Das Leben streicheln - Predigt zu 1.Johannes 1,1-4 von Christine Hubka

Das Leben streicheln - Predigt zu 1.Johannes 1,1-4 von Christine Hubka
1,1-4

Das Leben streicheln

Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens – und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist –,
was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus.
Und das schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen sei.


Ich habe das Leben betastet –
Man könnte auch übersetzen: ich habe das Leben gestreichelt.
So oft habe ich das gemacht, das Leben betastet:

Wenige Minuten nach der Geburt hielt ich mein erstes Enkelkind im Arm.
Und im Lauf der Jahre dann die anderen.

Ich habe das Leben betastet – ich habe das Leben gestreichelt.
Die Hände der sterbenden jungen Kollegin aus meiner Stammschule.
Im Hospiz am Rennweg lag sie in einem Einzelzimmer.
Ich habe ihre Hand gehalten und ihr gesagt,
wie sehr ich sie schätze.
Wie gut mir ihre Gegenwart im Konferenzzimmer getan hat.

Ich habe das Leben betastet – und auch gestreichelt.
Ein Strafgefangener wurde aus der Justizanstalt Wien Josefstadt
in ein anderes Gefängnis verlegt.
Zum Abschied umarmten wir uns.
Meine Hände auf seinem Rücken spürten sein unterdrücktes Weinen.

Ich habe das Leben betastet – ich habe das Leben gestreichelt.
Nicht nur diese drei Male, sondern immer wieder.
Immer wieder.

Für mich ist es ein Privileg, dass ich dem Leben so nahe kommen darf,
dass ich es mit meinen Händen berühren kann.
Und jedes Mal empfinde ich das Gleiche:
Meine Hände berühren Gott.
Meine tastenden Fingerspitzen, meine streichelnden Handflächen
verstehen Gott anders als mein Verstand.
Den Händen genügt es, das Leben zu betasten, zu berühren.

Einen Moment schweigen dann auch die Gedanken.
Sie verharren ehrfurchtsvoll.
Sie verzichten darauf, das zu kommentieren, wofür es keine Worte gibt.

Religion, ganz gleich welche, ist unter uns in Verruf gekommen.
Nicht erst seit Leute mordend den Koran schwenken.

Religion ist auch in Verruf gekommen,
als zu Beginn dieses Jahrtausends Politiker  mit der Bibel in der Hand
die Staatenwelt in Schurkenstaaten auf der einen Seite
und die Guten auf der anderen Seite einteilten.
Als sie es für eine gottgewollte Verpflichtung hielten,
diese sogenannten Schurkenstaaten mit allen Mitteln zu bekämpfen.
Bei öffentlichen Gebetsfrühstücken haben sie das verkündet.
Die tödlichen Geschoße danach
trafen auch Zivilisten, Hochzeitsgesellschaften, Krankenhäuser, Kinder.

Religion ist bereits zur Zeit der Aufklärung in Verruf gekommen.
Als etwas, was der Vernunft widerspricht.
Weil das, was Religion meint,
angeblich nicht angeschaut und betastet werden kann.

Wie sehr hat die Aufklärung da geirrt!

Und wie sehr hat die Christenheit geirrt,
als sie sich und ihren Glauben reduziert hat
auf Streitigkeiten über Lehrsätze und Lehrmeinungen.
Wie sehr  hat die Christenheit nicht  nur geirrt,
sondern sich an ihrem Christus versündigt,
als sie begonnen hat,
Theorien über Leben und Tod aufzustellen,
anstatt das Leben zu betasten und zu betrachten.

Mir scheint, die Angst vor der islamischen Religion heute
ist nicht zuallererst die Angst vor einer terroristisch geprägten Abart.
Die Angst vor der islamischen Religion scheint mir dieselbe zu sein,
die sich noch vor ein paar Jahrzehnten
gegen die jüdische Religion gewandt hat.
Beide Religionen prägen, durchweben den Alltag der Menschen.

Von der Küche bis ins Schlafzimmer.
Weil der Mensch durchdrungen ist von diesem Glauben,
kann und soll kein Lebensbereich ausgespart sein.
Ob Gott nun Allah genannt wird, was nichts anderes als Gott heißt.
Oder Adonai, also Herr.

Oder eben Vater Jesu Christi. Unser Vater.
Denn auch in der Nachfolge Jesu gibt es keine religionsfreien Räume.
Auch in der Nachfolge Jesu geht es nicht um Theorien und Ideen,
sondern darum zu hören, zu sehen, zu betrachten, zu betasten.
Und manchmal auch zu streicheln.

Bleiben wir in der Küche.
Unser tägliches Brot gib uns heute,
beten wir heute, bevor wir Brot und Wein empfangen.
Wie beeinflusst dieses Gebet den täglichen Umgang mit Brot?
Heute Mittag, vielleicht schon. Oder am Abend.
Spätestens aber morgen zum Frühstück.

Bevor meine Oma den Brotlaib angeschnitten hat,
hat sie mit dem großen Sägemesser ein Kreuz auf das Brot gezeichnet.
Ein Brot betrachten, es angreifen, mit dem Zeichen des Kreuzes vorbereiten, und erst danach es endlich anschneiden, sorgsam, ehrfurchtsvoll, dankbar, das ist gelebte Religion.
Gelebte Religion drückt sich aus in der Sorgsamkeit gegenüber den Dingen.
Diese Sorgsamkeit setzt sich dann fort.
Von dem Brot hin zu den Menschen.
Wenn ich das Brot ansehe, betaste, wert schätze, würdige,
dann spüre ich auch Respekt gegenüber den Menschen,
die so früh aufstehen, wie ich nie aufstehen wollte,
um dieses Brot zu backen.
Und für die Landwirte, auf deren Feldern das Getreide gewachsen ist.
Und für die Verkäuferinnen und Verkäufer,
die mir das Brot im Papiersack reichen,
oder es ins Regal geschlichtet haben.

Und dann habe ich das Leben gesehen, betastet, gespürt.
Und in diesem Leben einen Hauch von Gott erfahren.

Aber:
Brot, das älter ist als einen Tag wird heute „entsorgt“,
so das Fachwort für einen Vorgang,
den man früher einfach „Wegwerfen“ genannt hat.
Warum sagt niemand, dass das Brot weggeschmissen wird?
Vielleicht ist da noch eine Erinnerung an das, was nicht nur meine Oma,
sondern wohl alle Omas ihrer Generation
den Enkelkindern eingeschärft haben:
Brot wirft man nicht weg!

Aus Respekt gegenüber dem Leben,
das in – mit – und unter diesem Brot zu betrachten und zu betasten ist.
Brot wirft man nicht weg,
aus Respekt gegenüber den Menschen,
die am Entstehen dieses Brotes mitgewirkt haben.
Aus Respekt vor den hungrigen Menschen,
die alles für dieses hart gewordene, aber genießbare Brot geben würden.

Vielleicht können wir nicht die ganze Welt versorgen.
Aber wir können dafür sorgen, dass unter uns nichts verkommt,
was Menschen am Leben halten kann.

Ich habe das Leben betastet – ich habe das Leben gestreichelt.
Vom Brot, dem schmackhaften Lebensmittel,
finde ich zu den Menschen.
Statt Menschen kann ich auch sagen die Geborenen.
Wir alle sind Geborene.
Ins Leben hineingeboren ohne unser Zutun,
auch ohne gefragt zu werden.

Darin sind wir alle gleich.
Egal, ob jemand mit einer Behinderung auf die Welt gekommen ist,
oder hochbegabt.
Egal, ob es jemand im Leben zu etwas gebracht hat,
oder gescheitert ist.
Jesus, der Christus, er war ein Geborener unter Geborenen.
Darin ist ihm jeder Mensch gleich.
Egal, was sonst noch über diesen Menschen zu sagen ist.

Hast du, haben Sie in letzter Zeit einem Menschen mit Behinderung
die Hand gegeben?
Einem Menschen ohne Arbeit oder Obdach.
Einem der im Gefängnis gewesen ist?
Einem, der bettelt oder den Augustin verkauft?
Und wenn nicht die Hand gegeben,
dann vielleicht ein paar Worte gewechselt.
Ein kleines Gespräch geführt.

Nicht um Gutes zu tun,
sondern  um das Leben zu spüren, zu betasten, manchmal auch zu streicheln, und um dadurch selber beglückt zu werden.
Oder, wie Johannes schreibt, damit unsere Freude vollkommen sei.

 

Perikope
27.12.2015
1,1-4

Predigt in leichter Sprache zu 1.Johannes 5,11-13 von Christiane Neukirch

Predigt in leichter Sprache zu 1.Johannes 5,11-13 von Christiane Neukirch
5,11-13

(Diese Predigt ist bestimmt für einen Gottesdienst in Gebärdensprache. Deshalb ist sie in leichter Sprache verfasst und kürzer als Predigten für hörende Gemeinden. Im Vortrag wird sie noch weiter vereinfacht.)

Und das ist das Zeugnis, dass Gott uns das ewige Leben gegeben hat, und dies Leben ist in seinem Sohn. Wer den Sohn hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht. Das habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr das ewige Leben habt, denn ihr glaubt an den Namen des Sohnes Gottes.

Liebe Gemeinde!

Der erste Johannesbrief will seine Leserinnen und Leser – Menschen, die an Jesus Christus glauben - sicher machen: „Gott hat uns das ewige Leben gegeben.“ Ich frage: wie merken wir das? Was meint Johannes mit „ewigem“ Leben?

In der Gebärdensprache haben wir drei verschiedene Gebärden für das Wort Ewigkeit.

Die erste Gebärde: ich strecke den Zeigefinger der rechten Hand nach oben und zeichne damit eine gerade Linie von links nach rechts in die Luft. Wie auf der Intensivstation das EKG-Gerät: wenn das Herz nicht mehr schlägt, wenn die Zeit für diesen Menschen da im Bett zuende ist, dann schreibt das EKG eine gerade Linie, die Nulllinie. Die Gebärde hat ihren Grund in der Erfahrung. Wir Menschen begegnen der Ewigkeit am Ende unserer Lebenszeit, mit dem Ende des Herzschlages. Aber was ist dann mit uns? Wo sind wir dann? Gibt es uns dann noch? Und wenn, wie?? Unsere Fragen bleiben offen.

Die zweite Gebärde geht anders. Kennen Sie das berühmte „Däumchendrehen“? Die Gebärde ist so ähnlich: wir nehmen die Hände auseinander und drehen nicht die Daumen, sondern die Zeigefinger umeinander. Auch diese Gebärde hat ihren Grund in der Erfahrung. Sie zeigt „immer dasselbe“! Einer redet lang und unverständlich – für die Zuschauer fühlt sich die Zeit dann wie eine Ewigkeit an – es klingt wie bla bla bla! Viele Menschen nicht nur in Indien glauben sogar: das ganze Leben wiederholt sich immer und immer wieder. Sie glauben, nach dem Tod wird die Seele in einem neuen Körper wiedergeboren und muss wieder sterben und so weiter und so weiter. Sie sehnen sich nach Erlösung aus diesem Kreislauf..

So schaut diese zweite Gebärde für „Ewigkeit“ ganz auf das Leben in dieser Welt, gestern, heute und morgen. Aber „ewiges Leben“ muss doch noch anders sein, irgendwie grenzenlos?! So bleiben unsere Fragen wieder offen: was wird mit uns sein, wenn wir nicht mehr auf dieser Welt leben? Wie sollen wir uns „ewiges Leben“ überhaupt vorstellen?

Deshalb haben wir noch eine dritte Gebärde: die linke Hand waagerecht vor dem Bauch zeigt den Boden, die rechte Hand fährt darunter und dann nach vorn hinauf bis über den Kopf – so beschreiben wir den Weg, den Jesus gegangen ist: er ist hinabgestiegen in das Reich des Todes und am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten und aufgefahren in den Himmel zu Gott – so ähnlich bekennen wir unseren christlichen Glauben.

In einem Weihnachtslied singen wir von Jesus:

Er geht auf allen Wegen mit uns ein und aus; er ist auch bei mir an meiner Seite still und unerkannt; er leitet mich treu an der lieben Hand. Kennen Sie das Lied? Haben Sie es vielleicht wieder gesungen am letzten Weihnachtsfest? Das Lied heißt: „Alle Jahre wieder“. Mit ganz einfachen Worten und Bildern sagt das Lied: ewiges Leben gibt es nicht erst nach dem Tod.

Ewiges Leben heißt: jetzt mit Jesus gehen - an seiner lieben Hand – so singt das Lied. Deshalb müssen wir nicht rätseln, wie das ewige Leben wohl sein wird. Und dann vielleicht sagen: das kann ich mir nicht vorstellen und deshalb gibt es das auch nicht. Nein!

Im Neuen Testament lesen wir viele Geschichten von Menschen, die mit Jesus gegangen sind, wie an seiner Hand. Oft hat sich dabei ihr ganzes Leben mit Vertrauen und Freude, mit Kraft und Geborgenheit erfüllt und verändert. Das waren Menschen, die ewiges Leben mit Jesus erlebt haben!

Vielleicht kennen Sie manche von diesen Geschichten?! Nur zwei Beispiele: Petrus lässt das Fischernetz liegen und geht mit Jesus, aus dem erfolglosen Fischer wird ein großer Apostel. Die Emmausjünger begreifen am Ostertag auf ihrem Weg mit dem Fremden: der Fremde ist Jesus! Jesus hat den Tod besiegt und lebt! Der Tod ist mit Jesus gar keine Grenze mehr?! So beginnt das neue, ewige Leben schon jetzt und hier, mitten in dieser Welt mit der Verbindung mit Jesus!

„Wer den Sohn hat, der hat das Leben“ – so schreibt der erste Johannesbrief und meint das ewige Leben. Wir dürfen mit Jesus gehen: im Neuen Testament von ihm lesen; seine Worte und Taten auf uns wirken lassen; vertrauen: mit ihm spricht Gott zu uns. Und Jesus geht mit uns durch unsere Jahre hier auf der Erde und durch den Tod hindurch direkt zu Gott – wie es die dritte Gebärde für „Ewigkeit“ zeigt.

Wir werden jetzt noch nicht alles verstehen und nicht alles richtig und gut machen – das haben die Apostel auch nicht geschafft – aber wir dürfen fest hoffen: Jesus wird uns nicht loslassen – so wie er z.B. auch Petrus nicht losgelassen hat. Er wird es nicht tun, weil er der Sohn Gottes ist, mit dem Gott selbst in unser Leben gekommen ist.

Amen.

 

Perikope
03.01.2016
5,11-13

Der gekrümmte Lichtstrahl - Predigt zu 1. Johannes 4,16-21 von Ulrich Kappes

Der gekrümmte Lichtstrahl - Predigt zu 1. Johannes 4,16-21 von Ulrich Kappes
4,16-21

Der gekrümmte Lichtstrahl

„Gott ist die Liebe …“, schreibt der Autor der Johannisbriefe. Seine Worte richteten sich an eine Gemeinde, die inmitten heftiger Auseinandersetzungen lebte. Die „Gnosis“ schickte sich an, mit ihrem Gedankengut die überlieferte Christusoffenbarung umzugestalten. Eine starke Betonung der Hinfälligkeit und Vergänglichkeit des Lebens gingen in ihr einher mit geradezu hymnischen Spekulationen über die unvergängliche Seele im Körper des Menschen. Wahres und Nachdenkenswertes vermischten sich in der Gnosis mit Falschem und Abwegigem. Die praktische Konsequenz war, dass die Gnostiker einerseits  unbeherrscht und ausschweifend lebten, da ja diese Welt zu nichts nütze sei. Andererseits steigerten sich in eine asketische Grundhaltung, die Welt und Leben verneinte. Dazwischen gab es zudem andere, „harmlosere“ Formen. Das war die Situation Ende des ersten, Anfang des zweiten Jahrhunderts nach Christus.

Im Johannesbrief heißt es in unverkennbarer Entgegensetzung zur „Gnosis“:  „Wir haben erkannt und wir sind fest überzeugt, dass Gott die Liebe ist“ und – das macht nun den Unterschied – wer immer liebt, der trägt Gottes Nähe in diese Welt Gottes. I1I Zwei Existenzweisen standen sich gegenüber: ‚Alles zwecklos. Man kann nichts machen, als sich aus diesem Leben zurückzuziehen’ oder ‚Liebe, praktische Liebe in und für diese Welt, ist unser Weg’. Darum sagt der Autor der Johannisbriefe in großer Deutlichkeit: „Wer seinen Bruder hasst (weil er ihm egal ist oder nur auf dem Weg zur eigenen Vollkommenheit im Weg steht), liebt nicht Gott.“

Von diesen Worten geht ein starker Impuls bis zu uns heute aus, ein Mensch der Liebe zu werden. Was aber heißt und bedeutet das? Wie ist es möglich, in einer Welt, in der jeder an sich selbst denkt, im Berufsleben gar nicht umhin kommt, sich zu schützen und partiell erst einmal an sich zu denken, „Liebe“, d. h. Nächstenliebe zu üben?
Gehen wir in dem Versuch, diese Frage zu beantworten, zunächst den Weg der Negation. D.h.: Ziehen wir gegenüber dem, was nicht in das Terrain des hohen Wortes „Liebe“ gehört, eine Grenze.
Seit den Schriften Nietzsches wissen wir in geradezu verletzender Klarheit, dass „Liebe“ keine Liebe ist, wenn ein Mensch „liebt“, weil das seinen Ruhm vermehrt. „Liebe“, die nach eigener Anerkennung schielt, ist ihr Gegenteil. Wer dem anderen beisteht und sich gleichzeitig auf seine Schultern klopft, macht den anderen nur zum Mittel zum Zweck. Wo Liebe dem Selbstruhm dient, ist es keine Liebe, sondern nur Missbrauch der Not des anderen.
Soweit eine erste, weite und grundlegende Terrainabsteckung.
Wir werden gleichzeitig als zweites, als Negation von dem, was Liebe ist, sagen, dass ein bisschen Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft nicht gleich „Liebe“ sind.
Ein Besuch bei einem Nachbarn oder an einem Krankenbett kann alle nur denkbaren Gründe haben. Auf das Kind der allein erziehenden Mutter von nebenan mal eine Zeit zu sehen, ist auch nicht gleich eine Liebestat. Zu einem Vereinsfest oder einer Veranstaltung der Gemeinde einen Kuchen zu backen oder einen Salat mitzubringen, bedarf nicht einer besonderen Motivation durch die Liebe.
Liebe ist mehr als ein bisschen Menschlichkeit, die nicht weh tut. - Soweit die notwendigen Abgrenzungen. Was aber ist „Liebe“?

Unser Text verankert die Liebe zum Mitmenschen in der Liebe, die von Gott ausgeht. Man kann sogar sagen, dass die menschliche Liebe, so man das große Wort gebraucht, nicht ohne Verankerung in Gottes Liebe zustande kommt. Ich würde das als die Hauptaussage des Textes ansehen, so allgemein das jetzt auch in unseren Ohren klingen mag.
Deshalb ist jetzt der Frage nachzugehen, wie es mit der Liebe ist, die von Gott ausgeht.

Mir hilft dabei ein Blick in die Physik. I2I
Albert Einstein stellte (in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie) 1915 die Hypothese auf, dass sich Licht nicht geradlinig im Weltall ausbreite, sondern durch die Masse eines Himmelskörpers in seinem Verlauf gekrümmt werde. Dazu ließ er den berühmten Einsteinturm in Potsdam bauen und untersuchte mit seinem Mitarbeiter Erwin Freundlich unentwegt das Sonnenlicht. Man hoffte in der Spektralanalyse eine Rotverschiebung und damit eine Krümmung des Sonnenlichtes nachzuweisen. Alle Beobachtungen schlugen fehl. Der Turm war in dieser Hinsicht umsonst gebaut.

Erst 1919 kam es bei der Beobachtung einer Sonnenfinsternis zum Nachweis. Der Mond stellte sich in einzigartiger Weise zwischen Erde und Sonne. Zwei Astrophysiker aus Cambridge, Arthur Stanley Eddington und Charles Davidson begaben sich an unterschiedliche Orte der Erde. Ihre Aufgabe war, heraus zu bekommen, ob am Tag der Sonnenfinsternis die Sterngruppe hinter der Sonne, die Hyaden, sichtbar werden oder nicht.  Zog die Masse der Sonne den Lichtstrahl, der hinter ihr stand, in ihr Krümmungsfeld und machte ihn dadurch sichtbar? Es war trotz widriger Umstände am 29.Mai 1919 so. Für eine Zeit lang riss die Wolkendecke auf und das Licht der Hyaden wurde sichtbar.
Nun war es keine Vermutung mehr, dass die Sonnenmasse das Licht krümmt. So kommt es zur Erde. Jeder Lichtstrahl unterliegt dieser Kraft der Sonne und ihrer Lenkung.

Zurück zu den Worten aus dem Johannesbrief!
„Gott ist die Liebe.“  Das ist das Wesentliche. Es ist der Hauptsatz über Gott. Gottes Energie, Gottes Kraft und alles, was von Gott ausgeht, unterliegen ihm wie das Licht, das von der Sonne ausgeht. Gott wendet all sein Tun unter die Liebe. Der Lichtstrahl, der von Gott ausgeht, ist von ihm, das heißt durch seine Liebe geprägt.  
Wie die Sonne in sich Erscheinungen birgt, die wir nicht verstehen, ja als Schaden für uns ansehen, Eruptionen von Energiemassen, Sonnengewitter, Sonnenwinde und – stürme,  so geht von Gott vieles aus, das wir nicht verstehen und das uns Schaden und Vernichtung bringt. Trotz dieser „dunklen Seite“ Gottes gilt, dass inmitten der vielen nicht nach vollziehbaren Taten Gottes das allem Übergeordnete seine Liebe ist. Der Autor der Johannesbriefe will, dass wir das sehen.
 
1782 malte einer der „hervorragendsten Berliner Künstler in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, I3I Christian Bernhard Rode, das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Es war ein Altarbild für die Marktkirche in Neuruppin, jetzt in der Hoffnungskirche zu Berlin-Pankow.

[Bild: http://www.hoffnungskirche-pankow.de/archiv/2013/jugendstil.html#c1159

und unten s. "Downloads"]

1783 wurde er auf königlichen Befehl Direktor der Akademie der Künste,  aber Friedrich II. ließ dennoch kein einziges Bild von ihm für seine Sammlung malen. Rode blieb im Schatten seines Lehrers Antoine Pesne, den Friedrich der Große bevorzugte. Er war der Übersehene und Übergangene.
Rode war sehr wohlhabend. Es gibt ca. 300 Bilder von ihm. Um so mehr war es ein tiefer Schmerz für ihn, dass seine Ehe kinderlos blieb. Gesund war er nicht und 1785 kam die schwere und unheilbare Krankheit zum Ausbruch, die ihn1797 sterben ließ. Wie muss er mit Gott gehadert haben?
1776 malte er ein Bild Abrahams, das Bild eines Vaters schlechthin. Sechs Jahre später, 1782, bekommt das Bild des „Vaters“ im Gleichnis vom verlorenen Sohn ähnliche Züge und unterscheidet sich doch um Welten von seinem ersten Vaterbild. Es erreicht nahezu die Höhe und Aussagekraft der Bilder Rembrandts.

Nach der Erzählung vom verlorenen Sohn ist Gott der, der mich aufgrund meiner Abirrungen und Verirrungen nie abschreibt.
Er kennt keine Vorurteile gegenüber meiner Person, die er nun in meinem Scheitern bestätigt sieht.
Er ist in Gedanken immer bei mir.
Er freut sich unbändig, wenn ich auf den guten Weg zurück gefunden habe.
Wenn mich keiner versteht und ich mich nicht verstehe, gibt es wie einen archimedischen Punkt seine ausgebreiteten Arme.
Das hat Christian Bernhard Rode in das Gesicht der Vatergestalt  projiziert. Nach allem, was wir von seinem Leben wissen, war es ein starkes Bekenntnis: ‚Ich, Christian Bernhard Rode, bekenne, dass Gott Liebe ist.’

Zwei Folgerungen zieht der Autor des 1. Johannesbriefes inmitten der gnostischen Kämpfe.
„Furcht ist nicht in der Liebe.“ Die „Liebe“ ist hier die Liebe Gottes. Karl Barth legt das darum so aus: Wer im Haus der Liebe Gottes bleibt, hat keine Furcht. I4I Geht ein Mensch immer wieder in das Haus der Liebe Gottes, dann wird ihm die Furcht ausgetrieben.
Der Eintritt in das „Haus Gottes“, die Bewusstmachung, wie stark ich geliebt werde, lässt die Furcht nicht zu.

Und dann natürlich das zweite: Wir betreten das „Haus der Liebe Gottes“ nicht allein deshalb, um uns aufrichten zu lassen. Das ist wohl wahr. Es ist aber nicht das einzige.
Es geht darum, sich sozusagen von Gottes Liebe abfärben zu lassen.
„Ich will keine Vorurteile hegen und pflegen.
Ich will niemanden abschreiben.
Ich will Geduld haben und warten.
Ich will vergeben und vergessen.
Ich will mich mit anderen über jedes gelungene Wegstück freuen.“

„Selig sind die Barmherzigen deswegen“, sagt Dietrich Bonhoeffer, „weil sie den Barmherzigen zum Vater haben.“ I5I

I1I „Die Doppelformel ‚erkennen’ und ‚glauben’ erklärt sich aus der inneren Verwandtschaft von Glauben und Erkennen einerseits und dem Kampf gegen die Gnosis andererseits.“ - Fritz Rienecker, Sprachlicher Schlüssel zum Neuen Testament, Gießen-Basel 1963, S. 602.
I2I Die Darstellung ist vergröbert. Eine genauere Schilderung des Hergangs ist im vorgegeben Rahmen nicht sinnvoll. Vgl. dazu u. a. Marianne Tölle, Geheimnisse des Unbekannten, 2007, S. 45 ff., Markolf H. Niemtz, Lucy im Licht, München 2007, S. 46 ff.
I3I Franz Weinitz, Rode, Christian Bernhard, in: Allgemeine Deutsche Biographie, hrsg. v. der Historischen Kommission der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, Band 29 (1989), S. 3-4, S. 3. Auch als digitale Version.
Vor allem: Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler, hrsg. v. Thieme, Becker, Vollmer, Leipzig o. J., 28. Band, S. 455.
I4I In: Karl Barth, Den Gefangenen Befreiung, Zürich 1963, Predigt über 1. Johannesbrief 4, 16-21.
I5I Zitiert nach Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine zum 27.5.2015, 285. Ausgabe, 2015.
 

Perikope
07.06.2015
4,16-21