ER trägt unsere Sünde! - Predigt zu Joh 1,29-34 von Winfried Klotz

ER trägt unsere Sünde! - Predigt zu Joh 1,29-34 von Winfried Klotz
1,29-34

Johannes 1, 29-34

29 Am Tag darauf sieht er – Johannes – Jesus auf sich zukommen, und er sagt: Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt.
30 Dieser ist es, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, der vor mir gewesen ist, denn er war, ehe ich war.
31 Und ich kannte ihn nicht. Aber er sollte Israel offenbart werden; darum kam ich und taufte mit Wasser.
32 Und Johannes legte Zeugnis ab und sagte: Ich habe den Geist wie eine Taube vom Himmel herabkommen sehen, und er blieb auf ihm.
33 Und ich kannte ihn nicht. Aber der mich gesandt hatte, mit Wasser zu taufen, er sprach zu mir: Auf wen du den Geist herabkommen und auf ihm bleiben siehst, der ist es, der mit heiligem Geist tauft.
34 Gesehen habe ich, und Zeuge bin ich: Dieser ist der Sohn Gottes.

Wer begegnet uns in der Einöde am Jordan? Johannes, der Wüstenmensch, Umkehrprediger, Heuschrecken-und-wilden-Honig-Esser, Mann, gekleidet mit einem Sack aus Kamelhaar; ein Mensch, völlig aus der Zeit gefallen, der in der Wüste Judäas eine sperrige, ärgerliche Bußpredigt hält; Erfolg und Anerkennung sind ihm unwichtig, aber alle Welt läuft zu ihm in die Wüste, hört zu, schlägt sich an die Brust und lässt sich im Jordan taufen. Alle Welt – mit Ausnahmen natürlich; nicht alle glaubten, dass Gottes Gerichtstag vor der Tür steht, andere hielten sich für genügend vorbereitet.

So beschreiben die drei ersten Evangelien Johannes den Täufer. Hier im Johannesevangelium ist Johannes nur ein Stimme, die Zeugnis ablegt: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt.Hier ist er nur der Mann mit dem überlangen Finger, der auf den gekreuzigten Jesus weist, wie es auf dem Isenheimer Altarbild von Matthias Grünewald dargestellt ist. Zu seinen Füßen ein Lamm, aus einer Wunde des Lammes fließt Blut in einen Kelch.

Alles, was in unserem kurzen Predigtwort gesagt ist, ist Bekanntmachung dessen, wer Jesus Christus ist. Dabei sieht das Johannesevangelium fast ganz von einer geschichtlichen Situation ab. Genannt wird ein Ort, Bethanien, am Ostufer des Jordan. Es sieht ab von der Person des Johannes, seiner Ankündigung des Gottesreiches, seinem Ruf zur Umkehr und der Taufe als Zeichen der Umkehr; sie wird im Johannesevangelium ein paarmal erwähnt. (1, 26. 31. 33; 3, 23) Johannes ist nur eine Stimme, sein Tun als Täufer soll Jesus bekanntmachen.

Auch die Zuhörer kommen in unserem Abschnitt nicht in den Blick; im Abschnitt davor sind es Abgesandte des Hohen Rates, später werden die Pharisäer genannt. Im Abschnitt danach legt Johannes Zeugnis über Jesus vor zweien seiner Jünger ab. Hier aber redet Johannes im Angesicht dessen, der auf ihn zukommt, Jesus.

Versteht irgendwer, was Johannes meint? Oder anders: Was meinen die Berichterstatter des Johannesevangeliums? Wir hören das Zeugnis des Johannes aus ihrem Mund. Es fällt auf, dass ein ungewöhnliches, biblisch seltenes Wort für Lamm gebraucht wird, ein Wort, dass sich nur noch Jesaja 53, 7 in der griechischen Übersetzung (LXX) (s. Zitat Apg. 8, 32) und im 1. Petrus 1, 19 findet. Im 1. Petrusbrief heißt es: Ihr wurdet losgekauft „mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel“. Wenn ich es recht verstehe, legt dieses Wort für Lamm den Akzent auf Verletzlichkeit, vielleicht auch Reinheit. Jedenfalls gibt es eine Form des Wortes im Feminin, die mit „Lämmchen“ und „junges Mädchen“ übersetzt wird.

Jesus, makelloses, reines Lamm Gottes? Wir erinnern uns, am Passafest wurden Lämmer geschlachtet und ihr Blut an die Pfosten der Eingangstür gestrichen, damit das Gericht Gottes an den Bewohnern vorüber gehe, sie verschont bleiben. Das Johannesevangelium berichtet im Unterschied zu den anderen Evangelien, dass Jesus zu der Zeit hingerichtet wurde, in der die Lämmer für das Passafest geschlachtet wurden. Jesus, Gottes Passalamm, seine Hinrichtung Opfer zur Verschonung derer, die sich auf ihn berufen?! Das Johannesevangelium schlägt diesen Bogen. Ja, es kann in Kapitel 6 berichten: „Jesus aber sagte zu ihnen: ‚Ich versichere euch: Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch.‘“ Das ist Auslegung des Abendmahls, das im Johannesevangelium nicht berichtet wird.

Jesus, Gottes Opferlamm, das die Sünde der Welt hinwegnimmt?! Genauso lautet das Zeugnis über Jesus im Johannesevangelium. Ich weiß, das ist für viele anstößig und nicht nachvollziehbar. Warum? Fragen wir uns doch: Wer ist Jesus für mich?

Manche beziehen ihr Christsein auf die 10 Gebote; aber achten sie auch auf das erste Gebot und Jesu Auslegung, Gott von ganzem Herzen und mit aller Kraft zu lieben und die Mitmenschen wie sich selbst? Wo finden sie Vergebung, wenn sie an den Geboten scheitern?
Manche beziehen ihr Christsein auf die Bergpredigt; aber sind sie auch arm vor Gott (1. Seligpreisung) und wissen, dass sie alles von ihm brauchen? Eben auch den, der ihre Sünde hinwegnimmt! Den Armen vor Gott wird die gute Nachricht verkündigt (Mt 11, 5b); auf welches Evangelium vertrauen sie? Lautet ihr Evangelium schließlich doch „ich bin ok, du bist ok?

Ist Jesus nur so etwas wie ein ferner Leuchtturm, der uns eine Richtung weist, in die wir mit unserer Kraft steuern sollen? Oder eine Lampe, die uns hilft, die dunklen Ecken unseres Lebens auszuleuchten und besser zu verstehen? Oder die Notfallbox, zu der wir greifen, wenn nichts mehr hilft? Oder auch das ungewisse Trostpflästerchen für die Wunden, die das Leben schlägt? Vertreter einer Lebensversicherung für die Stunde unseres Todes?

Ja gewiss, Jesus ist auch Leuchtturm, den Weg erhellende Lampe, Helfer in der Not, Tröster und Hoffnungsgeber; aber er ist noch mehr! ER ist Dein/ mein Stellvertreter vor Gott. Es muss jetzt niemand mehr seine Schuld verdrängen, niemand muss friedlos durchs Leben gehen, niemand sich selbst rechtfertigen. Jesus ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt. Die Tür zu Gott ist auf, die Brücke gebaut, die trennende Mauer niedergelegt. Das hat Gott getan durch Jesus. Im Vertrauen auf Jesus haben wir Zugang zu Gott.
Warum sträuben sich viele dagegen, dass Jesus der ist, der Stellvertretung vor Gott leistet durch sein Leben, Leiden, Sterben und seine Auferstehung für mich, indem er tut, was kein Mensch kann, nämlich die Sünde hinweg zunehmen? Warum kann Gott das nicht durch Jesus tun? Lasst uns aufatmen, uns freuen und jubeln über die gute Nachricht, dass wir im Vertrauen auf Jesus angenommen sind als Gottes Kinder. ER trägt meine Sündenlast, ER überbrückt den Abgrund, der mich von Gott trennt, ER versöhnt mich mit Gott, so dass ich Frieden habe!

Der 1. Johannesbrief sagt: „Meine lieben Kinder, ich schreibe euch diese Dinge, damit ihr nicht sündigt. Und wenn jemand doch eine Sünde begeht, haben wir einen Anwalt, der beim Vater für uns eintritt: Jesus Christus, den Gerechten. Er, der nie etwas Unrechtes getan hat, ist durch seinen Tod zum Sühneopfer für unsere Sünden geworden, und nicht nur für unsere Sünden, sondern für die der ganzen Welt.“ (1. Joh. 2, 1-2)

Wollen wir wirklich aus eigener Kraft in den Himmel kommen?
Johannes bezeugt uns in unserem Wort die Größe Jesu. Jesus ist der, auf den der Geist Gottes herabkommt und auf dem er bleibt; Jesus ist der Geisttäufer, Gottes Sohn.
Wie finden wir Zugang zu diesem Zeugnis des Johannes? Doch nur durch Jesus selbst!

So verborgen und doch wirkmächtig wie Gott selbst ist auch sein Geist. Der Geisttäufer Jesus ist Mittler des Geistes. Der Anschluss an ihn verbindet mit dem Geist. Wie geht das? Was müssen wir tun? Den Verstand ausschalten? Nein! Unser Selbst, unser Personsein aufgeben? Auch nicht! Uns hineinmeditieren? Nein. Also gar nichts? Doch. Auf Jesus hören, ihn aufnehmen in Herz und Leben, auf Gottes Gnade vertrauen, das dicke eigene ICH ihm anvertrauen und unterstellen. Wer ans andere Ufer will, muss über die Brücke gehen. Wer zu Gott kommen will, soll über Jesus, die Brücke zu Gott, gehen.

Vertrau Dich IHM an, dann gehst Du mit ihm! Sich IHM anvertrauen ist keine Leistung, sondern heißt loslassen; das aber ist manchmal ein schwerer Kampf. Wegsehen von mir, hinsehen zu ihm. Geben wir Gott Antwort. Und werden wir wie Johannes Zeugen für Jesus. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Winfried Klotz

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Das ist schwer zu beantworten, da ich fürs Internet schreibe. Meine Erfahrung ist, dass sich eine Predigt in der jeweiligen Situation anders gestaltet. Ich weiche vom geschriebenen Text ab und spreche frei. Die freie Rede im Blick auf die Zuhörer ist wichtig. Die Vorbereitung dazu geschieht auch im Gebet.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Empfehlenswert ist der Johanneskommentar von Klaus Wengst.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
- - -

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
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Perikope
08.01.2023
1,29-34

Mit Gottes Hilfe auf neuen und ungewohnten Wegen weitergehen - Predigt zu Joh 6,37-40 von Thomas Volk

Mit Gottes Hilfe auf neuen und ungewohnten Wegen weitergehen - Predigt zu Joh 6,37-40 von Thomas Volk
6,37-40

Mein Herz braucht eine Pause

Liebe Gemeinde!

„Mein Herz braucht eine Pause“ singt die junge Sängerin Antje Schomaker und meint, dass ihr gerade alles viel zu schnell geht und ihre Gefühle und Stimmungen dadurch ständig durcheinander geraten.

Vielleicht empfindet das jemand von uns genauso: „Mein Herz braucht auch eine Pause.“ So vieles hat sich verändert, seit ich alleine in der Wohnung lebe. Der Abschied nimmt mich so mit. Mein Leben ist aus der Bahn geworfen. Meine Tage sind ohne eine feste Struktur. Seit er tot ist, weiß ich nicht mehr, wofür ich lebe. Sie war mir so nahe und so lieb. Und ich merke auch, dass manche Menschen nicht mehr so selbstverständlich für mich da sind. Wenn mir nur klar wäre, wohin ich mit meinem Leben möchte?

 

Pausen laden zum Träumen ein

„Mein Herz braucht eine Pause.“ Danach sehnen wir uns oft im Alltag. Der Gottesdienst am Totensonntag will eine solche Pause in einem vielleicht noch neuen und ungewohnten Lebensalltag sein. Und – sozusagen als Pausenlektüre – hören wir aus dem 6. Kapitel des Johannesevangelium, die Verse 37–40:

[Christus spricht:]

37Alle, die mein Vater mir anvertraut,
werden zu mir kommen.
Und wer zu mir kommt,
den werde ich nicht abweisen.

38Denn dazu bin ich vom Himmel herabgekommen:
Nicht um zu tun, was ich selbst will,
sondern was der will, der mich beauftragt hat.

39Und das ist der Wille dessen, der mich beauftragt hat:
Ich soll keinen von denen verlieren,
die er mir anvertraut hat.
Vielmehr soll ich sie alle am letzten Tag
vom Tod erwecken.

40Denn das ist der Wille meines Vaters:
Alle, die den Sohn sehen und an ihn glauben,
werden das ewige Leben erhalten.
Am letzten Tag werde ich sie vom Tod erwecken.“

(Basis Bibel)

Vom mühevollen Alltag lenkt Christus unseren Blick in die Ewigkeit.
„Alle, die den Sohn sehen und an ihn glauben, werden das ewige Leben erhalten“ (V.40).
Und wenn ich noch nicht so weit nach vorne schauen kann? Viel zu oft zieht es mich in die Vergangenheit. Mein Herz braucht eine Pause, um all die Erinnerungen zu sortieren.
Wie schön wäre es, wenn es etwas geben würde, das für „ewig“ ist und „für immer“ bleibt. Wie gern hätte ich noch Zeit mit meiner Liebsten verbracht. Es hätte ja nicht unbedingt „auf ewig“ sein müssen. Es hätte schon gereicht, wenn einfach noch etwas Zeit geblieben wäre.
Und ich möchte auch, dass das Andenken bleibt. Alle Liebe, die sie gegeben hat, soll in dieser schnelllebigen Welt nicht verloren gehen. Alles, was sie ausgezeichnet und einzigartig gemacht hat, soll einen festen Platz im Herzen behalten. Das, was die Bibel mit Ewigkeit benennt, soll auch für sie gelten.

 

Das ewige Leben beginnt beim täglichen Brot

Das ewige Leben beginnt beim täglichen Brot. So erzählt es die Geschichte von der Speisung der 5000 unmittelbar vor unserem Abschnitt.
Viele Menschen wollen Jesus unbedingt sehen. Sie scheuen nicht einmal eine Fahrt über den gefährlichen See Genezareth. Sie haben am Tag davor erlebt, wie er mit fünf Broten und zwei Fischen über fünftausend Menschen satt gemacht hat. Wer, wenn nicht er, soll der längst verheißene Messias sein, auf den schon ihre Väter und Mütter und Generationen davor gehofft haben?
Doch Jesus entweicht auf die andere Seite des Sees nach Kapernaum. Vergeblich! Viele Menschen reisen ihm nach. Sie wollen weitere Wunder bestaunen können. Und Jesus weicht ihren Fragen nicht aus. Seine Antworten gipfeln in einer schlichten und zugleich provozierenden Behauptung: „Die Antwort auf alle eure Fragen steht vor euch: Ich bin es!‚ ‘Ich bin das Brot des Lebens!‘“ (Johannes 6,15). Und: „Wer zu mir kommt, denn werde ich nicht abweisen“ (vgl. V.37). Vertraut mir!

 

Brot für jeden neuen Tag

Brot für jeden neuen Tag – das ist Christus. Um den einzelnen Tag geht es. Für die 5000 Menschen damals, weil sie in der Begegnung mit Jesus, dem Brot des Lebens, satt geworden sind. Und für uns heute ist Christus ist wie das tägliche Brot, das man in der Wohnung jetzt vielleicht alleine zu sich nehmen muss, weil es uns hilft, über diesen einen Tag zu kommen.
Christus ist das tägliche Brot, das alle einsamen Stunden mit uns teilt, vor allem dann, wenn man sich im Esszimmer umschaut und an so manchen Abend denkt, an dem der Raum mit vielen Personen gefüllt war. Christus, das tägliche Brot, ist da und bleibt da und gibt uns zu verstehen: Ich gebe dir viel Kraft auf allen neuen Wegen. Ich mache dich mutig, durch ungewohnte Türen zu gehen. Ich gebe dir einen langen Atem, wenn die trüben Tage nicht enden wollen.
Und auch wenn manche Wohnungen vom bisherigen Freundeskreis auf einmal wie verschlossen sind, so weist Christus niemanden ab. Auf ihn, auf seine vielen Möglichkeiten, uns immer wieder neuen Mut zukommen zu lassen, können wir uns verlassen. Er ist unser stiller Begleiter, wenn wir Tage durchleben müssen, die ganz anders sind und die wir uns wirklich nicht ausgesucht haben. Christus ist das tägliche Brot, das uns hilft, in einem neuen Lebensabschnitt zurechtzukommen.

 

Niemand soll verloren sein

Christus spricht: „Und das ist der Wille dessen, der mich beauftragt hat: Ich soll keinen von denen verlieren“ (V.39). Das sagt er in eine Welt hinein, in der einiges verloren geht. Das spricht er in ein Leben hinein, in dem so viel zwischen unseren Händen zerrinnt.
Für den heutigen Totensonntag übertragen: Niemand soll sich auf neuen und ungewohnten Wegen verloren vorkommen. Nicht heute. Nicht morgen. In aller Zukunft nicht. Was für eine Zusage, dass wir auf allen neuen Wegen niemals alleine sind, sondern begleitet und getragen?

 

Die Hoffnung für unsere Verstorbenen - In Gott geborgen sein

Diese Zukunft ist nicht nur uns Lebenden verheißen. Sie gilt auch für unsere Verstorbenen.
„Alle, die den Sohn sehen und an ihn glauben, werden das ewige Leben erhalten. Am letzten Tag werde ich sie vom Tod erwecken“ (V.40).
Unsere Verstorbenen sind „auf ewig“ bei Gott geborgen. Dass ist unsere christliche Hoffnung. Deshalb finde ich auch die Aufschrift „Hier ruht in Gott …“ auf manchen Holzkreuzen, die man auf ein frisches Grab stellt, so tröstlich. Hier ruht jemand in Gott. Hier ist jemand in Gottes ewiger Welt geborgen. Ich brauche diese Person nicht mehr festhalten. Ich kann mich meinem Leben und dem, was vor mir liegt, wieder mehr zuwenden.
Die Vorstellung, dass unsere Verstorbenen „in Gott ruhen“ beruhigt mich, auch wenn ich nicht weiß, wie das „ewige Leben“ aussieht. Ich muss es auch nicht wissen. Und ruhen ist für mich auch mehr als ein Schlafen. Es ist ein Geborgensein bei Gott und eine neue Lebendigkeit, auch wenn ich sie nicht näher beschreiben kann.

 

Eine Utopie mit verändernder Kraft

Dieser Glaube ist wirklich eine Utopie. Ein Zukunftsraum. Gleichzeitig hat er „verändernde Kraft“ hat. Unser Leben besteht ja nicht darin, dass wir ständig die Vergangenheit wiederholen. Die besten Jahre liegen nicht immer nur hinter uns.
Dieser Glaube verändert mich und meinen Alltag. Er hilft mir, mit Abschieden umzugehen und mit all allem, was ich im Leben nicht festhalten und nicht ändern kann.
Dieser Glaube macht mich mutig. Er hilft mir trotzig nach vorne zu schauen.

 

Der Glaube wird uns nicht enttäuschen

Vielleicht brauchen Sie noch länger eine Pause, um alle Gedanken zu sortieren. Vielleicht spüren Sie aber auch schon, dass bald die Zeit da ist, wieder auf neuen Wegen weiter zu gehen. Auf alle Fälle: Der Glaube wird uns nicht enttäuschen. Er hilft uns, dass wir mutig und trotzig, jeden Tag aufs Neue, uns auf ungewohnten Wegen zurechtfinden.

Und die Weite Gottes, die umfassender und höher und umfangreicher ist als alles, was uns in seinen Bann ziehen will, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Thomas Volk

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe die Predigt für Menschen geschrieben, die in der Kirchengemeinde, in der ich tätig bin, am Totensonntag um 15:00 Uhr zum Gedenkgottesdienst an die Verstorbenen kommen. Die Angehörigen sind dazu schriftlich eingeladen worden und die Gottesdienstgemeinde besteht aus Erfahrung fast ausschließlich aus den Personen, die in den letzten 12 Monaten an einem offenen Grab gestanden haben und immer noch oder immer wieder trauern.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich versuche mich in Menschen hineinzudenken, die, wenn Sie ihre/n Liebste/n verloren haben, nun gar nichts mehr vom Leben erwarten oder nicht mehr die anderen Menschen wahrnehmen, die auch noch da sind und Hilfe anbieten. Dabei macht der christliche Glaube doch Mut, „auf neuen und ungewohnten Wegen“ dem Leben wieder auf die Spur zu kommen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
In dem auf den ersten Blick nicht gerade „seelsorgerlichen“ Abschnitt Johannes 6,37-40 habe ich die Formulierung neu entdeckt, dass bei Christus „niemand verloren ist, der ihm anvertraut“ ist (Johannes 6,39). Das hat mir kürzlich selbst geholfen, als ich bei „meinen Lieben“ auf dem Friedhof war. Bei dieser Aussage von Johannes 6,39 habe ich nicht das Bild eines „Schutzmantelchristus“ vor Augen, sondern eines, in dem Christus Menschen wieder in ihr Leben schickt.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Das Coaching war wieder richtig gut. Ich hatte in meinem ersten Entwurf manche wichtigen Aussagen und Passagen wieder durch bestimmte Formulierungen oder durch apologetische Passagen oder „Lieblingsfüllwörter“ abgeschwächt Und „Weniger ist mehr“. Durch das Coaching habe ich noch einmal viel gekürzt und die Abschnitte sind dabei klarer geworden.

Perikope
20.11.2022
6,37-40

In Stein gemeißelt?! - Predigt zu Joh 8,3-11 von Luise Stribrny de Estrada

In Stein gemeißelt?! - Predigt zu Joh 8,3-11 von Luise Stribrny de Estrada
8,3-11

Kanzelgruß

„Dein Wort ist meines Fußes Leuchte
und ein Licht auf meinem Weg.“ (Ps 119,105)
Gott, segne unser Hören und unser Reden
und erleuchte uns mit deinem Licht. Amen.

Liebe Schwestern und liebe Brüder!

Annäherungen

Treue

„Wenn mein Mann mich jemals betrügt, werde ich ihn sofort verlassen“, vertraut mir eine Freundin an. „Ich könnte es nicht ertragen, wenn er etwas mit einer anderen Frau anfängt. Dann wäre für mich Schluss. Da bin ich altmodisch – oder eben treu. Und das erwarte ich auch von meinem Mann. Das habe ich ihm deutlich gesagt.“

Leidenschaft

Ich lese: Eine verheiratete Frau verlässt ihre Familie, als ihre Kinder drei und fünf Jahre alt sind. Sie verschwindet mit ihrem Geliebten. Endlich will sie die Liebe mit ihm leben, die so lange unerfüllt geblieben ist. Sie macht sich keine großen Sorgen um ihren Mann und auch nicht um ihre Kinder. Jetzt ist sie dran, nach all den Jahren, in denen sie um Mann und Kinder gekreist ist. Die leidenschaftliche Liebe ist ins Zentrum ihres Lebens gerückt (Elena Ferrante, Die Geschichte der getrennten Wege, Bd. 3 der Neapolitanischen Saga, Berlin 2017, 2. Auflage, S. 530ff).

Betrug

Meine Eltern sind mit einem Pfarrersehepaar befreundet. Sie werden eingeladen zu Gesprächen über Gott und die Welt in ihrem schönen Haus auf dem Land. Es sind erfüllte Nachmittage mit interessanten Menschen. Eines Tages höre ich, wie mein Vater meiner Mutter entsetzt erzählt: „Stell dir vor, Pfarrer P. betrügt seine Frau. Mit einer Studentin. Frau P. kann es nicht fassen. Sie hat mich gerade angerufen und es mir erzählt. Sie hofft, dass wir zu ihr halten. Das tun wir doch, oder?“ Meine Mutter antwortet: „Natürlich, die Arme. Wie kann Herr P. nur so etwas tun?“
Menschen, die ihre Ehepartner hintergehen. Sie verstoßen gegen das sechste Gebot: „Du sollst nicht ehebrechen“. Wer nicht unmittelbar betroffen ist, weiß meistens wenig oder gar nichts über die Motive. Vielleicht können wir beide verstehen: den Ehepartner, der betrogen worden ist und den, der ein neues Leben mit einem anderen anfängt. Sehr oft ist unsere Sympathie bei dem, der verlassen worden ist.

In der Evangeliumslesung haben wir heute von Jesus und der Ehebrecherin gehört. Wie erlebte die Frau die Szene?

Mirjam

Simon und ich – das war etwas Besonderes! So eine leidenschaftliche Liebe hatte ich noch nie erlebt, und dabei so viel Übereinstimmung. Wir waren das ideale Paar. Wir sind uns in unserem Landhaus begegnet. Ich bin mit Nikodemus (vgl. Joh. 3,1; 7,50; 19,39) verheiratet, seit ich 15 Jahre alt bin, er ist 20 Jahre älter. Am Anfang unserer Ehe habe ich ihn bewundert für sein Wissen, seinen Großmut, dafür, dass er seinen Platz im Leben gefunden und es zu einem gewissen Reichtum gebracht hat. Aber mit der Zeit verebbte meine Bewunderung und ich fing an, mich mit ihm zu langweilen. Er wurde mir gleichgültig. Vielleicht lag das auch daran, dass wir keine Kinder hatten.

Aber zurück zu Simon: Sein Haus grenzt an unseres und wir konnten uns sehen, wenn einer von uns im Garten war. Ab und zu kam Simon vorbei und brachte ein kleines Geschenk für mich, einen Granatapfel oder einen Brief mit einem Gedicht. Wir verliebten uns ineinander und als mein Mann eines Tages nicht da war, kam Simon zu Besuch, da war es um uns geschehen. Seitdem suchten wir jede Gelegenheit, um zusammen zu sein; aber es war gefährlich, wir mussten aufpassen. Ich war verheiratet, er zwar nicht, aber auf Ehebruch stand laut dem Gesetz des Mose (Lev. 20,10 und Dtn. 22,22-24) die Todesstrafe, die allerdings oft nicht vollzogen wurde. Trotz der Gefahr trafen wir uns zwei, drei Mal auch in unserem Haus in Jerusalem. Beim letzten Mal entdeckte uns meine Magd. Sie rannte sofort zu Jakob, einem Freund meines Mannes, der auch Pharisäer ist. Er kam angelaufen und sah Simon noch von hinten, der gerade aus dem Fenster stieg. Jakob konnte ihn nicht mehr festhalten, aber mich ergriff er und ließ mich nicht los. Er schleppte mich in den Tempel. Unterwegs schlossen sich uns andere Pharisäer und Schriftgelehrte an. Es schien wie ein Lauffeuer herumzugehen, von überall hörte ich es flüstern: „Die Frau des Nikodemus hat ihren Mann betrogen. Elende Ehebrecherin! Das soll sie büßen.“

Dann kamen wir im Tempel an und sie brachten mich zu dem Rabbi aus Galiläa, von dem alle Welt sprach. Ich hatte Angst, panische Angst: Was würde jetzt passieren? Würden sie mich umbringen? Was würde der fremde Rabbi sagen? Jakob und die anderen stellten mich vor ihn hin: „Lehrer, diese Frau da wurde auf frischer Tat beim Ehebruch überrascht. Im Gesetz schreibt uns Mose vor, solche Frauen zu steinigen. Was sagst nun du dazu?“ Ich merkte, wie ich zitterte. Steinigen wollten sie mich, die Frau ihres Kollegen und Vertrauten Nikodemus, so sollte ich für meine Übertretung büßen. Die Ordnung sollte aufrecht erhalten werden: Die Ehefrau gehört ihrem Mann, sie selbst hat keine Gefühle und keine eigene Meinung zu haben, basta! - Sie hielten schon die Steine in der Hand, um sie nach mir zu werfen.

Aber sie mussten die Antwort des Rabbis abwarten, sie hatten ihn ja jetzt als Richter mit hineingezogen. Was tat er? Was machte er nur? Ich sah, dass er mit dem Finger auf die Erde schrieb. Was schrieb er? Ich konnte es nicht erkennen. Es wirkte so, als würde er sich aus der Situation herauslösen, als sei er ganz woanders mit seinen Gedanken. Ich war in Todesgefahr, hing ab von seinem Urteil, und er entzog sich einfach. Hätte ich nicht so viel Angst gehabt, wäre ich wütend geworden.

Dann sagte er plötzlich: “Wer von euch ohne Schuld ist, soll den ersten Stein auf sie werfen!“ Danach schrieb er weiter auf die Erde. Ich fragte mich, aus welcher Ecke der erste Stein auf mich fliegen würde. Ich überlegte, wie ich in Deckung gehen könnte - vergeblich. Da hörte ich ein trockenes Klacken. Jemand hatte seinen Stein weggeworfen und ging. Dann ein Poltern, und noch eines und noch eines. Einer nach dem anderen ging davon, als letzter Jakob, der mich entdeckt hatte. Ich konnte es kaum glauben: Sie waren wirklich alle weg. Der Satz des Lehrers hatte ihnen den Spiegel vorgehalten: Keiner war ohne Schuld. Das hatten sie selbst eingesehen und vor sich und den anderen Männern zugegeben.

Der Rabbi wandte sich jetzt an mich: „Wo sind sie? Hat dich niemand verurteilt?“ „Niemand, Herr“, antwortete ich. Er sagte: „Ich verurteile dich auch nicht. Geh, und lad von jetzt an keine Schuld mehr auf dich.“ Ich war so erleichtert, dass ich es kaum glauben konnte. Ich war gerettet! Er, dieser Jesus, hatte mein Leben gerettet. Und er verurteilte mich nicht, obwohl ich genau wusste, dass ich gegen das Gesetz verstoßen hatte. Ich war frei, ich war gerettet. Am liebsten hätte ich ihn umarmt. Aber das ging nicht, er war zu weit weg von mir, gehörte in eine andere Sphäre. Dann gab er mir einen schweren Satz mit auf den Weg: „Geh, und lad von jetzt an keine Schuld mehr auf dich.“ Wie sollte ich das verstehen? Ich sollte wohl zu meinem Mann zurückkehren und die Liebe mit Simon aufgeben. Wie gerne hätte ich es umgekehrt gemacht und mit Simon ein neues Leben angefangen. Aber vielleicht würde mein Mann mich aus der Ehe entlassen, nachdem ich ihn betrogen hatte. Dann wäre ich frei, neu zu heiraten. Vielleicht könnte ich Nikodemus dazu bringen, mir einen Scheidebrief zu schreiben oder, warum nicht, sogar selbst einen Scheidebrief aufsetzen. Wir müssten in Ruhe miteinander reden. Ob ich das hinkriegen würde nach allem, was geschehen war? Jedenfalls konnte es nicht einfach so weitergehen wie vorher, da hatte der Rabbi recht. Und ich wollte klare Verhältnisse schaffen, soweit es in meiner Macht lag: Mit einem Mann zusammenleben, nicht mit zweien. Ich suche mir meinen Weg, sagte ich leise vor mich hin, als ich nach Hause ging.

Heute

Mirjam hat vor 2.000 Jahren gelebt. Vieles hat sich seitdem im Verhältnis von Frauen und Männern geändert, viele Vorstellungen von der Ehe sind heute anders. Frauen sind selbstbewusster und unabhängiger geworden. Frauen und Männer sind gleichberechtigt, das Finanzielle ist geregelt, und es gilt nicht mehr das Schuldprinzip, sondern das Prinzip der Zerrüttung der Ehe.
Ehebruch kommt häufig vor, es ist kein Tabu mehr. Trotzdem verletzt er in den allermeisten Fällen den oder die, die betrogen wird, tief. Gefühle wie Wut, Kränkung, Enttäuschung, Verwünschungen und die Angst, verlassen zu werden, sind im Spiel. Manche Partner überstehen das und finden gemeinsam einen neuen Anfang, andere trennen sich.

Was wäre heute, unter unseren Bedingungen, aus Mirjam geworden? Ich möchte den Satz Jesu an sie „Geh und lad von jetzt an keine Schuld mehr auf dich“ anders interpretieren. Ich glaube, dass auch diejenige Schuld auf sich lädt oder sündigt, die gelingendes Leben verhindert (siehe dazu: Gottesdienst Praxis, IV. Perikopenreihe, Bd. 3, Gütersloh 2022, S.99). Wenn jemand in einer Ehe oder Beziehung unglücklich ist, darf sie kein Gesetz zwingen, weiter in dieser Beziehung zu bleiben. Im Gegenteil sollten wir sie als Christinnen und Christen ermutigen, sich zu trennen und noch einmal anders zu beginnen. Das muss nicht notwendig eine neue Beziehung sein, sondern kann eine Zeit sein, in der sie erst einmal zu sich selber kommt und das verarbeitet, was sie in ihrer Ehe erlebt hat.

Mirjam könnte sich heute von Nikodemus trennen und sich eine eigene Wohnung nehmen. Dann würde sie in Ruhe ihre Gefühle erforschen und darüber nachdenken, ob sie Simon wirklich liebt. Je nachdem würde sie die Beziehung mit ihm fortsetzen oder bliebe allein. Sie hätte die Chance auf ein gelingendes Leben, ein Leben, das nicht andere für sie bestimmt hätten, sondern das ihr entspräche. Sie würde nicht mehr sündigen, indem sie sich verleugnet oder sich und ihre Bedürfnisse übergeht.

Gott will, dass wir ein gelingendes, erfülltes Leben leben. Wir sind seine geliebten Kinder, er möchte, dass es uns gut geht. So gibt er uns durch seine Gebote die Freiheit, unser Leben zu gestalten.
Gott sei Dank.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastorin Luise Stribrny de Estrada

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die meisten Gottesdienstbesucher, gerade in der Ferienzeit, sind ältere Menschen und Konfirmand/innen. Das Thema Ehebruch wäre eher für die mittlere Generation aktuell, aber von ihnen wird kaum jemand in den Gottesdienst kommen. Andererseits begegnet auch den Anwesenden indirekt dieses Thema, bei Kindern oder Eltern. Spannend ist es, denke ich, für alle. Auch im Konfirmandenunterricht sind die Jugendlichen bei der Sache, wenn es um das sechste Gebot geht.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mir geht es darum, die Frau nicht zum Objekt zu machen, wie die ganze Szene in Johannes 8 (außer Jesus in seinem letzten Satz) es tut, sondern zum Subjekt. Ich möchte sie ins Licht holen und mögliche Beweggründe für ihren Ehebruch erkennen. Ich möchte Verständnis für ihr Handeln wecken, anstatt sie zu verurteilen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich fand die Entdeckung hilfreich, dass Sünde die Verhinderung gelingenden Lebens ist. Das ist ein Sündenbegriff, mit dem ich etwas anfangen kann und der m.E. Gottes Blick auf uns entspricht.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich fand die Beobachtung hilfreich, dass wir alle beim Thema Ehebruch einbezogen sind und viele Assoziationen hochsteigen an Menschen, die ihre/n Ehepartner/in betrogen haben. Ein Ehebruch löst heftige Gefühle aus. Wir könnten alle noch viele weitere Geschichten erzählen wie bei den „Annäherungen“.

 

Perikope
10.07.2022
8,3-11

Der Hirte des Petrus - Predigt zu Joh 21,15-19 von Bernd Giehl

Der Hirte des Petrus - Predigt zu Joh 21,15-19 von Bernd Giehl
21,15-19

Liebe Gemeinde!

Als Franz Müntefering 2005 zum SPD-Vorsitzenden gewählt wurde, wurde er gefragt, wie er denn sein neues Amt bewerte. „Das schönste Amt nach Papst“, gab er zur Antwort. Da wusste er natürlich noch nicht, dass er nur ein Jahr später von ebendiesem Amt zurücktreten würde, ebenso wenig, wie viele Vorsitzende seine Partei in den kommenden Jahren verschleißen würde. Genauso wenig konnte er wissen, dass etwa zehn Jahre später ein Papst zurücktreten und als papa emeritus im Vatikan neben dem amtierenden Papst leben würde. Auch die Tatsache, dass beide unter schlimmem Beschuss stehen würden, konnte er unmöglich geahnt haben.
Aber selbst, wenn man ihm damals zugestimmt hätte, dass die schönste Aufgabe, die auf Erden zu vergeben ist, das Amt des Papstes ist, würde das heute vermutlich kein Mensch mehr sagen. Der eine – Benedikt XVI. – wird kritisiert, weil er in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising einem Priester, der des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wurde, erlaubte, weiterhin Priester in seiner Diözese zu sein. Der andere, Papst Franziskus, bekommt heftig Prügel, weil er die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare und die Priesterweihe von Frauen ablehnt. Wenn er dagegen beides zuließe, würde es heftige Kritik von der anderen Seite geben.
Selten hat die katholische Kirche sich so zerrissen gezeigt wie heute. Vielleicht wäre es leichter, wenn die Macht und damit die Entscheidungskompetenz sich nicht in dem einen Mann an der Spitze bündeln würde. Fragt sich nur, mit wie vielen Stimmen Kirche dann sprechen würde und ob sie überhaupt noch Weltkirche sein könnte.

Aber gehen wir noch einmal zurück. Zu den Anfängen des Papsttums. So genau weiß man nicht, wann das angefangen hat. Im vierten oder fünften Jahrhundert vermutlich und dann auch im Schatten vieler dogmatischer Kämpfe, die auf Konzilien im Osten des Reiches ausgetragen wurden, an denen sich der Westen kaum beteiligte. Er hatte ja auch genug mit der eigenen Einigung zu tun. Dass es der Bischof von Rom war, der den Anspruch auf das höchste Herrscheramt in der Kirche erhob, war natürlich kein Zufall. Rom war die Hauptstadt des römischen Weltreichs und so sollte dann auch die Kirche organisiert sein. 
Hinzu kam aber noch etwas anderes. Petrus war so etwas wie der erste Bischof von Rom gewesen und er war in der Stadt den Märtyrertod gestorben. Was den Anspruch des Bischofs von Rom auf die Oberherrschaft der Kirche natürlich weit mehr legitimierte als es der Titel der Welthauptstadt tat. In den folgenden Jahrhunderten setzte sich das Papstamt zumindest im Westen des römischen Reiches denn auch ohne große Widerstände durch, während sich im Osten eine eigene Kirche mit eigenen Traditionen etablierte, nämlich die orthodoxe Kirche. Man mag es erstaunlich nennen, aber das Amt des Papstes als Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche hat sich gehalten, trotz der Zeit der Gegenpäpste in Avignon im Mittelalter und trotz der Kirchenspaltung im 16. Jahrhundert, als sich in Deutschland, der Schweiz und den skandinavischen Ländern die Reformation entwickelte. Aber die Sehnsucht nach einer Kirche, die mit einer Stimme sprach, war wohl groß genug.

Und doch: Von der Geschichte her lässt dich das Amt des Papstes wohl kaum rechtfertigen. Vielleicht sind ja auch unsere Erwartungen an dieses Amt zu hoch.
Fragen wir doch einmal nach. Der Text für heute scheint zumindest Bezug zu nehmen auf das Amt des Hirten, wie Jesus es nennt. Und damit kann nicht nur das Amt des Papstes gemeint sein.

Wie soll man dieses Gespräch benennen?
Da wird jemand ins Gebet genommen. Und zwar richtig. Und alle aus der Familie sind dabei.
Oder man könnte es ein Prüfungsgespräch nennen. Wobei es bei der Prüfung nicht um erworbenes Wissen geht. Sondern um Loyalität. Dreimal erklingt dieselbe Frage: „Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb?“ Wobei auch das immer noch nicht ganz richtig ist. Denn die erste Frage heißt ja: „Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieber als die anderen mich haben?
Zumindest nach meinem Geschmack geht es hier hart an die Grenze. Wie soll Petrus denn in Gegenwart der Anderen darauf antworten? Wenn er „Ja“ sagt, werden sie ihn in der Luft zerreißen. Oder ihn zumindest eifersüchtig beobachten. Aber „nein“ kann er ja auch schlecht sagen, denn er hat Jesus ja wirklich lieb. Also sagt er, was aus tiefstem Herzen kommt: „Du weißt, dass ich dich liebhabe.“ Und Jesus erwidert etwas Seltsames: „Weide meine Lämmer.“
Damit könnte es nun zu Ende sein. Jesus weiß, dass Petrus ihn liebhat und er hat ihm einen Auftrag erteilt.  Aber merkwürdigerweise geht die Befragung weiter. Jesus fragt noch einmal und fast mit den gleichen Worten: „Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb?“ Was soll Petrus darauf antworten?  Im Grunde kann er nur das sagen, was er schon einmal gesagt hat: „Herr, du weißt, dass ich dich liebhabe.“
Und dann kommt die Frage zum dritten Mal und man merkt, das ist kein normales Gespräch unter Freunden. Es ist irgendetwas zwischen einem Bewerbungsgespräch, einem Prüfungsgespräch und einer Therapie und ich kann beim besten Willen nicht sagen, was. Selten ist einer so in die Mangel genommen worden, der später ein so hohes Amt bekleiden wird. Denn dass Petrus die neu entstehende Kirche führen soll, daran lässt Jesus ja keinen Zweifel. „Weide meine Schafe“ trägt er ihm auf und fügt gleich hinzu, damit der Kandidat weiß, was Sache ist: „Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wohin du wolltest, wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst.“

Eine seltsame Autorität, die Petrus da zugesprochen bekommt. Fast möchte man meinen, Jesus verleihe sie ihm und nehme sie im nächsten Augenblick wieder ab. Wer nur diese Geschichte kennt, der kann sie wohl nicht verstehen. Aber nun wissen wir ja auch um die Vorgeschichte. Am Anfang hat Petrus als erster das Bekenntnis zu Jesus als dem Messias ausgesprochen und Jesus hat ihm dafür den Beinamen „Petrus“, der Fels gegeben und gesagt, auf diesem Felsen werde er seine Kirche bauen. Aber manchmal kommt es anders und so verleugnet ebendieser felsenstarke Petrus im Hof des Hohepriesters seinen Freund und das nicht nur einmal, sondern dreimal. „Ich kenne den Menschen nicht“, sagt er, als er gefragt wird, ob er nicht auch zu diesem Jesus gehöre. So schnell kann es gehen, wenn die Angst stärker ist als die Freundschaft. Wie oft mag Petrus hinterher diese Worte bereut haben. Allein, sie sind gesprochen und er kann sie nicht mehr einfangen. Aus diesem Grund fragt Jesus drei Mal, ob Petrus ihn liebhabe. Und aus ebendiesem Grund soll Petrus sich auch nicht auf die eigene Stärke verlassen, sondern es wird ihm gesagt, dass ein anderer ihn führen wird. Dieser andere kann kein anderer sein als Jesus selbst. Petrus soll die Kirche führen, aber dabei soll er sich unter die Autorität Jesu stellen.

Aber vielleicht kann ich das Ganze auch noch einmal von einer anderen Seite betrachten. Ich gebe zu, lange war ich irritiert von dieser Szene. Von der Unerbittlichkeit, mit der Jesus fragt: „Hast du mich lieber als alle anderen“ bzw. „Hast du mich lieb?“ Selbst wenn er die Frage drei Mal stellen wollte, musste er das in aller Öffentlichkeit tun?
Ich habe mir vorgestellt, wie peinlich das für Petrus gewesen sein muss, drei Mal so gefragt zu werden. Und zwar im Beisein all seiner Freunde. Aber dann habe ich mir sagen lassen, dass nur so Vergebung und Neuanfang möglich ist. Petrus hatte Jesus in der Öffentlichkeit verleugnet. Also muss er wohl auch in der Öffentlichkeit gefragt werden. Und dann vergibt der, den er verleugnet hat, ihm auch öffentlich. Petrus bekommt eine neue Chance. Er weiß, dass er fehlbar ist, aber er wird nicht aus dem Dienst entlassen. Er wird beauftragt, die neu entstehende Gemeinde zu führen. Und dazu wird ihm ausdrücklich das Vertrauen ausgesprochen.

Vielleicht kann ich nun doch die Antwort geben: Jesus wollte eine klare Führung für seine Kirche, aber er wollte sie anders, als sie sich dann entwickelt hat. Nicht mit einem Mann an der Spitze, der kraft seiner eigenen Autorität allein entscheidet. Er sollte – wie Martin Niemöller es einmal ausgedrückt hat – sich immer fragen: Was würde Jesus dazu sagen?

Wie gesagt: Es ist ein widersprüchliches Gespräch, das eigentlich in den Beichtstuhl gehört und dennoch öffentlich geführt wird, in dem einer zum Leiter ernannt und seine Autorität doch dabei so sehr in die Mangel genommen wird. Er bekommt eine hohe Autorität und doch wird sie rückgebunden an die Autorität eines anderen. Führen kann er nur, wenn er sich unter die Autorität eines anderen stellt. Von weltlicher Macht und weltlichem Glanz kann jedenfalls keine Rede sein.

Am Ende hat Franz Müntefering sich wohl getäuscht. Sowohl was das Amt des Papstes angeht, als auch was das eigene Amt betrifft. Vermutlich hat er sich die Autorität des Papstes für die eigene Funktion gewünscht. Dabei hätte er doch wissen können, wie die Menschen und vor allem die eigenen Untergebenen mit Autorität umgehen. Dass sie ziemlich schnell revoltieren, wenn ihnen wichtige Entscheidungen nicht passen. Aus der Geschichte der eigenen Partei hätte er es wissen können. Und auch in der Geschichte des Papstamtes hätte er Lehren ziehen können.
Ob er an die Unfehlbarkeit des Papstamtes glaubte? Ob er selbst sich eine solche Unfehlbarkeit wünschte? Vielleicht hätte er sich das Gespräch Jesu mit Petrus ansehen sollen. Hier wird Petrus ganz gewiss keine Unfehlbarkeit zugesprochen. Petrus wird gesagt: Du kannst schlimme Fehler machen, aber dennoch sollst du die anderen führen. Und der, der nach dir kommt, wird vielleicht auch schlimme Fehler machen, aber wenn er nach meinem Willen handelt, wird er der richtige sein. Wichtig ist, dass er im Gebet und im Hören auf mein Wort bleibt.

Perikope
01.05.2022
21,15-19