Predigt über Johannes 4, 19-26 von Tobias Geiger
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Predigt über Johannes 4, 19-26 von Tobias Geiger

Feiertage sind eine gute Zeit für Besuche bei Freunden und Verwandten. Man trinkt miteinander Kaffee und hat Zeit zum Reden. Manch einer freut sich über seine Besucher sogar zweimal: Zuerst, wenn die Gäste kommen, und dann, wenn sie wieder gehen ... Vielleicht haben Sie das auch schon erlebt: Da hat ein Besucher alle Zeit der Welt und will überhaupt nicht mehr nach Hause. Dann sitzen wir wie auf Kohlen und hoffen, dass wir bald unsere Ruhe haben. Ein Besuch hat einen bestimmten Rahmen – wenn der über­schritten ist, dann wird es unangenehm ...
Wie ist das eigentlich mit Gott? Stehen wir zu ihm auch in einem Besuchsverhältnis? Wir schauen ab und zu mal rein, zum Beispiel an den Feiertagen. Eine Stunde oder so, das genügt dann wieder für eine Weile. Reicht das aus, wenn wir Gott nur besuchsweise begegnen?
In unserem Predigttext ist Jesus auf Besuch in Samaria. Am Brunnen vor der Stadt trifft er eine Frau. Jesus bittet um einen Becher Wasser und beide kommen ins Gespräch. Die Frau merkt: »Das ist ein besonderer Besucher. Der kennt sich aus in religiösen Dingen.« Und so stellt sie ihm eine Frage, die sie schon lange interessiert. Wir hören aus dem Johannesevangelium Kapitel 4 die Verse 19 bis 26:
Die Frau sagte zu Jesus: »Herr, ich sehe, Du bist ein Pro­phet. Wir Samariter verehren Gott auf dem Berg Garizim. Doch ihr Juden sagt, dass man Gott in Jerusalem anbeten soll.« Jesus antwortete: »Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, in der ihr Gott den Vater weder auf diesem Berge noch in Jerusalem anbeten werdet. Ihr Samariter betet zu Gott, doch ihr kennt ihn nicht; doch wir kennen ihn, denn das Heil für die Welt kommt aus dem jüdischen Volk. Aber es kommt die Zeit und sie ist jetzt schon da, da werden die wahren Anbeter den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten. Solche Anbeter will Gott haben. Denn Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.« Da sagte die Frau: »Ich weiß, dass der Messias kommen wird, er ist Christus, der versprochene Retter. Wenn er kommt, dann wird er uns das alles sagen.« Jesus antwortete: »Ich bin es, der mit dir redet.«
Wo hat Gott sein Besuchszimmer? Wo ist der Ort, an dem Menschen ihn aufsuchen können? Das ist die Frage der Frau am Brunnen. Das interessiert sie, das möchte sie wissen. Und das ist auch der Streitpunkt zwischen Juden und Samaritern. Die einen sagen: »Der Tempel in Jerusalem. Dort kannst du Gott begegnen, dort ist er gegenwärtig.« Die anderen behaupten: »Wir brauchen nicht soweit fort. Wir können auch hier auf dem Berg Garizim beten.« Wer hat Recht? Wo bin ich Gott am nächsten?
Diese Frage ist bis heute aktuell. Wo können wir Gott begegnen? Muss ich dazu sonntags in den Gottesdienst kommen? Kann ich nicht auch zuhause in der Bibel lesen? Andere sagen: Ein Spaziergang im Wald – da bin ich Gott näher als in der Kirche. Oder wenn ich anderen helfe – dann fühle ich mich mit Gott verbunden. Wie kommen wir mit Gott in Kontakt? Gibt es feste Vorschriften oder kann jeder seinen eigenen Weg gehen?
Jesus sagt: Es geht nicht um besondere Orte und bestimmte Zeiten. Die wahren Anbeter werden den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten. So soll unsere Beziehung zu Gott aussehen. Kein Besuch nur für ein paar Minuten, sondern eine Lebenseinstellung. Das ist unser Thema heute Morgen: Anbeten im Geist und in der Wahrheit.
Die erste Überschrift: Anbeten im Geist Jesu Christi
Es gibt viele Geister in dieser Welt. Wenn irgendwo Hass und Streit ausbrechen, dann sagen wir: »Da herrscht ein böser Geist.« Wenn uns in einer Notlage geholfen wird, dann sprechen wir von »guten Geistern«. Im Sport ist oft vom »Mannschaftsgeist« die Rede, doch was das genau ist, kann keiner sagen.
Wenn Jesus vom Beten im Geist spricht, dann ist das nichts Unbestimmtes oder Geheimnisvolles. Er meint damit: Beten in seinem Geist. Wenn wir mit Gott reden, dann sollen wir das so tun, wie Jesus es getan hat. Jesus nannte Gott Vater. Da gab es keine Fremdheit oder Distanz. »Abba, lieber Vater« – wir würden heute »Papa« sagen. So eng war Jesus mit Gott verbunden. Vertrauen wie ein Kind zu seinen Eltern. Reden wir mit Gott im Geist Jesu? Oder bleiben wir auf Abstand? Ein Zweifler hat einmal gebetet: »Lieber Gott, wenn es dich gibt – rette meine Seele, falls ich eine habe.« Machen wir es nicht oft ähnlich? Wir schränken  unsere Gebete durch Wenn und Aber ein. Das Misstrauen ist größer als das Vertrauen. Und dann wundern wir uns, wenn die Beziehung zu Gott so schwach und kraftlos ist ...
Der amerikanische Prediger Dwight Moody hat zum Thema Vertrauen eine Geschichte erzählt. Er stand mit einem Freund vor einer Gartentür. Zwei kleine Jungen kamen vorbei und der Freund sagte: »Pass mal auf, wie verschieden die beiden sind.« Er hob eines der Kinder hoch und stellte es auf das Gartentor. Dann öffnete die Arme und sagte: »Komm, spring!« Sofort ließ sich der Junge fallen und wurde aufgefangen. Dann nahm der Freund das andere Kind und stellte es auch auf das Gartentor. Aber der Junge war voller Angst und wollte nicht springen; schließlich musste man ihn wieder herunterheben. Moody fragte verwundert: »Woher kommt dieser Unterschied?« Der Freund sagte: »Ganz einfach. Der erste Junge ist mein Sohn und kennt mich. Der andere dagegen ist ein fremdes Kind.«
Das bedeutet Vertrauen: Einander kennen. Wo wir einander fremd sind, fehlt die Verbindung. So ist auch mit Gott. Es genügt nicht, ab und zu vorbeischauen als zufälliger Besu­cher. Nur ein paar Stunden an Sonn- und Feiertagen – das reicht nicht für einen tragfähigen Glauben. Für Jesus war klar: Vertrauen braucht Verlässlichkeit. Jesus wusste: Ich brauche den Kontakt zu Gott, ich brauche das Gebet. Auch wenn sich noch so viele Menschen um ihn drängten – er hat sich immer wieder in die Stille zurückgezogen. Im Gespräch mit Gott kann Vertrauen wachsen. Im Geist Jesu beten heißt: Mit Gott auf Du und Du sein. Nicht nur im Vorbeigehen, sondern verlässlich.
Die zweite Überschrift: Anbeten in der Wahrheit
Beten in der Wahrheit bedeutet, der Wahrheit über uns ins Gesicht sehen. Wir sind nicht so, wie Gott uns geschaffen hat. Wir kommen ganz gut mit unserem Leben zurecht, wir sind anständig und erfolgreich – aber wir bleiben Gott vieles schuldig. Wir sollen ihm die Ehre geben, doch wir suchen oft unseren eigenen Vorteil. Im Vorwärtsgehen übergehen wir Gott und meistens auch unsere Mitmenschen. Das ist die unangenehme Wahrheit unseres Lebens: Wir sind nicht so, wie Gott uns gemeint hat. Wir sind nicht das Ebenbild Gottes, zu dem Adam geschaffen wurde. Die Bibel nennt diesen Zustand »Sünde«. Das griechische Wort für Sünde stammt aus der Sprache des Bogenschießens. Es bedeutet: »am Ziel vorbei«. Das ist die Wahrheit, die wir aushalten müssen: Mein Leben geht am Ziel vorbei. Aber bei dieser Wahrheit muss ich nicht stehenbleiben. Ich darf mit ihr zu Gott kommen und ihn im Geiste Jesu »Vater« nennen. Ich darf erfahren, wie er Vergebung und einen neuen Anfang schenkt. Ich kann erleben, dass Gott es gut mit mir meint und seine Gebote mir den richtigen Weg zeigen.
Auch die Frau damals am Brunnen musste sich der Wahrheit stellen. Sie sprach mit Jesus über ihren Durst nach Leben, über ihre Sehnsucht nach Liebe. Jesus sagte zu ihr: »Geh und bring deinen Mann her.« Das war der wunde Punkt in ihrem Leben: Mit fünf Männern war sie zusammen gewesen, fünf Beziehungen waren in die Brüche gegangen. Doch Jesus verurteilt sie nicht. Er möchte, dass sie in die Gemeinschaft mit Gott zurückfindet.
Wie ist das bei uns? Lassen Sie mich nochmal auf das Bild vom Besuchemachen zurückkommen. Wenn sich Gäste ankündigen, dann wird die Wohnung aufgeräumt, dann will man sich im besten Licht zeigen. Und manchmal schließen wir eine Tür ab, weil wir nicht wollen, dass unsere Besucher die Unordnung dahinter sehen. So ist es auch im Leben: Das Unschöne wollen wir verstecken, da machen wir die Tür zu. Können wir vor Gott ehrlich sein? Sagen wir ihm die Wahrheit über unser Leben? Oder wollen wir ihm auch etwas vormachen? Gott sieht hinter unsere Fassade. Wo wir ihm gegenüber wahrhaftig sind, da kann er etwas verändern. Doch wo wir nur den schönen Schein wahren wollen, bleibt alles beim Alten. »O komm, du Geist der Wahrheit und kehre bei uns ein« – so haben wir vorhin gesungen. Vielleicht sollten wir im Sinne unserer schwäbischen Kehrwoche anders dichten: »O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns aus ...«.  Das wäre doch was – Gott den Besen in die Hand drücken und sagen: Kehr aus! Räum auf! Bring Ordnung in mein Leben und in mein Christsein! Darf der Heilige Geist bei uns einkehren: Nicht nur für einen kurzen Besuch, sondern ein Leben lang? Darf er bei uns auskehren, darf er wegräumen, was der Wahrheit Gottes widerspricht? Pfingsten, das Fest des Heiligen Geistes, ist Gottes klare Aussage: Ich will mehr als nur ein Besucher sein. Ich schaue nicht nur an Feiertagen vorbei. Sondern mit seinem Geist will Gott uns jeden Tag nahe sein. Das griechische und hebräische Wort für »Geist« heißt Atem. Kein Atemzug ohne das Vertrauen auf Gott. Pfingsten ist die Erinnerung an Gottes Gegenwart. Eine Erinnerung daran, dass wir einen Vater im Himmel haben. Er schenkt uns Vergebung, er will unser Leben in Ordnung bringen. Beten im Geist und in der Wahrheit – Gott lädt uns dazu ein.