Wunder – „des Glaubens liebstes Kind“ - Predigt über Apostelgeschichte 12, 1-11.12-17 von Ruth Conrad
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Wunder – „des Glaubens liebstes Kind“ - Predigt über Apostelgeschichte 12, 1-11.12-17 von Ruth Conrad

Wunder – „des Glaubens liebstes Kind“
Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht in Apostelgeschichte, Kapitel 12:
Um diese Zeit legte der König Herodes Hand an einige von der Gemeinde, sie zu misshandeln. Er tötete aber Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert. Und als er sah, dass es den Juden gefiel, fuhr er fort und nahm auch Petrus gefangen. Es waren aber eben die Tage der Ungesäuerten Brote. Als er ihn nun ergriffen hatte, warf er ihn ins Gefängnis und überantwortete ihn vier Wachen von je vier Soldaten, ihn zu bewachen. Denn er gedachte, ihn nach dem Fest vor das Volk zu stellen. So wurde nun Petrus im Gefängnis festgehalten; aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott.
  Und in jener Nacht, als ihn Herodes vorführen lassen wollte, schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt, und die Wachen vor der Tür bewachten das Gefängnis. Und siehe, der Engel des Herrn kam herein und Licht leuchtete auf in dem Raum; und er stieß Petrus in die Seite und weckte ihn und sprach: Steh schnell auf! Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen. Und der Engel sprach zu ihm: Gürte dich und zieh deine Schuhe an! Und er tat es. Und er sprach zu ihm: Wirf deinen Mantel um und folge mir! Und er ging hinaus und folgte ihm und wusste nicht, dass ihm das wahrhaftig geschehe durch den Engel, sondern meinte, eine Erscheinung zu sehen. Sie gingen aber durch die erste und zweite Wache und kamen zu dem eisernen Tor, das zur Stadt führt; das tat sich ihnen von selber auf. Und sie traten hinaus und gingen eine Straße weit, und alsbald verließ ihn der Engel. Und als Petrus zu sich gekommen war, sprach er: Nun weiß ich wahrhaftig, dass der Herr seinen Engel gesandt und mich aus der Hand des Herodes errettet hat und von allem, was das jüdische Volk erwartete.
  Und als er sich besonnen hatte, ging er zum Haus Marias, der Mutter des Johannes mit dem Beinamen Markus, wo viele beieinander waren und beteten. Als er aber an das Hoftor klopfte, kam eine Magd mit Namen Rhode, um zu hören, wer da wäre.
  Und als sie die Stimme des Petrus erkannte, tat sie vor Freude das Tor nicht auf, lief hinein und verkündete, Petrus stünde vor dem Tor. Sie aber sprachen zu ihr: Du bist von Sinnen. Doch sie bestand darauf, es wäre so. Da sprachen sie: Es ist sein Engel. Petrus aber klopfte weiter an. Als sie nun aufmachten, sahen sie ihn und entsetzten sich. Er aber winkte ihnen mit der Hand, dass sie schweigen sollten, und erzählte ihnen, wie ihn der Herr aus dem Gefängnis geführt hatte, und sprach: Verkündet dies dem Jakobus und den Brüdern. Dann ging er hinaus und zog an einen andern Ort.
 
Warum und wozu,
  liebe Gemeinde,
  brauchen wir eigentlich solche Wunder-Geschichten?
  Der aufgeklärte Menschenverstand ist bei solchen Geschichten ja spontan geneigt zu sagen: Mit Dank zurück, was soll der Quatsch?
  Der neuzeitlich geschulte Verstand – er stößt sich hart an solchen Geschichten. Denn solche Geschichten laufen seinen etablierten Regeln zuwider. Der Verstand sagt: Ich glaube nur, was ich sehe. Ich vertraue nur den empirisch nachweislichen Tatsachen. Und mit Verlaub: Vier Wachen von je vier Soldaten und Petrus zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt, Wachen vor der Tür und eiserne Tore. Also, wie soll das gehen? Das ist schlechterdings nicht möglich. Und man sieht es ja auch: Die Geschichte braucht einen Engel mit allerlei Wunderklimbim.
  Der Verstand hat dem Wunderglauben den Garaus gemacht. Er hat ihn in die geschlossene Abteilung des Mythischen und bestenfalls Psychologischen einweisen lassen. Der Verstand hat die Macht des Faktischen etabliert: Die Welt besteht aus dem, was wir sehen oder nachweisen können. Was sich nicht empirisch nachweisen lässt oder was wir nicht sehen, das gibt es nicht. Das gehört in den Bereich des Glaubens, des Mythos, der Metapher und ist von minderer Bedeutung.
Aber stimmt das so? Dass wir etwas nicht sehen, heißt eben nicht, dass es das nicht gibt.
  Wir können die Luft nicht sehen und doch gehen wir davon aus, dass sie da ist.
  Auch unsere Gefühle, die guten wie die schlimmen können wir nicht sehen und trotzdem – sie sind da. Hass wie Liebe sind real, oft sogar realer als uns lieb. Dies und noch einiges mehr können wir weder sehen noch beweisen. Aber in unserem Alltag gehen wir stillschweigend davon aus, dass es da ist. Unser Leben würde nicht funktionieren, wenn wir hier ständig nach sichtbaren Beweisen suchen würden. Das Leben funktioniert, weil wir uns an bestimmte Dinge und Zusammenhänge gewöhnt haben und weil wir den erfahrenen Wirkungen vertrauen.
  Unsere Erfahrung oder die Erfahrung anderer ist der Erweis für das, was wir nicht sehen.
  Wir sehen die Luft nicht – erleben aber ihre Wirkung.
  Wir sehen die Liebe nicht – erfahren aber ihre Wirkung.
  Wir sehen den Hass nicht – erleiden aber seine Wirkung, sehen diese abends in der Tagesschau oder hören sie in den Berichten anderer.
  Manches also ist real, weil wir es erfahren und nicht, weil wir es sehen oder beweisen können.
Und dass wir etwas jetzt und heute noch nicht sehen oder nachweisen können, bedeutet ebenfalls nicht zwingend, dass es das nicht gibt oder irgendwann einmal geben wird. Unser Verstand wird oft auch durch fehlende Phantasie begrenzt. Wer hätte vor zehn Jahren geglaubt, dass man eines eben nicht so fernen Tages Menschen zwischen Deutschland und Amerika Gespräche mit Blickkontakt führen könnten? Heute halten wir dies dank Skype für selbstverständlich. Als die Technik neu war, kam sie uns wie ein Wunder vor. Mittlerweile haben wir aufgehört uns darüber zu wundern. Sie ist uns selbstverständlich geworden, weil sie Teil unserer Erfahrung geworden ist.
 
Manches also sehen wir nicht und es ist trotzdem real, denn wir erfahren die Wirkungen. Wir vertrauen unserer Erfahrung. Und manches sehen wir noch nicht. Hier hoffen wir auf die menschliche Phantasie und Entdeckerfreudigkeit, auf den menschlichen Drang nach vorne, auf die Kraft der offenen Fragen.
  Es gibt also neben dem Verstand noch mindestens zwei weitere Formen sich die Welt zu erschließen: Die eine ist die Auslegung und Deutung von Erfahrung. Die andere ist die Vorstellung künftiger Zustände. Hoffnung im Gewand von Phantasie. Verstand, Erfahrung und Phantasie – das sind drei Weisen der Welterschließung. Drei Weisen, die Welt und das eigene Leben verstehen und begreifen zu wollen.
  Aber oft übernimmt allein der Verstand das Kommando. Und wir kennen ja die Einwände, die gegen Erfahrung und gegen Phantasie sprechen.
  Erfahrung kann irren. Sie kann einer Einbildung oder ihrem Wunschdenken aufsitzen.
  Erfahrung ist individuell. Meine Erfahrung ist nicht deine Erfahrung.
  Erfahrung ist auslegungsbedürftig. Manche erleben dasselbe und der eine nennt es ein Wunder, der andere spricht von Zufall.
  Erfahrungen sind keine Fakten. Sie sind manipulierbar.
  Ach ja, und die liebe Phantasie. Wohin hat sie uns nicht schon geführt? Liegen mutige Phantasien und Visionen oft nicht nahe beim Irrsinn oder bei reiner Spielerei? Wer Visionen hat, soll bekanntlich zum Psychiater.
  All das und noch viel mehr könnte man einwenden. Erfahrung und Phantasie scheinen schlechte Karten zu besitzen, wenn der Verstand auf die Beweiskraft seiner Argumente verweist.
  Aber vielleicht stellen wir uns für einen Moment einmal eine Welt vor, in der wir weder auf die Phantasie hoffen noch unserer Erfahrung vertrauen dürfen. Ohne unsere eigene Erfahrung mit bestimmten Dingen bliebe das Meiste im Leben für uns ohne Anschauung. Wir würden es vielleicht vom Hörensagen kennen, aber es wäre nicht Teil unseres Lebens. Es wäre nicht mit uns verbunden. Ohne Erfahrung hätte unsere Leben keinen auslegungsfähigen Stoff, keine Geschichte. Ohne Phantasie freilich gäbe es keinen Fortschritt. Ohne Menschen, die ihren offenen Fragen nachgehen, mögliche Antworten ausprobieren und den Irrtum ertragen, ohne solche Menschen säßen wir vermutlich noch auf Bäumen und hielten die Erde für eine Scheibe. Manchmal muss man das Unmögliche denken, muss es auch gegen Widerstände denken, um Neues zu finden. Ohne Phantasie ist die Wirklichkeit alternativlos und alles, was alternativlos ist, sollte uns verdächtig sein. Eine Welt ohne Erfahrung und Phantasie wäre eine begrenzte Welt. Erfahrung und Phantasie gehören wie der Verstand zum Leben dazu. Sie lehren uns, den Wirkungen des Nicht-Sichtbaren zu vertrauen und halten in uns die Hoffnung auf Neues, auf Jetzt-noch-nicht-Sichtbares wach.
 
Genau deshalb, liebe Gemeinde, genau deshalb brauchen wir solche Wunder-Geschichten wie die des heutigen Predigttextes. Die Wunder dieser Geschichten lassen sich nicht im strengen Sinn empirisch beweisen. Gegenüber einem naturwissenschaftlich orientierten Verstand haben sie schlechte Karten. Wundergeschichten beziehen sich aber eben auch gar nicht auf diesen Bereich. Sie beziehen sich auf den Bereich der Erfahrung und den der Hoffnung. Und damit auf den Bereich des Glaubens. Sie bestärken uns darin, die Welt und unser Leben nicht im Bereich des Sichtbaren oder Beweisbaren aufgehen zu lassen. Sie ermutigen uns, unsere Erfahrungen sorgfältiger zu lesen und unserer Phantasie eine Wohnstatt zu geben.
  Wenn wir Wunder daran erkennen, dass wir sie nicht machen können, dass sie aus den uns vertrauten Wirkungszusammenhängen herausfallen und engelsgleich in unser Leben einfallen und dieses verändern, dann haben wir wohl alle schon einmal Wunder erlebt. Aber vermutlich sind sie uns selbstverständlich geworden. Wir haben sie in unser Leben integriert. An manches, was uns einst wie ein Wunder vorkam, haben wir uns mittlerweile längst gewöhnt.
  Die Freundschaft wohlwollender Menschen,
  eine wunderbare Kraft in einer schweren Aufgabe,
  ein siebenfach verschlossenes Lebenstor, das dann, man erkennt es erst im Rückblick, doch einen offenen Spalt bekam,
  eine Genesung in großer Seelennot.
  Wundergeschichten helfen uns, solche Wundererfahrungen im eigenen Leben aufzusuchen, ob sie groß oder eher klein seien. Sie helfen uns, unser Leben tiefer zu verstehen, weil wir nicht bei der vermeintlichen Vorherrschaft der Fakten stehen bleiben, sondern das Selbstverständliche befragen auf das, was eben längst nicht selbstverständlich ist.
  Wundergeschichten sind die Einladung, gelegentlich im Leben innezuhalten und sich mal wieder zu wundern. Über all das, was uns so selbstverständlich ist und was es doch bei näherer Betrachtung nicht ist.
  Wundergeschichten sind notwendig, damit wir hinter das Sichtbare schauen. Und deshalb stärken sie auch unsere Phantasie und damit unsere Hoffnung. Sie stärken uns in dem Vertrauen, dass das Leben mehr und anderes bereit hat als das Sichtbare. Denn dass wir Manches nicht oder noch nicht sehen können, heißt eben nicht, dass es das nicht gibt. Es heißt nur, dass wir es nicht sehen und dass es vielleicht in unserer eigenen Erfahrung nicht oder noch nicht vorkommt.
  Deshalb gibt es in den Wundergeschichten immer viele Zeugen für die Wunder – damit wir denen glauben, die bereits erlebt haben, was in unserer Erfahrung noch ausständig ist und vielleicht ausständig bleibt. Wenn ein Mädchen an der Tür vor dem Wunder erschrocken zurückweicht, dann wird so lange diskutiert, bis Petrus doch hereingelassen wird und viele Zeugen für das Wunder vorhanden sind. Sie alle stehen dafür ein, dass es zuweilen Dinge gibt, die der Verstand nicht begreifen und nicht beweisen kann, die der je eigenen Erfahrung unzugänglich sind und die es trotzdem gibt, die trotzdem geschehen sind und denen ich glauben darf – weil  andere sie erfahren haben und sie vertrauenswürdig bezeugen. Die Erfahrungen anderer, sie regen meine Phantasie an, mir auch für mich und mein Leben noch einmal anderes vorzustellen, als das, was ich schon längst kenne.
  So ist zwar jeder Erfahrung eines Wunders individuell. Ich habe sie gemacht und sonst keiner. Und kein anderer wird sie so machen wie ich. Und keiner darf den anderen auf bestimmte Wunder-Erfahrungen verpflichten. Aber solche Erfahrungen sind mitteilbar, damit der andere für sein Leben auch ein mögliches Wunder erhoffen und sich vorstellen kann.
 
Für unsere Erfahrung und unsere Phantasie und Hoffnung also gibt es solche Wundergeschichten. Sie sind daher, wie Goethe im „Faust“ schrieb, „des Glaubens liebstes Kind“. Denn sie verweisen unser Leben auf Gott, den unsichtbaren Grund unseres Lebens.
  Und die heutige Geschichte im Besonderen verweist uns auf das größte Wunder schlechthin: auf das neue, jetzt noch nicht sichtbare Leben – die Kraft der Auferstehung Christi. Vier Wachen von je vier Soldaten und Petrus zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt, und Wachen vor der Tür und dann öffnet sich das eiserne Tor wie von selbst. Die Pforten des Todes und der Hölle. Dann steht ER da und spricht: Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.
  Mir darfst du mehr zutrauen, als du siehst und mehr als du beweisen kannst.
  Jetzt und in alle Ewigkeit.
  Amen.
 
Angeregt zu meinen Überlegungen zum Thema „Wunder“ hat mich eine Osterpredigt von apl. Prof. Pfrin. Dr. Kirsten Huxel, Satteldorf, auch wenn ich am Ende zu anders gelagerten Einsichten gelange. Hilfreich fand ich außerdem den Beitrag von Eberhard Jüngel: Weil es ihn jammerte. Die wunderbaren Kraftakte des Jesus von Nazareth, in: NZZ Folio 12 (1996). Beide Beiträge sind über die jeweiligen Archive im Internet bequem zugänglich.