Wenn böse Geister schön geredet werden – Predigt zu Jeremia 23, 16-29 von Manfred Wussow

Wenn böse Geister schön geredet werden – Predigt zu Jeremia 23, 16-29 von Manfred Wussow
23,16-29

So spricht der Herr Zebaoth: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen! Sie betrügen euch, sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen und nicht aus dem Mund des Herrn. Sie sagen denen, die des Herrn Wort verachten: Es wird euch wohlgehen –, und allen, die im Starrsinn ihres Herzens wandeln, sagen sie: Es wird kein Unheil über euch kommen.

Aber wer hat im Rat des Herrn gestanden, dass er sein Wort gesehen und gehört hätte? Wer hat sein Wort vernommen und gehört? Siehe, es wird ein Wetter des Herrn kommen voll Grimm und ein schreckliches Ungewitter auf den Kopf der Gottlosen niedergehen. Und des Herrn Zorn wird nicht ablassen, bis er tue und ausrichte, was er im Sinn hat; zur letzten Zeit werdet ihr es klar erkennen. Ich sandte die Propheten nicht, und doch laufen sie; ich redete nicht zu ihnen, und doch weissagen sie. Denn wenn sie in meinem Rat gestanden hätten, so hätten sie meine Worte meinem Volk gepredigt, um es von seinem bösen Wandel und von seinem bösen Tun zu bekehren.

Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der Herr, und nicht auch ein Gott, der ferne ist? Meinst du, dass sich jemand so heimlich verbergen könne, dass ich ihn nicht sehe? spricht der Herr. Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt?, spricht der Herr.

Ich höre es wohl, was die Propheten reden, die Lüge weissagen in meinem Namen und sprechen: Mir hat geträumt, mir hat geträumt. Wann wollen doch die Propheten aufhören, die Lüge weissagen und ihres Herzens Trug weissagen und wollen, dass mein Volk meinen Namen vergesse über ihren Träumen, die einer dem andern erzählt, so wie ihre Väter meinen Namen vergaßen über dem Baal? Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen?, spricht der Herr. Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?

Predigt

Nicht hören, alles sehen

Sie schauen mich erwartungsvoll an. Ein schönes Bild. Es macht mir auch Freude, Sie anzusehen. Ich freue mich, mit Ihnen in ein Gespräch zu geraten, auch wenn ich, zugegeben, zunächst alleine rede. Ich weiß, dass Sie etwas von mir erwarten, in den nächsten Minuten Ihre Meinung bilden und vielleicht auch Ihre Widerworte loswerden möchten. Und was habe ich zu sagen? Hört nicht auf die Worte der Propheten! Hört nicht! Verweigert euch! Lasst nicht alles ins Ohr! Unschwer zu erraten: es ist ein Zitat. Ein Zitat aus einer der großen Reden, die Jeremia gehalten hat. Gut zweieinhalb Jahrtausende ist das her. Aber ziemlich aktuell.

Jeremia sieht, wie Könige und ihre Beamten gezielt ihre Macht ausbauen, vor Missbräuchen nicht zurückscheuen und ohne jede Hemmung Menschen ausbeuten. Gesetze gibt es nicht. Und wenn, das Gesetz des Stärkeren. Klar, wie so etwas ausgeht. Um Kritiker mundtot zu machen und ihre Sicht  für die Nachwelt geschönt zu hinterlassen, halten sie sich einen ganzen Stab von Schönrednern, die frech und professionell das Bild ihrer Herren – sagen wir – gestalten. Es gilt nicht nur das gesprochene Wort.

Jeremia sieht, wie eine ganze Kaste von Propheten damit beschäftigt wird, den Mächtigen nach dem Munde zu reden. Sie liefern Begründungen, werben um Verständnis, gaukeln die gute, vollendete Welt vor. Sie schaffen es auch, Unrecht religiös zu verbrämen. Dafür setzen sie ihre große Kunst ein, gut und überzeugend zu reden. Das macht sich besonders gut. Dass Gott unter ihrer Hand zu einem Handlanger degradiert wird, ficht sie nicht weiter an. Gott hat doch seine Treue versprochen! Oder? Er ist immer schon einer von uns gewesen! Er hat uns vor allen Völkern auserwählt! Meldet sich eine Stimme, die von Gottes Willen redet, wird sie zum Schweigen gebracht, niedergebrüllt, bedroht. Das geht mit einfachen Mitteln. Nestbeschmutzer!

Wir treffen hier auf die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit. Sie darf ruhig etwas kosten. Es hängt zu viel davon ab. Es hängt zu viel davon ab, Sichtweisen und Wahrnehmungen zu manipulieren, oder nicht ganz so hart, ein wenig zu steuern.

In einem solchen System gibt es viele Nutznießer, die still und unerkannt ihre Geschäfte machen, sich zu verbergen wissen und den schönen Schein natürlich wahren. Eine Hand wäscht die andere. Mit Geld und mit Schweigen. Wenn es nur um das Schmutzigmachen ginge – an vielen Händen klebt Blut.

Jeremia ist ein Nestbeschmutzer. Wenigstens. Wir hören ihn rufen: Hört nicht auf die Worte der Propheten! Jeremia hat alles gesehen. Zuviel.

Propheten unter sich

Ich habe jetzt in Kurzform eine Geschichte erzählt, die sich immer wieder ereignet hat und immer noch an kein Ende gekommen ist. Den Beruf des Propheten gibt es unter uns schon lange nicht mehr. Eigentlich waren alle Propheten auch nur Sprecher, Botschafter Gottes, also Menschen, die in ihren Berufen, in ihrem Alltag Maß genommen haben am Willen Gottes. Dazu unabhängig und nicht korrumpiert. Dabei haben sie gelegentlich auch die große Bühne, die große Auseinandersetzung suchen müssen. Sie waren so etwas wie ein soziales Gewissen. Sie nahmen die schwachen und kleinen Menschen in den Blick. Die Witwen, die Waisen. Sie haben Könige und Hohepriester angeklagt. Wenn es sein musste, direkt im Tempel. Die fromme Routine, das fromme Getue war ihnen zuwider.

Im Laufe der Zeit ist es aber immer öfter geschehen, dass sich auch Propheten kaufen ließen und zur Öffentlichkeitsabteilung ihrer Herren und Geldgeber wurden. Fatal, dass ihr höchstes Gut – das Wissen um gut und böse – nichts mehr wert war. Geld macht nicht nur unglücklich. Es nimmt der Welt ihren Grund und ihre Hoffnung. Es macht kaputt, was einmal ganz war. Es macht aus Menschen – Unmenschen.

Von Jeremia sind gleich mehrere Reden überliefert, die den Schleier von diesen Geschichten wegziehen, ohne auf persönliche Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Sie könnten zu Hause das ganze 23. Kapitel des Jeremiabuches nachlesen – wortgewaltig, unbeirrbar und ungeheuer mutig.

„Wehe euch Hirten, die ihr die Herde meiner Weide umkommen lasst und zerstreut! Spricht der Herr. Ihr habt meine Herde zerstreut und verstoßen und nicht nach ihr gesehen. Siehe, ich will euch heimsuchen um eures bösen Tuns willen, spricht der Herr“.  Alle verstehen auf Anhieb, was die Stunde geschlagen hat. Gott will nicht länger mitspielen.  „Propheten wie Priester sind ruchlos; auch in meinem Hause finde ich ihre Bosheit, spricht der Herr.“

Jeremia kann, wenn ich das so sagen darf, auf eine Biografie seiner Augen zurückschauen. Das größte Unheil lässt sich sehen – es wächst, es wuchert - und es fällt nie vom Himmel. Nie! So spricht der Herr Zebaoth: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch Sicherheit versprechen, wo ihr am  Rande des Abgrunds steht.

Im Redezirkus

Jetzt sind mittendrin! Lesen wir doch einmal die Zeitung. Vor 25 Jahren wurde in Solingen ein Haus angesteckt. Eine türkische Familie lebte dort. Zwei Frauen und drei Mädchen kamen ums Leben: Saime, Hülya, Gülüstan, Hatice und Gürsün Genç. Dies geschah am Pfingstsamstag 1993.

Schon Jahre vorher wurde der Hass gesät. Ein Zitat aus der Süddeutschen: „Fünf Jahre vor dem Anschlag hatte die politische Kampagne gegen angebliche "Asylmissbraucher" begonnen. Das Wort wurde das beliebteste in Wahlkämpfen… Die politische Sprache betrieb Mobilmachung; "Fluchtwege" mussten abgeschnitten, "Abschreckung" musste praktiziert werden.“  (Zitate SZ 28.05.2018). Die, die großen Reden hielten, blieben unbehelligt, die, die das Feuer legten, wurden zur Rechenschaft gezogen. Eine komische, schreckliche Welt.

Nach dem Anschlag wurden Krokodils Tränen geweint. Und der damalige Bundeskanzler mochte   den Beileidstourismus nicht.  Er hatte Wichtigeres zu tun, als mitzutrauern. Wie roh, ungehobelt gehässig Sprache ist, wie Worte verletzen.

Im Kommentar der Zeitung heißt es: „Die Politik tat so, als gebe es ein verseuchtes Zimmer im Haus der Verfassung; nach der Grundgesetzänderung wurde daher gerufen wie nach dem Kammerjäger.“  Der Kommentar spielt auf eine Änderung des Asylrechtes an.

Ausländer wurden diffamiert als die, die - Zitat -  "bettelnd, betrügend, ja messerstechend durch die Straßen ziehen" und dann "nur weil sie das Wort Asyl rufen", dem Steuerzahler sieben Jahre lang auf der Tasche lägen.“   Zitatende. Die, die das damals gesagt haben, immerhin schon Ende der 80iger Jahre (!), erinnern sich nicht mehr, können, wollen auch nicht erinnert werden  – heute lässt sich dafür umso trefflicher auf die Partei mit dem großen A verweisen, die mit alten, auch christsozialen Parolen neu auf Stimmenfang ist. Das Reservoir scheint unerschöpflich. Es hilft nichts: In unserer Gesellschaft wird nach wie vor Hass gesät und ein gutes Gewissen dafür gesucht. In der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit wird teuer bezahlt und hochprofessionell der Hass – das können wir uns doch nicht nachsagen lassen, oder? – weg retuschiert. Programm Bildbearbeitung. Wie hoch soll die Auflösung sein?

Auf der Straße geht es weniger professionell zu. Ich wurde an meiner Bushaltestelle angesprochen. Eine Gruppe dunkelhäutiger Mädchen wartete auch. Jung. Fröhlich. Bestes Hochdeutsch. Ein älterer Mann meinte aber, so, dass es die anderen gut hören konnten, zu mir: Die hätte man früher vergast. Nicht wahr. - Erst war ich wie vom Blitz getroffen, dann traf es ihn.

Noch können wir einhalten und umkehren. Wer läuft, immer nur läuft, weiterläuft, läuft seiner Zukunft davon. Eigentlich hatten alle Propheten, egal in welchem Gewand, die Aufgabe, Gottes Wort zu predigen, damit sich die Menschen von ihrem bösen Wandel und von ihrem bösen Tun bekehren. Jeremia, geht einmal nach Berlin!

Unwetter

Es liegt ein Unwetter in der Luft. Jeremia sagt den Menschen:  „Siehe, es wird ein Wetter des Herrn kommen voll Grimm und ein schreckliches Ungewitter auf den Kopf der Gottlosen niedergehen. Und des Herrn Zorn wird nicht ablassen, bis er tue und ausrichte, was er im Sinn hat; zur letzten Zeit werdet ihr es klar erkennen.“

Eine Gerichtsrede ist das. Ein Urteil wird gesprochen. Doch Gott schickt uns kein Heer auf den Hals, er kommt auch nicht mit Drohnen - er sieht uns untergehen. Wir Menschen zerstören die Welt, die uns Heimat ist. Die uns als Heimat anvertraut wurde. Für alle Menschen!  Doch: Wir Menschen machen Menschen arm – oder reich. Wir Menschen rufen „Frieden“, säen aber Hass. Wir Menschen verkaufen Waffen, spielen aber die Unschuldslämmer. Über alles aber wollen wir die Deutungshoheit. Wir erfinden Sprachregelungen. Wir brauchen den frommen Betrug.

Jeremia hat mit der Gerichtsrede Ärger bekommen. Die Menschen wollten nicht hören. Oder besser: sie wollten etwas Schönes hören. Viele von den Propheten lieferten ihnen – Träume. Ihre Träume. Einer schöner als der andere. „Ich höre es wohl, was die Propheten reden, die Lüge weissagen in meinem Namen und sprechen: Mir hat geträumt, mir hat geträumt … Ein Prophet, der Träume hat, erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen?“

Träume sind nicht gleich Träume. Sie können Flucht sein – aber auch eine neue Welt beschreiben, die Welt Gottes. Gottes Wort ist auch ein Traum. Am 15. Januar 1929 wird in Atlanta ein Junge geboren, der den Namen Michael bekommt und später Martin Luther heißen wird, Martin Luther King.

Washington, 28. August 1963:

„… Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt werden. Die unebenen Plätze werden flach und die gewundenen Plätze gerade, und die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden und alles Fleisch miteinander wird es sehen. Dies ist unsere Hoffnung. Dies ist der Glaube, mit dem ich in den Süden zurückgehen werde. Mit diesem Glauben werden wir den Berg der Verzweiflung behauen, einen Stein der Hoffnung…“

Wer die Bibel kennt, hört den Propheten Jesaja heraus. Vom Manuskript gelöst, ruft Martin Luther King: „Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages diese Nation erheben wird und die wahre Bedeutung ihrer Überzeugung ausleben wird: Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: Alle Menschen sind gleich  erschaffen.

Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.

Ich habe einen Traum, dass eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und in der Hitze der Unterdrückung verschmachtet, in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit verwandelt wird.

Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt.

Ich habe heute einen Traum!“

Am 4. April 1968, vor 50 Jahren, wird Martin Luther King ermordet. Doch keine Kugel trifft den einen Traum, der in vielen Köpfen und Herzen lebt. Den Traum, der mit Mächten und Gewalten kämpft, ihnen das Feld aber nicht lässt. Im Psalm 126 heißt es: Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlöst, werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein.“

Redet Gott von einem Unwetter, ist das ein Albtraum – hören wir auf ihn, werden wir Träumende.

Hören wir auf ihn, gehen wir mit unseren Träumen nicht unter.

 

Gottes Ferne und Nähe

Mitten im Satz hören wir Gott sagen, dass er Himmel und Erde erfüllt. Wer sich verstecken will, wird gefunden, wer sich vom Acker macht, aufgegriffen, wer sich an menschlichen Hoffnungen vergreift, in die Knie gezwungen. Gott lässt sich nicht vereinnahmen oder instrumentalisieren – doch in seiner Ferne ist er uns nah. Mit seinem Wort. Hört nicht auf die Worte der Propheten! Hört nicht! Verweigert euch! Lasst nicht alles ins Ohr! Und sagt das auch.  Gott hat seine, unsere Welt noch nicht aufgegeben. „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, dass ich dem David einen gerechten Sproß erwecken  will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird… Und dies wird sein Name sein: Der Herr unsere Gerechtigkeit“ (23,5f.) Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

 

Quellennachweis:

Süddeutsche Zeitung, 28.05.2018: 25 Jahre nach Solingen -  Wie der Hass entstand  - Kommentar von Heribert Prantl

Süddeutsche Zeitung, 29.05.2018: Anschlag von Solingen "Die deutsche Politik hat nichts gelernt" Interview mit Mehmet Daimagüler

 

 

Perikope
03.06.2018
23,16-29

Mit Gottes Liebe unsere wahre Liebe finden – Predigt zu Jeremia 23, 16-29 von Rainer Kopisch

Mit Gottes Liebe unsere wahre Liebe finden – Predigt zu Jeremia 23, 16-29 von Rainer Kopisch
23,16-29

Liebe Gemeinde,

die Bezeichnung falsche Propheten ist schon sehr alt, aber auch in unserer Zeit in Gebrauch. Damit wird eine Erscheinung bezeichnet, die seit Menschengedenken ernste Gefahren für das Leben von Menschen heraufbeschwören kann. Der Predigttext des heutigen Sonntags führt uns in die Lebenszeit des Propheten Jeremia. Er weist mit Gottes Wort auf die Gefahr der falschen Propheten seiner Zeit hin. Sie führen die Menschen fern von Gott in die Irre.

Doch hören sie selbst aus dem Kapitel 23 des Buches Jeremia die Verse 16 bis 29:

Ich lese den Text in der aktuellen Luther-Übersetzung.

so spricht der Herr Zebaoth: hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen! Sie betrügen euch, sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen und nicht aus dem Mund des Herrn. Sie sagen denen, die das Herren Wort verachten: es wird euch wohlgehen –, und allen, die im Starrsinn ihres Herzens wandeln, sagen sie: Es wird kein Unheil über euch kommen. Aber wer hat im Rat des Herrn gestanden, dass er sein Wort gesehen und gehört hätte? Wer hat sein Wort vernommen und gehört? siehe, es wird ein Wetter des Herrn kommen voll Grimm und ein schreckliches Ungewitter auf den Kopf der Gottlosen niedergehen. Und des Herrn Zorn wird nicht ablassen, bis er tue und ausrichtet, was er im Sinn hat; zur letzten Zeit werdet ihr alles klar erkennen. Ich sandte die Propheten nicht, und doch laufen sie; ich redete nicht zu ihnen, und doch weissagen sie. Denn wenn sie im Rat gestanden hätten, so hätten sie meine Worte meinem Volk  gepredigt, um es von seinem bösen Wandel und von seinem bösen Tun zu bekehren. Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der Herr, und nicht auch ein Gott, der ferne ist? Meinst du, dass sich jemand so heimlich verbergen könne, dass ich ihn nicht sehe? spricht der Herr. Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt? spricht der Herr. Ich höre es wohl, was die Propheten reden, die Lügen weissagen in meinem Namen und sprechen,: Mir hat geträumt, mir hat geträumt. wann wollen doch die Propheten aufhören, die Lüge weissagen und ihres Herzens Trug weissagen und wollen, dass mein Volk meinen Namen vergesse über ihren Träumen, die einer dem andern erzählt, so wie ihre Väter meinen Namen vergaßen über dem Baal? ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen?, spricht der Herr. Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?

Wir bekommen eine Schilderung des Jeremia über die Zustände seiner Zeit. Wir hören von falschen Propheten, die ihre eigenen Träume zu Weissagungen machen. Denen, die das Wort Gottes verachten, sagen sie Wohlergehen voraus und denen, die starrsinnig auf den egoistischen Wünschen ihres Herzens verharren, sagen sie, dass kein Unheil über sie kommen wird. Wir hören nichts über die Beweggründe und die Absichten dieser falschen Propheten. Gott macht auf die mangelnde Legitimation aufmerksam. Wer hat im Rat des Herrn gestanden, dass er sein Wort gesehen und gehört hätte? Wer hat sein Wort vernommen und gehört?
Gottlos sind sie und es wird sie ein schreckliches Unwetter treffen bis allen klar sein wird, was der Wille Gottes ist. Wenn diese falschen Propheten wirklich von Gott gesandt wären, hätten sie das Volk mit Gottes Worten von seinem bösen Wandel und seinen bösen Taten bekehrt. So aber haben sie all das Böse und Schlimme noch dadurch unterstützt, dass sie sich als Propheten Gottes ausgegeben haben. Gott stellt durch Jeremia klar, dass er unabhängig und nicht zu vereinnahmen ist, wie nahe er auch den Menschen kommt, denn seine Größe reicht bis in die unerreichbare Ferne. Gott ist eben nicht und für niemand verfügbar.
Jeder Mensch aber, wo er auch ist, wird von Gott gesehen, weil Gott allumfassend ist.
Gott kennt die falschen Propheten. Er hört, wie sie als Propheten auftreten und  was sie weissagen. Er kennt ihre Lügen, mit denen sie die Menschen betrügen und verführen. Er klagt sie mit Recht an, dass sie sich bemühen, Gottes Namen vergessen zu machen. Was die falschen Propheten träumen, erfahren wir nicht, aber die Verbreitung ihrer Träume bereitet den Boden für die Willkür und die Herrschaft des widergöttlichen Bösen. Eine Scheinwelt ist entstanden, in der Betrüger und Betrügerinnen mit den Betrogenen wie in einer gemeinsamen großen Seifenblase von Selbstbetrug leben. Gottes Wort wird aus dieser Scheinwelt ausgeschlossen, weil es diese Welt in Frage stellt. Es wäre entlarvend für Verführer und Verführte in der gottfernen Scheinwelt. Gott selbst spricht von seinem Wort wie von einem Feuer oder einem Hammer, der Felsen auseinanderbrechen lässt.

Uns betrifft dieses gewaltige Wort Gottes scheinbar nicht, solange wir das Prophetenwort des Jeremia auf seine Zeit begrenzen. Ich fühle mich Jeremia und seinem schweren Prophetenamt verbunden und sage frei heraus: Dieses Gotteswort im heutigen Predigttext ist hoch aktuell. Es beschreibt einen bösen Teil der Lebenswirklichkeit in unserem Land, Europa und der Welt sehr genau. Es wird ein Geheimnis der Menschheit bleiben, dass es in dieser Welt immer wieder zu diesen menschenunwürdigen Zuständen der Verführung durch falsche Propheten kommt. Als menschunwürdig bezeichne ich sie deshalb, weil Gott den Menschen als sein Ebenbild erschaffen hat. Die Würde Gottes sollte sich in der Würde des Menschen spiegeln. Einen Blick in unsere Verfassung könnte Hoffnung wecken.

Damit keine unnötigen Zweifel aufkommen, will ich noch eine wichtige Voraussetzung dieser Predigt nennen: Gottes Liebe gilt allen Menschen. Sie zu erfahren, sollte allen Menschen ermöglicht werden. Das heißt auch: Diese Liebe kennt keine Grenzen, wie wir Menschen sie auch immer ziehen könnten.

Die Botschaft der Liebe Gottes ist durch Jesus erneut in die Welt gekommen. In der Liebe zu sein und die Botschaft Jesu ernst zu nehmen, bedeutet auch die Botschaft Gottes in den Worten des Propheten Jeremia deutlicher zu erkennen.

Die Aktualität dieses Gotteswortes lässt uns fragen, wer uns heutige Menschen mit ausgedachten Geschichten - auf neudeutsch: fakenews – verführt und wie es möglich ist. Botschaften wie „Es wird euch wohlgehen“ hören wir gern, weil wir das auch wünschen. Unsere Wünsche gehen in Erfüllung, wenn  wir den wörtlichen und bildlichen Versprechungen der Werbung folgen. Menschliche Schwächen aus den verstecktesten Ecken der Seele werden angesprochen und mobilisiert. Gott will nicht, dass wir mehr auf das Haben und Besitzen achten als darauf, wie wir als Menschen und Christen die Gabe der Liebe Gottes in dieser Welt leben.  Der Mangel an wirklicher Liebe und die inneren Nöte der Menschen können zu Fluchten in verschiedene Irrwege und Süchte führen.

Wo liegt der Grund die Anfälligkeit der Menschen für die Botschaften falscher Propheten? Jesus benennt im Johannesevangelium Kapitel 16 Vers 33 einen Grund:

In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost: Ich habe die Welt überwunden. (Joh 16,33). Jesus hat mit der Liebe Gottes die Macht der Angst in der Welt gebrochen. Deshalb haben wir als Christen die Möglichkeit, die Angst in unserem Leben auf ihre ursprüngliche Aufgabe zu reduzieren, uns auf aktuelle Gefahren zeitnah aufmerksam zu machen. Wenn wir in der Nachfolge Jesu durch unser Leben gehen, werden wir der Liebe Gottes in unseren Herzen folgen können und alles, was uns begegnet, in ihrem Licht sehen. Mit diesem Licht können wir auch die Schatten in unserer Seele erkennen. Wir sind Menschen, die anfällig sind für Neid und Eifersucht, für Habgier und Geiz, für Machtgier und für die Angst, die uns zu Eitelkeit, Hochnäsigkeit, verletzendem Gehabe, Machtgier und aggressivem Verhalten führen kann.

Tiefsitzende Unzufriedenheit und Existenzängste machen Menschen für die Botschaften und Worte falscher Propheten empfänglich. Empfindungen, Opfer von Ungerechtigkeit zu sein, machen Menschen traurig oder aggressiv. Allein die Aufmerksamkeit und der Beistand liebender Menschen können hier beistehen.
Als Christen brauchen sie unseren Herrn nicht zu fragen. Sie wissen, dass sie zwei Aufgaben haben, die sie nacheinander abarbeiten können, wenn sie bereit sind. Die erste Aufgabe ist: Der Liebe Gottes in sich selbst Raum geben und langsam selbst Liebe zu werden. Wenn sie sich wundern sollten. Sie haben richtig gehört. Liebe hat nichts mit Machen sondern mit Sein zu tun. Die zweite Aufgabe ist: Andere Menschen mit der Liebe Gottes anzustecken. Gott hat ihnen genug gesunden Menschenverstand, Fantasie und Vertrauen in die Kraft der Liebe geschenkt.
Sie werden auch andere Menschen für diese Aufgabe gewinnen können. Warten Sie dabei nicht auf Initiativen von Pfarrerinnen, Pfarrer oder Mitglieder der Kirchenvorstände oder anderer Gremien. Haben Sie keine Furcht eine falsche Prophetin oder ein falscher Prophet zu werden.
Das können sie gar nicht schaffen, wenn Sie die Liebe Gottes sind. Lassen Sie sich nicht entmutigen, wenn Sie wie Jeremia auf Ablehnung oder Schlimmeres stoßen. Was soll Ihnen passieren? Sie werden in der Liebe Gottes Verständnis für jeden Menschen entwickeln, sie werden aber auch Geduld mit sich und anderen brauchen.

Amen
 

Perikope
03.06.2018
23,16-29

Verstecken spielen macht Spaß – Predigt zu Jeremia 23, 16-29 von Heinz Behrends

Verstecken spielen macht Spaß – Predigt zu Jeremia 23, 16-29 von Heinz Behrends
23,16-29

Ich möchte Verstecken spielen, Großpapa“, sagt Emil. „Ich fange an, ich versteck mich“. Großvater möchte noch fragen, auf welches Gebiet zum Verstecken sie sich einigen, bis zu der Hecke im Garten oder auch noch dahinter. Aber schon ist er fort. „Okay, spielen wir verstecken“. Großvater zählt bis 20. „Ich komme“. Er schaut sich um, nichts zu sehen. Doch, da hinter dem Kirschbaum, da schimmert ein rotes T-shirt. Aber er geht nicht gleich hin, sondern tut so als suche er. Auf der Terrasse, am Car-Port, hinter dem blühenden Rhododendron. Langsam schleicht er sich näher, mit dem Rücken zum Jungen. „Wo ist er nur?“ Er hört ein leichtes Kichern, dreht sich um. „Da bist du, da hab ich dich“. Emil quietscht vor Freude. „Noch mal“, sagt er. Verstecken spielen macht Spaß. Noch mehr Freude macht es, gefunden zu werden. Emil teilt die Erfahrung anderer Kinder nicht, die sich verstecken, weil sie Angst haben.

 

Verstecken aus Angst

Das Malheur ist passiert. Paula wollte Mutters Tasse von der Anrichte nehmen und hat sie fallen lassen. Sie wollte sie doch nur mal in die Hand nehmen. Nun  ist sie auf den Boden gefallen, zerbrochen in 1000 Stücke. Es war ein Erbstück von Großmutter. Mutter hat es geliebt und gehütet wie einen kostbaren Schatz, er ist  nicht zu ersetzen. Mutter wird es gehört haben und gleich runter in die Stube kommen. Es wird ein Donnerwetter geben. Paula versteckt sich in der Ecke, am liebsten würde sie sich unsichtbar machen. Da kommt Mutter schon. Jetzt gibt es kein Entkommen mehr. Mutter entdeckt die Scherben, schreit kurz auf und sieht Paula zusammengekauert in der Ecke. „Was hast du getan“! Für eine Entschuldigung reicht Paula der Atem nicht. Sie ist wie erstarrt.

Gott sieht alles

Ein schreckliches Gefühl ist das. Nichts kann ich verbergen. Mutter sieht viel, aber der liebe Gott sieht noch mehr, er sieht alles.
„Meinst du, dass sich jemand so heimlich verbergen könne, dass ich ihn nicht sehe?“ Wir sind nicht perfekt, wir bleiben hinter dem zurück, was Gott von uns fordert. Dies Gefühl verlässt uns nicht. Wir wissen nur zu gut, was gut ist, was dran ist. Das Wissen, Gott sieht alles, macht es nicht besser. Eigentlich ein schreckliches Gottesbild. Ich möchte Orte haben, wo niemand hinguckt, ich möchte Geheimnisse haben. Die digitale Technik ersetzt den allwissenden Gott. Kameras überall. Navigatoren kennen meine Wege und Orte. Allmählich wehren wir uns dagegen, dass wir durch Satelliten-Ortung überall aufzuspüren, zu sehen sind. Oft von Augen, die ungnädiger sind als Gott es sein kann. Ich kann mich nicht verbergen. Schlimm.

 

Wenn Gott sich versteckt

Noch schlimmer ist, wenn Gott sich versteckt. Daniela hat MS. Sie ist erst 23. Zwei Schübe im ersten Jahr. Leben auf einem Pulverfass. Das Gebet im Haus verstummt. Jeden Morgen hatte Mutter für alle am Tisch gebetet. Für die Kranken, gedankt für die Gesundheit, das Glück. Die Realität ist nun so bitter. Warum das alles? Wozu? Fragen ohne Antwort. Wenn Beten hören ist, dann hört sie nichts mehr. Gott schweigt. Gott hat sich versteckt, er hat sich verborgen. Deus absconditus nennt Martin Luther diese Gotteserfahrung, diesen Gott. Der verborgene Gott.

Gott ist fern

„Bin ich nur ein Gott, der nahe ist?“- Nein. Ist er nicht. Eine tiefe Lebens-, eine erschütternde Glaubenserfahrung. Realität. Darum wettert der Prophet Jeremia gegen die Propheten, die den kuscheligen Gott verkünden. „Sie sagen denen, die des Herrn Wort verachten: Es wird Euch wohlgehen“. Vielleicht meinen sie es gut und wollen Menschen zu Gott bringen. Aber das geht nicht mit einem Kuschelkurs. Sie wollen nach dem Mund reden. Träumer sind sie. Was ihre Herzen wünschen, ist nicht Realität, ist nicht das Leben. Es kann nicht gut gehen, wenn Menschen den Bund mit Gott nicht mehr ernst nehmen. Für Jeremia ist das ein großes Thema. Gott hat einen Bund mit den Menschen geschlossen, hat ihnen die Weisungen, die Thora, gegeben, damit sie wissen, wie Leben gelingen kann. Als Antwort auf diese Wohltat verlangt Gott, dass sie danach leben. Da kann man nicht drum herum reden wie die anderen Propheten es tun. Sie wollen geliebt werden, sie wollen sich nur selbst bestätigen. „Wenn sie in meinem Rat gestanden hätten, so hätten sie meine Worte gepredigt, um sie von seinem bösen Wandel zu bekehren.“ Jeremia schimpft, er ermahnt. „Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen, spricht der Herr?“ Auf Stroh hinterlassen die Kamele ihren Kot. Weizen dagegen, das Wort Gottes ist lebenswichtig. Es ernährt.

 

Keinen Kuschelkurs

Aus Kulturen vor Jeremia ist bekannt. Wenn ein Prophet ein Wort an das Volk richtet, muss er eine große Locke abgeben und aus seinem Gewand schneidet man ein Stück Tuch, damit man ihn später erkennt, wenn er falsch gesprochen hat. Kuschelkurs ist nicht angesagt. Nicht nach dem Munde reden. Jeremia macht das nicht, er redet wie es Wetterberichte tun. „Es wird ein Wetter des Herrn kommen, ein schreckliches Ungewitter“. Er spricht wie ein Schmiede- und Maurermeister spricht. „Ist mein Wort nicht wie Feuer, wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt“.  Ein moderner Text ist das, dieser Jeremia. Die Lehrerin in der Schule für Krankenpflegerinnen bespricht mit den Schülerinnen das Gleichnis vom Weltgericht, um ihnen die Werke der Barmherzigkeit zu vermitteln. Sie lehnen die Erzählung vehement ab. „Gericht gibt es nicht“. „Das ist doch Quatsch“. „So ein blöder Gott“. Sie haben als Konfirmandinnen die Lieder von der Liebe Gottes gelernt. Und falsch verstanden. Liebe als Akzeptanz jeder Verhaltensweise. „Ich bin okay, du bist okay“. Wir können nicht lieben, wenn  wir uns alle für lieb halten. Die Unwuchten aushalten, das ist es. Die Liebe lebt von der Wahrheit, damit ich weiß, was ich lieben kann.

Nahe durch seinen weiten Blick

„Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der Herr, und nicht auch ein Gott, der ferne ist“? Nein, Gott ist nicht fern. Gott ist nahe durch seine Ferne. Stefan steigt auf den Kirchturm und hat einen weiten Blick. Die Sicht ist klar wie selten. Er sieht dort unten die ganze Landschaft. Die Straßen unter ihm. Er sieht das Haus, in dem er lebt, den Rathausplatz. Den Bäcker, bei dem er jeden Morgen die frischen Brötchen holt, den Friedhof dort am Rand, wo er seine Eltern begraben hat. Er sieht die Wege in der Feldmark wie sie am Horizont wie in eine Zukunft verschwinden. Ja, selbst den Rand der kleinen Stadt dort am Horizont kann er sehen, wo er im Krankenhaus geboren wurde und seine Mutter starb. Ein klarer Blick. Er sieht die Details, Und er sieht das Ganze. Er sieht das alles nur, weil er Distanz hat, von dort oben. Ja, Gott ist nahe, weil er das Ganze sieht.  Die Scheidung nach 21 Jahren Ehe war damals ein kleine Katastrophe, die Kinder blieben bei der Mutter. Dann die Diagnose: Prostata-Krebs vor 8 Jahren, die OP, 5 Jahre halbjährige Nachsorge, immer wieder leicht verängstigt. Der Karriere-Knick. Die versprochene Leitungs-Stelle bekam ein anderer. Aber jetzt, beim Blick vom Kirchturm ist er glücklich. Er hat wieder geheiratet, die Patchwork-Familie ist kein Problem. Wenn er das Ganze betrachtet, war Gott nie fern, sondern nahe.

Ja, so ist Gott. Er ist nahe, weil er als der Ferne den Überblick hat. „Bin ich es nicht, der Himmel und Erde füllt?“ Darum muss ich mich nicht verstecken vor dem, der mehr über mich weiß als ich selber. Gefunden werden ist schön.

Perikope
03.06.2018
23,16-29

Der ferne Gott - Predigt zu Jeremia 23,16-29 von Jürgen Kaiser

Der ferne Gott - Predigt zu Jeremia 23,16-29 von Jürgen Kaiser
23,16-29

Liebe Gemeinde,

Als Ulf Poschardt an Heilig Abend aus der Christmette kam, sonderte der Chefredakteur der „Welt“ um 0.48 Uhr einen Tweet ab: „Wer soll eigentlich noch freiwillig in eine Christmette gehen, wenn er am Ende der Predigt denkt, er hat einen Abend bei den Jusos bzw. der Grünen Jugend verbracht?“ Der Tweet hat eine heftige Diskussion zum Thema in Gang gesetzt. „Sie haben schon länger dieses Gefühl, dass Kirche zu politisch geworden ist?“, wurde Poschardt in einem Interview gefragt und bekannte: „Na klar. Evangelische Kirchentage sind von grünen Parteitagen oft nur schwer zu unterscheiden. Die Rolle des Pfarrhauses für die deutsche Politik ist von Gudrun Ensslin über Angela Merkel bis Katrin Göring-Eckart und Frauke Petry kaum zu unterschätzen. Politik ist in Deutschland viel zu sehr säkularisierte Religion. Am schlimmsten ist das Gift des säkularisierten Protestantismus.“ [Zeit Online, https://www.zeit.de/2018/02/ulf-poschardt-christmette-politik-kritik-tw….]

Er sitzt im Schatten der hohen Mauer. Männer in langen Mänteln eilen über den Platz. Er sieht, dass sie ihn bemerken, aber sie grüßen nicht. Er grüßt auch nicht. Sie verschwinden im Palast. Jeremia ärgert sich. Seine Kollegen sind gefragt. Er nicht. Sie werden gerufen, um ihre Analysen vorzutragen. Seine Mahnungen will keiner hören. Seine Kollegen haben andere Methoden. Sie benebeln sich mit Räucherwerk, haben schöne Träume und sagen angenehme Dinge. Solche Leute sind gern gesehene Gäste im Palast.
Als die Sonne ganz hinter der hohen Mauer verschwindet, geht Jeremia ins Haus und ruft seinen Schreiber. „Schreib!“, sagt er und diktiert:

So spricht der HERR der Heerscharen: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen! Sie täuschen euch, sie verkünden die Schauung ihres eigenen Herzens, nicht das, was aus dem Mund des HERRN kommt. Immer wieder sagen sie zu denen, die mich verachten: Der HERR hat gesagt: Ihr werdet Frieden haben! Und zu jedem, der im Starrsinn seines Herzens lebt, sagen sie: Es wird kein Unheil über euch kommen! Wer hat denn in der Versammlung des HERRN gestanden, dass er sein Wort gesehen und gehört hätte? Wer hat auf sein Wort geachtet und hat es gehört? Sieh, der Sturm des HERRN ist losgebrochen als Zorn, ein wirbelnder Sturm, gegen das Haupt der Frevler wirbelt er. Die Wut des HERRN wird sich nicht legen, bis er die Pläne seines Herzens ausgeführt und verwirklicht hat. In ferner Zukunft werdet ihr es ganz begreifen. Ich habe die Propheten nicht gesandt, und dennoch sind sie gelaufen, ich habe nicht zu ihnen gesprochen, und dennoch haben sie geweissagt. Wenn sie aber in meiner Versammlung gestanden haben, sollen sie mein Volk meine Worte hören lassen und sie zurückbringen von ihrem bösen Weg und von der Bosheit ihrer Taten. Bin ich denn ein Gott der Nähe, Spruch des HERRN, und nicht auch ein Gott der Ferne? Kann sich einer in Verstecken verstecken, und ich würde ihn nicht sehen? Spruch des HERRN. Fülle ich nicht den Himmel und die Erde? Spruch des HERRN. Ich habe gehört, was die Propheten gesagt haben, die in meinem Namen Lüge weissagen: Ich habe geträumt, ich habe geträumt! Wie lange noch? Haben die Propheten, die Lüge weissagen und die den Trug ihres Herzens weissagen, überhaupt Verstand; sie, die planen, mit ihren Träumen, die sie einander erzählen, meinen Namen in Vergessenheit zu bringen bei meinem Volk, wie ihre Vorfahren meinen Namen vergessen haben über dem Baal? Der Prophet, der einen Traum hat, soll einen Traum erzählen, der aber, der mein Wort hat, soll treu mein Wort sagen. Was hat das Stroh mit dem Getreide gemein? Spruch des HERRN. Ist mein Wort nicht so: wie Feuer, Spruch des HERRN, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert?

Martin Dutzmann sitzt in seinem Büro mitten in Berlin. Hin und wieder verlässt er es, um in den Bundestag zu gehen oder einen Staatssekretär zu besuchen. Martin Dutzmann ist ein freundlicher Mensch. Dass er laut wird, den Zeigefinger hebt oder mit der Faust auf den Tisch haut, kann ich mir kaum vorstellen. Dass er heikele Themen lieber verschweigt, um seinem Gesprächspartner nicht die Laune zu verderben, kann ich mir auch nicht vorstellen. In der Versammlung des Herrn hat Martin Dutzmann meines Wissens noch nicht gestanden, dass er das Wort des Herrn direkt gesehen oder gehört hätte. Aber er sitzt im Rat der EKD und hört direkt, was dort gesagt wird.

Die Kirche ist der Meinung, dass sie etwas zu sagen hat. Sie soll sich um die Seele ihrer Mitglieder kümmern, sie muss sich aber auch zu Wort melden, wenn in der Gesellschaft etwas vor sich geht, das Gott so nicht wollen kann. Die Kirche glaubt, dass das Evangelium nicht nur ihren einzelnen Mitgliedern etwas zu sagen hat, sondern der gesamten Gesellschaft. Sie sieht sich zu einem prophetischen Wächteramt berufen. Sie darf nicht schweigen, wenn sie in Politik und Gesellschaft Tendenzen wahrnimmt, die sich an Gottes Geboten gemessen nur als Fehlentwicklungen brandmarken lassen.
Deshalb äußern sich die Pfarrer und Pfarrerinnen auf den Kanzeln auch politisch, bemängeln und kritisieren. Dass sie sagen, was gut ist, kommt auch vor, aber seltener. Die Kirchen institutionalisieren sogar die politische Einmischung. Die Landeskirchen haben Länderbeauftragte, die den Kontakt zu den Landesregierungen und Landesparlamenten halten, die EKD hat Herrn Dutzmann, den Bevollmächtigten des Rates der EKD in Berlin und Brüssel.

Die Kirche kritisiert. Aber sie wird auch kritisiert. Nicht zuletzt dafür, dass sie kritisiert. Die Kirche solle sich nicht einmischen, sondern bei ihrer Sache bleiben. Oft sind solche Einwendungen ihrerseits politisch motiviert und kommen von einer Seite, für die die Kirche zu links ist. Andere monieren, die Kirche betone ihre politische Verantwortung vor allem, um ihre gesellschaftliche Relevanz zu demonstrieren und ihrer eigenen Marginalisierung entgegenzusteuern, und warnen vor der Moralisierung und Emotionalisierung des Christentums. [Ulrich H.J. Körtner, Für die Vernunft. Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche, 2017.]
Von der anderen Seite wird die Kirche kritisiert, weil sie zu zahm sei. Sie sitze den Mächtigen auf dem Schoß, sage nur, was die hören wollten und sei so glücklich über ihre guten Beziehung zum Staat, dass sie es gar nicht wage, das zu tun, was ihr Auftrag ist: Sich für die einzusetzen, die keine Stimme haben, und dem Recht und der Gerechtigkeit im Land zum Durchbruch zu verhelfen.

Die Klagen des Propheten Jeremia und des Chefredakteurs Poschardt liegen nicht ganz auf derselben Linie. Jeremia klagt über seine Kollegen, die den falschen Leuten das Falsche sagen. Zu denen, die nichts von Gott wissen wollen, sagen sie, Gott ist mit euch, alles ist gut, ihr werdet euren Frieden haben. Poschardt beklagt nicht, dass die Kirche ihr prophetisches Amt wahrnimmt und gesellschaftliche und politische Fragen anspricht. Er beklagt nur, wie sie das tut. Nämlich in einer Weise, die sich nicht mehr unterscheidet von Parteiprogrammen oder Wahlkampfreden zumeist eher linkerer Gruppen. Der Punkt ist aber nicht die eher linke Einfärbung, sondern die Ununterscheidbarkeit zwischen Kanzelwort und Wahlkampfrede. Mit Blick auf die Weihnachtspredigt, die Poschardts Tweet ausgelöst hat, ist der Vorwurf kaum von der Hand zu weisen.

Wer hat denn in der Versammlung des HERRN gestanden, dass er sein Wort gesehen und gehört hätte? Wer hat auf sein Wort geachtet und hat es gehört?
Woher nehmen wir unsere Botschaften? Wessen Worte reden wir?
Prediger und Predigerinnen, Länderbeauftragte und EKD-Bevollmächtigte lesen die Bibel und die Zeitung. Doch für manche ist der Weg von der Bibel zur Zeitungsmeldung sehr kurz. Jede Kritik wird von Straße aufgeglaubt und dem Wort Gottes als Fußnote angeheftet, wenn nicht gar als Schlagzeile übergestülpt.
Jeremias Anklage einer allzu gefälligen, staats- und systemdienlichen Einlullungs- und Propagandaprophetie könnte Wasser auf die Mühlen derer sein, die meinen, die Kirche müsse um des Evangeliums willen Tacheles reden, deutlicher Partei ergreifen und die Missstände und die Ungerechtigkeit beim Namen nennen. Aber ist das wirklich das, was wir bei Jeremia lesen? Wären das nicht die allzu kurzen Wege von der Bibel auf die Straße, ein elektrisierter Aktionismus, der das Evangelium mit Kurzschlüssen mehr gefährdet als es zu bezeugen? Dann brennt einem Kanzelredner bei starker Weihnachtsspannung leicht die Sicherung durch und verdirbt einem Chefredakteur die Stimmung.

Jeremia mobilisiert gegen die falschen Propheten nicht zum Protest auf der Straße. Er reißt vielmehr einen tiefen Graben auf. Er rückt Gott in weite Ferne. Er wirft ein Schlaglicht auf die dunkle Seite Gottes, auf einen fernen Gott, der sich nicht für politische Botschaften einspannen lässt, nicht für die liebsamen, aber auch nicht für die unliebsamen.
Bin ich denn ein Gott der Nähe, Spruch des HERRN, und nicht auch ein Gott der Ferne? Kann sich einer in Verstecken verstecken, und ich würde ihn nicht sehen? […]Der Prophet, der einen Traum hat, soll einen Traum erzählen, der aber, der mein Wort hat, soll treu mein Wort sagen. Was hat das Stroh mit dem Getreide gemein? Spruch des HERRN. Ist mein Wort nicht so: wie Feuer, Spruch des HERRN, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert?

Woher nehmen wir unsere Botschaften? Wessen Worte reden wir?
Jeremia hat keine Träume. Er hat Gottes Wort. Direkt und unmittelbar. Seine Kritik an den Lügenpropheten artikuliert er als Spruch des Herrn. Was er redet, redet gar nicht er selbst, sondern Gott.
Hier stellt sich ein Gott vor, der Politik und Kirche gleichermaßen die Illusionen raubt. Weder will er einspringen, wenn die Politik nicht weiter weiß, noch mag er der Kirche helfen, ihren Bedeutungs zu kaschieren. Er steht nicht zu Diensten, ist nicht einfach ein Gott zum Dabeisein, Mitsein und Mitmachen, zum Segnen und Absegnen. Gott lässt sich nicht für politische Ziele einspannen. Weder zur höheren Legitimierung von Regierungspolitik, noch zur höhere Legitimierung von Opposition und Protest.
Er ist auch und zuerst einmal auch darin ein ferner Gott, dass sich seine Worte nicht einfach in politisches Handeln übertragen lassen und dass Martin Dutzmann nicht einfach Gesetzesvorlagen aus der Bibel abschreiben und dem Staatssekretär auf den Schreibtisch legen kann. Der Gott Israels bekennt sein hohes Engagement für Recht und Gerechtigkeit. Nur sind diese Werte, was immer sie meinen, längst in die politischen Programme eingewandert. Wer sie einfach per „copy & paste“ aus der Bibel in die Predigt oder in kirchliche Verlautbarungen übernimmt, muss sich tatsächlich fragen lassen, worin eigentlich der Unterschied liege zwischen Bibel und Parteiprogramm.

Daher ist man gut beraten, ruhig zu bleiben, still zu halten, Bibel zu lesen, zu predigen, was man dort gelesen hat und nicht so zu tun, als sei man täglich in den Versammlungen des Herrn und höre, ja sehe das Wort Gottes.
Ruhig bleiben, abwarten. Wenn Gott stürmt, wenn sein Zorn entbrennt, wenn sein Wort hämmert, wird man es schon mitkriegen. Und dann wird man nicht mehr schweigen können. Aber erst dann.

Jeremia sitzt im Schatten der hohen Mauer. Er hat nicht gut geschlafen in dieser Nacht. Sein letzter Text hat ihn gequält. Er hasste seinen Beruf, seiner Berufung misstraute er von Anfang an. „Ich weiß nicht wie das geht, ich bin zu jung“, hatte er gesagt. Aber der Herr sprach: „Sag nicht: Ich bin noch jung… Was immer ich dir gebiete, wirst du sagen. Er berührte seinen Mund und sagte: Ich lege meine Worte in deinen Mund, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen. (Jer 1,4-10)
Das war lange her. Aber Jeremia musste immer daran denken, wenn er im Schatten der hohen Mauer saß. Er musste schon vieles ausreißen und verderben in seinem Leben. Doch er weiß: Irgendwann kommt die Zeit, dass Gott ihm sagt: Jetzt baue und jetzt pflanze.
Gott wird sich melden. Gott wird sich einmischen. Wir werden es hören. Zu seiner Zeit. Wie und wo und wann er es will. Amen.

 

Perikope
03.06.2018
23,16-29

Herzensschreiber gesucht - Predigt zu Jeremia 31,31-34 von Nico Szameitat

Herzensschreiber gesucht - Predigt zu Jeremia 31,31-34 von Nico Szameitat
31,31-34

Da-dumm. Da-dumm.

Sonntagszeitung, Kleinanzeigen, Stellenangebote: „Herzensschreiber zum nächstmöglichen Zeitpunkt gesucht. Unbefristete Stelle, Vollzeit, für Mann oder Frau mit Erfahrung in Kalligraphie zwecks Beschriftung von Herzen. Einfühlungsvermögen von Vorteil. Aussagekräftige Bewerbung erbeten an Chiffre JER 31 31 34.“

 

Da-dumm. Da-dumm.

„Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen, nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, mein Bund, den sie gebrochen haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der Herr; sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der Herr: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein. Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den Herrn«, denn sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der Herr; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.“ (Jeremia 31,31-34, Lutherbibel 2017)

 

Da-dumm. Da-dumm.

Ach, das hört sich doch sehr nach Liebeskummer an. Da ist der Allmächtige einen ewigen Bund mit einem Menschenvolk eingegangen, und dann lief es ganz anders als von ihm erhofft. Das kleine Israel hatte er für seinen Bund auserwählt: „Sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein.“ Und wie für ein kleines Kind hatte er alles für Israel getan. An die Hand hatte er sie genommen, mit Mose, und aus der Knechtschaft in Ägypten geführt. Er ist mit ihnen den staubigen Weg durch die Wüste gezogen, hat ihr Genörgel ertragen – „Wann sind wir endlich da?“ – ok, er ist nicht immer seelenruhig geblieben, aber er hat sie mit allem Nötigen versorgt: Mit Himmelsbrot und Lebenswasser, mit Schutz vor Feinden, mit Geboten auf steinernen Tafeln, die das Leben in dem größer werdenden Volk erst möglich machten. Zusammen waren sie im gelobten Land angekommen und hatten das Land urbar gemacht. Er gab seinem geliebten Volk Richter und Könige. Und immer wieder Propheten, die es auf den rechten Weg zurückbringen sollten. Doch im Laufe der Jahrhunderte hatte er immer mehr den Eindruck, dass aus den Kindern Israels pubertäre Jugendliche geworden waren und dass nach der rebellischen Phase nun der Loslösungsprozess begonnen hatte. Wenn es nach ihm ging, würde er seinen Bund ja ewig festhalten, aber offenbar wollten sie nicht mehr. Jeremia hieß jetzt sein Prophet, der dem Volk einen neuen Bund prophezeite. Einen Bund nicht auf steinerne Tafeln, sondern ins Herz geschrieben. Und dafür würde er, Gott, einen Herzensschreiber brauchen.

 

Da-dumm. Da-dumm.

Was für ein Traum! Gottes Wort im Herzen der Menschen eingeschrieben. Und was für ein Alptraum: Für die Theologieprofessoren, für die Bibliothekare in den theologischen Abteilungen der großen Bibliotheken, für die Hüter der Glaubenskongregation in Rom, und für viele Pfaffen und Pfaffinnen! All das theologische Büchermachen, alles wissenschaftliche Spekulieren und Erklären, was Gottes Wille sei, alle Theologisiererei in ihrer höchsten Kunst hätte dann ein Ende! Und als nächstes schlössen die juristischen Fakultäten und Gerichte, weil alle Menschen automatisch nach Gottes Willen, nach seinen Geboten lebten und in Nächstenliebe handelten. Denn wenn die Menschen Gottes Wort im Herzen haben, dann wissen alle  –  ach Quatsch, dann spüren alle, was Gottes Wille ist! Dann sind die Menschen eins mit Gott. Und eins mit Gott leben und handeln sie. Und keiner mehr, der den anderen lehrt und sagt: „Das ist aber Sünde.“ Und keine mehr, die die andere lehrt und sagt: „Gott will, dass wir alle Dingens und Kirchens tun.“ Ach, was wäre das für eine Zeit! Aber wie soll Gottes Wort in unsere Herzen kommen? Wer kann die Herzschrift schreiben? 

 

Da-dumm. Da-dumm.

„Ich komme wegen der Stellenanzeige. Ich bin Herzspezialist.“ „Ach“, sagt Gott, „das klingt gut. Kennen Sie sich denn auch mit Herzschrift aus?“ „Das will ich meinen. Ich leite einer der führenden Universitätskliniken und arbeite nahezu täglich mit dem EKG.“„Mit dem Evangelischen Kirchengesangbuch?“ „Nein, mit dem Elektrokardiogramm. »Das Elektrokardiogramm (…) ist die Aufzeichnung der Summe der elektrischen Aktivitäten aller Herzmuskelfasern mittels eines Elektrokardiografen. (…) Gelegentlich wird es auch Herzschrift genannt. (…) Mit dem EKG lassen sich vielfältige Aussagen zu Eigenschaften und Gesundheit des Herzens treffen. Zu beachten ist, dass das (…)EKG nur die elektrische Aktivität des Herzmuskels anzeigt, nicht jedoch die tatsächliche (…)Leistung widerspiegelt.«1“ „Nein, nein!“, rief Gott. „Ich brauche doch keinen Kardiologen! Und auch wenn die ganze Operation am offenen Herzen stattfindet, brauche ich keinen Herzchirurgen! Ich brauche einen Herzensschreiber, der in die Herzen hineinschreibt. Keine Herzschrift über das Herz. Mitten hinein! Ist das denn so schwierig?!“

 

Da-dumm. Da-dumm.

Letztendlich gab es nur einen geeigneten Bewerber. „Du also.“, sprach Gott. „Hätt‘ ich mir ja auch denken können.“ „Ja. Wer denn sonst, wenn nicht ich?“ „Stimmt. Wer, wenn nicht du... Okay, du bist ab sofort mein Herzensschreiber!“ Also sandte Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.

Und so kam der Herzensschreiber in die Welt, der den kleinen Zöllner Zachäus vom Baum pflückte, der für die Frau am Brunnen lebendiges Wasser schöpfte, der der krummen Witwe den Rücken stärkte, der Pilatus staunend zurückließ, der mit den Jüngern neue Wege ging. Sie alle spürten, dass Jesus eins mit Gott lebte und handelte. Durch gemeinsames Essen, wenn sie am Seeufer zusammen Fische grillten, durch Worte, durch kleine Gesten erreichte er ihr Herz, so dass manch eine hinterher flüsterte: Ich bin Gott selbst begegnet.

Ja, Jesus ist der neue Bund. Denn tief in sein Herz eingeschrieben ist Gott. Und so wird Jesus selber zum Herzensschreiber. So hat sich die Prophezeiung von Jeremia weder an dem Volk Israel noch an der ganzen Menschheit verwirklicht, sondern in nur einem Menschen: Jesus Christus, einig Gottessohn und eingeborener Herzensschreiber.

 

Da-d..

Und nun ist er weg. Am Donnerstag. Verschwunden. Auf in den Himmel oder wo auch immer hin. Und seitdem ist er nicht wiedergekommen. Bis heute nicht. Stattdessen hat das Büchermachen und die Theologisiererei angefangen. Denn wer wusste jetzt noch genau, was Gottes Wille ist, wenn der einzig wahre Herzensschreiber doch wieder verschwunden war?

Für die Jünger muss das eine Katastrophe gewesen sein, als Jesus verschwand. Auf einmal waren sie auf sich alleine gestellt. Da aber Jesus wusste, wie es den Jüngern ergehen würde, ließ er ein Abschiedsgeschenk da, den Heiligen Geist. Nur ist dieser Heilige Geist, dieser Windhauch, diese Feuerflamme, nicht so fassbar wie ein Jesus von Nazareth, mit dem ich Wasser schöpfen oder Fische grillen kann. Und doch spüre ich manchmal diese Geistkraft. Wenn sie nämlich Menschen begeistert. Wenn zum Beispiel beim Kirchentag (jetzt beim Katholikentag) alle anfangen zu summen, zu singen. Dann ahne ich etwas von der Begeisterung, mit der die Jünger unterwegs waren.

 

Insofern ist der Geist kein Herzensschreiber, sondern ein Erinnerer.

Er erinnert uns an die Geschichten, die wir vererbt bekommen haben.

Von Generation zu Generation, von Herz zu Herz.

Bei den Jüngern war das durch das gemeinsame Leben mit Jesus noch eine komplette Herzensschrift. In unseren Herzen finden wir mit Hilfe des Geistes

einen Abglanz durch die Zeiten.

Klangreste, Wüstenspuren,

leuchtende Buchstaben einer Schrift,

die der eingeborene Herzensschreiber

irgendwann einmal vervollständigen wird. 

 

Amen.

 

1 I www.wikipedia.org/wiki/Elektrokardiogramm, abgefragt am 8. Mai 2018

Perikope
13.05.2018
31,31-34

Was können wir erwarten ? - Predigt zu Jeremia 31,31-34 von Antje Marklein

Was können wir erwarten ? - Predigt zu Jeremia 31,31-34 von Antje Marklein
31,31-34

Höre meine Stimme, wenn ich rufe – Exaudi - so heißt der Sonntag heute. Aber : Wer hört denn? Zwischen Himmelfahrt und Pfingsten sind wir allein. Der Auferstandene hat sich getrennt von seinen Freunden, hat sich – Himmelfahrt - aufgemacht zu Gott. Und das Pfingstereignis, der Heilige Geist, der sich zu den Menschen begibt - steht noch bevor.

Höre meine Stimme, wenn ich rufe? Wer hört denn da noch? Im Kirchenjahr ist dieser Sonntag  ein bisschen verloren, ‚geistlos‘ sozusagen. So wie eine Zeit zwischen zwei Regierungen oder zwei Legislaturperioden des Kirchenvorstandes oder zwei Schuljahren. Eine Zeit dazwischen, wo man nicht so richtig weiß: woran soll ich mich halten.  Was gilt noch, was wird sich verändern?

In so einer geistlosen Zeit suchen Menschen nach Stabilität. Gefährlich wird diese Suche, wenn sie sich vermeintlichen Sicherheiten hingeben, sich populistischen Sprüchen anschließen, nach schnellen Lösungen suchen.  Also: was gibt unserem Leben Stabilität in geistlosen Zeiten?

Das Leben besteht aus Verträgen. Verträge regeln das Miteinander, und sie geben – zumindest in bestimmten Bereichen, Sicherheit. Mein Dienstvertrag regelt meine Arbeit, der Stromanbieter schließt mit mir einen Vertrag über meinen Stromverbrauch und dessen Kosten, mein Handyvertrag sichert mir bestimmte Leistungen, ein Ehevertrag kann im Krisenfall Klarheit herbeiführen, usw. Der Kaufvertrag für den neuen Schrank stellt die gegenseitigen Verpflichtungen fest, ja, und wenn man einen Vertrag  nicht einhält, kann man sich die Konsequenzen schon vorher ausmalen. Wenn ich meinen Handyvertrag nicht bezahle, kann ich das Handy nicht nutzen. Wenn ich mich nicht Mietvertrags-konform verhalte, habe ich bald keine Wohnung mehr. Wenn eine Baufirma ihren Zeitplan nicht einhält, zahlt sie Konventionalstrafe. 

Bei einem Vertrag gehen beide Seiten eine Verpflichtung ein, und meist wird sie schriftlich festgehalten. Das gibt Sicherheit.

Im alten Israel, lange vor unserer Zeitenrechnung, haben die Menschen ihren Alltag auch mit Verträgen geregelt, sicher nicht immer schriftlich, aber die Folgen hatten sie meist im Blick, wenn sie Verträge geschlossen haben. Das Zwischenmenschliche musste geregelt werden, etwa durch klare Familienhierarchien, Regeln über das Verhältnis von Mann und Frau, und Regeln über das Verhältnis zwischen Mensch und Gott. Wir kennen die schönen alten Geschichten vom Bund Gottes mit Noah, die großen Versprechen an Abraham und auch Mose hat den Israeliten den Bund Gottes mit ihnen vor Augen gehalten. Gott sagt: Ich führe euch aus Ägypten heraus, und ihr haltet euch an meine Gebote:  zwar kein schriftlicher Vertrag, aber schon ein Versprechen auf Gegenseitigkeit und immerhin die Gebote in Stein gemeißelt. Und gerade in besonders geist-losen Zeiten waren in Stein gemeißelte Gesetze stabilisierend.

Verträge werden gebrochen, und die unvermeidlichen Folgen treffen ein. Immer wieder deuten die Schreiber des ersten Testaments ihren Alltag mit dem belohnenden oder strafenden Gott. Die Prophetenbücher sind voll von Drohungen der Propheten an das Volk. Die Strafe wird auf dem Fuße folgen, Unheilsprophetie nennt man das, und oft genug geht die schlimmste Drohung der Propheten in Erfüllung.  Einmal allerdings hat einer dieser Propheten, Jeremia war es, seine Hörer richtig überrascht. Im Jeremiabuch, das sonst hauptsächlich aus Unheilsprophetie besteht, aus Klage und Untergangsstimmung, im Jeremiabuch gibt es eine besondere Ausnahme. Da macht sich Jeremia zum Sprachrohr Gottes, um ein großes Versprechen zu geben, das direkt ins Herz geht. Und das ist der Text, der heute als Predigttext für diesen ‚geistlosen‘ Sonntag Exaudi vorgesehen ist.

Gebt Acht, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Haus Israel und mit dem Haus Juda einen neuen Bund schließen, nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägypten zu führen, mein Bund, den sie gebrochen haben, obgleich ich ihr Herr war; sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich lege mein Gesetz in ihr Herz und schreibe es in ihren Sinn. Sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein. Da wird keiner den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, denn sie alle werden mich kennen, Kleine und Große. Ihre Untaten will ich vergeben und ihrer Sünde nicht mehr gedenken.

 

Was ist das Neue?

Dieses Gesetz geht direkt ins Herz. Gott sagt: Ich lege mein Gesetz in ihr Herz und schreibe es in ihren Sinn. Sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein.

Gott legt sich uns ans Herz: Ich will euer Gott sein, Ihr seid mein Volk. Ihr, Israel, und ihr, die Völker der Welt, ich euer Gott, und ihr mein Volk. Ein großes Versprechen, einseitig, kein Vertrag. Ein einseitig geschlossener Bund. Kein Vertrag der das Leben sicher macht, ein Bund im Herzen. Ein großes Versprechen. Etwas fürs Herz.

Ja, und dann? Was hab ich davon? Dass Gott sich in mein Herz gepflanzt, geschrieben hat? Was ich davon habe, ergibt sich. Ja es ergibt sich, ich muss es nicht machen. Ken Gebot einhalten, kein Gesetz befolgen. Es ergibt sich. Mit Jeremias Worten:

Da wird keiner den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, denn sie alle werden mich kennen, Kleine und Große. Ihre Untaten will ich vergeben und ihrer Sünde nicht mehr gedenken.

Soll heißen: Keiner muss  mehr dem anderen sagen, wie das mit Gott zu verstehen ist. Keiner muss mehr dem anderen sagen, was gut ist im Leben und was schlecht. Jeder weiß es, jeder lebt es, es ergibt sich.  Kleine und Große werden Gott kennen. Es ergibt sich.

Ist das eine Utopie? In der ‚geistlosen‘ Zeit  ein Blick in die weit entfernte Zukunft? Ja, möchte ich sagen, davon sind wir so weit entfernt wie lange nicht. Viel lieber und viel einfacher halten wir uns an Sicherheiten, an Gesetze, an Verordnungen, die das Leben regeln. Wer bei rot über die Ampel fährt, zahlt. Wer den Mietvertrag nicht einhält, geht. Wer in Deutschland kein Bleiberecht hat, wird ausgewiesen. Wer nach der OP drei Tage im Krankenhaus war, wird entlassen. Wer seine Stromrechnung nicht zahlt, hat keinen Strom.  Ja, das sind Gesetze, die Sicherheit geben. Aber sie gehen nicht ins Herz. Sie bleiben im Kopf.

Anders ist das, was wir in der Kirche erleben, was wir feiern. Ja, sicher, wir haben auch Gesetze, wie ein Gottesdienst geht, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen damit ich bei der Kirche arbeiten kann, wie viele Küsterstunden einer Gemeinde zustehen.  Aber unsere Botschaft, die uns aufgetragen ist, sie geht ins Herz. Und wenn wir Jugendliche konfirmieren und mit dem Segen entlassen, dann geht die Botschaft ins Herz. Und wenn zwei Menschen sich trauen lassen, geht der Segen ins Herz. Wenn eine Kirchengemeinde Kirchenasyl gewährt, tut sie das aus dem Herzen; die Diakonie der Kirche ist Herzenssache. Für mich ist all das schon ein Aufblitzen des neuen Bundes, von dem Jeremia vor so langer Zeit sprach. Hier wird etwas davon spürbar, was es heißt: ’Sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein‘. Es ergibt sich.

Höre meine Stimme, wenn ich rufe. Ja, möchte ich heute am Sonntag Exaudi rufen, ja Gott, höre uns und leg uns deine Gesetze ins Herz. Lass wahr werden, was du Jeremia in den Mund gelegt hast, lass wahr werden, was wir manchmal schon ahnen, und was in Jesus Christus  schon aufblitzte.

Und so warten wir in dieser ‚geistlosen‘ Zeit. Komm Heiliger Geist. Amen.

Perikope
13.05.2018
31,31-34

'Great deal' in gefährlicher Zeit - Predigt zu Jeremia 31,31-34 von Bernd Vogel

'Great deal' in gefährlicher Zeit - Predigt zu Jeremia 31,31-34 von Bernd Vogel
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Ein ‚Deal‘ ist ein ‚Geschäft‘, das zwei Vertragspartner miteinander machen. Sie schließen einen Vertrag. ‚Dealing‘ [with] ist die Handlungsweise, das Verfahren, um zum Ergebnis zu kommen, zur Erledigung eines Vorhabens. Warum also nicht Weltpolitik betreiben mithilfe von ‚deals‘?

 

Unter dem Blickwinkel von ‚America first!‘ muss ‚deal‘ allerdings als ein Ausdruck für imperialistische Machenschaften gelten zum einseitigen Vorteil, als ein Vertrag mit egoistischem Hintersinn, etwas Unsauberes. Das ist eine Deformation dessen, was einmal mit ‚deal‘ gemeint war. Trumps Rede vom ‚deal‘ zeigt an, dass Amerika dabei ist, die Geschäftsgrundlagen der Weltpolitik infrage zu stellen und dabei ganz nebenbei seinen eigenen Mythos, seinen eigenen ‚Spirit‘ aufzukündigen; denn am Anfang der Vereinigten Staaten von Amerika stand der Gedanke des ‚Deals‘, den angeblich Gott mit diesem neuen Volk abgeschlossen hat, präzise: der ‚Bund‘, den Gott mit ihm geschnitten hatte. Und das kam so: Die vor 350 Jahren eingereisten Europäer, die frommen ‚Covenanters‘ aus England und Schottland, die Rebellen gegen die britische Krone, die Eroberer gegen die indigenen Völker, die Sklavenbesitzer und Ausbeuter der Natur, die Kämpfer für Menschenrechte und Freiheit, hielten sich zugute, ‚God’s own country‘ zu sein, als demokratisch verfasste Gesellschaft ein neues ‚gelobtes Land‘ tief im Westen. Das hieß für die meisten, sich persönlich und als Gemeinschaft als Bündnispartner Gottes zu verstehen. Gott hatte mit ihnen einen ‚Bund‘ geschlossen. Menschenrechte, Demokratie, freier Handel und persönliche Frömmigkeit gehörten von nun an zum Zentrum der amerikanischen Ideologie. Wir sind Zeugen dessen, dass dieses Konstrukt erodiert und zerfällt. Was wird daraus werden?

 

In den alten Kulturen des Nahen Ostens vor mehr als 4000 Jahren wurden wichtige Verträge von einem blutigen Ritual begleitet. Damit bekräftigten die Vertragspartner, dass es ihnen tödlich ernst war mit einer wechselseitigen vollkommenen Verpflichtung auf die Einhaltung des Vertrages. Sie zerteilten Opfertiere und legten sie auf zwei Seiten eines in der Mitte geteilten Opfertisches. Dann schritten die Beteiligten zwischen den Teilen durch. Sie gelobten ihren Beitrag zur Einhaltung des Vertrages und verfluchten sich selbst mit Bezug auf die zerteilten Tiere für den Fall, dass sie untreu würden. So wurde ein ‚Bund‘ ‚geschnitten‘.

Das ist die Geschichte des Bundes Gottes mit Abraham. Irgendwann zur Zeit des Königs David mögen erste Züge der Geschichte Abrahams und Sarajs aufgeschrieben worden sein. Wahrscheinlich stammt die Fassung der Erzählung, wie wir sie kennen, aber aus der Zeit unmittelbar vor dem Babylonischen Exil oder danach. Davor wurden die Erzählungen an Lagerfeuern mündlich von Generation zu Generation weitergegeben.

 

Saraj, die ‚Fürstin‘, wurde wider Erwarten im hohen Alter noch Mutter; und Abram nach Jahren von Zweifeln erst erschütterter, dann gestärkter Hoffnung im hohen Alter noch der Vater des Isaak, nachdem er zuvor schon durch Sarajs Magd Hagar, Vater des Ismael geworden war. ‚Abraham‘ als Vater des Volkes der Juden und als Vater des Volkes der Araber. Abram stammte aus Ur in Chaldäa, aus der Gegend, in die 2000 Jahre später ein Teil des Volkes Israel in die ‚babylonische Gefangenschaft‘ deportiert werden sollte.

 

Von Ur in Chaldäa zog der Vater Abrahams Terach samt Familie 500 Kilometer nördlich nach Haran in das heutige Grenzgebiet zwischen Türkei und Syrien. Dort lebte die Sippe als Halbnomaden außerhalb und innerhalb der Stadtmauern von Haran. Sie verehrten viele Gottheiten, Fruchtbarkeitsgötter und -Göttinnen und vor allem den Mondgott. Der Mond stand ihnen nachts am Himmel vor Augen. Er wurde kleiner, verschwand, kam wieder zum Vorschein, wurde voll und beherrschte die nächtliche Steppe. So hätte es weitergehen können, Jahrhunderte lang weiter. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Das Aufblühen, die Vollblüte und das Verdorren der Vegetation. Die Menschen im Rhythmus der Natur, der aufgehende und untergehende Mond im Jahreslauf. Nichts Schlechtes daran! Abraham und Saraj als Urahnen der ökologischen Bewegung. Respekt vor den astralen Kräften, den Gesetzen der Natur. Nur konsumieren, was die Natur hergibt, im Respekt vor den Tieren, sie schützend gegen Gefahren, im wohlverstandenen Interesse auch für sich selbst: Die Tiere zu schützen gegen Wüstenfuchs und Feinde hieß ja, die eigene Lebensgrundlage zu sichern.

 

Eines Tages aber, so erzählte man sich später in den Sippen des vorköniglichen Israel, sei dieser Abraham – so musste es seinen Zeitgenossen erschienen sein – auf Abwege geraten. Jedenfalls war eine merkwürdige Idee in ihn gefahren. Dieses Auf- und Ab, Werden und Vergehen, dieses Mitschwingen im Rhythmus der Natur war ihm mit einem Mal nicht genug. Es sprach nicht zu seinen tieferen Sehnsüchten. Es überzeugte ihn nicht mehr. Es machte ihm keine Hoffnung auf Zukunft und auf Sinn. Eine Zeit lang da sein und dann sterben wie seine Tiere. Etwas Lebensfreude, viel Mühe, Kampf ums Dasein und am Ende vergessen von denen, die nach dir kommen? Soll das das Leben eines Menschen sein?

 

Statt dieses vielleicht nicht immer üppige, aber halbwegs sichere und in Traditionen fest gefügte Leben weiter zu leben, damit zufrieden zu sein, eine Zeit lang auf der Welt zu sein, Kinder zu zeugen und zu gebären, Enkelkinder zu erleben, wenn’s gut lief, und dann sich zu den ‚Vätern' und Müttern zu ‚legen‘, hatte Abram eine seltsame Eingebung: Er hörte eine Stimme von nicht näher zu lokalisierender Überzeugung und Stärke, die ihm auftrug, sein Vaterhaus zu verlassen und mit seiner Frau Saraj zusammen ganz woanders ein völlig anderes Leben zu führen. Möglicherweise spielte eine Rolle, dass er philosophisch nachdachte über die vergänglich wiederkehrenden Erscheinungen des Mondgottes und über einen unaussprechlichen Anfang von allem, was überhaupt ‚ist‘. Vielleicht aber sind das spätere Reflexionen, eingetragen in das einfachere Leben eines Halbnomaden, ein oder zwei Jahrtausend zurück.

 

Wie dem sei, ist das Ende von diesem über Generationen weiter erzählten ‚Lied‘, nachzulesen in 1. Mose 15. Da geht es um einen ganz eigenartigen ‚Deal‘, ein ‚Bündnis‘, den niemand anderes als der Herr des Himmels mit ihnen, Abram mit Saraj, machte: Abram bereitete ein eindrucksvolles Opfer vor. Er zerteilte eine dreijährige Kuh, eine dreijährige Ziege, einen dreijährigen Widder in zwei Stücke und legte auf jede Seite noch je eine Taube dazu. „Als nun die Sonne untergegangen und es finster geworden war, siehe, da war ein rauchender Ofen, und eine brennende Fackel fuhr zwischen den Stücken hin. „An dem Tage schloss [schnitt!] der HERR einen Bund mit Abram und sprach: Deinen Nachkommen gebe ich dies Land …“ (1. Mose 15, 17 f.).

 

Gott allein geht zwischen den Fleischbergen hin und her als ein rauchender Ofen und eine brennende Fackel. Die Leser und Hörerinnen der Erzählung wussten etwas damit zu verbinden: Tagsüber war es die Wolkensäule, nachts die Feuersäule, die dem Volk in der Wüste den Weg wies. So auch hier: Feuer als Symbol der Gegenwart Gottes. Verzehrende Leidenschaft, Kraft der Transformation, Bild von Wärme und Energie. Und hier gibt Gott gibt ein einseitiges Versprechen ohne Gegenleistung zu fordern! Abraham muss nicht mit der Gefahr, sein Leben zu verwirken, für den Bund einstehen. Abraham darf einfach nur EMPFANGEN und es sich gut sein lassen in Hoffnung und Würde und Menschlichkeit gegenüber allen Menschen. In ihm sollen ‚gesegnet‘ sein alle Völker und Generationen auf Erden, heißt es in 1. Mose 12. In Abraham und Saraj segnet Gott bereits alle Menschen, alle Völker, Kulturen, Religionen. Die Juden sind und bleiben das von Gott auserwählte Volk; aber sie haben einen Auftrag: Segen zu sein. Einfach, weil sie da sind. Und auch darum, weil sie vom Willen Gottes etwas erfahren haben und etwas aus Erfahrung wissen, das sie zu leben und weiterzugeben haben: Die Tora, Gottes Weisung für ein gutes Leben der Menschen auf der Erde.

 

Nach Mose und der Landnahme kamen die Könige in Israel und Juda. Die Geschichte nahm ihren Lauf. Israel versuchte mitzumischen, sich Vorteile zu verschaffen oder auch nur, zu überleben zwischen den Großmächten. Vor Jahrtausenden schon wie heute. Propheten kamen und gingen. Sie prangerten soziales Unrecht an. Sie mahnten zum Frieden. Sie versuchten, im Namen Gottes die Könige, die Priester, die Gelehrten und das Volk aufhorchen zu lassen auf Gottes Weisung in der Tora. Kriege wurden geführt und am Ende verloren. Der letzte König aus dem Hause Davids namens Zedekia wird von der babylonischen Großmacht im Jahre 586 v. Chr. gefangen genommen, geblendet, seine Söhne vor seinen Augen ermordet, der Tempel zerstört, die Stadt Jerusalem verwüstet, die Priester, Lehrer und die Oberschicht in die Sümpfe rund um die Flüsse Babylons deportiert. Denen, die überlebt haben, gilt das Wort Jeremias:

 

31 Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen, 32 nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, mein Bund, den sie gebrochen haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR; 33 sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein. 34 Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, denn sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken (Jeremia 31,31-34).

 

Dieser Text wird im christlichen Gottesdienst zu Heiligabend gelesen. Das hat seinen Sinn und sein Problem; denn was da steht, meinte zur Zeit des Jeremia nicht den Messias Jesus im Stall zu Bethlehem, sondern Gottes neuen ‚Bund‘ mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda, ausdrücklich diesen beiden, dem lange untergegangen Nordreich und dem gerade eben zerstörten Königreich Juda samt Jerusalem.

 

Christen lesen diese Verheißung heute – nach Jahrhunderten eines offenen und eines versteckten Antisemitismus mit furchtbaren Folgen – als ein Wort des jüdischen Propheten Jeremia an sein Volk. Über den Juden Jesus haben auch wir, Christen und andere, Zugang zu dieser Prophezeiung. Das eine nicht ohne das andere.

 

Jeremia, Prophet aus einem Priestergeschlecht, kennt sich aus mit all den Riten und Bräuchen im Tempel zu Jerusalem. Seine Zuhörer und Zuhöreinen, die, die seine Briefe und Botschaften lesen konnten und anderen vorlasen, staunten nicht schlecht, was der Priester-Nachkomme da zum Besten gab: Jeremia bezieht sich auf den Mose-Bund, den, den Gott am Sinai mit Mose geschlossen hatte. Dieser Bund, sagt Jeremia, ist von Seiten des Volkes aus zerbrochen. Er ist aufgelöst, nicht mehr gültig. Letztendlich hat er nicht funktioniert. Der Untergang im Jahr 586 ist das geschichtlich gewordene schreckliche Gericht, das sich Israel selbst zugezogen hat.

 

Ist damit das Bündnis Gottes mit Israel ein für alle Mal vorbei, nur noch Schall und Rauch der Geschichte? Das war die Frage des Jeremia. Seine Auffassung war: Bei bestem Willen könnte niemand, der bei Verstand und einigermaßen gerecht in seinem Urteil ist, behaupten, Israel habe weiterhin ein Anrecht auf Gottes Erwählung und Beistand, auf seinen besonderen Auftrag in der Welt, für die Welt ein Segen zu sein. Das Gegenteil ist doch offensichtlich. Die Rede des Jeremia war unerträglich für seine Zeitgenossen. Die Spur des Menschen Jeremia verliert sich irgendwo auf einem Deportationszug nach Ägypten. Seine Worte leuchten bis heute.

 

Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein. Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, denn sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.

 

Die Verblendung, der kaum verhüllte Rassenhass zwischen Juden und Arabern, die Ausnutzung dieser vielfältig fragmentierten gesellschaftlichen Lagen im Nahen Osten durch die Interessen von Nationalstaaten wie den USA, Russland, Iran und Saudi-Arabien … all das wirkt sich als ein ‚Gericht‘ aus, das die Beteiligten, ihre Führer und Verantwortlichen, über sich selbst verhängen. Was aber folgt daraus, kann daraus werden?

„Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein.

 

Von rechts und von links wird auch in Deutschland Israel attackiert, verwünscht. Alte Schuldkomplexe aus der Vor-Vorgänger-Generation spielen, systemisch gesehen, eine Rolle. Und Sündenbock-Mechanismen: Israel trägt angeblich die ganze die Schuld an der Misere in Nahost, stellvertretend für alle am Konflikt unmittelbar oder mittelbar Beteiligten. Bei manchen Christen gibt es immer noch einen erklecklichen Rest jenes wahnsinnigen und geschichtsträchtigen Gedankens, ‚die Juden‘ hätten ‚unseren‘ ‚Herrn‘ ans Kreuz genagelt. Eine Geschichte mit vielen Anfängen und vielen losen Enden.

 

Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, denn sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.

 

Es ist nötig, dass sich niemand mehr zum Lehrer über die anderen aufschwingt, meint aufschwingen zu müssen, weil alle Menschen, jede und jeder auf eigene Art, erkennen werden, dass sie einen neuen Geist, einen ‚Spirit‘ brauchen und dass dieser Geist auch schon kommt. Das ist so gewiss, wie es überhaupt noch Sinn hat, an ‚Gott‘ zu glauben, einem Gott zu vertrauen, obwohl das Wort ‚Gott‘, Allah, Elohim-Adonaj bis zur Unkenntlichkeit in den Dreck getreten ist. Allein das Erschrecken darüber wäre für die Menschheit ein Quantensprung, wie er damals vor 2500 Jahren geschah, als die Erzähler der alten Geschichten Israels zum ersten Mal auf die Idee verfielen, es könnte ‚ihr‘ Gott auch der Gott der Anderen sein, es könnte Gott Gott sein für die ganze Welt, alle Völker, alle Geschöpfe, alle Kinder Gottes, es könnte dieser Gott nicht mehr verehrt werden gegen die Götter der Anderen, sondern nur noch als Gott für alle Menschen aller Völker.

 

… sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.

 

Diesen Text, gewöhnlich am Heiligen Abend gelesen, lesen wir in Vorwegnahme von Pfingsten. Veni, creator spiritus!

Perikope
13.05.2018
31,33-34

Umsonst? - Predigt zu Jeremia 9, 22-23 von Susanne Ehrhardt-Rein

Umsonst? - Predigt zu Jeremia 9, 22-23 von Susanne Ehrhardt-Rein
9,22-23

„So spricht der Herr: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der Herr.“

I. Bei einer Fortbildung vor einigen Jahren bekam ich, zusammen mit einigen Kolleginnen, folgende Aufgabe: Was sind deine wichtigsten Stärken? Notiere mindestens 40 davon! Das war unerwartet schwer. Bei 20 wusste ich nichts mehr aufzuschreiben. Es wäre mir leichter gefallen, die Stärken einer der Kolleginnen aufzuzählen. Es war nicht nur schwer, weil mir nicht genug einfiel – es war auch unangenehm. Sogar peinlich. Noch peinlicher, den anderen die eigene „Liste meiner Stärken“ vorzulesen. Das gehört sich doch nicht, das ist doch Angeberei. So dachten die meisten in unserer Gruppe. Wie oft erfülle ich die Ansprüche nicht, die an mich gestellt werden, wie oft bleiben Aufgaben unerledigt, Lösungen unvollständig, Termine nicht eingehalten. Eigentlich ein Wunder, dass ich überhaupt etwas zustande bekomme. Solche Gedanken hatte nicht nur ich. Wir merkten: Wir sind geprägt von dem Anspruch, bescheiden zu bleiben. Man lobt sich doch nicht selbst! Die Kehrseite dieser Bescheidenheit: Wir trauen uns zu wenig zu, packen Dinge nicht an, die wir doch ändern sollten. Und letztlich wollen wir eben doch gelobt werden und geschätzt für unsere Leistungen: von Eltern oder Vorgesetzten, von Freunden und Familienmitgliedern.

Im krassen Gegensatz zu dieser Erfahrung steht die Kultur der Selbstdarstellung. Ein Blick in die Zeitung oder in facebook genügt. Wer ist der Stärkste, die Klügste, der Schönste, die Reichste? Wer hier nicht laut genug „Ich“ schreit, wird gar nicht wahrgenommen. Selbst wenn wir uns in dieser Öffentlichkeit gar nicht bewegen – wir sind auch von dieser Kultur geprägt. Spätestens bei der Bewerbung um die nächste Stelle oder um eine Beförderung, als Kandidatin für ein Amt oder Vertreter in einem Gremium: Da muss gesagt werden, was ich gut kann, worin ich gut bin, was ich erreichen will.

Zwischen Minderwertigkeitsgefühl und maßloser Selbstüberschätzung -  was kann ich eigentlich wirklich? Was kann ich bewirken in der Welt – in meiner unmittelbaren Umgebung und im Zusammenleben in der Familie, bei der Arbeit, in der Kirche? Und spiele ich überhaupt eine Rolle in den großen Zusammenhängen, wenn es um politische Entscheidungen geht, um Frieden und Umwelt und Gerechtigkeit? Bin ich nicht zu schwach, zu unbedeutend? Welchen Wert haben meine Fähigkeiten, meine Begabungen, mein Dasein in dieser Welt?

II. Der Prophet Jeremia erzählt von solchen Ohnmachtserfahrungen. Er ist ein Prophet des Untergangs. Er erlebt Krieg und Zerstörung, politische Dummheit und maßlose Gewalt. Er beschreibt das alles mit unbestechlichem Blick: Was geschehen ist, muss angesehen und ausgesprochen werden. Die verbrannten Häuser und die vergewaltigten Frauen. Die geschleiften Stadtmauern Jerusalems und die Leichen, die in den Straßen liegen.

Wenn ich im Buch des Propheten Jeremias lese, graust mir. So wie bei den Erzählungen und Bildern der Kriege späterer Zeiten. Eine alte Frau erzählt mir, wie sie das Ende des zweiten Weltkrieges in Göttingen erlebte: hungrig, auf der Flucht vor Tieffliegern, im Luftschutzbunker. Bilder, die sich eingebrannt haben, die ein Leben lang bedrohlich geblieben sind. Ein Beispiel von unzähligen. Eine Erfahrung, die Menschen täglich machen, heute wie vor 73 Jahren, wie zur Zeit Jeremias.

Der Prophet sieht solche Bilder, erlebt solche Gräuel, und er sagt, was er sieht. Er mutet uns zu, genau wie er hinzusehen: In die Geschichte und in unsere Welt heute. Er mutet uns zu, seine Worte auf uns zu beziehen: Diese Erfahrungen sind nicht so weit weg, wie es uns oft scheint. Krieg und Gewalt betreffen uns hier, in Mitteleuropa, heute zwar meistens nicht unmittelbar – darüber können wir froh sein. Aber wir sind Teil der großen Zusammenhänge. Es ist eine Zumutung, sich das klar zu machen. Der Prophet Jeremias konfrontiert uns genau damit: Seht hin, auch wenn das Leiden weit weg zu sein scheint. Duckt euch nicht weg, auch wenn ihr meint, ihr könnt gar nichts tun.

III. „Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums.“

Es ist eben nicht weit her mit unserer Weisheit und Stärke. Und unser Reichtum ist eher Grund zur Scham als Grund zum Selbstlob. Jeremia stellt menschliche Weisheit und Stärke radikal infrage. Er sieht im Streben nach materiellem Reichtum einen Grund für Krieg und Gewalt. Er ist einer der Ohnmächtigen, über die die Geschichte hinwegfegt. Das Jeremiabuch erzählt seine Lebensgeschichte als Spiegelbild der Geschichte des Gottesvolkes: Er soll Unheil verkündigen und gleichzeitig Hoffnung predigen. Er sieht unmäßige Gewalttaten und wird selbst mit dem Tod bedroht. Einsam und ohne Familie lebt er am Rande der Gesellschaft. Sein Reden bleibt erfolglos, er kommt ins Gefängnis, wird gefoltert, am Ende deportiert und getötet. Ohnmacht und Entsetzen sind der Lohn seiner Treue zu Gott und seinem Auftrag. Hat Jeremia umsonst gelebt?

IV. „Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der Herr.“

Jeremia zeigt uns die Grenzen menschlicher Weisheit und Stärke, die Grenzen unseres Reichtums. Es ist nicht weit her damit – außer, dass wir uns für kurze Zeit in Sicherheit wiegen: „Ein Glück, dass es uns nicht getroffen hat!“ Jeremia schreckt uns auf aus solcher trügerischen Sicherheit. Und er fragt: Woher kommt eure Weisheit? Worin wurzelt eure Stärke? Woher habt ihr euren Reichtum? Und was fangt ihr damit an? Seht auf das, was in der Welt passiert – und seht auf Gott. Eure Weisheit ist dumm ohne seine Barmherzigkeit. Eure Stärke ist brüchig ohne sein Recht. Euer Reichtum tötet ohne seine Gerechtigkeit.

So reden Radikale. Jeremia ist ein Radikaler. Er ist ein radikaler Verfechter des Anspruches Gottes auf seine Menschen. Gottes Barmherzigkeit, sein Recht und seine Gerechtigkeit bleiben nicht verborgen. Gott will damit wirken in der Welt. Und er will uns dafür in Anspruch nehmen. Wie er das tut, erzählt uns das Matthäusevangelium im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg: Keiner arbeitet hier umsonst. Gott nimmt uns in Anspruch mit dem, was wir haben und was wir können. Auch die, die erst spät anfangen, auch die, die nur wenig Kraft haben: alle haben ihre Aufgabe, alle können etwas tun. Alle erleben Gottes Barmherzigkeit. Seine Gerechtigkeit rechnet nicht wie wir. Gott gibt, was er versprochen hat.

V. Worauf gründet unsere Weisheit? Was macht uns stark? Woran sind wir reich?

Jeremia fordert uns auf: Erkennt, dass alles, was ihr habt und könnt, von Gott kommt. Durch eure Fähigkeiten und Stärken will er in der Welt wirken. Durch eure Weisheit soll seine Barmherzigkeit erkennbar werde. Eure Stärke soll Gottes Recht zeigen. Euer Reichtum soll Gottes Gerechtigkeit dienen.

Wir könnten versuchen, die Übung, von der ich am Anfang erzählte, unter diesem Anspruch noch einmal zu machen: Zehn Weisheiten und Einsichten, die uns einleuchten. Zehn Fähigkeiten, die wir wirklich gut können. Zehn Dinge, an denen wir reich sind. Das alles ist kein Grund zum Selbstlob – es sind Güter aus Gottes Güte. Stellen wir sie unter seine Barmherzigkeit, unter sein Recht und seine Gerechtigkeit. Gott will wirken durch das, was er uns zutraut. Nichts ist umsonst.

Und der Frieden Gottes, der höher ist als all unser Denken und Tun, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

Perikope
28.01.2018
9,22-23