Ja, sagte ich, Trompete und Orgel! O wie schön, Trompete, das klingt immer so festlich, nickte sie zufrieden. Sie selbst werde im Chor singen am Heiligabend, in ihrer Gemeinde. Und wir waren uns einig: Wir wollten gern viele schöne Weihnachtslieder singen und zu Weihnachten gehört festliche Musik. Weihnachten klingt froh und jubelnd, wie die Geburt eines Königs angekündigt wird.

Aber es mischen sich auch dunkle Töne in diesen Glanz des Festtages. Die alte Verheißung des Propheten Jesaja erzählt davon, warum die Israeliten, das Volk Gottes von Anbeginn an, von dem die Bibel in ihrem hebräischen Teil, dem Alten Testament, erzählt, warum dieses Gottesvolk sich freuen darf. Seine Unterdrückung durch den fremden Herrscher hat ein Ende. Und jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. Im Gedröhn der Stiefel klingen die Schrecken des Krieges nach. Die Soldaten des Neuassyrischen Herrschers hatten Israel erobert und es durch Tributforderungen wirtschaftlich ausgebeutet, gut  siebenhundert Jahre vor der Geburt Christi. Jahrzehntelang lebten die Israeliten in Trauer und Unterdrückung.
Auch heute kennen wir viele Orte, an denen Gedröhn der Bombeneinschläge Angst und Schrecken verbreitet, so dass Menschen mit ihren Familien davor fliehen, aus Aleppo, aus dem Nordirak,  in den Konflikten zwischen Israelis und Palästinensern im Westjordanland und in Ostjerusalem, das Leid an den vielen Kriegsorten unserer Erde. Die Sehnsucht nach Frieden ist heute so lebendig wie damals, als Jesaja eine friedliche Zukunft herbeisehnte. Aber über die Art und Weise, wie Frieden sein soll, wurde und wird gestritten. Die Machtverhältnisse führen zu immer neuen Spannungen, auch in Deutschland, wenn es darum geht, wer die Deutungshoheit über die Situation in Deutschlands hat. Auch in diesem Jahr 2018 dröhnten Stiefel aufgebrachter rechter Demonstranten und ihre Gesänge durch unsere Städte und verbreiteten Angst und Schrecken.
Wie anders klingt dagegen die Botschaft vom Friedensfürsten des Jesaja, damals wie heute. Fast zu schön, um wahr zu sein:  Die Zeichen der Unterdrückung und des Krieges werden verbrannt, sie gehen in hellen Flammen auf, denn es bricht eine neue Zeit an. Der alte Prophet sieht es kommen. Friede wird sein, nicht nur Waffenstillstand, sondern radikales Umdenken.  Die Menschen werden Gott erkennen und von Gott her Frieden denken und Frieden umsetzen:  Mit einem Herrscher, dessen Zukunft  gerade aufscheint: 5 Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst. Als Wunder-Rat kommt er auf überraschend andere, versöhnliche Gedanken. Als Gott-Held erinnert er daran, dass Gott die Welt lenkt und auch einen Machthaber  zum Guten führen kann.  Als Ewig-Vater rückt er in der Beziehung zwischen Gott und den Menschen  die Liebe in den Blick. Ja, Gott ist ein fürsorgender Vater.  Das alles hatten die Israeliten lange vergessen. Und hier wandelt sich die dunkle Melodie der Jesaja -Verheißung und klingt in jubelnden und dennoch zarten Tönen: Gott wird Israel diesen neuen Herrscher auf dem Thron des berühmten Königs David geben. Ganz anders als erwartet, zart und verletzlich ist er selbst, ganz nahbar ist der starke, mächtige Gott.

Und die Weihnachtsgeschichte, im Neuen Testament  verbindet das alte Verheißungswort mit der Geburt Jesu. Der lange verheißene Messias, der Retter, ist jetzt da. Den Hirten im Dunkel der Nacht gehen die Augen auf: Engel singen und musizieren und loben Gott und eine Stimme sagt: Siehe, ich verkünde euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, aus der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Dunkle und helle Töne mischen sich jetzt zu einer Melodie von Weihnachten. Das Staunen  schwingt darin und der Schmerz und auch die Freude an der Erfüllung, auch wenn noch lange nicht alles gut und heil ist, aber zwischen Gott und uns Menschen ist alles gut. Gott steht nicht nur auf unserer Seite, Gott wird wie wir, verletzbar, Mensch.

Und da kommen wir ins Spiel, wir Menschen hier am Heiligabend im Jahr 2018. Wir mit allen unseren Sehnsüchten und Freuden, die wir heute mitgebracht haben. Wir hören die Botschaft und spüren, dass diese Musik uns ganz tief innen berührt. Weil sie an etwas Altes rührt, an eine Verbindung zwischen Gott und Mensch, die sonst nicht so deutlich spürbar ist, aber jetzt, in der Weihnachtsmusik. Auch das geschieht seit uralten Zeiten, dass Menschen ihre Freude und ihren Schmerz, ihre Sehnsucht und ihr Glück in Musik fassen. Zum Staunen schön fand ich es, als ich eine Flöte sah,  die das älteste bekannte Musikinstrument  der Welt ist. Vierzigtausend Jahre ist sie alt und ist aus einem Mammutelfenbein geschnitzt. Mit mehreren Löchern mit Griffmulden für die Finger darin. Die Menschen, die auf ihr musiziert haben, lebten in Höhlen. Wir wissen, dass sie Jäger und Sammler waren und ihr Überleben auf mühsame Weise sicherten. Was wir nicht wussten und mit diesem Instrument erahnen, ist, dass auch sie schon Musik kannten. Man hat die Flöte nachgebaut und festgestellt, dass man viele verschiedene Töne und besonders die emotional so berührenden Obertöne damit erzeugen kann. Und so ahnen wir: In ihren Höhlen erklangen die Töne und Obertöne dieses Instrumentes und auch die ihrer Stimmen, denn wer eine Flöte zum Klingen bringt, der empfindet die Melodie zuerst in sich selbst, er singt sie mit seinem Instrument. Dieses Instrument wird in der Ausstellung „Bewegte Zeiten“ im Gropiusbau in Berlin gezeigt, gefunden wurde es in einer Höhle in der Schwäbischen Alb1.
Wenn ich heute die Trompetenklänge höre, dann denke ich auch an die Menschen, die auf dieser Flöte gespielt haben. Vielleicht fühlten sich diese Menschen auch verbunden mit einer göttlichen Kraft. Musik rührt an etwas Himmlisches und an unser Inneres. Denn Musik berührt die tiefen, unbewussten Seiten in uns. Unsere Erinnerungen aus der Kindheit. Unsere Gefühle, die wir nicht jedem zeigen und manchmal selbst vergessen haben. All das gehört zu uns, weil wir Menschen sind. Die Musik in uns kann sie wecken und uns auf geheimnisvolle Weise ins Bewusstsein führen, dass es gut ist, so wie es ist. Denn nicht nur wir, sondern alle Menschen haben teil an den großen und kleinen Sehnsüchte und Freuden. Und nicht nur alle Menschen, sondern auch Gott. Denn dieses Kind Jesus Christus verbindet uns Menschen mit Gott, der seit Urzeiten für uns Menschen da sein will und in diesem Gottessohn einen Weg gefunden hat, dass wir ihn erkennen. Er ist der, der uns schon immer liebt und uns näher ist als wir uns selbst. Und so dürfen wir heute in den Weihnachtsliedern, die wir gemeinsam singen, alles hineinlegen, was uns bewegt und uns von ihnen einstimmen lassen in die Weihnachtsfreude.

Und diejenigen unter uns, denen nicht nach Jubeln zumute ist, die voller Sehnsucht heute in diesen Gottesdienst gekommen sind, die mögen sich an die dunklen Töne halten und an die Worte des Jesaja, der  genau darum weiß, was alles kaputt und krank ist in unserer Welt.  Die Klage und die Sehnsucht haben auch einen Ort in Weihnachten. Noch sind wir nicht an das Ziel gekommen. Viel zu viel Unfriede ist in der Welt und in uns selbst. Aber es gibt unüberhörbar die Stimme des Jubels und die leisen, friedlichen Töne und es ist gut, ihnen zu lauschen und sie vorsichtig oder auch mit Schwung für sich selbst auszuprobieren. Jehudi Menuhin, der große jüdische Geiger, hat einmal gesagt: „Wenn einer aus seiner Seele singt, heilt er zugleich seine innere Welt. Wenn alle aus ihrer Seele singen und eins sind in der Musik, heilen sie zugleich auch die äußere Welt.“2

Und ich wünsche Ihnen und uns, dass wir aus die Freude über  das Gottesgeschenk mitnehmen und  Hoffnung schöpfen, dass nicht alles so bleibt wie es ist, sondern dass Gott auch unser Leben heilt und mit Freude erfüllt und dass er uns zutraut, dass auch durch uns Friede werde.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

 

1 I Abbildung in: Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland. Begleitband zur Ausstellung, Michael Imhof Verlag, Petersberg 2018, 343

2 I Jehudi Menuhin, in: Wirken aus Stille. Loccumer Brevier 2  Texte zu den Seligpreisungen. Hg: Loccumer Arbeitskreis für Meditation e.V. Evangelische Akademie Loccum,31547 Rehburg-Loccum, , Hannover 2013, 232f.

 

 

Perikope
24.12.2018
9,1-6