Predigt zu Phil 2,12f von Reinhold Mokrosch
Hinweis: Phil 2,12-13 ist die Lesung, kann aber auch der Predigttext sein.
Wer bin ich wirklich?
Predigt-Text: Phil. 2, 12f:
12 Also, meine Lieben, - wie Ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit, - schaffet, dass Ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern.
13 Denn Gott ist’s, der in Euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.
- Ausgerechnet am Reformationstag drängt Paulus uns in einen Widerspruch. Wer entscheidet: Wir oder Gott in uns?
Liebe Gottesdienstbesucher!
Ich höre die Briefempfänger in Philippi stöhnen: „Das ist doch ein totaler Widerspruch, ehrwürdiger Paulus! Einerseits forderst Du uns auf, für unser Heil selbst zu sorgen! ‚Schaffet, dass Ihr selig werdet!‘ rufst Du uns Philippern zu. Und: ‚Mit Furcht und Zittern‘ fügst Du noch zu Recht an; zu Recht, denn wir werden hier in Philippi grausam verfolgt, von Juden und von Römern! Aber andererseits ermahnst Du uns: ‚Allein Gott kann ich Euch wirken: Euer Wollen und Euer Vollbringen, - nach seinem Wohlgefallen; nicht: nach unserem Wohlgefallen!
Das ist doch ein totaler Wiederspruch, ehrwürdiger Paulus! Was sollen wir in unserer furchtbaren Situation denn nun tun? Unser Heil selbst schaffen und allein auf unsere Kraft vertrauen? Oder uns auf Gottes Wirken in uns verlassen und unser Wollen und Vollbringen allein von Gott erwarten, weil nicht wir, sondern er in uns wirkt!?“
Liebe Gemeinde! Mir geht es wie den Philippern! Ihnen auch? Auch ich empfinde Paulus Aufforderung als widersprüchlich. Und ich weiß nicht, was ich tun soll. Soll ich selbst aktiv werden oder soll ich mein Wollen, Entscheiden und Handeln allein Gott überlassen und wenig Aktivität zeigen?
Ich erinnere viele solcher Situationen: Bei meiner Entscheidung damals, als ich ein externes Berufsangebot erhielt, war ich im Zwiespalt: Sollte ich entscheiden und meine Familie aus der Heimat heraus reißen oder sollte ich auf eine Eingebung von Gott warten? Bei der Erkrankung meiner Eltern aus Altersgründen wusste ich nicht, ob ich es allein schaffen würde und erwartete von Gott eine Entscheidungshilfe, ob Seniorenheim oder nicht? Und bei der langen und schwierigen Berufswahlphase meiner Kinder erhoffte ich, dass Gott in den Kindern eine Entscheidung wirke, so dass nicht ich nachhelfen musste. Es gab und gibt viele Lebensphasen, in denen ich nicht wusste, wie und was Gott in mir wirkt. Oft fragte ich: Wie, Jesus Christus, würdest Du jetzt entscheiden? Aber ich hörte keine eindeutige Antwort. - Ich vermute, liebe Gemeinde, dass auch Sie solche Erfahrungen gemacht und sich gefragt haben: Wer handelt und entscheidet hier eigentlich – Ich oder Gott in mir?
Warum drängt Paulus ausgerechnet am Reformationstag uns in solchen Widerspruch? Wenn Gott uns unabhängig von unserem Entscheiden und Handeln annimmt, rechtfertigt und gerecht macht, dann brauchen wir doch eigentlich gar nicht mehr zu fragen: Wer handelt und entscheidet da – Gott in mir oder ich selbst?
- War es auch zu Paulus Zeiten ein Widerspruch?
Bitte gehen Sie mit mir nochmals zu Paulus zurück. Vor 2000 Jahren waren ja die Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Mensch und Gott völlig anders als heute. Die Vorstellung von einem autonomen Menschen mit einem souveränen Ich gab es damals nicht. Der Mensch war, wie sogar noch Martin Luther 1530 meinte, ein Reittier, das entweder von Gott oder vom Teufel geritten wird. Allein kann das Pferd bzw. der Mensch keine Richtung finden. Es ist auf einen Führer angewiesen. Der Reiter, natürlich zusammen mit dem Pferd, zeigt die Richtung an. Auf den Menschen übertragen: Allein aus sich heraus, so empfand man damals zu Paulus Zeiten, kann kein Mensch etwas Geordnetes entscheiden und tun. Nur durch Gottes oder des Teufels Führung kann der Mensch wollen, entscheiden und handeln. Deshalb schrieb Paulus den Philippern: „Gott allein ist es, der in Euch Euer Wollen und Vollbringen wirkt“ und zwas „nach seinem Wohlgefallen“, nicht nach Eurem Wohlgefallen. (Dass auch der Teufel die Philipper reiten und in ihnen wirken könnte, erwägt Paulus nicht.)
Wie sollen wir nun aber Paulus andere, uns widersprüchlich erscheinende Aufforderung verstehen: „Schafft Euch Euer Heil selbst, damit Ihr selig werdet!“ Das dürfen wir eben nicht so verstehen, wie wir es anfangs taten: als ob Paulus hier einen autonomen Menschen mit einem souveränen Ich anspricht. Nein er fordert die Philipper nicht in diesem Sinne auf: Ihr allein seid verantwortlich für Euer Wollen, Entscheiden und Handeln. Nein! Vielmehr spricht er die Philipper an als solche, die Christus nachfolgen wollen: die den Feind nicht vernichten, sondern lieben wollen; die nicht zurück schlagen, sondern noch die andere Wange hinhalten wollen; die nicht zürnen, sondern vergeben wollen; usw. Denn Paulus lobt in unserem Text ja die Philipper, dass sie Jesus Christus gegenüber „gehorsam“ sind: ‚Ihr seid immer gehorsam gewesen (gegenüber Christus)!‘ D.h. Ihr habt seine Bergpredigt-Forderungen im Glauben an Gottes Kommen befolgt.
Das meint Paulus, wenn er die Philipper uns auffordert: Schafft Euch Euer Heil! Mit Furcht und Zittern. D.h. Werdet Nachfolger Christi! Befolgt die Bergpredigt! Werdet Friedensstifter und gewaltlos Sanftmütige. Trotz Eurer Angst vor der Gewalt der Gewalttätigen.
- Paulus meinte es nicht als Widerspruch. Aber ich lebe im Zwiespalt: Wirke ich oder Gott in mir?
Ich höre wieder die Antwort der Philipper auf Paulus‘ doppelte Aufforderung, die jetzt aber anders lautet als ich anfangs vermutet hatte: „Ehrwürdiger Paulus“, mögen sie ihm geschrieben haben, „Ja, wir wollen Christus nachfolgen und seinen Bergpredigt-Awerden. Aber verstehe: Das schaffen wir nicht aus eigener Kraft heraus! Dazu brauchen wir Gottes Geist! Wie gut, dass Du uns erinnerst: Allein Gott kann in uns ein gutes Wollen und ein gutes Vollbringen wirken. Nicht wir selbst. Deshalb bitten wir Dich: Fordere uns nie wieder auf, selbst und aus eigener Kraft uns unser Heil zu schaffen. Hast Du Dich da vielleicht in der Wortwahl versehen?“ Ja, diese Antwort seitens der Philipper stelle auch ich mir vor. Und auch ich kritisiere Paulus: So kann er es nicht gemeint haben, dass wir uns unser Heil selbst schaffen sollen. Das wäre heute am Reformationstag eine absurde Botschaft. Vielleicht hat er sich wirklich in der Wortwahl versehen…
Wir wissen es nicht. Aber wie dem auch sei, - Paulus meinte: Werdet christi Jünger mit Gottes Geist und Hilfe! Ihm stellte sich wahrscheinlich gar nicht die Alternativ-Frage: Entscheide und handle ich oder entscheidet und handelt Gott in mir?
Für Luther stellte sich diese Frage ja auch nicht. Er glaubte seit dem 31. Oktober 1517: Was der Teufel in mir auch wirken möge – Gott befreit mich von meiner Bosheit und Sünde und rechtfertigt mich. Mit dieser Gewissheit stelle ich mir gar nicht mehr die Frage: Handle ich oder handelt Gott in mir?
- Trotzdem bleibt ein Zwiespalt in mir und ich frage: Wer bin ich wirklich?
Stimmt. Aber trotzdem bleibt der Zwiespalt in mir bestehen. Ich weiß und glaube, dass Gott mich rechtfertigt. Und trotzdem besteht der Zwiespalt in mir fort: Ist es wirklich „Gott in mir“, der entscheidet, wirkt und handelt? Oder sind es meine eigenen Kräfte, die ich mir erworben habe? Oder bin doch stolz auf mein gutes Verhalten Oder ich schäme mich für mein törichtes und feiges Verhalten. Ich bin da oft zerrissen. Ist es Gott in mir? Oder ist es mein Ich in mir? Wer hat eigentlich mein Leben gewirkt? Wer bin ich wirklich?
Liebe Gemeinde und Gottesdienstbesucher! Diesen inneren Konflikt „Wer bin ich wirklich? Beherrscht Gott mich oder beherrscht mein eigenes Ich mich?“ hat Dietrich Bonhoeffer tiefgründig in einem Gedicht ausgedrückt. Er schrieb es am 9. Juli 1944 in seiner engen Gefängniszelle. Er saß schon seit April 1943 im Gefängnis, weil er Juden gerettet und Widerstand geleistet hatte. Er schrieb:
Wer bin ich?
Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle
Gelassen und heiter und fest, wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern
Frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks
Gleichmütig, lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle…
Ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne, müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?... Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin. Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!
Bist Du es, Gott in mir? Ist es mein eigenes Ich in mir? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin…Dein bin ich, o Gott!
Gottes Friede, der höher ist als jede Vernunft, bewahre unsere Herzen und unser Fragen – in Christus Jesus.
Amen
Prof. Dr. Reinhold Mokrosch, Universität Osnabrück, Reinhold.Mokrosch@uni-osnabrueck.de
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Predigt zu Philipper 4,10-13 von Johannes Block
1. Die Entdeckung des eigenen Ich
Ich – so lautet das erste Wort des Predigttextes für den Neujahrstag. Ich – mit diesem kleinen und zugleich unendlich facettenreichen Wort beginnt das Predigtjahr 2014. Ich – sechsmal erwähnt der Apostel dieses Wörtchen im Bibelabschnitt für die Predigt am Jahresbeginn:
Ich bin aber hocherfreut in dem Herrn. - Ich sage das nicht, weil ich Mangel leide; denn ich habe gelernt, mir genügen zu lassen. - Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut. - Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.
Am ersten Tag des Jahres macht der Apostel Mut, Ich zu sagen. Das Kalenderjahr ändert sich. Doch unser jeweiliges Ich nehmen wir mit in das neue Jahr. “Ich nehme mich immer mit”, heißt es in einem modernen Gedicht. “Ich nehme mich immer mit” – das kann eine Lust und das kann eine Last sein, je nach Tagesform und Lebenssituation. Hinter dem kleinen Wörtchen Ich steckt ein weiter Kontinent mit hohen Gipfeln und tiefen Tälern, mit schönen und schweren Gefühlen, mit hochschweifenden und bedrückenden Gedanken, mit Momenten der Selbstgewißheit und des Selbstzweifels, der Begeisterung und der Niedergeschlagenheit, der geselligen und der einsamen Zeiten. Das eigene Ich ist ein vielgesichtiger Kontinent mit vertrauten und verborgenen Winkeln. Manchmal ist man sich seiner Sache gewiß; und manchmal erkennt man sich kaum wieder und wundert sich über sich selbst.
Wie schön wäre es, wenn man vertrauter werden könnte mit dem eigenen Ich – diesem wechselvollen Kontinent! Wenn man den Mut und die Zeit aufbrächte, sich selbst zu entdecken und wahrzunehmen! Wenn man gelernt hätte, sich genügen zu lassen, wie der Apostel schreibt: Sich genügen zu lassen in allem, was das neue Jahr bringen wird an Höhen und Tiefen, an alltäglicher Routine und außergewöhnlichen Ereignissen, an neuen Anfängen und letzten Abschieden.
Das eigene Ich entdecken und wahrnehmen - das wäre auch ein politischer Beitrag im Dekadejahr 2014 “Reformation und Politik”. “Mütterrente”, “Energiewende”, “Mindeslohn” oder “Autobahnmaut” scheinen die großen parteipolitischen Stichworte der kommenden Monate zu werden. Doch eine über die Tagespolitik hinausragende, eine Sinn und Frieden stiftende Politik wird es ohne das Bewußtsein für das eigene Ich nicht geben. Herausragende Persönlichkeiten mit einem charismatischen Ich haben immer wieder politische Veränderungen hervorgerufen. Im vergangenen Jahr wurde etwa an Nelson Mandela (1918-2013) oder an Willy Brandt (1913-1992) erinnert. Wo das eigene Ich in sich ruht, wo das eigene Ich sich genügen lassen kann – wie der Apostel schreibt -, dort kann sich eine abgeklärte und unabhängige Politik entwickeln. Wenn Menschen das eigene Ich wahrnehmen und lernen, sich genügen zu lassen, dann werden sich Wege finden, um einerseits mit dem Mangel und andererseits mit dem Überfluss umgehen zu lernen. Und das hieße im 21. Jahrhundert: einerseits mit den begrenzten Ressourcen der Erde zu haushalten und andererseits eine Überfluß- und Wegwerfgesellschaft zu reformieren. Mit dem eigenen Ich – ob und wie es sich genügen lassen kann – beginnt immer auch die große Politik.
Die Entdeckung und Wertschätzung des eigenen Ich - das ist keine Erfindung der modernen Philosphie oder der modernen Psychologie. Die Frage und Suche nach dem eigenen Ich ist eine Menschheitsfrage von geradezu biblischem Alter. Man denke etwa an das Ich im Buch der Psalmen: Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich gehe oder liege, so bist du um mich (Ps 139,1.3). Oder man erinnere sich an die Propheten Israels, die herausgetreten sind aus der Masse des Volkes: Jesaja aber sprach: Hier bin ich, sende mich! (Jes 6,8) Auch der Brief des Paulus an seine Freunde in der griechischen Stadt Philippi ist ein Zeugnis für die Entdeckung des eigenen Ich. Paulus treibt gewissermaßen eine existentielle Theologie, bei der das eigene Ich berührt, bewegt und begeistert wird. Ich bin aber hocherfreut in dem Herrn, beginnen die Sätze des Paulus. Hier werden nicht formelhafte Richtigkeiten oder stroherne Lehrsätze verkündet und festgeschrieben. Vielmehr ist Paulus ein existentieller Theologe, der mit eigenem Herzblut die helle Freude in dem Herrn aufgreift und davon umfangen und getragen wird. Eine gute Theologie bildet, hinterfragt, erneuert, erwärmt, begeistert, erhellt und erfreut das eigene Ich. Mit dem eigenen Ich beginnt immer auch die hohe Theologie. Der moderne Vertreter einer existentiellen Theologie, Rudolf Bultmann (1884-1976), schreibt: „Jeder Satz über Gott ist zugleich ein Satz über den Menschen und umgekehrt. Deshalb ... ist die paulinische Theologie zugleich Anthropologie“.
Am Anfang des neuen Jahres macht der Apostel Mut, Ich zu sagen und das eigene Ich zu entdecken. Wem das eigene Ich geheuer wird, der kann dem Ungeheueren standhalten – dem Ungeheueren im Laufe eines langen Jahres: sei es das Ungeheuer des Mangels, wenn man verzichten muss und auf der Schattenseite des Lebens steht; oder sei es das Ungeheur des Überflusses, wenn das Shopping zum Gesellschaftssport wird und die übersättigten Bürger immer weiter konsumieren. Der Apostel Paulus macht Mut zum eigenen Ich durch zwei seiner Äußerungen im Brief an seine Freunde in Philippi. Paulus schreibt zum einen: Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen (2.), und zum anderen: Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht (3.).
2. Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen
Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, schreibt der Apostel und beschreibt damit ein hohes Ideal. Wer sich genügen lassen kann, der vermag die Waage zu halten zwischen den Gegensätzen des Lebens: zwischen der Erfahrung des Mangels und der Erfahrung des Überflusses. „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“: Zwischen diesen beiden Extremen die Waage zu halten, sich genügen lassen, das ist hohe Kunst – hohe Lebenskunst. Paulus hat diese Lebenskunst im Gefängnis gelernt, als er wegen christlicher Umtriebe von den römischen Behörden verurteilt und eingesperrt wurde. Aus dem Gefängnis, in dunklen Kerkermauern und bedrückender Einsamkeit, schreibt Paulus an seine Freunde in Philippi:
Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie's mir auch geht. Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluss haben und Mangel leiden.
Als der russische Oligarch und Putin-Gegner Michail Chodorkowskij nach zehn Jahren Haft aus dem Straflager entlassen und nach Deutschland ausgeflogen wurde, habe ich mich über dessen ruhige und gelassene Austrahlung gewundert - so weit man das aus der Ferne beurteilen kann. Ob man darin eine Art paulinische Lebenskunst erkennen kann: sich genügen zu lassen? Möglicherweise lernt man die Genügsamkeit und innere Waage gerade in den dunklen Zeiten, auf der Schattenseite des Lebens. Der Apostel scheint im Gefängnis eine innere Freiheit gewonnen zu haben von den äußeren Umständen seines Lebens – sei es der Mangel, sei es der Überfluss.
Blicken wir zum einen auf die Erfahrung des Mangels: Paulus ist kein Asket, der allem Genuß und aller Lebensfreude die Absage erteilt. Das wäre nur wieder eine neue Unfreiheit, die den Menschen auf Askese, Verzicht und Genußlosigkeit festlegt. Paulus predigt nicht eine Art grüngefärbter Askese, sondern die Freiheit, sich vom Mangel und von Durststrecken innerlich unabhängig zu machen. Wenn die Umstände es erfordern, dann ist “ein Christenmensch ein freier Herr”, dessen Herz selbst in Not und Mangel unbeeindruckt pocht und schlägt. Wer sich genügen lassen kann, der trägt seinen Stolz im Herzen und nicht in den Augen, die vor lauter äußerer Pracht überquellen.
Blicken wir zum anderen auf die Erfahrung des Überflusses: Paulus ist kein Hedonist, dem der Genuß über alles geht. Wiederum geht es um die Freiheit, die sich das Herz des Menschen bewahrt, wenn er im Überfluss lebt und tagtäglich konsumiert: Speisen und Getränke sowieso, darüberhinaus Kleider, Schuhe und Kosmetika, Urlaubsreisen, Premiumautos, Smartphones und vieles andere mehr bis hin zum Konsum von Musik, DVDs und Facebook. In einer Überfluß- und Konsumgesellschaft ist genau genommen nicht die Geldfrage, sondern die Herzensfrage die entscheidende: ob sich das eigene Herz in der bunten Angebotswelt verliert und davon aufgesogen wird. Die Unzufriedenheit und Unruhe vieler Zeitgenossen rührt nach Auskunft von Soziologen auch von daher, dass viele Menschen immer mehr das Gefühl bekommen, all die vielen schönen Angebote und Möglichkeiten gar nicht wahrnehmen zu können und deshalb unglücklich werden in der Meinung, immer irgendetwas vom Leben zu verpassen. Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, schreibt der Apostel von sich. “Ein Christenmensch ist ein freier Herr”, dessen Herz nicht am Genuß und am Überfluss hängt. Wer sich genügen lassen kann, der trägt seinen Stolz im Herzen und nicht im gefüllten Warenkorb.
3. Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht
Wie gelingt es, ein genügsames Herz zu haben? Wie gewinnt das Herz einen befreiten Stolz, der sowohl vom Mangel als auch vom Überfluss unabhängig macht?
Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, schreibt kurz und knapp der Apostel: Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht. Das klingt fast so griffig und energiegeladen wie ein präsidiales „Yes, we can“. Und wir können paulinisch ergänzen: „Yes, we can – powered by God”. Paulus vermag alles, weil ihn jemand mächtig macht, der hinabgestiegen ist in das Reich des Todes und aufgefahren in den Himmel zur Rechten Gottes. Hölle und Himmel, Tod und Auferstehung: In dieser gegensätzlichen Breite spiegelt sich die Macht dessen, der die Herzen stärkt und genügsam macht - selbst in der Tiefe des Mangels und selbst in der Höhe des Überflusses.
Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht. Vielleicht muss man sich ein Leben lang einüben: in diesen Satz des Paulus und in ein genügsames Herz. Natürlich gibt es auch den Umweg über das Gefängnis – wie im Brettspiel “Monopoly”: “Gehe nicht über Los. Gehe ins Gefängnis.” Niemand weiß, was das neue Jahr bringen wird. Auf einmal hat sich der Apostel im Gefängnis wiedergefunden. Auf einmal ist man krank. Auf einmal ist man ohne Arbeit. Auf einmal ist man alt. Auf einmal ist man allein. In einer bedrückenden Situation hat der Apostel das Geheimnis seines Lebens entdeckt: Die Freude im Herrn, die das Herz genügsam werden lässt selbst im Mangel und selbst im Überfluss. Das Geheimnis des Paulus ist eine Freude, die alles im Leben verändert und verschiebt. Es ist, als wäre eine neue Liebe in den Raum getreten und inspiriert nun das Leben. Ich bin hocherfreut in dem Herrn, mit diesen Worten umschreibt der Apostel das Geheimnis seines Lebens, das Geheimnis seines genügsamen Herzens.
Das neue Jahr liegt vor uns: zwölf Monate und 365 Tage. Vor der Klammer dieses neuen Kalenderjahres steht die Freude, von der der Apostel Paulus aus dem Gefängnis an seine Freunde in Philippi schreibt. Es ist eine Freude, die das Herz genügsam macht in all den Widerfahrnisses eines Jahres. Wir müssen keine Apostel und keine Helden werden. Denn die Freude im Herrn ist bereits in die Welt gekommen wie ein neu geborenes Kind. Die Freude im Herrn schenkt ein fröhliches Herz in allen Dingen. “Wenn ich ihn nur habe”, beginnt das Lied eines erfreuten Herzens. Dieses Lied der Freude steht wie das Vorzeichen vor der Klammer eines neuen und langen Jahres. Der Dichter Novalis (1772-1801) singt und sagt:
Wenn ich ihn nur habe,
Wenn er mein nur ist,
Wenn mein Herz bis hin zum Grabe
Seine Treue nie vergißt:
Weiß ich nichts von Leide,
Fühle nichts, als Andacht, Lieb und Freude.
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Predigt zu Philipper 4,10-13(14-20) mit Psalm 73,28 von Gerlinde Feine
Vorbemerkung: Die Predigt ist (zu) lang und hat (zu) viele Beispiele, aus denen passend zur jeweiligen Gemeindesituation eine Auswahl getroffen werden muß. Am besten, man findet eigene Konkretionen.
„Gott nahe zu sein ist mein Glück.“ Dieser Vers aus dem 73. Psalm wird uns als Losung durch das neue Jahr begleiten. Mir ist er in der Übersetzung der Lutherbibel geläufiger: „Das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte.“ So endet ein Psalm, der viel erzählt von menschlichen Erfahrungen, von Niederlagen und Konflikten, vom Scheitern und vom Selbstzweifel, und dann doch wieder bei Gott landet: „Dennoch bleibe ich stets an dir“ (V. 23 LB), heißt es am Ende und „Neben dir erfreut mich nichts auf der Erde“ (V.26 EÜ). Was immer in einem Menschenleben passiert, ob einer reich oder berühmt und mächtig geworden ist oder ob alles anders kommt als man es sich gewünscht hat – am Ende gelten andere Maßstäbe: „Ja, gut ist Gott für … alle, die reinen Herzens sind.“ (V.1 – eigene Übersetzung). Gut ist er zu denen, die ihm vertrauen, auch wenn es scheint, als ob die anderen, die Gottlosen, mehr vom Leben hätten, erfolgreicher und glücklicher wirken. Am Ende stimmt es dann doch: „Gott nahe zu sein ist mein Glück.“
Der Apostel Paulus hat diese Worte gut gekannt. Ein wenig scheint es, als habe er sich an sie erinnert, als er seinen Freundinnen und Freunden in der Gemeinde von Philippi schrieb, um ihnen für ihre Unterstützung zu danken. Ich lese uns den Predigttext aus Phil 4, 10-20: ….
(Verlesen des Predigttextes)
Was hätte aus ihm nicht werden können, diesem Saulus aus Tarsus? Aus einer angesehenen jüdischen Familie, aber mit römischem Bürgerrecht, hochintelligent, gebildet, finanziell gesichert durch eine solide Berufsausbildung, erfolgreicher Absolvent der Tempeluniversität in Jerusalem, Meisterschüler des großen Rabban Gamliel II., Chefankläger von religiösen Abweichlern im Auftrag des Priesterkollegiums – und dann der Karriereknick, von jetzt auf gleich, ohne Vorwarnung, ohne Not. Eine Erscheinung soll er gehabt haben, sagt man. Ein Unfall auf dem Weg nach Damaskus; er sei vom Pferd gefallen – und hat alles hingeworfen: Auftrag, Karriere, die glänzenden Aussichten. Sogar seinen Namen geändert hat er, als er ausgestiegen ist aus seinem seitherigen Leben. Nennt sich jetzt Paulus. Zieht durch die Welt, sucht Anhänger, gründet Gemeinden. Wovon er lebt?!? Gelegenheitsjobs. Immer mal wieder Aufträge in seinem alten Beruf. Spenden. Lebensmittelpakete, die ihm seine Freunde ins Gefängnis schicken. Denn eingesperrt wird er immer wieder. Manchmal für Jahre. Da muss er froh und dankbar sein, dass er Besuch bekommt, manchmal von weit her. Sie bringen ihm, was er zum Leben braucht, dazu Tinte und Pergament zum Schreiben. Und er hat nichts, womit er sich bedanken könnte. Also schreibt er – wunderbare Briefe, das muß man ihm lassen, voll mit großen Gedanken und tiefen Weisheiten. Er ist eben immer noch ein kluger Kopf. Was hätte nicht alles aus ihm werden können?
Was hätte nicht aus ihm werden können, diesem mutigen jungen Schweizer, der sich furchtlos auf die steilsten Pisten wagte? Viele sahen in ihm schon den nächsten Olympiasieger; es war „sein“ Winter, für den er alles gegeben hatte. Dann kam das Rennen in Val d’Isere: Er war wieder blendend unterwegs; Bestzeit an allen Kontrollstellen. Bis es ihm den Ski verschlug und er mit über 100 km/h in die Fangzäune raste. Dort, wo er aufschlug, lag ein Stein, den die Sicherheitsleute übersehen hatten. Seitdem ist Silvano Beltrametti querschnittsgelähmt. Mit viel Gottvertrauen und Humor hat er sich zurück ins Leben gekämpft, alles neu gelernt vom Rollstuhl aus, sogar das Skifahren. Heute organisiert er Rennen für die anderen, für die, die jetzt die Medaillen gewinnen. Mit ihnen wollte er sich seit seiner Kindheit messen. Nun werden andere berühmt.
Was hätte aus ihr werden könnten, wenn…. – so denke ich jedes Jahr, wenn ich den Weihnachtsgruß meiner besten Freundin aus der Schulzeit lese. Sie war die Klügste von uns allen, immer Klassenbeste, sportlich, beliebt, bildhübsch noch dazu. Top-Abitur, Prädikatsexamen, toller Job gleich nach dem Studium. Dann lernte sie diesen Typen kennen, wurde schwanger, heiratete und steckte nun alle Energie in ihre Bilderbuchfamilie. Fuhr die Kinder zum Musikunterricht und zum Training, kümmerte sich um Haus und Garten, engagierte sich ehrenamtlich. „Ich bin glücklich und zufrieden so“, sagte sie beim letzten Klassentreffen, als wieder einmal alle berichteten, was sie beruflich erreicht hatten, aber es klang ein wenig trotzig. In diesem Jahr kam kein Weihnachtsgruß. Jemand erzählte mir, sie habe sich von ihrem Mann getrennt; er habe jetzt eine Jüngere. Sie selbst sei auf Jobsuche, längst unter ihrem Wert, finde den Anschluss nicht mehr. Ihre Ehrenämter hat sie aufgegeben. Sie meide den Kontakt zu denen, die sie an das erinnerten, was hätte werden können, wenn…
Was hätte aus ihnen werden können, Elena aus Spanien, Dimitri aus Griechenland, Mary aus Irland und Achmed aus Tunesien, wie stünden sie heute da ohne die Wirtschaftskrise, die Korruption, die Globalisierung, die Gewalt? Sie alle wünschen sich ein gesichertes Auskommen, eine gute Zukunft, eine Perspektive im eigenen Land und aus eigener Kraft. Sie alle wünschen sich, zuhause bei ihren Familien und ihren Freunden zu leben. Nun sind sie Teil der großen Völkerwanderung, die Arbeitskräfte quer durch Europa schickt, kämpfen um die Anerkennung ihrer Abschlüsse und um die schwierigen Begriffe einer neuen Sprache, denken, während sie Fremden im Pflegeheim die Betten aufschütteln, besorgt an die Alten daheim, schreiben im Internetcafé in Köln eMails voller Sehnsucht an die Kinder nach Hause, warten auf Lampedusa und Linosa auf gültige Papiere und die Weiterreise. Sieht so das Glück aus, das sie suchten? Warum wird so wenig dafür getan, dass sich etwas ändert? Wer sorgt dafür, dass alle das haben, was sie brauchen – und tun können, was sie vermögen?
Was hätte werden können im vergangenen Jahr, wenn wir unsere Vorsätze vom letzten Neujahr alle in die Tat umgesetzt hätten? Was ist uns vielleicht erspart geblieben? Was ist gut gegangen? – Und schließlich: Was könnte werden in diesem neuen Jahr, das gerade angefangen hat? Diese Fragen stellen wir uns, wenn wir den Wandkalender wechseln oder die Jahresrechnungen abheften, Glückwünsche fürs neue Jahr austauschen und uns noch einen Rückblick gönnen aufs alte.
Was wäre, wenn? Wären wir dann glücklicher, mehr als im Moment? So zu fragen ist meist deprimierend und im Grunde überflüssig. Es zählt, was ist. „Ich kann niedrig oder hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut, satt sein und hungern, Überfluss und Mangel leiden“, schreibt Paulus dazu, „ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie’s mir auch geht.“ Ändern lässt sich daran sowieso nichts. Besser also, man arrangiert sich? Oder kommt es sowieso auf ganz andere Dinge an, auf geistlichen Reichtum, auf Ansehen und Autorität, auf Gemeinschaft und Frieden? Was zählt denn nun – die Maßstäbe des Erfolgs, die wir gelernt haben und an die uns andere, Erfolgreichere, immer wieder erinnern? Oder doch die großen Werte, die besonderen Gaben, das innere Glück?
Das ist nicht so leicht zu beantworten. Auch der Beter des 73. Psalms hadert damit und braucht lange, um seinen Neid auf das „Glück der Gottlosen“ in den Griff zu bekommen. Es kostet ihn viel Einsicht, um schließlich sagen zu können: „Ja, gut ist Gott für alle, die reinen Herzens sind. Gott nahe zu sein ist mein Glück.“ Gleichzeitig muss er sich beherrschen, um nicht den anderen eine lange Nase zu drehen: „Ihr mögt zwar reich, berühmt, gesund und schön sein – aber seht her, ich habe den Herrn auf meiner Seite.“ Denn das ist die Gefahr beim Umwerten, dass wir das Große klein und die vermeintlichen Sieger zu Verlierern machen – und damit wieder am Anfang stehen, weit weg vom Glück.
Auch Paulus hat dieser Versuchung immer wieder einmal nachgegeben, dann und wann, in manchen Briefen oder beim Zusammentreffen mit den anderen Aposteln. Wie wir konnte er gelegentlich bitter werden, wenn der Erfolg der vielen Mühen auf sich warten ließ oder zunichte gemacht wurde, wenn die Gaben, die er anderen brachte, nicht mit Dankbarkeit empfangen, sondern mit geistlichem Hochmut beantwortet wurden. Es hat auch ihn Überwindung gekostet, in der Schuld anderer zu stehen und auf Dauer von ihnen abhängig zu sein, und manchmal spürte auch er den Drang in sich, dem etwas entgegenzusetzen, um sich nicht gar so klein und gescheitert zu fühlen.
Doch mit den Leuten in Philippi war es anders. Zu dieser Gemeinde hatte Paulus ein besonderes Verhältnis. Hier fühlte er sich angenommen und umsorgt. So fiel es ihm leicht, die Spenden anzunehmen, die seinen Lebensunterhalt wenigstens kurz sichern halfen. Als er Kleinasien verließ, um auch in Europa Menschen für Christus zu gewinnen, kam zunächst nur aus Philippi der nötige Rückhalt. Nach Thessaloniki wurden mehrmals Boten gesandt mit Carepaketen und Geld. Doch mindestens so sehr wie über die materielle Unterstützung, die „in Fülle“ bei ihm eintraf, freut sich Paulus über Zuneigung und geistlichen Austausch: „Ich suche nicht das Geschenk, sondern die Frucht, damit sie euch angerechnet wird.“ Er weiß ohnehin, dass er nie zurückzahlen kann, was ihm geschenkt wurde, und ist anständig genug, diese hochwillkommene Hilfe nicht mit seinem Aposteldienst zu verrechnen. Er redet auch nicht schlecht, dass man in Philippi so gut wirtschaften und ihn mit durchfüttern kann, und spielt geistliche gegen wirtschaftliche Beiträge zur gemeinsamen Arbeit nicht gegeneinander aus. Das Evangelium hat er umsonst und gratis weitergegeben, so wie er es selbst empfangen hat, denn Gottes Gnade ist zwar nicht billig, aber immer kostenlos und völlig losgelöst von dem, wie viel jemand spendet oder stiften geht. Dennoch fühlt er sich nicht wie ein Almosenempfänger, der auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen anderer ausgesetzt ist: „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.“
Paulus und die Philipper lassen die gegenseitige Abhängigkeit nicht zum bestimmenden Element ihrer Gemeinschaft werden. Noch immer kann Paulus kritische Punkte offen ansprechen und auf die geistlichen Impulse reagieren, die ihm geschenkt werden. In Fragen des Glaubens führen Gemeinde und Apostel eine Beziehung auf Augenhöhe, auch wenn die einen mehr für den anderen zahlen und dieser wiederum mehr für sie alle nachdenkt über die Heilige Schrift, die er ihnen von Christus her erklärt. Beide Seiten brauchen einander – und beide sind dankbar dafür, dass sie sich gefunden haben. Nur miteinander können sie das Evangelium glaubwürdig ausbreiten, in mitreißenden Predigten und in Gesten und Gaben der Barmherzigkeit
Ihr Vorbild lässt sich in viele Bereiche übertragen, von den vielen EU-„Rettungsschirmen“, die den Krisenländern wieder auf die Beine helfen sollen, über konkrete Hilfen für Menschen in Armut oder Ausbildungsförderung für Kinder aus sozial schwachen Familien, bis hin zu Spenden für Brot für die Welt oder die Katastrophenhilfe, und nicht zuletzt für die Alimentierung der Hauptamtlichen in unserer Kirche, die durch ihr Gehalt freigestellt werden von der Erwerbsarbeit, um sich für die gesamte Gemeinde um Theologie und Verkündigung kümmern zu können.
· Ich denke an die vielen und gewinnbringenden Partnerschaften zwischen Gemeinden hier und drüben in Thüringen oder der Slowakei: Nicht alle haben es geschafft, unter veränderten Bedingungen nach der Wende weiter in gutem Kontakt zu bleiben.
· Dass die ehemaligen Missionskirchen heute als eigenständige und vollwertige Partner auch in Fragen der Theologie und Ethik gehört werden und mitentscheiden wollen, ist für manchen engagierten Unterstützerkreis immer noch recht ungewohnt.
· Die größte Herausforderung besteht hier bei uns oft darin, denen unter uns, die auf Spenden und Aktionen wie Tafelladen, Vesperkirche u.a.m. angewiesen sind, ihre Würde nicht zu nehmen, sondern ihnen einen geachteten Platz in der Mitte der Gemeinde zu gönnen.
Paulus und sein Freundeskreis in Philippi machen uns vor, wie wir mit unseren ganz unterschiedlichen Gaben, mit unseren sehr verschiedenen wirtschaftlichen Möglichkeiten und auch mit unserer individuellen Not trotzdem geschwisterlich miteinander umgehen, wie wir uns unsere Würde lassen und uns gegenseitig mit dem beschenken können, was wir selbst aus Gottes guten Händen empfangen haben. Sie zeigen uns, dass die Werte und Maßstäbe, nach denen wir Erfolg und Scheitern beurteilen, vor Gott nicht wichtig sind. Sie fordern uns heraus, so miteinander umzugehen, wie es dem Urteil Gottes über uns entspricht, liebevoll und „auf Augenhöhe“. Sie zeigen uns, was wirklich stark und mächtig macht, und wie zufrieden die leben, die auch in schwieriger Lage von sich sagen können: „Gott nahe zu sein ist mein Glück“.
Paulus hat davon erzählen können. Seine Besucher, wie Epaphroditos, der aus Philippi gekommen war, um nach dem Rechten zu sehen und (einmal mehr) dringend Benötigtes vorbeizubringen, haben diese Geschichten von Gottes starkem Wirken im schwachen Apostel und seinem Dienst weiter verbreitet und so dem Evangelium Raum gegeben.
Bis heute werden solche Geschichten erzählt. Mitten unter uns finden sie ihre Fortsetzung. Der letzten Weltjugendtag in Rio de Janeiro hatte einen emotionalen Höhepunkt mit der Vigilfeier und der anschließenden Nachtwache an der Copacabana. Eine riesige Menschenmenge – die Rede war von knapp 2 Millionen – feierte dabei zunächst ganz so, wie es bei solchen Großveranstaltungen überall üblich ist. Dann kam ein (übrigens sehr gutaussehender) junger Mann im Rollstuhl auf die Bühne, Felipe Passos, 23 Jahre alt, aus Brasilien. Er erzählte von seiner Jugendgruppe, die sich seit dem letzten Treffen in Madrid intensiv auf den Weltjugendtag im eigenen Land vorbereitet hatte, und von dem Überfall, bei dem ihnen die gemeinsame Spendenkasse gestohlen und Felipe selbst angeschossen und schwer verletzt wurde. Dann brach er ab, nahm das kleine Holzkreuz in die Hand, das er um den Hals trug, und erklärte: „Um Zeugnis abzulegen, brauchen wir nur auf das Kreuz schauen und auf die Erfahrung, die wir beim Beten machen.“ Noch während er sprach, sah man, wie in der riesigen Menge, die sich am Strand versammelt hatte, immer mehr Menschen ganz unbewusst nach dem Kreuz griffen, das sie selbst dabei hatten. Sehr unterschiedliche Kreuze waren das übrigens, nicht nur die Pilgerkreuze, wie Felipe eines trug, auch solche, die an silbernen Kettchen am Hals junger Mädchen hingen oder als Abschluss an den Perlen des Rosenkranzes baumelten oder als Zeichen bischöflicher Würde zum Ornat gehörten. Kreuze, so unterschiedlich wie die Erfahrungen, die ihre Trägerinnen und Träger mit ihnen gemacht hatten und so verschieden wie die Hoffnungen, die in diesem Moment zum Gebet wurden:
- Die Sorge um einen Ausbildungsplatz und um eine gesicherte Zukunft
- Das Glück der ersten großen Liebe
- Die Angst vor Krieg und Gewalt
- Die Fürbitte für Kranke und Sterbende
- Die Anliegen der Menschen, die einem anvertraut wurden
- Die Ideen und Ideale einer besseren Welt
- Der Dank für Familie und Freunde….
Doch obwohl alle still ihren eigenen Gedanken nachhingen, schien es, als spürten in diesem Moment alle die besondere Kraft der Verbundenheit mit Jesus Christus – „den, der mich mächtig macht“, wie Paulus sagen würde: der, in dessen Nähe wir Glück finden.
„Jeder von uns trägt sein Kreuz“, hatte Felipe – Philippus! – in seinem Statement gesagt: „Ich erkenne darin Jesus Christus, schaue über das Kreuz auf mein Leben und sehe, was darin steckt: Freude, Sieg, Auferstehung.“ Starke Worte eines durch Christus gestärkten Menschen! Niemand wäre in diesem Moment auf die Idee gekommen zu fragen, was gewesen wäre, wenn Felipe die Einbrecher nicht überrascht hätte. Keiner fragte, was aus ihm hätte werden können ohne die schwere Verletzung, und auch sonst niemand muss sich fragen oder hinterfragen oder schief anschauen lassen, egal welch merkwürdige Wendungen sein Leben genommen hat, wie viele Misserfolge weggesteckt, wie viele Brüche geheilt werden mussten. Es war ganz so wie im Lobgesang der Maria, die Gott dafür dankt, dass er die Niedrigen zu Ehren bringt und den vom Leben Benachteiligten und Enttäuschten Würde und Selbstachtung gibt. Äußeres Zeichen dafür ist das Kreuz…
…. auch für Silvano Beltrametti, der ein Jahr nach seinem Sturz den Unfallort besuchte und einen langen Moment der Stille mit dem Kreuzzeichen beendete.
… auch für die von ihrem Mann verlassene Freundin, die eine Gemeinde gefunden hat, in der sie unterstützt und gebraucht wird.
.. auch für Elena, Dimitri, Mary, Achmed und alle, die wie sie auf der Suche nach einem besseren Leben Menschen finden, die sie um Christi willen unterstützen.
… erst recht für Paulus, der verschenkt, was er empfangen hat, und auch dafür Gott zu danken weiß:
„Ich vermag alles, durch den, der mich mächtig macht“, den Gekreuzigten und Auferstandenen, denn „Gott nahe zu sein ist mein Glück.“
Im Lobgesang der Maria bekennen wir, dass bei Gott die Mächtigen nicht immer stark bleiben werden und die Rechtlosen zu ihrer Sache kommen: „Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.“ Er macht wahr, was er zusagt und steht unbedingt zu seinem Wort und zu seinen Menschen. Das Kreuz Jesu Christi ist dafür das beste Beispiel: Nicht einmal der Tod kann sich Gott widersetzen; das Leben behält das letzte Wort.
Wir brauchen deshalb „Erfolg“ und „Karriere“ und „Macht“ nicht mehr in den Kategorien zu messen, die uns diese Welt vorgeben möchte. Wäre es nicht ein guter Vorsatz für das neue Jahr, unser Leben „über das Kreuz hinüber“ anzuschauen, so wie es der junge Felipe Passos vorgeschlagen hat, es also mit dem Blick Gottes zu sehen, voller Wohlwollen und Güte? Ich bin überzeugt davon, dass wir ganz ähnliche Erfahrungen machen werden wie Paulus und seine Freunde in Philippi, wie die vielen Menschen letzten Sommer am Strand von Rio und wie der, der den 73. Psalm aus der Fülle seiner Lebenserfahrung aufgeschrieben hat, damit ihn andere mitbeten können. So Gott will spüren wir, dass unser Glück nicht von Wohlstand oder Berühmtheit abhängt, sondern davon, auf Gott zu vertrauen und dankbar zu sein für das, was von ihm kommt – Gesundheit, Lebensunterhalt, Vertrautheit und Liebe, Licht und Musik.
Gemeinsam beginnen wir ein neues Kalenderjahr. Wieder werden wir nicht alles planen können und schon gar nicht alles bekommen, was wir uns wünschen. Das brauchen wir auch nicht. Denn „ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht – und wer Gott nahe ist, der findet das Glück.“
Amen.
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Predigt zu Philipper 4,10-20 von Bert Hitzegrad
Der Predigttext für diesen ersten Tag des neuen Jahres steht im Philipper-Brief im 4. Kapitel.
Paulus schreibt:
Ich bin aber hocherfreut in dem Herrn, dass ihr wieder eifrig geworden seid, für mich zu sorgen; ihr wart zwar immer darauf bedacht, aber die Zeit hat's nicht zugelassen.
Ich sage das nicht, weil ich Mangel leide; denn ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie's mir auch geht. Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluss haben und Mangel leiden; ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.
Doch ihr habt wohl daran getan, dass ihr euch meiner Bedrängnis angenommen habt.
Denn ihr Philipper wisst, dass am Anfang meiner Predigt des Evangeliums, als ich auszog aus Mazedonien, keine Gemeinde mit mir Gemeinschaft gehabt hat im Geben und Nehmen als ihr allein.
Denn auch nach Thessalonich habt ihr etwas gesandt für meinen Bedarf, einmal und danach noch einmal. Nicht, dass ich das Geschenk suche, sondern ich suche die Frucht, damit sie euch reichlich angerechnet wird.
Ich habe aber alles erhalten und habe Überfluss. Ich habe in Fülle, nachdem ich durch Epaphroditus empfangen habe, was von euch gekommen ist: ein lieblicher Geruch, ein angenehmes Opfer, Gott gefällig. Mein Gott aber wird all eurem Mangel abhelfen nach seinem Reichtum in Herrlichkeit in Christus Jesus. Gott aber, unserm Vater, sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.
Und Gott segne dieses sein Wort an uns und lasse es auch durch uns zu einem Segen werden. Amen.
Liebe Gemeinde!
Seit 0 Uhr schreiben wir ein neues Jahr. Die Sektkorken haben geknallt, die Raketen sind in das Dunkle der Zukunft geflogen und Wünsche hatten Hochkonjunktur: „Einen guten Rutsch, Hauptsache Gesundheit, bleibe so wie Du bist im Neuen Jahr …“
Seit 0 Uhr heißt das Jahr „2014 nach Christi Geburt“. Wieder ein neuer Anfang, wieder ein Aufbruch ins Unbekannte. Wieder ein Jahr weiter.
Seit 0 Uhr gilt ein neuer Kalender! Haben Sie den neuen schon aufgehängt oder hängen Sie noch am alten. Noch sind die Tage unbeschrieben, auch wenn die Termine schon den Kalender füllen. Noch wissen wir nicht, was sie bringen werden.
Was überwiegt an dieser Schwelle zwischen Alt und Neu, zwischen Rückblick und Ausblick, zwischen Gestern und Morgen? Das Glück, die Freude, die Chancen und Möglichkeiten, die jeder Tag mit sich bringen kann? Ist es doch die Vorsicht, die Sorge, die Angst vor dem, was kommen kann und was nicht zu den Neujahrswünschen passt? Oder kommt nichts mehr – das neue Jahr im täglichen Trott so wie im alten …? Es macht keinen Spaß mehr das „Wandern von einem Jahr zum andern“ (EG 58,2), wenn es mühsam geworden ist - auf ausgetretenen Pfaden, auf Wegen, die nicht voran führen, sondern sich nur im Kreis bewegen ... Und wieder fängt ein altes Lied von vorne an!
Schon wieder fängt der gleiche Tag von vorne an. Filmkundige kennen und lieben diese Szenen in „Und täglich grüßt das Murmeltier“ – die amerikanische Filmkomödie aus dem Jahr 1993. Doch, es ist nicht nur zum Lachen, wenn man das Gefühl hat, in einer Zeitschleife zu leben und immer wieder an genau demselben Tag aufzuwachen. So geht es dem arroganten und zynischen TV-Wetteransager Phil (gespielt von Bill Murray), der seinen alljährlichen Auftrag hasst, vom „Tag des Murmeltieres“ (Groundhog Day) am 2. Februar aus der nordamerikanischen Kleinstadt Punxsutawney zu berichten. Er wird dort vom plötzlich einbrechenden Schneesturm festgehalten, durchlebt wieder und wieder denselben Tag, den 2. Februar. Jeden Morgen springt der Radiowecker auf 6.00 Uhr und weckt mit derselben monotonen Stimme … Und Phil hört dieselben Fragen, begegnet denselben schrulligen Kleinstadtbewohnern und demselben verschlafenen Murmeltier jeden Tag neu. Jeden Tag …
Das Leben wie ein Gefängnis, aus dem man nicht ausbrechen kann!
Paulus sitzt im Gefängnis. Ganz konkret. Abgeschottet, isoliert, hinter Mauern. Er muss mit dem Schlimmsten rechnen. Und es gelingt ihm doch aus dem starren Verließ auszubrechen. Zumindest gedanklich. Seine Gedanken gehen zu der jungen Gemeinde in Philippi, zu den „Brüdern, nach denen er sich sehnt“ (vgl. Phil 4,1). Aber auch umgekehrt scheint es so zu sein: Die Gemeinde, „Brüder und Schwestern“, wissen sich mit dem Apostel verbunden, nicht erst seitdem er im Gefängnis sitzt. Sie haben ihn und seine Arbeit schon öfter unterstützt durch freundliche Gaben. Offenbar können sie es sich leisten, den Missionar auf seinen Missionswegen zu sponsern – vielleicht aus persönlicher Verbundenheit, vielleicht auch aus Dankbarkeit. Vielleicht aus dem Evangelium heraus, das Paulus ihnen gebracht hatte. Er hatte den bezeugt und verkündigt, der selbst niedrig und gering geworden ist. Die Verletzlichkeit einer menschlichen Geburt hatte er erlebt, die Endlichkeit des gewaltsamen Todes. Er, der eigentlich groß war, hat sich klein gemacht, klein gemacht, um bei den Kleinen und wenig geachteten zu sein, den Sündern, den Kinder und Frauen, den Verzagten, den angefochtenen im Glauben. Und er hat sie darin ermutigt, mit den Schwachen die Schwäche zu teilen und mit den Verachteten und Verlassenen solidarisch zu sein: Kranke besuchen, Hungrige sättigen, Nackte kleiden und diejenigen, die im Gefängnis sind, nicht allein zu lassen. Paulus ist im Gefängnis und fühlt sich offensichtlich nicht allein. Seine Brüder – und Schwestern – haben von ihm gelernt. Sie sind bei ihm in jeder Lebenssituation – als er noch bei ihnen war und „von oben“ gepredigt hat. Und nun, als er „ganz unten“ angekommen ist. Im Gefängnis.
So ist das im Leben: die einen sind „unten“ und die anderen sind „oben“. „Mir ist alles und jedes vertraut!“ sagt der Apostel von seinem Leben. Wir kennen das auch! Da gibt es unsagbaren Reichtum auf dieser Welt und gleich daneben bittere Armut. Da herrschen die einen und die anderen müssen sich beherrschen lassen. Da erleben wir Glücksmomente und sind im siebten Himmel und kurz danach fallen wir in ein Loch – in das Loch einer Krankheit, der Arbeitslosigkeit, der Angst vor der Zukunft. Das ganze Leben war voller Aktivität und Selbstbestimmung – immer oben auf – und plötzlich kommt im Alter das gepflegt werden müssen, die Abhängigkeit von anderen, das Gefühl, nichts mehr wert zu sein, nicht mehr gebraucht zu werden. „Oben und unten, lieber Paulus, auch wenn wir noch nicht im Gefängnis waren - wir kennen uns da auch aus. Und wir haben die Angst, dass wir auch im neuen Jahr immer wieder in ein Loch fallen werden. Dass die Wirtschaft nicht mehr bergauf geht, dass uns ein Unfall oder eine Krankheit aus der Bahn wirft, dass Menschen, die uns vertraut sind, gehen müssen, dass es Trennungen und Abschiede gibt … Lieber Paulus, wir wünschen uns, oben zu bleiben und haben Angst vorm Untergehen? Was macht Dich so mutig?“
Paulus ist im Gefängnis und scheint die Ketten der Angst zu sprengen. Er hat gelernt, beides zu tragen, zu ertragen, das niedrig und das hoch Sein, das satt Sein und das Hungern, den Überfluss und den Mangel. Ein Lernprozess! Dafür reicht offenbar nicht diese Predigt aus noch dieser Gottesdienst. Und auch nicht der erste Tag des neuen Jahres. Lernen ist ein ständiger Prozess.
Vielleicht war das ganze letzte Jahr ja solch ein Lernprozess für Sie! Es ist nicht lange her, da wurden auf allen Kanälen die „Highlights 2013“ beleuchtet, in den Zeitungen gab es die Rückblicke mit den Katastrophen und Glücksmomenten der letzten 365 Tage. Wie ist ihre persönliche Bilanz? Waren sie mehr „oben auf“ oder eher „niedergeschlagen“. Sagen Sie, das ist ein Jahr, das kann ich getrost zurücklassen. Oder spüren Sie Dankbarkeit für besondere Momente. Haben Sie Gottes Nähe erfahren – vielleicht nicht so gewaltig wie die Stürme im Herbst, eher sanft und säuselnd wie der leichte Wind im warmen Sommer des letzten Jahres? Hilfe in schweren Zeiten, neue Perspektiven, wo alles sich im Kreis drehte, zärtliche Berührungen in einer rauen Gesellschaft, ein fester Grund in Momenten, in denen das Leben sich als unsicher und brüchig erwies …?
Paulus sitzt im Gefängnis, und er hat gelernt, dass ihm das genügt, was er gerade hat. Und mit den Gegensätzen des Lebens hat er reichlich Erfahrung. Er, der Pharisäer auf hohem Ross, der vor Damaskus vom Pferd gestürzt wurde. Er, der meinte, er hätte den Durchblick und die Autorität in Sachen Wahrheit und Glaube. Er wurde blind von dem wahren Licht, das ihm begegnete. Und er ist mit Christus, dem Licht des Lebens durch Tod und Auferstehung gegangen, durch Missionserfolge und Christenverfolgung, von der herzlichen Gemeinschaft in den neuen Gemeinden zur Isolation in der Gefängniszelle … Er hat gelernt. Und er hat sich einen Blick bewahrt – den Blick für die Dankbarkeit. Nicht nur für die freundlichen Gaben seiner Gemeinde, die ihn aus der Einsamkeit herausreisen. Sondern er kann dem danken, der ihn auch in aller Bedrängnis nicht allein lässt: „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht!“ Und es ist als ob Christus selbst mit ihm in seinem Verließ ausharrt, ihm das Wasser und das Brot reicht und die Kraft schenkt und die Zuversicht tief in das Herz gibt, dass er nicht allein ist. Er hätte sicherlich mit einstimmen können in die Worte des Gefangenen der Nazi-Zeit – Dietrich Bonhoeffer. Worte, die heute noch Menschen aus ihren Gefängnissen befreien: „Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“
Und Phil, der TV-Reporter, den „täglich das Murmeltier grüßt“ in der amerikanischen Komödie – wie ist er aus dem Käfig der sich immer wieder wiederholenden Zeit ausgebrochen? Das Ekel vom TV-Wetterkanal hat sich zu einem wahren Wohltäter entwickelt. Er hat sein Wissen über den Tagesablauf für andere eingesetzt. Er, der nur sich selbst kannte, zeigt Zuneigung zu den Menschen, denen er begegnet. Und er verliebt sich in seine Kollegin Rita (im Film von der einfach liebenswerten Andie MacDowell gespielt). Und – Sie erraten das Happy End – diese Liebe entreißt ihn der Zeitschleife und beide wachen an einem 3. Februar in seinem Bett auf. Ein neuer Tag kann beginnen. Für Phil ein neues Lebens.
Und wie werden Sie aufwachen – am 2. Januar, am 3. Februar oder am 6. September 2014?
Gefangen in der sich ewig wiederholenden Zeitschleife oder mit dem Blick auf neue, geschenkte Zeit? Satt vom Lebensglück oder hungrig nach Zuneigung und Liebe? Im Überfluss der Gnade Gottes oder mit dem Mangel an Hoffnung und Perspektiven?
Paulus scheint der Mann für alle Fälle und für die einfachen Antworten zu sein. „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.“ Doch wie Phil auf der Leinwand braucht auch Paulus im Gefängnis einen langen Atem, um diese Antwort zu finden. Aber dort, wo dieser Durchbruch durch die Mauern gelingt, da öffnet sich ein weiter Raum. Da liegt ein ganzes Jahr vor uns mit allen Chancen und Möglichkeiten, mit den Risiken, in denen wir nur hoffen können, dass Gottes Macht uns hindurchträgt und den Nebenwirkungen, die uns so leicht den Blick für seine Nähe verstellen.
Aber wir haben doch gelernt. Im letzten Jahr. Er war da und ist bei uns geblieben. Und hielt uns fest. Und als wir fielen, fielen wir in seine Hand. Dieser Blick und diese Dankbarkeit schenken Vertrauen. Vertrauen für das, was kommt. Denn er geht mit von einem Jahr zum andern, durch die Höhen und die Tiefen, durch Freud und Leid, durch das Grau des Alltags und den Glanz der glücklichen Momente.
Und wenn ich ihn nicht spüre – liegt es an ihm oder an mir? Wenn ich mich gefangen nehme lasse von dem Druck der Termine, von dem Einerlei der Tage, von der Klage „Es ist doch eh immer dasselbe!“ – wer hat die Schlüssel in der Hand und ist der Kerkermeister. Er oder ich?
Der Blick macht frei. Der Blick auf Christus an meiner Seite. Der erwartungsvolle Blick auf jeden Tag. Der Blick auf Menschen, die mir ihre Nähe schenken, die guten Gaben für mein manchmal so beengtes Leben. Die Gaben der Gemeinschaft, der Gebete, der Gedanken. Der fürsorgliche Blick auch auf Menschen, die meine Nähe brauchen, meine Liebe, meine Sorge für sie. Und nehme ich sie in den Blick, schaue ich nicht in die Augen Christi?
Seit 0 Uhr ein neues Jahr, ein neuer Kalender, Zeit, geschenkte Zeit der Erwartung, der Veränderung, Zeit auch des Stillstands. So wie er war, so bleibt er an meiner Seite.
„Gott nahe zu sein ist mein Glück!“ heißt es in der Jahreslosung 2014 aus den Psalmen (Ps 73,28). Paulus als jüdischer Gelehrter kannte diese Worte. Und er konnte sie mitsprechen – sogar im Gefängnis. Und wir im Jahr 2014? Es mag ein anderes Glück sein als das Glück der Wünsche aus der Neujahrsnacht. Aber es ist ein Glück, dass uns voller Vertrauen in ein neues Jahr gehen lässt. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus zum ewigen Leben. Amen.