"Du meine Seele singe, wohl auf und singe schön!" – Predigt zu Jeremia 20,7-11a von Frank Hiddemann

"Du meine Seele singe, wohl auf und singe schön!" – Predigt zu Jeremia 20,7-11a von Frank Hiddemann
20,7-11a

1. EIN GECOVERTER PSALM
"Du meine Seele singe, wohl auf und singe schön!"

Liebe Gemeinde,
so dichtete, nein sang Paul Gerhardt. Ein heiteres Lied, ein Psalmlied, ein "gecovertes" Lied, wie Jugendliche heute sagen. Das heißt: Ein Lied, das ein altes Lied wiederholt und zugleich neu singt, den Psalm 146. Schon Luther hat ihn nachgesungen. "Lobe den Herrn, meine Seele", hat er den hebräischen Text übersetzt. "Du meine Seele singe", jubiliert Paul Gerhardt, noch etwas intimer und vertrauter mit sich selbst und seiner Seele.

Auch unser Predigttext ist ein Lied. Aber ein dunkles Lied. Ein Liebeslied, das davon singt, wie abhängig der Liebende vom Geliebten ist. Ein Klagelied. Es singt der Prophet Jeremia. Bis eben hat er im Block gelegen. An Händen und Füßen stramm gefesselt. Als er wieder frei gelassen wird, hat er nichts Besseres zu tun als seinem Peiniger ein paar prophetische Sprüche entgegen zu werfen: "In der Verbannung wirst du sterben, Jerusalem wird zerstört samt Tempel,
wo du mich jetzt festgehalten hast. Spruch des Herrn."

Später ein Moment der Stille, der Mann spürt seine Wunden und redet wieder, diesmal zu Gott:
Du hast mich verführt Gott,
und ich ließ mich verführen.
Du hast mich gepackt und überwältigt.
Jeden Tag werde ich zum Gespött,
alle verlachen mich.
Ach, sooft ich rede,
muss ich rufen,
muss ich schreien:
"Gewalt und Misshandlung".
Ja, das Wort Gottes wurde mir täglich zu Spott und Hohn.
Dachte ich aber:
"Ich will nicht mehr an Gott denken
und nicht mehr im Namen Gottes reden,
dann brannte es in meinem Herzen wie Feuer,
es erfüllte mein Inneres ganz.
Ich versuchte, dies auszuhalten,
ich vermochte es aber nicht.
Ach, ich hörte das Gerede von Vielen:
"Grauen ringsum!
Verklagt ihn!
Wir wollen ihn verklagen!"
Selbst alle Menschen, die in Frieden mit mir verbunden sind,
warten gespannt auf meinen Sturz.
"Vielleicht lässt er sich verführen,
dann können wir ihn überwältigen
und uns an ihm rächen."
Aber Gott steht mir wie ein starker, kraftvoller Mann bei.
Deshalb werden die, die mich verfolgen,
straucheln und nichts erreichen.


2. WORTE DER OHNMACHT
Du hast mich verführt, gepackt und überwältigt. Dieser Mann redet wie eine Frau, die gegen ihren Willen zur Liebe gezwungen wird. Dieser Mann braucht die Worte der Ohnmacht, um seinem Leiden Ausdruck zu geben. Wenn er die Worte Gottes reden muss, die ihn überfallen, spuckt er sie aus und sogleich fallen alle über ihn her. Sie verletzen ihn, schließen ihn in den Block. Eigentlich sind es Gottes Worte. Ihn müssten sie verletzen. Aber er, Jeremia, steht für Gott ein, gegen seinen Willen. Er könnte zwar seinen Mund halten, aber dann beginnen die Worte in ihm drin zu brennen, als seien es glühende Kohlen. Er muss sie ausspucken, die schwelenden Worte in seinem Inneren und dann trifft ihn der Zorn von außen. Eine ausweglose Situation. Alles, was helfen kann, ist ein Lied.

Aus einem Jetzt, das nicht mehr ist als ein Schrei, aus dem ausweglosen Moment werden Verse und Strophen, wird ein Bild des Leidens. Aus dem Jetzt der Verzweiflung, wird eine Wegstrecke, ein Stück Leben, das dem Verstummen abgerungen ist.

3. IN DER KUTSCHE NACH MITTENWALDE
"Du meine Seele singe, wohl auf und singe schön!" - 1651. Paul Gerhardt sitzt in einer Kutsche nach Mittenwalde. Sein ganzer Hausstand ist interwegs. Ein Teil hinten auf der Kutsche in Kisten. Ein Teil rappelt voraus. Ein Teil folgt in einem Lastenfuhrwerk. Unterwegs sein mit allem. Das ist recht für einen Christenmenschen. Wir haben hier keine bleibende Statt. Paulus lächelt. Er wird tüchtig durchgeschüttelt. Die Straße ist gut. Mittenwalde liegt an der alten Heerstraße nach Dresden. Aber auch ein gute Straße schützt einen nicht vor den Stößen des Lebens. Seine erste Pfarrstelle wartet auf ihn in Mittenwalde. Einer seiner Vorgänger, der Propst Gallus Lutherus, wurde dort in seiner eigenen Kirche erschossen. Plündernde Soldaten drangen in die Kirche ein. Und der Pastor wollte den Gotteskasten nicht abgeben. Das Geld der Gemeinde war darin. Da traf ihn der Pistolenschuss. Die Dörfer am Rande der Straße tragen noch heute die Spuren des Krieges. Schwarze Gehöfte, einige Orte sind zu Wüstungen geworden. Sie ziehen an den Kutschenfenstern vorbei, Gras und Sträucher holen sich ihr Gelände zurück. Diese Ruinen sind nicht romantisch. Der große Krieg hat die Gegend zur Ader gelassen, ausgeblutet. Dazu die Pest. "Er weiß viel tausend Weisen, zu retten aus dem Tod", kommt Paulus Gerhardt in den Sinn. Eine Liedzeile, trotzig dem Schrecken des entvölkerten Landes entgegen gesetzt.

Die meisten Felden sind nicht bestellt. Es fehlen Hände und Werkzeuge. Und Gerhardt formuliert noch einmal gegen den Augenschein: "Er nährt und gibet Speisen, zur Zeit der Hungersnot, macht schöne rote Wangen oft bei geringem Mahl;" Woher soll denn sonst die Hilfe kommen? Wasser und Brot fallen ihm ein, ein geringes Mahl im Gefängnis. Die meisten sind über den Haufen geschossen worden. Glück hatte, wer im Gefängnis landete. "Und die da sind gefangen, die reißt er aus der Qual." Vielleicht ist "Du meine Seele singe, wohl auf und singe schön!" auf dieser Kutschfahrt entstanden. Zwei Jahre später wurde es in Crügers Gesangbuch veröffentlicht.

4. DIE STÖSSE DES LEBENS
In Mittenwalde hat Paul Gerhardt geheiratet. Er war fast 48 Jahre alt, als er sich 1655 mit der 32jährigen Anna Maria Berthold zusammen tat. Zwei Jahre später begrub er in der Kirche sein erstes Kind. "Wenig und böse ist die Zeit meines Lebens" steht auf der Grabtafel der kleinen Maria Elisabeth.
Du meine Seele, singe,
Wöhlauf, und singe schön
Dem, welchem alle Dinge
Zu Dienst und Willen stehn.
Ich will den Herren droben
Hier preisen auf der Erd,
Ich will ihn herzlich loben,
So lang ich leben werd.


Dieses Lob ist im Munde Paul Gerhardts nie verstummt. Nicht dass es ihm irgendwann besser gegangen wäre. Nicht dass er bis zum glücklichen Ende durchgehalten hätte. Seine Heiterkeit war nie eine Sache überwundener Trübsal. Sie sprosste zwischen den Steinen seines Leids. Sie holte sich stets ihr Gelände zurück. Denn seine Wurzeln gingen tief hinab in den Quellgrund unseres Trostes, Gott selbst.

Jeremia und Paul Gerhardt lebten in schweren Zeiten. Was ihnen zustieß, hätte andere zerbrochen. Überlebt haben sie auch mit Hilfe von Liedern, die ihrem Leid Ausdruck gaben. Manchmal schwangen sie sich sogar darüber hinaus.

5. IN LIEDERN LEBEN
Und es lässt sich heute noch in Liedern leben mit Gottesworten auf der Zunge und im Bauch. Mit drei Strophen aus Paul Gerhardt Liedern erinnere ich Sie an das kleine Einmaleins des Lebens in Liedern:

Erstens: Die Dinge unseres täglichen Lebens mögen uns wichtig erscheinen. Aber wer nur darauf achtet, wie er seine Siebensachen bei sich behält und seine Angelegenheiten regelt, der verstrickt sich leicht in Ihnen. Wenn Ihnen mal wieder alles bis zur Hutschnur geht, empfehle ich ihnen diese Strophe:
Ich bin ein Gast auf Erden
Und hab' hier keinen Stand;
Der Himmel soll mir werden,
Da ist mein Vaterland.
Hier reis' ich aus und abe;
Dort in der ew'gen Ruh'
Ist Gottes Gnadengabe,
Die schleußt all' Arbeit zu.


Zweitens: Wir bauen alle an unseren Nestern. Wenn es möglich ist, sehen wir auf das Gute in unserem Leben. Wenn wir beten und singen, ist es gut, auch die dunkle Hälfte des Lebens in den Blick zu nehmen und - beim Namen zu nennen. Eins der beliebtesten Kindergebete, das zur Nacht gesprochen wird, handelt vom Satan, der das Kindlein verschlingen will, und wo es Schutz davor findet.
Breit aus die Flügel beide,
O Jesu, meine Freude,
Und nimm dein Küchlein ein!
Will Satan mich verschlingen,
So laß die Englein singen:
Dies Kind soll unverletzet sein!


Drittens: Wir leben unser Leben, wo schon andere gelebt haben. Wir leben in ihrer Spur, singen ihre Strophen, holen ihre Worte hervor, wenn unsere Leben schwer wird. Gott ist ein Mensch geworden. Und was auch immer uns begegnet, er hat es auch erlebt oder gedacht oder gespürt. Oder erlitten.
Ich hang' und bleib' auch hangen
An Christo als ein Glied;
Wo mein Haupt durch ist gangen,
Da nimmt er mich auch mit.
Er reißet durch den Tod,
Durch Welt, durch Sünd' und Not,
Er reißet durch die Höll',
Ich bin stets sein Gesell.


Und der Friede Gottes, der höher ist, als all unsere Vernunft, bewahre euere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen

Perikope
24.03.2019
20,7-11a

…und dennoch – Predigt zu Jeremia 20,7-11a von Berenike Brehm

…und dennoch – Predigt zu Jeremia 20,7-11a von Berenike Brehm
20,7-11a

I Ich kann nicht mehr. Ich mag nicht mehr. Katerstimmung in der Kirche. Die Jugend bleibt aus, die Pfarrstellen werden weniger. Man sieht so wenig von dem, was man investiert. Die Kirche scheint auf dem absteigenden Ast zu sein. Ermüdung macht sich breit. Und mit ihr kommen diese Fragen: Warum mache ich das Ganze überhaupt? Bringt das eigentlich noch was? Ich kann nicht mehr. Ich mag nicht mehr. Katerstimmung auch in ganz anderen Bereichen. Alles wächst einem über den Kopf. Zeit und Kraft gehen einem aus. So viel hat man gegeben: Ist für pflegebedürfte Angehörige dagewesen. Tag für Tag. Oder hat sich für ein politisches Ziel eingesetzt. Und man fragt sich: Wie lange kann, ja, wie lange will ich das noch?Ich kann nicht mehr. Ich mag nicht mehr. Vielleicht sagst du das. Vielleicht sage ich das. Vielleicht sagen Sie das. Der Prophet Jeremia hat es gesagt. Ganz laut. Und: Er hat es zu Gott gesagt. Ich kann nicht mehr. Ich mag nicht mehr. Katerstimmung beim Propheten Jeremia.

II Wir hören den heutigen Predigttext aus dem Buch Jeremia,

Kapitel 20,7-11a:

Herr, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. Denn sooft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss ich rufen. Denn des Herrn Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. Da dachte ich: Ich will seiner nicht mehr gedenken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, verschlossen in meinen Gebeinen. Ich mühte mich, es zu ertragen, aber konnte es nicht. Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und um!« »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.« Aber der Herr ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen.

III Jeremia kann und mag nicht mehr. Schon vier laute Klagen hat Jeremia deswegen zum Himmel geschickt. Jetzt klagt er zum fünften Mal. Denn Jeremia hadert mit seinem Auftrag. Nie wollte er Prophet werden. Doch dann hat Gott ihn einfach losgeschickt. Jeremia hat sich zwar gewehrt, aber es kam, wie Gott es wollte.

Und jetzt klagt Jeremia. Klar und laut. Jetzt klagt Jeremia Gott an. Ganz direkt und persönlich. Er wirft ihm vor, dass er ihm keine Wahl gelassen hat, dass er ständig den Buhmann spielen und den Finger in die Wunde legen muss. Und als ob das noch nicht genug wäre: Durch sein Predigen ändert sich noch nicht mal etwas. Im Gegenteil: Die anderen verschwören sich gegen ihn.

Jeremia ist wütend und frustriert. Doch diese ganze Wut und Enttäuschung frisst er nicht in sich hinein. Er schleudert sie Gott entgegen. Man kann sagen: Welche Frechheit! Was nimmt Jeremia sich da eigentlich raus? Und man kann sagen: Welch Vertrauen! Wie kommt es, dass Jeremia trotz allem Zweifel bei Gott bleibt?

Weil da dieses Feuer in mir ist, sagt Jeremia. Deshalb mache ich weiter. Trotz und inmitten allen Klagens. Denn da ist diese Leidenschaft in mir. Diese Leidenschaft, die mich antreibt, und die meinen eigenen Klagen ins Wort fällt. Die mich ermutigt, mich inmitten aller Widrigkeiten zu Gott zu bekennen. Die mir in aller Mutlosigkeit ein „und dennoch“ abringt. Deswegen mache ich dennoch weiter.

IV Jeremia zeigt eindrücklich: Glauben heißt „und dennoch“ sagen. Dennoch bleiben, dennoch weitermachen. Mit Gott leben bedeutet nicht, mit einem Bein schon im Paradies stehen. Oder: Alles wird besser und einfacher, wenn man glaubt. Nein, mit Gott leben bedeutet, mit beiden Beinen in dieser Welt stehen. Glauben bedeutet, dass manches auch schwerer wird. Denn an all den Ungerechtigkeiten dieser Welt leiden Glaubende doppelt. Zum einen daran, dass es sie überhaupt gibt. Zum anderen daran, dass es sie in einer von Gott geliebten Welt gibt, dass Gott sie zulässt.

Glaube ist was für die, die immer glücklich sein wollen, sagen manche Heilsversprechen. Wer nur genug glaubt, dessen Probleme lösen sich in Luft auf – das hört man immer wieder. Doch ich muss euch und Sie mit Jeremia enttäuschen: Glaube ist etwas für die, die es aushalten, dass Gott, nicht alles so wendet, wie wir wollen. Denn an Jesus Christus glauben, heißt an den glauben, der wünschte, dass der Kelch an ihm vorrübergeht, und der dennoch nicht verschont wurde. Der durch Leid und Tod gegangen ist. Der es überwunden hat, ja, aber der es zuvor aushalten musste.

Andere sagen: Glauben ist etwas für die, die etwas zum Festhalten brauchen. Damit ihr Leben leichter zu ertragen wird. Glaube ist was für die Schwachen, sagte etwa Friedrich Nietzsche. Und ich sage mit Jeremia: Glauben ist etwas für die Starken. Für die, die die Spannungen aushalten. Für die, die nicht aufgeben. Für die, die trotz allem bei Gott bleiben. Glaube ist Opium für das Volk, sagte etwa Karl Marx. Und ich sage mit Jeremia: Glaube ist wie ein High-Energy-Drink. Er lässt uns hellwach werden. Er lässt uns unermüdlich arbeiten. Er lässt uns sich einsetzen. Dafür, dass sich etwas ändert in der Welt.

V Dennoch bleiben. Bei Gott. Ihm das eigene Leben hinhalten. Das bedeutet Glauben. Diese Fragen aushalten lernen: Wenn Gott die Welt geschaffen hat - Warum dann so fehleranfällig? Wenn Gott uns so sehr liebt - Wieso müssen wir dann Leid erfahren? Mit diesen Fragen Gott gehen, das bedeutet Glauben für Jeremia. Nicht fliehen, sondern mit Gott ringen. Ihm all die Verzweiflung hinhalten, und auch die Wut und die Trauer. All die dunklen Gefühle. All das, was nicht auszuhalten ist.

Und dennoch bleiben. Bei Gott. Und in der Welt. Ihm das eigene Leben hinhalten – und: das eigene Leben einsetzen. Weil da dieses Feuer in einem brennt. Weil die Wahrheit nicht schweigen lässt. Und für sie auch Anfeindungen aushalten. Anfeindungen, die unweigerlich entbrennen, wenn wir unbequeme Wahrheiten aussprechen. Das bedeutet Glauben für Jeremia. Sich dennoch einsetzen. Auch auf die Gefahr hin Spott und Hohn aushalten zu müssen. So wie Greta Thunberg, die derbe Hasskommentare unter ihren Posts lesen muss. So wie all die Jugendlichen, die jeden Freitag auf die Straße gehen, und denen so viel Hochmut von Politikern entgegengebracht wird.

Denn Glauben heißt „und dennoch“ sagen. Dennoch nicht von Gott lassen. Dennoch sich engagieren. Trotz Katerstimmung. Weil Gott mich nicht loslässt. Dieser Gott, der stärker ist als alle Mutlosigkeit und Kraftlosigkeit. Stärker als alle Anfeindungen und Gefahren. Und erst recht stärker als schwindende Mitgliederzahlen oder Pfarrpläne. In diesem Vertrauen „und dennoch“ sprechen, inmitten der Klage Gott bekennen – das ist Glaube. Amen.

Es folgt das apostolische Glaubensbekenntnis

Perikope
24.03.2019
20,7-11a

Baut Häuser, pflanzt Gärten! – Predigt zu Jer 29,1.4-7.10-14 von Barbara Eberhardt

Baut Häuser, pflanzt Gärten! – Predigt zu Jer 29,1.4-7.10-14 von Barbara Eberhardt
29,1.4-7.10-14

Lena fühlt sich, als hätte sie ihre Heimat verloren. Jahrelang ist sie Konfi-Teamerin gewesen. Das hat riesig Spaß gemacht. Zu überlegen, wie sie Jüngeren die Kirche nahebringen konnte. Den Glauben an Gott und an Jesus und an die Gemeinschaft. Das Schönste waren immer die Gottesdienste gewesen, die sie gemeinsam vorbereitet hatten. Moderne Lieder und jeder, auch noch der schüchternste Konfi, hat etwas dazu beigetragen. Wundervoll war das. Und irgendwann war es vorbei. Die anderen aus ihrem Team sind zum Studium weggezogen oder hatten keine Zeit mehr. Neue Konfi-Teamer waren nachgerückt, viel jünger als sie. Sie war nicht mehr am richtigen Platz. Das spürte sie. Und verabschiedete sich aus dem Konfi-Team. Ein paar Mal hat sie es mit dem normalen Sonntagsvormittagsgottesdienst versucht. Aber das war nicht ihr Ding. Einfach in der Kirchenbank sitzen, alte Kirchenchoräle singen. Sollte sie einfach gehen, aus der Kirche austreten wie so viele andere in ihrem Alter? Nein, so war sie nicht. Sie war schon immer eine, die etwas schaffen wollte. Die Kirche mitgestalten. Ihren Glauben leben. Gemeinsam mit anderen. Also hat sie sich als Kandidatin für den Kirchenvorstand aufstellen lassen. Vielleicht, so hofft sie, kann sie ja wieder eine Heimat finden. Und anderen eine Heimat geben.

Lena geht auf den Dachboden. Dort steht die alte Kiste, die ihre Mutter ins Altpapier geben will. Sie hat es nie leiden können, Sachen einfach wegzuwerfen. Wie eine Löwin hat sie als Kind um ihre alten Schulhefte gekämpft und sie vor der Mülltonne bewahrt, hat eins nach dem anderen durchgeblättert und sorgfältig aussortiert.
Und jetzt diese Kiste, die Jahrzehnte vor sich hin gestanden hat. Lena sitzt davor und macht sie auf. Eine Ansichtskarte aus Lloret de Mar aus den 80ern. Eine von der Insel Mainau, auf der säuberlich das Datum geschrieben ist: 16. April 1962. Zeitungsausschnitte aus dem Lokalteil. Todesanzeigen von Menschen, die sie nicht kennt. Ein Album mit weiteren Ansichtskarten. Sie will es schon weglegen, da fällt ein Brief heraus.
Liebste Inge, steht da mit zittriger Handschrift. Wie geht es euch? Hoffe, ihr seid wohlbehalten. Denke oft an dich und die Kinder. Wie groß sie wohl schon sind?! Mir geht es gut, werde aber vorläufig nicht kommen können. Wenn Du kannst, schick mir warme Unterhosen und einen Mantel. Gebt auf Euch acht! Baut Häuser und pflanzt Gärten! Gott schütze Euch! In Liebe, Dein Karl
Sie dreht den Brief vorsichtig um. Worte in kyrillischer Schrift. Adresse und Absender in Schreibschrift. Das muss ein Brief ihres Urgroßvaters aus russischer Kriegsgefangenschaft sein. Sie weiß, dass ihre Urgroßmutter mit den Kindern aus Schlesien geflohen ist, während ihr Mann in Gefangenschaft war. Aber: Baut Häuser und pflanzt Gärten? Dazu wären sie doch damals nie in der Lage gewesen. Sie muss ihre Mutter fragen.

73 Jahre ist es jetzt her, dass der Zweite Weltkrieg geendet hat. Gott sei Dank! Denn damit war dem Morden des Nazireiches ein Ende gesetzt. Das Leiden war allerdings nicht vorbei gewesen. Schwer traumatisierte Menschen, die alles verloren hatten. Männer in Kriegsgefangenschaft. Flüchtlinge. Allein in Westdeutschland waren es zehn Millionen. Sie wurden untergebracht in Baracken, auf Bauernhöfen, in Privatwohnungen. Und was ihnen entgegenschlug, war oft keine Willkommenskultur, sondern Ablehnung. Sie waren zu viele, sie waren fremd. Aber im Lauf der Jahre haben viele von ihnen Erstaunliches geleistet. Sie bauten Häuser, pflanzten Gärten, gingen in die Gottesdienste im Ort und engagierten sich in Vereinen. Manchen von ihnen hat ihr Glaube geholfen. Abends, wenn die Arme und Beine schwer waren von der Arbeit, blätterten sie in ihren abgewetzten Bibeln und Gebetsbüchern und fanden Trost in den Worten.

Mit dem alten Brief in der Hand geht Lena nach unten. Ihre Mutter schnippelt gerade Gemüse für das Abendessen. „Was bedeutet: Baut Häuser, pflanzt Gärten!“, fragt Lena. Ihre Mutter lacht. „Woher hast du denn das her?“ „Ich habe einen Brief gefunden“, sagt Lena, „von meinem Uropa aus der Kriegsgefangenschaft. Er schreibt: Baut Häuser, pflanzt Gärten!“ „Also“, sagt Lenas Mutter. „Das war so eine Redewendung bei uns. Immer wenn wir konstruktiv denken sollten, hieß es: Baut Häuser, pflanzt Gärten!“ „Konstruktiv denken?“ „Na ja, zum Beispiel als die Uhrenfabrik geschlossen wurde. Meine Eltern haben ja beide dort gearbeitet. Plötzlich waren sie arbeitslos und sie hatten noch Schulden. Da waren sie völlig fertig, als sie das erfahren haben. Keiner wollte was sagen beim Abendessen, sogar wir Kinder waren still. Und schließlich sagte mein Vater: Baut Häuser, pflanzt Gärten! Da mussten wir alle lachen, haben zusammen abgespült, und danach haben meine Eltern die Stellenanzeigen in der Zeitung durchgesehen. Oder damals, als die Schnellstraße durch unseren Ort gebaut werden sollte. Da hieß es wieder: Baut Häuser, pflanzt Gärten! Dann haben sie sich mit Nachbarn zusammengetan und eine Bürgerinitiative gegründet. Sie haben es geschafft, dass die Schnellstraße außenrum gebaut wurde. Woher sie das Baut-Häuser-pflanzt-Gärten haben, weiß ich allerdings nicht.“ „Es ist schön“, sagte Lena.

Der 21. Oktober ist Kirchenvorstandswahltag. Lena geht in den Gottesdienst. Warum weiß sie selbst nicht. Vielleicht um noch etwas Segen zu bekommen für die Wahl. Sie will wirklich gern im Kirchenvorstand mitarbeiten. Häuser bauen, Gärten pflanzen. Etwas voranbringen. Konstruktiv sein. Die Lieder im Gottesdienst sind nicht ganz so schlimm, wie sie es in Erinnerung hat. Eines gefällt ihr sogar richtig gut. Die Pfarrerin erzählt etwas von einem Brief, den der Prophet Jeremia in die Fremde geschrieben hat. Wie der Brief von meinem Uropa, denkt Lena. Und hört die Worte:

Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte. So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels, zu allen Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum Herrn; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's euch auch wohl. Denn so spricht der Herr: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe. Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung. Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören. Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der Herr, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.

Amen.

Perikope
21.10.2018
29,1.4-7.10-14

Babylon Berlin – Predigt zu Jeremia 29,1.4-7.10-14 von Jürgen Kaiser

Babylon Berlin – Predigt zu Jeremia 29,1.4-7.10-14 von Jürgen Kaiser
29,1.4-7.10-14

Babylon Berlin

Verbrechen und Verschwörung, Korruption und Spionage, Sex und Drogen, Politik und Liebe. Die Serie, liebe Gemeinde, hat alles, was gute Unterhaltung braucht. Sie ist ein Krimi. Sie ist ein Agententhriller. Sie ist eine Liebesgeschichte. Und sie hat historisches Kolorit. Gereon Rath arbeiten bei der Mordkommission. Trotzkisten stehlen einen Zug voller Gold, der sich als Zug voller Giftgas entpuppt. Charlotte Ritter arbeitet tags bei der Polizei und nachts im Moka Efti, einem Nachtclub, den gab es wirklich. Kommunisten verprügeln Nazis, Nazis verhauen Kommunisten und die Polizei knüppelt alle. Berlin im Jahr 1929. Berlin ist Babylon.

Babylon Berlin 2018

Babylon heißen in Berlin zwei alte Kinos und ein versifftes Shisha-Café. In Berlin begnügen sich arabische Großclans nicht mehr damit, Autos zu klauen. Sie rauben Banken aus und stehlen riesige Goldmünzen aus dem Museum. In Berlin gibt es 26 Clubs, viele öffnen erst um 23 Uhr. Im KitKat-Club, für seine Fetischpartys bekannt, hat sich vor drei Wochen einer eine Hirnhautentzündung eingefangen.

Und ich sah eine Frau auf einem scharlachroten Tier sitzen, das war voll lästerlicher Namen und hatte sieben Häupter und zehn Hörner. Und die Frau war bekleidet mit Purpur und Scharlach und geschmückt mit Gold und Edelsteinen und Perlen und hatte in ihrer Hand einen goldenen Becher, voll von Gräueln, und die Unreinheit ihrer Hurerei, und auf ihrer Stirn war geschrieben ein Name, ein Geheimnis: Das Große Babylon, die Mutter der Hurer und aller Gräuel auf Erden. (Offb 17,3-5)

Was hier zu sehen ist, ist keine Fetisch-Nacht im KitKat-Club, sondern eine Vision des Johannes.

Babel und Bibel

Am Anfang, in der Mitte und am Ende kommt Babylon in der Bibel vor. Am Ende, in der Offenbarung, ist Babylon die große Hure. Als Johannes seine Träume aufschrieb, war Babylon längst ein Trümmerhaufen. Man vermutet, dass der Seher Rom meinte, aber nicht laut zu träumen wagte.

Und ich sah einen andern Engel fliegen mitten durch den Himmel, der hatte ein ewiges Evangelium zu verkündigen denen, die auf Erden wohnen, allen Nationen und Stämmen und Sprachen und Völkern. Und er sprach mit großer Stimme: Fürchtet Gott und gebt ihm die Ehre; denn die Stunde seines Gerichts ist gekommen! … Und ein zweiter Engel folgte, der sprach: Sie ist gefallen, sie ist gefallen, Babylon, die Große; denn sie hat mit dem Zorneswein ihrer Hurerei getränkt alle Völker. (Offb 14,6-8)

Am Ende der Bibel ist Babylon gefallen. Am Ende der Zeit wird es keine Weltreiche mehr geben. Schon am Anfang der Bibel steht Babel programmatisch für ein totalitäres Imperium. Der Turm wird zum Symbol menschlicher Hybris. Hoch in den Himmel steigen und wie Gott sein wollen, sich einen Namen machen. Das Mittel, durch das die babylonischen Menschen zur Allmacht greifen, ist die Konformität. Die ethnische Einheitlichkeit, die Einheitlichkeit der Sprache, die Einheitlichkeit der Kultur, die Einheitlichkeit der Religion dienen der Kontrolle und der Machtpotenzierung. Von Anfang an verkörpert Babylon nicht nur die Lasterhaftigkeit, sondern auch den Faschismus: das Übermenschentum durch Totalitarismus und Konformität, durch Ausgrenzung und Vernichtung alles Divergierenden.
Das alles wird nicht erzählt, ist aber als Idee in den Raum gestellt und theologisch von Anfang an verworfen, indem erzählt wird, dass Gott ihre Sprache verwirrt und sie zerstreut, weil ihnen andernfalls nichts mehr unmöglich sei. (1. Mose 11,6-8)

In der Mitte der Bibel erscheint das historische Babylon. Es eroberte Jerusalem, zerstörte den Tempel und verschleppte seine Oberschicht nach Babylon.

Jerusalem Babylon

Babylon wurde zur großen Gegenspielerin Jerusalems. In Jerusalem wohnt Gott, in Babylon die Gottlosigkeit. In Jerusalem wohnen die Heiligen, in Babylon die Huren. Jerusalem hat einen Tempel, Babylon hat einen Turm.

Doch gemessen an der allenthalben aufzuspürenden Verteufelung Babylons steht in der Mitte der Bibel ein erstaunliches historisches Dokument: der Brief eines Propheten mit unerwarteten Tönen:
Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte – …So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels, zu allen Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum Herrn; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's euch auch wohl.… Denn so spricht der Herr: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe. Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung. Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören. Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der Herr, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen. (Jer 29,1.4-7.10-14)

Babylon in Berlin

Viele besuchen Berlin. Die einen schlafen am Tag und tanzen in der Nacht in den Clubs. Die anderen schlafen in der Nacht und gehen am Tag ins Pergamonmuseum. Dort zieht man mitten in Berlin nach Babylon ein - durch das blaue Ischtar-Tor mit den Stieren und Drachen, den Göttern Adad und Marduk, dann die Prozessionsstraße entlang mit den Löwen.
Gut möglich, dass die Juden aus Jerusalem die gleiche Strecke entlanggezogen waren, als man sie nach Babylon gebracht hat.

Jerusalem in Babylon

Und dann waren sie da, in der großen Stadt mit den vielen Göttern, mit den prächtigen Straßen, mit den blauen Ziegeln und den hängenden Gärten, mit den vielen Sprachen und den vielen Völkern. Eine Stadt, die ihnen fremd war. Eine Stadt mit einer ungeheueren Vielfalt. Eine Stadt, in der sie ihren Platz finden mussten.
Aber zu begreifen, dass die Vielfalt von ihrem Gott, vom Gott Israels, so geschaffen wurde, damit auch sie ihren Platz in der fremden Stadt finden konnten, das war eine weitreichende, eine prophetische Einsicht.
Sie sollen sich einleben in dieser Stadt Babylon. Die Stadt ihrer Feinde soll ihre Stadt werden. Sie sollen ihr Bestes suchen. Das taten sie. Sie bauten Häuser, sie pflanzten Gärten, sie bekamen Kinder und Enkel und die Einwandererkinder begannen, sich mit den Babyloniern zu verheiraten. Sie konnten ihren Glauben behalten, sie konnten ihren Gott anbeten. In Babylon liegt vermutlich der Ursprung der Synagoge. Sie konnten Juden bleiben. Und haben sich als solche integriert.
Freilich geht so was nicht von einem auf den andern Tag. Selbstverständlich hatte sie Heimweh und sangen traurige Lieder:

An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Unsere Harfen hängten wir an die Weiden im Lande. Denn dort hießen uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserm Heulen fröhlich sein: »Singet uns ein Lied von Zion!« (Ps 137,1-3)

Sie hatten auch Rachegedanken: Tochter Babel, du Verwüsterin, wohl dem, der dir vergilt, was du uns getan hast! Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert! (Ps 137,8-9)

Aber sie packten ihr Weh und Ach in ihre Lieder. Sie zerschmetterten nicht die Kinder der Einheimischen am Felsen. Stattdessen suchten sie der Stadt Bestes. Sie lernten Babylonisch, sie machten Karriere, stiegen auf im Militär, in der Wirtschaft und bei Hof. Ab dieser Zeit tauchen in babylonischen Quellen hebräische Namen auf.

Gott in Babylon

Dreimal Babylon: Das Babylon des Turms, der Hybris, der Macht, des Totalitarismus. Dann das Babylon als Hure, die Stadt der Ausschweifungen, der Gier und der Zügellosigkeit. Und das Babylon des Exils, die Stadt, in der alle leben können. Eine Stadt mit vielen Völkern, Sprachen, Kulturen und Religionen. Eine Stadt, in die die Juden nicht freiwillig kamen, aber mit der sie sich doch anfreunden konnten.
Nach 70 Jahren änderte sich die Situation. Babylon wurde vom Perser Kyros erobert. Die Juden durften nach Hause. Einige gingen zurück, andere blieben da. Man kann dem eigenen Gott auch in der Fremde dienen. Denn er ist nicht dort, wo sein Tempel ist, sondern dort, wo sein Name genannt wird.

Babylon Berlin am 13. Oktober 2018

Ein riesiger Zug bewegt sich nach Westen durch die große Stadt, ungefähr vom Ischtar-Tor zum Brandenburger Tor. Eine viertel Million Menschen aus vielen Nationen und Völkern, aus vielen Sprachen und Kulturen, aus vielen Religionen und Anschauungen. Bürger und Politiker, Heilige und Huren, Christen aus Berlin und Atheisten aus Berlin, auch Muslime aus dem Irak, auch Juden aus Jerusalem, alle vereint hinter dem Wort „unteilbar“.
Eine Stadt, die ihre Vielfalt anerkennt, ist unteilbar. Das gilt für Babylon, das gilt für Berlin, das gilt für Jerusalem, das gilt für jede Stadt. Suchet der Stadt Bestes, und betet für sie zum Herrn; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's euch auch wohl.
Amen.

Perikope
21.10.2018
29,1.4-7.10-14

Wechselnde Zeiten - Predigt zu Jeremia 1,4-9 von Matthias Storck

Wechselnde Zeiten - Predigt zu Jeremia 1,4-9 von Matthias Storck
1,4-9

Und des HERRN Wort geschah zu mir: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete,  und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest,  und bestellte dich zum Propheten für die Völker.  Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.  Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR.  Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund.

 

Wechselnde Zeiten

„Kein Wort ist nur das, was das Wörterbuch ihm zuschreibt. Jedes Wort enthält auch die Person, die es ausspricht, die Situation, in der sie es ausspricht und den Grund, warum sie es ausspricht.“ (Vaclav Havel)

Es gibt Worte, die es vermögen, die lärmende Welt für Augenblicke zum Schweigen zu bringen. Ein solches Wort ist das Zwiegespräch zwischen Gott und seinem Propheten Jeremia, einer der innigsten und eindringlichsten Texte der Bibel.

 

Der Himmel hält still

 

Als Kind bin ich gern aus dem dunklen Hausflur unter den freien Himmel gelaufen. Dann sah ich einen Moment lang nichts. Es brauchte Zeit, bis die Augen sich wieder an das Licht gewöhnt hatten. So kam das Dunkel jedes Mal mit über die Schwelle und brachte die ganze Welt aus dem Trott. Nur der Himmel hielt still.

 

Die trotzige Gewissheit, dass Gottes Welt sich mit innigen Gebeten und kleinen Übungen hinters Licht führen ließ, trieb freudige Blüten im kindlichen Gemüt. Dem ehrwürdigen Pfarrhaus am Nordrand von Berlin wuchsen im Sommer Klatschmohn und Stockrosen ins Fenster. Der Himmel türmte Wolkenberge in die platte Landschaft. Der Herbst polterte mit Erntewagen übers Kopfsteinpflaster und fegte in der Abenddämmerung Laub in die Kartoffelfeuer. Der Winter malte zarte Eisblumen an die Fenster, bis auf der Friedhofswiese mit tausend gelben Glocken der Ostertag herbei geläutet wurde. Zwischen Blumenbeeten und ehrwürdigen Linden, auf Streuobstwiesen und Kuhweiden habe ich immer von neuem die leuchtende Partitur des lieben Gottes auswendig gelernt. Ehe das erste Gebet über meine Lippen kam, war die Welt schon voll von Gott. Ich brauchte jedes dieser Bilder, denn Gott schwieg.

Er ließ mich - in Ruhe.

 

V.5: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete…  Ganz anders erging es dem Kind aus gutem Hause, dem Priestersohn aus Anatot. Zwar dürfte das Licht des Glaubens ihm kaum anders in die Kindheit geschienen haben. Auch sein Himmel hielt sicher still. Aber Gott ließ ihn keinen Augenblick in Ruhe.

Zur kargen Überlieferung gesellt sich viel Vermutung.   Als der künftige Prophet geboren wurde, war die große Welt in Unruhe, sie „ordnete“ sich neu, auf Kosten der kleinen Leute.

„Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne / Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt /. Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne / Es wechseln die Zeiten, / da hilft kein Gewalt“, dichtet Bertolt Brecht zeitlos. Ob Assur, Ägypten oder Babylon. Die Weltgeschichte legt keine Pause ein. Nur der Himmel hielt still. Die Menschen sind sich gleich geblieben, wenig mehr als zweieinhalbtausend Jahre wurden dazwischen gezählt.

 

Sonntagsübung

 

Worte und Bilder bewegen und helfen glauben, Menschen erst recht. Am liebsten lernte ich Menschen auswendig, denn ich wollte sie behalten. Ich merkte mir Gesicht und Stimme, Schritt und Schatten, Lachen und Leidenschaft. Manche erfasste ich nur flüchtig in einem Augenblick, andere lernte ich langsam und beständig, mit Herz und Gemüt und Haut und Haaren. Seltsam genau wie ein gutes Gedicht. Manchmal lernte ich übers Ziel hinaus. Einen Konfirmanden mitsamt der Kirchenbank, auf der er saß, einen Posaunenbläser mit der Oberstimme, die er spielte. Die Tochter des Küsters mitsamt dem Mittagsgeläut am Sonntag um zwölf vor einer weißen Hauswand. Während der Gottesdienste, die ich als Pfarrerskind jeden Sonntag besuchen musste, lernte ich die Besucher auswendig. Das ging schnell, denn die saßen alle brav und still in den Bänken wie Modelle im Atelier. Die Seele ist ein guter Fotograf, und diese Übung schärfte mir auf ihre Weise den „Sinn und Geschmack für das Unendliche“(Schleiermacher).

 

„Für immer jung“

 

V.6: Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. Auch mit Gott gleichzeitig zu bleiben ist Übungssache. Diese Wahrheit lernte ich von Bob Dylan. Seine ewig junge Liedzeile buchstabiere ich mir zurecht, wenn ich sie brauche. Meine Menschen von damals leben alle noch. Sie sind zuverlässig und sofort zur Stelle, wenn ich sie suche. Und sie bleiben. Der alte Küster und die fröhliche Organistin, der Chorleiter und der Gastwirt, die Klassenlehrerin und selbst der Bürgermeister. Scharf gezeichnet, bis in die Bewegungen.

V.7: Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete.

Wie anders erging es dem Priesterkind aus Anatoth. Keine Erinnerung, kein Bild, kein Gesicht vermochte ihm beizustimmen oder beizustehen. Gott hat sich in sein Leben hineingeredet.  Seither hat der zum Propheten berufene Jüngling seine beste Zeit damit verbracht, die Hoffnung der Menschen aus Buchstaben und Steinen in lebendige Herzen zu retten. Dafür ist er immer wieder verspottet, beleidigt, gequält und eingesperrt worden. Hätte er besser in den Chor der Hofpropheten eingestimmt?

Den drohenden Mächten und Gewalten der Welt kann niemand auf Dauer ein Schnippchen schlagen.  Es wechseln die Zeiten. Aber die göttlichen Verheißungen sind zeitlos.  Und sie bleiben menschlich. „Seid ihr nicht selbst Fremdlinge gewesen?“ Dann wisst ihr, was zu tun ist. Die Erinnerung wird euch wecken. Geht es den Fremden gut, wird es auch dem Volk gut gehen, das sie beherbergt. „Bessert euer Leben, dann will ich bei euch wohnen“ (Kap. 7,3). Dass der große Gott unter kleinen Leuten in seinem Volk „herbergen“ will, ist und bleibt ein unfassbares Wunder. Wie gibt sich der himmlische Fremdling seinen irdischen Geschwistern zu erkennen? Auch darauf weiß der Prophet eine Antwort.

„Ich werde ihnen ein erkennendes Herz geben“, heißt es an anderer Stelle (Kap.24,7). Das menschliche Herz schlägt die Augen auf und kommt an Gottes Liebe nicht vorbei. Wenn diese Liebe die Menschen erfasst, geht sie in der Liebe zum Nächsten auf. „Wer dem leidenden Geschöpf beisteht, steht dem Schöpfer selbst bei“, sagt Martin Buber. Wer Gott von ganzem Herzen sucht, muss unweigerlich auf Menschen treffen.

 

Wort für Wort

 

V.8: Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR. V.9: Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund.

Die Wahrheit haust nicht in toten Buchstaben.  Sie hat nun einen Namen, der für sie bürgt: Jeremia - in Gott gegründet. Das Wort Gottes wird im Mund des Propheten wahr: ein göttliches Geschehen, es wird Geschichte.  Gottesbegegnungen gibt es nicht zweiter Hand. Gott lässt sich nur Wort für Wort aus der Alltagswelt heraus buchstabieren, immer von neuem. Wer ihn entdeckt, muss ihn zur Sprache bringen - und wird beim Wort genommen. Dabei geht es um die eigene Anschauung, die eigene Freude, den eigenen Ton - nicht zuletzt auch um das eigene Gesicht.  Noch deutlicher sagt es Martin Luther:

„Der Mensch und das Wort Gottes, sie können nicht einander gegenüber stehen. Das eine verwandelt das andere ständig in sich. Entweder der Mensch verwandelt Gott und sein Wort in seine Welt und seine Art. Oder umgekehrt: Gott verwandelt uns in sein Wort.“  Wir werden seine Boten. Aber Wort bleibt Wort und Welt bleibt Welt.

Gottes Sehnsucht

„Du schöpfst die Verheißung nicht aus.“

Jeremia versucht unermüdlich, seine Zuhörer aus der vermeintlichen Geborgenheit und Sicherheit ihrer Gebete aufzuschrecken. Er kennt den Preis jedes Wortes. Nichts von dem, was er sagt, ist zweiter Hand, alles kommt aus dem von Gott entfachten Herzen. Der Prophet will das Wort und die Menschen losreißen von den Trutzmauern falscher Gewissheit und sie vorbereiten auf den drohenden Aufbruch in eine ungewisse, ungesicherte Zukunft. Gott muss mitkommen können. Er selbst muss durchs Tor. Er muss ins Lager. Er muss durchs Feuer. Er muss ins Exil. Wer bei den Menschen wohnen will, muss das Menschsein bis ins Letzte einüben. Auch Gott.

Er bindet sich nicht an eine Stadt. Er bindet sich nicht an einen Altar. Aber er bindet sich fest an das menschliche Herz. „Gottes Sehnsucht ist der Mensch“, schreibt der Kirchenvater Augustinus (354-430) später. Wo der Mensch dem Menschen ein Mensch wird, will Gott wohnen. Dort ist des Herrn Tempel.

Wortfremde

Was aber geschieht, wenn mühsam eingeübte, gehütete und vertraute Worte unerwartet ihren Sinn verlieren? Wenn sie nicht mehr halten können, was sie versprechen? Es gibt Zerreißproben, denen auch fest gefügte Gewissheiten nur schwerlich standhalten. Die äußerste, dunkel lastende Seelennot in den Tagebuchaufzeichnungen Jochen Kleppers (1903-1942) oder auch die dumpfe Angst in Dostojewkijs „Totenhaus“ belegen, wie Worte sehr plötzlich sang- und klanglos, sogar ersatzlos vergehen können. Die Dichterin Anna Achmatowa(1889-1966) beschreibt vielfach solche und ähnliche Erfahrungen:

„...Die Erstarrungen und Schreie/ all meine schlaflosen Nächte/ legte ich in ein stilles Wort/ und ich sprach es vergebens.“

 

Was mag aus dem Propheten geworden sein, in dessen Leben sich Gott selbst von Anfang an Wort für Wort hineingesprochen hat?

Wir wissen es nicht.

Das vertraute Leuchten in den Fenstern des Vaterhauses verliert sich schon an der nächsten Straßenecke. Prophet oder nicht, sofort beginnt die Wortfremde. Ab jetzt ist selbst Gott ein gewagtes Wort. Die Einsamkeit wächst. Der Himmel bleibt als erster daheim. Oft ist die Morgensonne eine kalte Neonstange und der Mond ein Hundertwattgespenst. Jeder Tag hat blinde Flecken. Die Nacht kennt kaum  noch gutes Dunkel. Die Seele wird eine Angstherberge. Bis in die Herzkammern hausen Eisheilige. Die Sehnsucht gefriert. Aber Gott ist oft nur ein einziges Wort weit entfernt.

 

Keimzellen

Was bleibt von den Worten, für die dieser einzigartige Prophet mit der Wahrheit seines ganzen Lebens einsteht?  Worte sind Keimzellen.

„Die Keimzellen eines unabhängigen Lebens sind wie kleine Boote im Ozean der Ohnmacht. Sie werden vom Wellengang hin und her geschleudert. Doch sie tauchen immer wieder auf. Sie sind sichtbare Boten des Überlebens in der Wahrheit“  (Vaclav Havel).

Dieses ermutigende Bild des Bürgerrechtlers und ehemaligen tschechischen Präsidenten ist voller lebendiger Sehnsucht. Aber jedes Wort bleibt auch umlagert von teuer bezahlter, ernüchternder Welterfahrung.

Auch das erschließen die Worte: Die Wahrheit hat immer einen eigenen Lebenslauf. Und zwar lange, ehe sie sich entfaltet. Bevor sie zur Wirkung kommen kann, hat sie einen weiten, oft unsicheren Weg hinter sich, meist voller Mühsal. Immer von neuem muss sie aus dem Ungeordneten ins Ungewisse. Hinnehmen und Hergeben, Jubeln und Verstummen, Tränen und Glück, Streit und Friede, Not und Tod lösen einander ab.

Die eigene Erfahrung lehrt: Es gibt radikale Veränderungen, die ein ganzes Leben umwandeln können. Sie beginnen eher beiläufig und unscheinbar. Man muss sie nur für möglich halten. Man muss sie wahrnehmen und ausprobieren. Und – wie die kleinen Boote im Ozean der Ohnmacht – muss man sich selbst leicht nehmen und loslassen können, auch auf die Gefahr hin, den Halt zu verlieren.

 

Perikope
29.07.2018
1,4-9

Am Anfang hat jeder einen Auftrag bekommen - Predigt zu Jeremia 1,4-10 von Georg Freuling

Am Anfang hat jeder einen Auftrag bekommen - Predigt zu Jeremia 1,4-10 von Georg Freuling
1,4-10

Ich glaube, jeder hat am Anfang einen Auftrag bekommen. „Du sollst Else glücklich machen.“ „Du sollst Oboe spielen.“ „Du sollst die Formel für Kadmiumperoxyd erfinden.“ Aber dann kommt eine Menge dazwischen, eine ganze Kindheit zum Beispiel, Fußballspiele und Hausaufgaben, du gehst ins Schwimmbad, verliebst dich und versuchst, den Führerschein zu machen oder die Steuererklärung. Du musst noch Brot kaufen und Gurken und eh du dich versiehst, hast du vergessen, was du eigentlich wolltest. Und dann rufen noch allerhand Leute dazwischen, „denk an die Familie“, „das kannst du nicht“ oder „erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, und schon hast du ein Dutzend neue Aufträge auf dem Buckel. Und deshalb muss man sich manchmal daran erinnern: Was soll ich tun in dieser Welt? (Auftrag von Susanne Niemeyer, 100 Experimente mit Gott. Von Abenteuer bis Zuversicht, Freiburg 2018, 26 – mit freundlicher Genehmigung der Autorin)

 

Am Anfang – da hat jeder einen Auftrag bekommen. So schreibt es Susanne Niemeyer in ihrem Buch „100 Experimente mit Gott.“ Ich fand das passend für diese Predigt: Gerade haben wir von anvertrauten Talenten gehört, in der Lesung (Mt 25,14-30). Und von einem besonderen Auftrag hören wir im Bibeltext für diese Predigt. Da geht es um die Berufung des Propheten Jeremia:

 

Und das Wort des HERRN erging an mich: 5) Bevor ich dich gebildet habe im Mutterleib, habe ich dich gekannt, und bevor du aus dem Mutterschoss gekommen bist, habe ich dich geweiht, zum Propheten für die Nationen habe ich dich bestimmt. Und ich sprach: Ach, Herr, HERR, sieh, ich weiss nicht, wie man redet, ich bin ja noch jung! Der HERR aber sprach zu mir: Sag nicht: Ich bin noch jung. Wohin ich dich auch sende, dahin wirst du gehen, und was immer ich dir gebiete, das wirst du sagen. Fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin bei dir, um dich zu retten! Spruch des HERRN. Dann streckte der HERR seine Hand aus und berührte meinen Mund, und der HERR sprach zu mir: Sieh, ich lege meine Worte in deinen Mund. Sieh, am heutigen Tag setze ich dich über die Nationen und über die Königreiche, um auszureissen und niederzureissen, um zu zerstören und zu vernichten, um zu bauen und zu pflanzen. (Jer 1,4-10)

Das ist der Auftakt des Buches Jeremia. Mit der Berufung fängt alles an: 45 Jahre Prophetenleben, immer wieder unterbrochen – auch, weil Jeremia mundtot gemacht wurde oder untertauchen musste. Ein Auftrag für ein ganzes Leben. Nun bin ich kein Prophet. Sie, Ihr seid es auch nicht. Muss aber auch nicht sein, wenn jede und jeder seine Talente hat, mit denen er wuchern oder die er verkümmern lassen kann, wie wir in der Lesung gehört haben. Muss nicht sein, wenn jeder am Anfang einen Auftrag bekommen hat.  Was Gott in diesem Gespräch zu Jeremia sagt, kann er ebenso gut uns sagen – mit unseren Aufträgen. Und wer kann schon sagen, dass die klein sind… Jede Menge von dem, was Gott, aber auch von dem, was Jeremia hier sagt, kann ich mit unseren Aufträgen verbinden. Wo fange ich an?

Am besten am Anfang…

Aufträge bekommen wir.

 

Aufträge sind keine selbstgewählten Aufgaben. Manchmal werden sie uns vor die Füße gelegt, manchmal stolpern wir darüber, manchmal sträuben wir uns auch.  Zu Jeremia sagt Gott: Nicht nur vom Mutterleibe an, vorher schon war dein Auftrag klar. Was du tun sollst, steht schon fest. Dann ergibt sich ein Problem: Ich kann das nicht beweisen oder erklären. Ich war nicht dabei, als Gott sich dieses eine Leben ausgedacht hat. Das Drehbuch hat er mir auch nicht mitgegeben. So weit der Blick zurück. Vorausgeblickt wäre ein Leben mit Drehbuch langweilig: Ich müsste meinen Auftrag nicht suchen und würde auch keine Überraschungen erleben. Unabhängig davon, was schon gesetzt ist: Wir Menschen sind gefühlt alles andere als fremdgesteuert, wir sind suchend und fragend unterwegs. So kann es auch passieren, dass ein unerwarteter Auftrag wichtiger und prägender wird als jedes zuvor selbst gesteckte Ziel. (Passiert mir immer wieder…) Deshalb bin ich auch der Meinung: Es ist Unsinn, dass heute alles irgendwie Sinn „machen“ muss. Denn Sinn „machen“ wir Menschen nicht. Wir finden ihn. Oft erst dann, wenn wir zurückblicken und gar nichts mehr machen können.

Aufträge nehmen uns manchmal den Mut.

„Warum soll ausgerechnet ich das machen?“ Wahrscheinlich hat sich jeder von uns schon mal diese Frage gestellt. Wahrscheinlich hat jeder schon mal angesichts einer großen Aufgabe geschluckt, seine eigenen Fähigkeiten und Erfahrungen überschlagen und dann gedacht oder gesagt: „Sorry – da bin ich der Falsche!“

Jeremia sagt: „Ich tauge nicht.“ Und: „Ich bin zu jung.“ Da ist er Mitte zwanzig – eigentlich alt genug. Doch „jung“ bedeutet hier auch so viel wie „ohne das nötige Ansehen, ohne Autorität“. Jeremia kommt aus einer Priesterfamilie vom Lande. Wahrscheinlich ahnt er es: Das Landei aus Anatot wird in Jerusalem niemand ernst nehmen – bei denen, die die Nase etwas höher tragen.

„Ich schaffe das nicht. Ich tauge nicht.“ Wie viele denken das in ihrem Leben immer wieder? Ducken sich weg? Machen sich klein? Da gibt es jede Menge verborgener Talente.

Gott ist da anders als all die Skeptiker, die mit ernsten Mienen fragen, ob da jemand seiner Aufgabe gewachsen ist. Gott ist erst recht anders als die Spötter, die den Daumen senken. Gott sagt: Nur Mut! Trau dich! Lass dich nicht einschüchtern von dem, was andere denken und sagen. Gott sagt: „Fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin bei dir!“

 

Aufträge fordern Stehvermögen.

 

Jeremia hatte diesen Zuspruch Gottes nötig. 45 Jahre hat er in Gottes Auftrag gesprochen. Immer wieder vergebens. Aber nicht nur das – er wurde verlacht, bedroht, verhaftet, in eine stinkende Zisterne geworfen und schließlich außer Landes gebracht, einfach mitgenommen. Immer wieder beklagt er sich bei Gott über seinen Auftrag. Immer wieder möchte er ihm diesen Auftrag vor die Füße werfen, aber kommt doch nicht von ihm los. Keine andere Prophetengestalt im Alten Testament wird so eindrücklich beschrieben – mit ihren inneren Kämpfen, den Niederlagen, dem Frust. Das ist eine Besonderheit bei Jeremia, dass sein Leben so deutlich hervortritt.

Ich wünsche uns allen, dass uns diese Erfahrungen Jeremias, 45 Jahre Frust und Anfeindungen, erspart bleiben. Trotzdem können sich vermutlich viele auch darin wiederfinden: Manchmal ist unser Stehvermögen gefordert: nicht aufgeben, nicht locker lassen. Und manchmal spüren wir: Wenn du jetzt einbrichst, dann verrätst du alles, wofür du stehst. Das ist dann alles andere als bequem, aber gehört dazu, wenn wir unseren Aufträgen nicht ausweichen.

 

Zuletzt: Aufträge sind nicht unsere Privatsache.

 

Meistens sind wir in unserer kleinen Welt unterwegs: Familie, Schule oder Beruf. All das füllt uns aus – so sehr, dass wir oft nicht wissen, wo uns der Kopf steht. Manchmal fühlen wir uns auch klein, wenn wir die Probleme dieser Welt sehen. Was können wir schon tun?

Jeremia wird zum Propheten für die Völker berufen. Größer, globaler geht es nicht. Manche Ausleger stoßen sich an diesem „übersteigerten“ Selbstbewusstsein. Geht es nicht eine Nummer kleiner? Und einige alten Handschriften lesen nicht: Zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt, sondern zum Propheten für mein Volk habe ich dich bestimmt. Es ist aber so gedacht, wie es da steht: Jeremias Auftrag steht in einem weiten Horizont.

Für unsere Aufträge bedeutet das: Denk nicht zu klein! Auch wenn die Welt um uns herum verrückt spielt, gib die Hoffnung nicht auf! Auch wenn jetzt die Grenzen dicht gemacht werden, und Menschen auf ihrer Flucht ertrinken, dann setz dich weiter für Menschlichkeit ein. Und wenn jetzt wieder über Integration in unserem Land gestritten wird, dann überlass denen nicht das Feld, die alles nur schwarz-weiß malen und uns in der gesellschaftlichen Diskussion um Jahrzehnte zurück katapultieren. Und wenn du siehst, wie gerade der Rasen im Garten verwelkt, dann denkt über deinen Lebensstil nach. Dann frag: Was kann ich tun, damit diese schöne Welt nicht vor die Hunde geht?

 

Zu tun gibt‘s genug, auch wenn wir keine Propheten sind. Jeremias Geschichte fordert mich heraus: Frag immer wieder, was du tun sollst! Verlier nicht den Mut, wenn dir ein Auftrag über den Kopf wächst! Lass dich nicht entmutigen, wenn du dabei Enttäuschungen erlebst. Und: Denk niemals „Was kann ich schon tun?“ Amen.

Perikope
29.07.2018
1,4-10

Wer ist schon ein Prophet ? – Predigt zu Jeremia 1,4-10 von Wolfgang Ratzmann

Wer ist schon ein Prophet ? – Predigt zu Jeremia 1,4-10 von Wolfgang Ratzmann
1,4-10

Liebe Gemeinde,

I

gibt es in unserer Welt von heute noch Propheten? Oft scheint es so, als seien sie ausgestorben. Fast überall geht es drunter und drüber:

  • Das Klima spielt verrückt, weil wir Menschen an der Klimaschraube gedreht haben und weiter drehen. Aber man geht zur Tagesordnung über. Auch unsere Regierung hat ihre Klimaziele in die Zukunft verschoben.
  • Millionen Menschen sind auf der Flucht, weil sie in ihren Heimatländern nicht überleben können. Sie riskieren ihr Leben, während wir vor allem darüber nachdenken, wie wir in Europa und in Deutschland möglichst ungeschoren davonkommen.  
  • Das vereinte Europa bröckelt und neue Nationalismen breiten sich aus. Es ist schick geworden, auf allen Ebenen vorwiegend an sich zu denken und kaum an das Ganze und an den anderen…  

Es scheint, als seien die Propheten ausgestorben. Wäre das nicht dringend nötig, dass da ein Prophet aufstünde – einer vom Schlage des Jeremia, der vielleicht zu Beginn seines Dienstes Angst hatte, dann aber mutig den Mächtigen seiner Zeit die Leviten las? Einer, der sie zur Besinnung und Umkehr aufforderte und der ihnen ihre Illusionen vor Augen hielt?

Aber hätten sie denn heute eine Chance, gehört zu werden? Wenn es sie schon gäbe: Sollen sie sich aufstellen – vor dem Weißen Haus in Washington oder vor dem Bundeskanzleramt, vor dem Berliner Dom oder der Peterskirche in Rom und dort ihre scharfen Reden halten? Wer würde denn da zuhören?

Es scheint, als wären die Propheten ausgestorben. Und in gewisser Weise muss das wohl so sein, weil unsere demokratische und pluralistische Gesellschaft ganz anders verfasst ist als die zu Jeremias Zeiten und weil auch Informationen und Meinungen in ganz anderer Gestalt ausgetauscht werden als damals. Es wäre heute unmöglich, einen Propheten in das „Haus des Königs“ zu schicken, damit er dort – vielleicht in einer Kabinettssitzung oder bei einem Festmahl – eine machtvolle Rede hält, etwa nach dem Muster des Jeremia-Buches: „Höre des Herrn Wort, du König von Juda, der du auf dem Thron Davids sitzt, du und deine Großen und dein Volk… So spricht der Herr: Schafft Recht und Gerechtigkeit und errettet den Beraubten von des Frevlers Hand und bedrängt nicht die Fremdlinge, Waisen und Witwen…“ (Jer. 22,2f).

Es ist wahr, dass auch die Großen von heute immer wieder auch Widerspruch brauchen, Bußrufe und Mahnungen. Es ist wahr, dass auch heute klare Worte zur Orientierung in Richtung Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung sehr nötig sind. Aber die unterliegen ganz anderen Kommunikationsgesetzen als damals. Da gibt es Kommissionen, in denen Wissenschaftler und Politiker zusammenarbeiten und in denen zukunftsfähige Wege zum Überleben der Menschheit erarbeitet werden. Da erscheint gelegentlich eine Denkschrift, zum Beispiel von der EKD, oder ein Buch, das Gewissen tatsächlich wachrütteln kann. Und da geschieht es – leider oft erst im Rahmen einer Krise oder Katastrophe, dass die Mächtigen eine wirklich nötige und für alle gute Entscheidung treffen und dass diese von Vielen akzeptiert wird. Vielleicht sind die Propheten heute gar nicht ausgestorben, sondern sie treten nur anders auf, benutzen nur andere Medien als allein die zündende Rede und suchen die Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten und Fachleuten?

 

II

Als ich vor über 40 Jahren als junger Pfarrer ordiniert wurde, überreichte mir ein Kirchenvorsteher aus meiner damaligen Gemeinde in Plauen ein Buch mit einer Glückwunschkarte, auf der einzelne Verse aus dem Jeremia-Text notiert waren: „Der Herr sprach zu mir: Sage nicht, ich bin zu jung, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende und predigen, was ich dir gebiete…“ Der Kirchvorsteher war offenbar der Meinung, dass Pfarrer gerade als Prediger doch so etwas wie Propheten sein sollten. Dabei dachte er ganz sicher nicht daran, dass Pfarrer die Zukunft vorausahnen sollten. Oder dass ich nun vor allem den damals Mächtigen, den SED-Oberen, kräftig die Leviten lesen sollte. Nein, ich sollte als Pfarrer generell das predigen, was mir Gott gebietet. Ich sollte den Mut haben, nicht das zu sagen, was die Leute gern hören wollen oder was der Zeitgeist denkt, sondern was wirklich Gottes Willen entspricht. Pfarrer sollten sich ganz der Wahrheit verpflichtet fühlen, wie sie ihnen aus der Beschäftigung mit dem biblischen Wort entgegenkommt. Aber sind Pfarrer Propheten? Sollen sie Propheten sein?

In einem Punkt sind Pfarrerinnen und Pfarrer ganz sicher mit Jeremia einig: Manchmal möchten sie, möchten wir sagen: „Ach Herr, ich tauge nicht zu predigen. Ich bin zu jung.“ Oder: „Ich verstehe diesen biblischen Text nicht.“ Oder: „Ich bin von der Situation überfordert. Ich habe kein Wort, das ich angesichts eines schlimmen Todesfalles predigen kann.“ Da gibt es eine Art Solidarität zwischen den Selbstzweifeln des Jeremia und den eigenen Zweifeln – und da möchte man gern die Zusagen dieses Textes auch für sich selbst und den eigenen Verkündigungsdienst in Anspruch nehmen: „Fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin bei dir…“ Und: „Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund.“   

Aber Pfarrer und Pfarrerinnen, Prädikanten und Lektorinnen sind normalerweise keine Propheten, und sie sollen es auch nicht sein. Denn ihr Amt ist vielfältiger: Sie sind Seelsorger – und deshalb soll auch ihre Predigt seelsorgerlich geprägt sein und Verständnis für die Probleme und Sorgen der Menschen haben. Sie sind Repräsentanten der Kirche – und deshalb erwarten zu Recht die Leute von ihnen, dass sie nicht nur ihren subjektiven Glauben darstellen, sondern auch das vertreten, was die Kirche heute sagt. Oft sind sie mit Kindern, Jugendlichen und Älteren auch gemeindepädagogisch tätig, und so ist auch die Predigt eine Möglichkeit, den Glauben verstehbar zu machen und Wege zu ihm aufzuzeigen… Wenn es in der Geschichte vorkam, dass sich einzelne Pfarrer ganz als Propheten auf der Kanzel gebärdet haben, dann war dieses angebliche Prophetentum meist nur Ausdruck eines tiefen inneren Konfliktes mit der Gemeinde oder eines Gefühls, von der Kirche abgelehnt zu werden. Nein, Pfarrer sind nicht einfach Propheten – so wie Jeremia übrigens auch kein Priester war. Auch evangelische Pfarrer haben ja priesterliche Funktionen zu erfüllen und sich um die verschiedenen heiligen Handlungen, die Sakramente, und die heiligen Räume, die Kirche, und dazu noch um viele Verwaltungsfragen zu kümmern.

           

III

Aber dennoch: Unser Bibeltext will uns erinnern, dass unsere Kirche nicht sein kann ohne so etwas wie eine prophetische Dimension. Sie muss sich nicht allein ausdrücken in einzelnen aufsehenerregenden Persönlichkeiten wie Jeremia oder Jesaja oder wie Johannes der Täufer es gewesen sind. Aber sie muss spürbar werden in der kirchlichen Verkündigung, vor allem in der Predigt, und auch in den Gesprächen, die wir untereinander über den Glauben führen.

Was meine ich damit? Es geht um einmal die Gewissheit und zum anderen um die Freiheit der Verkündigung. Von beidem ist nämlich in unserem Bibelwort vor allem die Rede:

Von der Gewissheit: „Ich sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest und bestellte dich zum Propheten für alle Völker“, so heißt es hier. Jeremia, der immer wieder einmal von Ängsten überfallen wird, stützt sich in seinem Dienst auf eine Berufung, die nicht nur in seiner Glaubensüberzeugung, in seinem Mut oder in seiner Beredsamkeit gründet. Er weiß sich berufen von Gott selbst – berufen schon vor seiner Geburt. Das macht ihn gewiss. Auf sie kann er sich verlassen, nicht allein auf seine eigene Kraft.

Wir leben in einem Zeitalter, in dem statt dessen vor allem Subjektivität gefragt ist. Auch im Blick auf Lebenseinstellungen, auf die uns bestimmenden Werte und den religiösen Glauben sind wir immer selbst, als Subjekte, gefragt, was uns einleuchtet oder nicht, wozu wir Lust haben oder nicht. Auch den Predigtdienst könnte man ja so verstehen, dass da Leute predigen, denen das eben Spaß macht, die Lust dazu haben, die Bibel auszulegen, oder die gern über ihren Glauben reden wollen. Aber das Wort Gottes soll auch dort gesagt werden, wo die persönliche Lust endet. Wenn der einzige Sohn mit 21 Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt und eine Trauerfeier zu halten ist: Kann man da noch „Lust“ haben, hier zu predigen? Es ist gut, wenn wir da als ordinierte und von der Kirche berufene Predigerinnen und Prediger wissen: Es geht nicht nur nach meiner Lust, ob ich predige. Ich bin im Namen Gottes von der Kirche berufen, zu gehen, wohin mich Gott sendet, zu reden, auch wenn ich selbst kaum ein Wort zu sagen weiß, zu warten auf das Wort, das Gott selbst mir in meinen Mund legen wird.     

Und von der Freiheit der Verkündigung ist die Rede: „Du sollst gehen, wohin ich dich sende und predigen, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen… Ich setze dich über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.“ Was zunächst wie eine Mahnung zum Gehorsam klingt, ist zugleich eine Einladung in die Freiheit der Verkündigung. Es stimmt zwar: Eine Predigt hat auch seelsorgerliche und gemeindepädagogische Aufgaben, und sie wird als ein Wort der Kirche verstanden. Aber letztlich soll sie Gott selbst Raum und Stimme geben. Ihm, Gott, seiner Wahrheit, sind die Prediger letztlich verpflichtet.

Und deshalb kann kein Kirchenvorstand beschließen, was der Pfarrer demnächst zu predigen hat. Er selbst muss die Worte finden und verantworten, die sich ihm aus dem biblischen Wort heraus erschließen. Er muss es in seiner Verkündigung nicht allen recht machen wollen, weder den Fundamentalisten noch den Liberalen, weder den AfD-Anhängern noch den anderen. Er soll vielmehr in der Freiheit seines Dienstes letztlich Anwalt der Wahrheit, Anwalt des Wortes Gottes sein. Vielleicht bekommt er dafür nicht nur Beifall, sondern auch Kritik. Und vielleicht geht es nicht ohne Konflikte ab, nicht ohne „ausreißen und einreißen“, wie es bei Jeremia heißt, bevor dann das „bauen und pflanzen“ wieder seinen Platz hat. Übrigens ist um solcher Freiheit willen der Pfarrer nicht bei der Gemeinde angestellt, sondern bei der Landeskirche – auch wenn er natürlich dann in eine konkrete Gemeinde abgeordnet wird.

Die Verkündigung lebt aus solcher Freiheit, die aus dem Hören auf Gottes Wort entsteht. Prophetisch predigen: das heißt wahrhaftig predigen, ohne falsche Rücksichtnahmen, die das Evangelium wohlfeil machen und ihm die Spitze nehmen. Und das ist nicht nur ein schwieriges Problem, sondern zugleich auch ein Glück. Schon deswegen, weil man manchmal spüren kann, wie Menschen sich nicht ständig nach wohlfeilen Worten, sondern nach dem wahren und wahrhaftigen Wort sehnen.

 

Sind die Propheten ausgestorben? Vielleicht gibt es in unserer verwirrten Welt mehr „Propheten“ als wir ahnen, Menschen, die sachkundig und engagiert Wege vom Unheil zum Heil suchen und gehen.  

Sind die christlichen Propheten ausgestorben? Die christliche Verkündigung heute muss nicht von Prophetengestalten ausgerichtet werden, wie Jeremia einer war. Aber das Prophetische ist für sie unentbehrlich – die Gewissheit, dass Gott selbst die Verkündigung will und Menschen dazu beruft, und die Freiheit, uns dabei allein an seinem Wort zu orientieren und falsche Rücksichten zu vermeiden.

Gott schenke es uns, dass er seine Worte in den Mund derer legt, die zu uns predigen oder die zu uns im Alltag Worte des Glaubens sagen. Und er gebe es uns, dass wir seine Worte heraushören aus den vielen Worten, die uns immer wieder begegnen. Amen      

Perikope
29.07.2018
1,4-10