Die angemessene Kraft - Predigt zu Offenbarung 3, 7-13 von Martin Weeber
3,7-13

Die angemessene Kraft - Predigt zu Offenbarung 3, 7-13 von Martin Weeber

Die angemessene Kraft

Die Gemeinde in Philadelphia war eine kleine Gemeinde.
Nicht so bedeutend wie Rom oder Korinth oder Jerusalem.
Eher so wie unsere eigene Gemeinde.
Aber immerhin: Es ist uns ein apostolisches Schreiben an diese kleine Gemeinde überliefert.
Und das ist unser heutiger Predigttext:

Und dem Engel der Gemeinde in Philadelphia schreibe: Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Davids, der auftut, und niemand schließt zu, der zuschließt, und niemand tut auf: „Ich kenne deine Werke. Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan und niemand kann sie zuschließen; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet. Siehe, ich werde schicken einige aus der Synagoge des Satans, die sagen, sie seien Juden und sind's nicht, sondern lügen; siehe, ich will sie dazu bringen, dass sie kommen sollen und zu deinen Füßen niederfallen und erkennen, dass ich dich geliebt habe. Weil du mein Wort von der Geduld bewahrt hast, will auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die kommen wird über den ganzen Weltkreis, zu versuchen, die auf Erden wohnen. Siehe, ich komme bald; halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme! Wer überwindet, den will ich machen zum Pfeiler in dem Tempel meines Gottes, und er soll nicht mehr hinausgehen, und ich will auf ihn schreiben den Namen meines Gottes und den Namen des neuen Jerusalem, der Stadt meines Gottes, die vom Himmel herniederkommt von meinem Gott, und meinen Namen, den neuen. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!“ (Offenbarung 3, 7-13)

Der Verfasser der Johannesoffenbarung schreibt in einer wundersamen Bildersprache.
Es fällt nicht immer leicht, diese Bilder im einzelnen zu entschlüsseln.
Aber man kann trotzdem meistens die Absicht ziemlich genau herausfinden, die er mit seinem Schreiben verfolgt.
Auch die Absicht des kurzen Briefes nach Philadelphia kann man klar erkennen.
Er will die kleine und verzagte Gemeinde trösten und stärken.

Die Gemeinde sieht allerlei Krisen auf sich zukommen.
Die Zukunft scheint düster.

Der Briefschreiber nimmt die Sorgen der Gemeinde ernst.
Aber er weist auch darauf hin, dass doch gute Gründe für einen zuversichtlichen Blick in die Zukunft bestehen.

Der Gemeinde braucht es nicht bange zu sein.
Denn die Gemeinde ist eine treue Gemeinde:
Sie hat das Wort Gottes bewahrt.
So drückt sich der Briefschreiber aus.
Die Gemeinde hat an dem festgehalten, was für eine Gemeinde wesentlich ist:
An ihrem Vertrauen auf Gottes Wort.

Glanzvolle Veranstaltungen kann die kleine Gemeinde nicht auf die Beine stellen.
Prunkvolle Gebäude konnte sie sicherlich auch nicht errichten.
Alles geschah äußerlich in ganz kleinem Maßstab in Philadelphia.
Aber offensichtlich war alles auf den Kernpunkt zentriert, auf die Mitte.
Das Vertrauen auf Gott und sein Wort:
Das stand in Philadelphia im Mittelpunkt.
Und dieses Vertrauen auf Gott und sein Wort soll bis zum heutigen Tag im Mittelpunkt des Lebens einer Gemeinde stehen.

Drumherum darf sich manches ansiedeln.
Aber das, was die Gemeinde zur christlichen Gemeinde macht, das darf nicht verloren gehen:
Das schlichte Vertrauen auf Gott und sein Wort.

Manche sind der Meinung, das sei doch ein bisschen wenig.
Aber der apostolische Briefschreiber ist sich sicher:
Genau das genügt.

„Halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme.“

Unverkennbar:
Eine biblische Variante des Sprichworts vom Spatzen in der Hand und der Taube auf dem Dach.

„Halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme.“

Dieses Wort ist immer wieder benutzt worden, um einen kirchlichen Konservativismus zu begründen, der nur ja nichts verändern will.
Alles soll so bleiben, wie es immer schon gewesen ist.
Nur ja nichts Neues.

Solch eine Haltung muss einem nicht völlig unsympathisch sein, gerade in einer Zeit, in der sich alles immer schneller wandelt.
So völlig falsch ist es da vielleicht nicht, wenn die Kirche einen Ruhepunkt darstellt.
Trotzdem:
Der einzige Gesichtspunkt dürfte das nicht sein.
Denn alles, was lebendig ist, verändert sich.
Und die Kirche ist nach wie vor lebendig.

Sie bleibt lebendig, wenn sie bei dem bleibt, was ihr Kraft gibt.
Sie bleibt lebendig, wenn sie bei dem Vertrauen auf Gott und sein Wort bleibt.

Wenn an dieser Mitte festgehalten wird, dann kann sich außenherum ganz vieles ändern.

Das Vertrauen auf Gott und sein Wort gibt der Gemeinde Kraft.
Das ist heute noch genau so wie es damals war.
In unseren Gemeinden heute ist das nicht anders als in Philadelphia.

Freilich:
Gott gibt seinen Menschen diese Kraft in einem klugen Maß:
Nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel.

So, wie es im Predigttext heißt:
„Du hast eine kleine Kraft.“

Damit wird kein Tadel ausgesprochen.
Da schwingt nicht der Vorwurf mit:
„Du müsstest eigentlich eine größere Kraft haben.“

Nein, offensichtlich ist gerade die kleine Kraft das angemessene Quantum an Stärke.

Es ist wohl bei der Gemeinde nicht anders als bei den einzelnen Menschen:
Wenn einer gar keine Kraft hat, dann ist das schlecht.
Wenn einer aber zu viel Kraft hat, dann wird das schnell gefährlich.

Wer zu viel Kraft hat, der verliert leicht den Blick für seine Grenzen.
„Er wird größenwahnsinnig“, so sagen wir dann.
„Er entwickelt Allmachtsphantasien.“
Solch ein Mensch hebt dann leicht ab. Er verliert die Verbindung mit der Realität.
Die Bodenhaftung geht verloren.

Sich allmächtig zu fühlen, das tut Menschen nicht gut.
Genau so wenig, wie sich ohnmächtig zu fühlen.

Die „kleine Kraft“ ist es offensichtlich, die uns Menschen angemessen ist.
Und für Gemeinden gilt das gleiche.
Es gab Zeiten, in denen war die Kirche mächtig und hatte großen Einfluss in der Gesellschaft.
Das hat der Kirche meist nicht gutgetan. Und der Gesellschaft auch nicht immer.

Philadelphia, das kleine Philadelphia, ist eher das geeignete Vorbild für eine christliche Gemeinde als Rom, das große und mächtige Rom.
Es ist ein schönes und ermutigendes Zeichen, wenn der gegenwärtige Bischof von Rom sich die Kirche nicht als eine äußerlich machtvolle Institution vorstellt.
Ich stelle mir vor, dass er sich in Philadelphia gut aufgehoben fühlen würde. In der Gemeinde mit der kleinen Kraft, die völlig ausreicht.

Es ist die kleine Kraft, die uns von Gott zugedacht ist.
Die Kraft, die um ihre Grenzen weiß.

Am Ende ist es das gleiche, was für die Einzelnen und für die Gemeinden das Heilsame ist:
Das Vertrauen auf jene angemessene Kraft, die aus dem Glauben erwächst.
Gott will uns weder ohnmächtig noch allmächtig.

Auch das ist ein Aspekt der Botschaft, über die wir in der Advents- und Weihnachtszeit nachdenken:
Der Gott, der Mensch wird, stellt uns die Frage, was das heißt: Ein Mensch zu sein – weder mit Allmacht ausgestattet, noch zur Ohnmacht verdammt.

Wir sollen nicht Nichts sein, aber wir sollen auch nicht Gott sein.
Wir sollen einfach nur Menschen sein.
Die kleine Kraft, die wir haben: die genügt.
Sie genügt uns als Einzelnen.
Und sie genügt uns als Gemeinde.
Amen.