Von der Herrlichkeit des Palmsonntags und der Herrlichkeit der Auferstehung - Predigt zu Joh 17,1-8 von Andreas Pawlas

Von der Herrlichkeit des Palmsonntags und der Herrlichkeit der Auferstehung - Predigt zu Joh 17,1-8 von Andreas Pawlas
17,1-8

Solches redete Jesus und hob seine Augen auf zum Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist gekommen: Verherrliche deinen Sohn, auf dass der Sohn dich verherrliche; so wie du ihm Macht gegeben hast über alle Menschen, auf dass er ihnen alles gebe, was du ihm gegeben hast: das ewige Leben. Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen. Ich habe dich verherrlicht auf Erden und das Werk vollendet, das du mir gegeben hast, damit ich es tue. Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war. Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt. Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast.

 

Liebe Gemeinde!

Wie wir vorhin im Evangelium gehört haben, ist das Thema des Palmsonntags der Einzug Jesu in Jerusalem. Und solche Einzüge kennen wir doch. Ja, wir wissen doch wie das ist, wenn große Stars, Helden, Politiker in eine Stadt einziehen! Da gibt es Trompeten- und Fanfarengeschmetter, mit Eskorte vorweg und hinterher. Dann folgt üblicherweise der Empfang beim Bürgermeister, mit Übergabe des Schlüssels der Stadt, mit Volkstanz und Besichtigung der wichtigsten Baudenkmäler und Fabriken. So etwas ist eben ein großes Fest, bei dem die Menge jubelt, hin und her wogt und der Hauptperson entgegen zieht. Ob sich Putin vorgestellt hat, so in Kiew empfangen zu werden?

Aber nun zurück von den aktuellen schlimmen, vom Krieg geprägten Ereignissen in das damalige Jerusalem, das in gewisser Weise ähnlich vom Krieg geprägt war. Wie wir im Evangelium gehört hatten, nimmt nun die Volksmenge, da sie keinen roten Teppich zum Ausrollen vorrätig hat, stattdessen Palmzweige, breitet ihre Kleider auf den Weg und ruft: „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel!“ Ja, so lässt sie den großen Wundertäter hochleben, den viel gerühmten Wundertäter, der doch Lazarus von den Toten auferweckt hatte.

Jedem Politiker muss es jetzt sofort in die Augen springen, was dieser Einzug Jesu in Jerusalem für eine Chance ist, die Massen zu formen und zu beeinflussen. Und ich glaube, die Pharisäer und Führer des Alten Gottesvolkes, die sehen es genau so: Denn wenn Jesus jetzt in diesem so günstigen Augenblick das richtige zündende Wort sagen würde, wenn er jetzt die Zügel fest in die Hand nehmen würde, die Massen jetzt richtig lenken würde, dann hätte er alle Macht über sie! Dann müssten nicht mehr die Waffen sprechen. Und was für Hoffnungen und Sehnsüchte könnten so endlich erfüllt werden! Wieviel Gutes und Notwendiges, könnte so endlich erreicht werden! Gutes und Notwendiges, das diese gequälte und geschundene Welt mit einem Schlage verbessern würde. Und wer sonst, wenn nicht der Christus, der Gesalbte, der Messias, könnte und müßte doch hier endlich alles besser machen! Und außerdem wäre doch dabei von ihm als göttlichem Menschen kein Missbrauch zu befürchten. Ja, was für eine Chance!

Jedoch, ganz genau aus dieser turbulenten Palmsonntagsszene, wie sie nun einmal zum Sonntag vor Ostern damals wie heute gehört, zieht uns heute unser Predigttext sanft aber bestimmt heraus. Warum denn das? Doch, um uns um so konzentrierter auf das Osterfest vorzubereiten. Aus allem diesem Trubel nimmt er uns heute mit zu diesem besinnlichen Abschnitt aus dem Johannesevangelium, der traditionell als „Abschiedsreden“ Jesu bezeichnet wurde.
Was für ein Kontrast! Denn da schallt uns nicht lauthals die Verkündigung eines umwerfenden politischen Programms entgegen, wie es zu einem triumphal nach Jerusalem einziehenden Messias gehören würde, sondern wir dürfen jetzt Zeuge eines persönlichen Gebets werden, eines Gebets, in dem Jesus Zwiesprache hält mit seinem und unserem Vater im Himmel.

Und so merkwürdig das ist, trotzdem geht es dabei in Vorbereitung auf das Osterfest genau um das Thema des Einzugs in Jerusalem, nämlich um Verherrlichung und Macht. Aber das in einem Gebet? So macht man das doch nicht! Seit Urzeiten macht man das so nicht! Denn wir haben doch alle vor Augen, wie die Mächtigen der heutigen Zeit sich aus gutem Grund mit Paraden und Konfetti und am besten noch Freibier verherrlichen und ihre Macht feiern lassen.
Aber halt! Wenn es nun um eine solche menschliche Verherrlichung und Macht eben am Palmsonntag nicht gehen soll und es auch zu Ostern nicht gehen soll, worum es geht dann? Es geht um Verherrlichung und Macht von Gott und vor Gott! Es geht dabei um ewiges Leben! Ja, das ewige Leben!
Jedoch: Wie sollte so etwas Unbegreifliches wie ewiges Leben uns normalen Menschen verständlich sein und angehen? Wie sollten wir denn einen Sinn dafür haben, da doch einfach alles an uns vergänglich ist? Wie sollten wir als elend sterbliche Menschen so etwas Unsterbliches vernehmen und für uns annehmen können – zumal es offenbar nicht mit großem Getöse, sondern in der Stille des Gebetes zum Ausdruck kommt?

Aber ehe uns diese Unbegreiflichkeit des ewigen Lebens völlig sprachlos macht, lasst es uns mit einer negativen Abgrenzung versuchen: Sind wir uns nicht einig darüber, dass ewiges Leben auf keinen Fall das ausmachen dürfte, was in vielen Völkern von ihm geglaubt wird, nämlich dass es so eine Art Schlaraffenland sei oder eine Art Austobe-Wiese für Machos. Nein, wir hören in unserem Predigttext nichts davon, dass ewiges Leben etwa mit gebratenen Tauben zu tun hat, die einem in den Mund fliegen – aber doch mit wahrer Gotteserkenntnis. Denn so bekräftigt unser Predigttext: Der ist in das ewige Leben hineingenommen, wer den wahren Gott erkennt und den von ihm gesandten Jesus Christus.

Wohlgemerkt, nichts gegen große feierliche Prozessionen, aber heute ist der entscheidende Ort dieser Erkenntnis die Besinnung im Gebet, ist heute, sich dem Wort Gottes in der Stille zu öffnen, und sodann, die Liebe Gottes als Nächstenliebe weiterzugeben. Der entscheidende Ort dieser Erkenntnis ist heute die ganz persönliche Ergriffenheit von der Ewigkeit Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Hl. Geistes, der dadurch verherrlicht wird.

Allerdings ist meist für uns normale Menschen und in unserem Alltag eine solche Berührung mit der Ewigkeit nur bestenfalls dunkel erahnbar. Jedoch, was ist es da für ein großes Geschenk, dass wir uns in jedem Osterfest wieder die Überwindung der Vergänglichkeit des Todes durch das ewige Leben, durch die Auferstehung Jesu Christi vergegenwärtigen dürfen. Was ist es da für ein großes Geschenk, dass wir uns in jedem Osterfest wieder einüben dürfen in diese unserem Alltag so fremde Dimension. Dass wir uns dadurch hineinnehmen lassen dürfen in die Gewissheit, dass die Macht und Herrlichkeit Gottes etwas ganz anderes ist als prachtvoll repräsentative Einmärsche mit Würstchen und Kartoffelsalat und Freibier.

Allerdings bringt Ewigkeit, wie sie zur Macht und Herrlichkeit Gottes gehört, noch eine ganz andere und einfach unfassbare Dimensionen mit sich: Denn Ewigkeit will sich nicht nur auf die beschränkten Ebenen unseres persönlichen Bewusstseins erstrecken, sondern existierte schon in aller Herrlichkeit, ehe die Welt war.
Ja, in der Berührung mit dem Ewigen wird alles Begrenzte dieser Welt durchbrochen, alle Einschränkungen gelöst, alle Verkürzungen werden ausgeglichen, alles Unerfüllte erfüllt. Und das wirklich Unfassbare dabei ist, dass wir als Glaubende uns in genau diese Ewigkeit eingezeichnet wissen dürfen. Unbegreiflich, aber doch wunderbar! Und wie kann das Paul Gerhardt in seinem anrührenden Weihnachtslied „Ich steh an deiner Krippen hier“ so schön ausdrücken:

„Da ich noch nicht geboren war,
da bist du mir geboren
und hast mich dir zu eigen gar,
eh ich dich kannt, erkoren.
Eh ich durch deine Hand gemacht,
da hast du schon bei dir bedacht,
wie du mein wolltest werden.“

Ja, daran dürfen wir glauben und unser Leben danach ausrichten, dass genau Du und ich diejenigen Menschen sind, die unser Gott diesem Jesus Christus aus der Welt gegeben hat, so, wie es in unserem Bibelwort heißt.

Wohl dem, der das wirklich fassen kann! Wohl dem, der darüber staunen kann! Wohl dem, den das völlig erfüllen kann! Was sollte der noch in diesem Leben brauchen?

Aber, was heißt das denn jetzt für unser widerspenstiges Alltagsleben, in dem Vieles so ganz anders ist als wir es uns vorstellen? In der es Krieg, Flucht und Vertreibung gibt, aber auch den so wichtigen Waffendienst zum Schutz des Nächsten? Sollten wir jetzt etwa dieser Welt völlig entrückt sein? Sollte uns jetzt die Not und alles Versagen auf dieser Welt nichts mehr anhaben können? Sollten wir z.B. jetzt nicht mehr zur Hilfe für Menschen in Not gefordert sein oder nicht mehr krank werden, also jetzt richtig unverletzlich sein?

Natürlich hat sich das die Menschheit schon immer gewünscht. Und vielleicht wäre es sogar ungesund sich so etwas nicht zu wünschen. Aber eigentlich wissen wir alle genau, dass das ziemlich unrealistisch ist. Nein, solange wir auf dieser Welt leben, wird uns Not, Versagen und Schuld auf dieser Welt anrühren.

Aber was heißt das wiederum für uns? Heißt das, dass wir uns mit allem Reden über Ewigkeit und die Macht und Herrlichkeit Gottes letztlich nur irgendetwas selbst vormachen? Immerhin wissen wir, dass es genügend kluge Leute auf dieser Welt gibt, die genau das von der Christenheit behaupten.

Was wir dem entgegen zu halten haben? Doch allein Christus! Denn auch Jesus Christus hat sich von den Nöten dieser Welt nicht abgehoben entzogen, sondern sich von ihnen anrühren lassen! Obwohl er aus aller Ewigkeit gekommen ist und zu Gottes Ewigkeit gehört, ist Christus doch allem Leid und allem Übel auf dieser Welt nicht ausgewichen in die Herrlichkeit des himmlischen Vaters, aus der er kam. Nein, er hat sogar scheinbar alles Übel auf dieser Welt übermächtig werden lassen und sich ans Kreuz schlagen lassen und ist dort den Tod eines Menschen gestorben.
Und auch mit genau diesem Tod wollten ihn doch die damaligen Mächtigen als billigen Scharlatan entzaubern, ihn auf dem sogenannten „Boden der Tatsachen“ zerschmettern. So wollten sie das von ihm verkündete Reich Gottes als Traumtänzerei entlarven.

Und warum ist ihnen das nicht gelungen? Doch weil Christus auferstanden ist! Weil er eben in diese Ewigkeit aufgenommen wurde, aus der er kam und in der er ist. Und weil dann Menschen angerührt wurden von dieser Ewigkeit. Und weil dann Menschen etwas von Gottes ewigem Wesen erfahren durften. Ja, auch in Not, Versagen und Schuld dieser Welt durften sie sich gewiss werden, dass Gottes Güte und Barmherzigkeit größer sind als alles Schlimme dieser Welt. So haben sie Gott als wahren Gott erkannt. Und so haben sie Christus als den von ihm gesandten Sohn erkannt.

Auch wenn schlimmste Schmerzen einem die Besinnung rauben wollen und selbst wenn man keine Tränen mehr hat: Wer so zu glauben wagt, den beginnt schon Gottes Macht und Herrlichkeit zu umfangen. Was will sich da alles eröffnen in dem Gebet, das sich darauf verlässt! Und was für ein Trost auch für den, der in den Augen der Welt zerbrochen ist, der in Leid und Elend untergegangen ist: Nein, wer so glauben kann, der darf sich mit Leib und Seele gewiss sein, dass er zu den Menschen gehört, die Gott der Vater dem Sohn aus der Welt gegeben hat. Und genau in dem Staunen darüber, genau in dem Weinen darüber, genau in dem Jubeln darüber: Dadurch wird Christus verherrlicht, und dadurch wird Gott der Vater verherrlicht. Denn dadurch wird Gottes Wort und Verheißung erkannt und bewahrt!

Nicht im Rummel eines Volksfestes, sondern in der Öffnung der Herzen im Gebet will und darf sich Ewigkeit ereignen, will und darf somit österliche Auferstehung bereits am Palmsonntag beginnen. Und so Gott, Vater, Sohn und Hl. Geist verherrlicht werden. Gott sei Dank! Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastor i.R. Dr. Andreas Pawlas

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es ist eine Vorstadt-Gemeinde versammelt, Alt und Jung sind beieinander. Kinder sind zuerst beim Gottesdienst dabei, dann aber kommt nach dem Evangelium der Auszug der Kinder zum parallelen Kindergottesdienst.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Dimension der Ewigkeit im aufrichtigen Gebet.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
In Gebetsgewissheit in die unterschiedlichen Gestalten der Wirklichkeit schauen und dort das ewige göttliche Wirken erhoffen, erbitten, aber auch dankbar entdecken.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich habe gern die Anregung des Predigtcoaches zur anfänglichen Konzentration auf das Palmsonntagsgeschehen wahrgenommen.

Perikope
10.04.2022
17,1-8

Ein Festtag gegen alle aufkommende Wehmut - Predigt zu Joh 1,15-18 von Thomas Volk

Ein Festtag gegen alle aufkommende Wehmut - Predigt zu Joh 1,15-18 von Thomas Volk
1,15-18

Liebe Mitchristinnen und Mitchristen,

wenn der 6. Januar - wie in diesem Jahr - auf einen Donnerstag fällt, hat man nach Weihnachten und dem Jahreswechsel noch einmal ein ganzes Wochenende vor sich. Das klingt richtig gut. Wie geht es Ihnen mit dieser Aussicht? Freuen Sie auf die vielen Möglichkeiten, die sich anbieten? Weihnachten nachklingen lassen. Ausspannen. Jemanden besuchen. In aller Ruhe mit jemandem telefonieren oder skypen. Das Buch doch noch zu Ende lesen. Oder etwas in aller Ruhe erledigen, was Sie schon lange auf Ihrer To-Do-Liste hatten.
Oder merken Sie in diesen ersten Tagen bereits, wie das neue Jahr schon seine Schatten voraus wirft? Wie die Idylle der Feiertage von Tag zu Tag mehr verblasst? Wie der Alltag mit jedem Aufstehen näherkommt und wie manche dunkle Wolken, die in den vergangenen zwei Wochen wie weggezogen waren, mit einem Mal wieder näher kommen?
Für alle, die spüren, dass man das kommende Wochenende doch nicht mehr so unbeschwert genießen kann, ist der heutige Epiphaniastag genau das richtige Fest. Epiphanias heißt „Erscheinung.“ Aufleuchten der „Herrlichkeit Gottes“. Nicht nur ein letztes Mal heute, an dem Tag, an dem die drei Weisen zur Krippe kommen. Dieser Tag will uns gewiss machen: Gottes Herrlichkeit verschwindet eben nicht aus unserem Leben wie die Weihnachtsdeko aus dem Wohnzimmer. Gottes Herrlichkeit bleibt. Auch nach den Festtagen. Bleibt im kommenden Alltag. Bleibt bei allen Veränderungen. Bleibt auch, wenn dunkle Wolken aufziehen. Und das heutige Schriftwort, das Sie gleich hören werden, setzt sogar noch einen drauf. Es behauptet: Gottes Herrlichkeit ist nicht nur unser ständiger Begleiter. Sie ist uns bereits voraus. Sie wartet auf uns, wenn wir in diesem Jahr wieder unterwegs sind.

Hören Sie aus dem Johannesevangelium, aus dem 1. Kapitel, die folgenden Verse:

15 Johannes trat als sein Zeuge auf.
Er rief: „Diesen habe ich gemeint, als ich sagte:
›Nach mir kommt einer, der mir immer schon voraus ist.
Denn lange vor mir war er schon da.‹“

16 Aus seinem Reichtum hat er uns beschenkt -
mit überreicher Gnade.

17 Durch Mose hat Gott uns das Gesetz gegeben.‘
Durch Jesus Christus sind die Gnade und die Wahrheit
zu uns gekommen.

18 Kein Mensch hat Gott jemals gesehen.
Nur der eine, der Mensch geworden ist,
selbst Gott ist und an der Seite des Vaters sitzt –
der hat uns über ihn Auskunft gegeben.

Das Johannesevangelium hat im 1. Kapitel so gar nichts von den uns bekannten Weihnachtserzählungen. Es lässt dafür schon bald Johannes den Täufer auftreten und die neue Übersetzung der Basis Bibel lässt ihn etwas Erstaunliches sagen. Christus ist ihm, Johannes, „immer schon voraus“ (V. 15) gewesen. Worin? In der Frage, was man von Gott erwarten darf.

Johannes der Täufer hat den Menschen einen strengen Gott vor Augen geführt, der möchte, dass die Menschen Buße tun. Johannes hat gemeint, dass die Menschen durch Reue und Umkehr Gott wirklich näher kommen könnten. Dazu hat er Gott mit sehr menschlichen Zügen umschrieben. Johannes stellt sich Gott wie jemanden vor, der richtig wütend und zornig werden kann, wenn jemand wieder hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben ist. Auch wenn manche Menschen hin und wieder eine deutliche Ansprache brauchen, so bewirken Drohungen bei der Mehrheit das genaue Gegenteil. Wenn jemand auch nach dem zehnten Mal zurechtgewiesen wurde, weil er wieder diese eine Aufgabe nicht geschafft hat, wird er es beim elften Mal sehr wahrscheinlich auch nicht schaffen. Johannes hat übersehen, dass durch alle harten Zurechtweisungen noch mehr Mut und Vertrauen abgegraben werden.
Und heute, nachdem sich Menschen fast 2.000 Jahre mit dem Neuen Testament befasst haben, ist eigentlich allen klar, dass der Sinn von Religion ein ganz anderer ist, nämlich: den Menschen alle möglichen Ängste zu nehmen. Die Menschen haben schon genügend zu tragen und man muss ihnen nicht auch noch einen strengen Gott vor Augen führen, der sich wie ein cholerischer Vorgesetzter benimmt und ständig auf dem Rücken seines Personals herumtanzt.

Jesus dagegen wollte auch, dass die Menschen umkehren und neue Wege in ihrem Leben erproben. Aber das Johannesevangelium sagt selbst: „Durch Jesus Christus ist die „Gnade“ zu uns gekommen“ (vgl. V. 17). Und die ist an Weihnachten sichtbar aufgeleuchtet. Im Stall von Bethlehem. Aber nicht nur damals und nur dort. Sie geht an jedem Morgen neu auf. Sie erwartet uns regelrecht jeden Tag aufs Neue. Sie leuchtet die nächste Etappe unseres Lebensweges aus. Und sie ist bereits da, wenn wir einen stürmischen Tag oder eine mühevolle Zeit hinter uns haben.
Der Epiphaniastag macht noch einmal klar: „Gottes Herrlichkeit“ ist niemand anderes als Christus. Christus, das „Licht der Welt“ (vgl. Johannes 8,12) gibt wenige Tage nach Neujahr sozusagen noch einmal den Startschuss in das neue Jahr: „Komm, mach dich auf. In dein neues Kalenderjahr. Mit aller Vorfreude. Mit aller Verletzlichkeit. Mit allem, was dir Angst macht. Geh los, auch wenn du manches heute noch nicht abschätzen kannst.“ Christus begleitet dich nicht nur auf deinen Wegen. Es ist dir immer schon voraus. Wie wenn du am Ufer eines Flusses stehst, in ein Boot einsteigst und flussabwärts fährst. Wo auch immer du an Land gehst, wo auch immer deine Lebensreise dich in diesem Jahr hinführt, erwartet dich bereits dort Christus. In der Sprache von Epiphanias: Der „Stern von Bethlehem“ geht dir, wie bei den Weisen, immer voraus. Jesus, der „Morgenstern“, wird immer wieder neu in deinem Herzen aufgehen und dir Mut machen, auch neue und ungewohnte Wege einzuschlagen, weil sein Licht dich an vielen Orten erwartet. Christus, als „Sonne der Gerechtigkeit“, schenkt dir Achtung und Würde, auch wenn du in den Augen anderer vielleicht nicht „top“ bist. So gesehen ist Epiphanias ein richtig trotziges Fest, das uns mutig machen möchte auch manchem Sturm entgegenzutreten.
Und wenn Sie zu den Menschen wie ich gehören, die nicht zu den mutigsten zählen und immer sichtbare Zeichen oder Hinweise brauchen, die auch in den kommenden Tagen und Wochen gewiss machen, dass Christus wirklich immer schon voraus ist und auf uns wartet, dann habe ich eine Idee für Sie. Ich lasse gerade nach diesen trüben und nebligen Wochen im November und Dezember meinen Herrnhuter Stern bis zum 2. Februar an meinem Fenster hängen, bis man das Licht draußen wieder „messen“ kann, weil es deutlich länger hell bleibt. Vielleicht lasse ich ihn auch so lange am Fenster, bis ich so viel Zuversicht geschöpft habe, dass Christus als Licht der Welt auch wirklich da ist, mich immer wieder erwartet und ich den Stern als Erinnerungszeichen nicht mehr brauche.

Und wenn Sie in diesen Tagen bereits alles wieder abhängen und einpacken, dann bekommen Sie eine Erinnerung mit in das neue Jahr. Der heutige Abschnitt sagt es indirekt mit diesem kleinen Satz: „Aus seinem Reichtum hat er uns beschenkt mit überreicher Gnade“ (V. 16). Das ist ein guter Hinwies, vor allem dann, wenn man die „Herrlichkeit Gottes“ gerade so gar nicht spürt oder wenn man kein Licht am Ende des Tunnels sieht. Ich frage mich dann immer: „Hast du schon vergessen? Wie oft bist du von Christus schon beschenkt worden? Als du diese eine lange Durststrecke doch geschafft hast. Als du diese eine Sache, die einfach nicht gut lief, doch einfach so stehen lassen konntest. Oder als ich gemerkt habe, dass doch eine neue Türe aufgegangen ist, als die eine vertraute für immer zu war. Und Christus hat mich dahinter bereits erwartet.“
Und wenn sie zu Weihnachten oder zum neuen Jahr einen lieben Brief mit der ganz aktuellen Weihnachtsbriefmarke der Post bekamen, haben Sie an diesem Jahreswechsel noch einen zusätzlichen Hinweis erhalten. Der leise und behutsam wirkende Engel in goldenem Gewand und einem Reif im Haar trägt in der rechten Hand eine weiße Lilie, ein Symbol, das Menschen früher als Zeichen für Gottes Gnade gedeutet haben. Diese Weihnachtsbriefmarke ist nur eines von vielen Zeichen, das deutlich macht: Gottes Gnade begleitet dich. Und sie wird dich auch im neuen Jahr beschenken. Gottes Gnade steht immer für Neubeginn, für Bewältigung von Furcht und Sorge, für Aufbrechenkönnen in ungewisse Zeiten, für mutiges Losgehen.

Auf alle Fälle ist Epiphanias ein widerspenstiges Fest gegen alle Wehmut, dass etwas im Leben vorbei sein könnte oder nie wiederkommt. Es gibt auch in diesem neuen Jahr viel zu entdecken und zu verstehen. Mein Herrnhuter Stern erinnert mich noch eine Zeitlang daran. Oder vielleicht auch manche Kerze, die vielleicht das ganze Jahr über stehen bleibt, bis sie endgültig abgebrannt ist. Oder vielleicht etwas Anderes von Weihnachten, das daran erinnert: Christus, als Licht der Welt, ist längst alle Wege vorausgegangen und wartet auf Sie und mich. Vielleicht im Frühjahr auf einer Parkbank. Im Arztzimmer. Bei einem guten Gespräch. Auf der neuen Stelle. Beim Umzug in die neue Wohnung. In einem ermutigenden Gottesdienst. Oder … . Wir werden es dann schon merken.

Und die Weite Gottes, die alle Zeit umfängt, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Thomas Volk

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe vor allem die Menschen vor Augen, die nach „zwei Wochen Weihnachtspause“ bald wieder in ihren Alltag hinaus müssen. Ich habe die Predigt für alle geschrieben, die merken, dass manches Belastende vom alten Jahr von Tag zu Tag wieder näher kommt und alle Zuversicht - auch die, die man von Weihnachten geschöpft hat - wieder abgräbt.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mich hat beflügelt und inspiriert, dass es im Leben doch nicht darum gehen kann, dass wir immer dann, wenn Unangenehmes auf uns zukommt oder manches Belastende auftaucht, wir in einen „Verzagtheits-Modus“ umschalten. Der christliche Glaube ist doch kein „Schönwetter-Glaube“ oder der „Zuckerguss“ über unserem ohnehin abgesicherten Leben. Unser Glaube macht doch Mut, schenkt Zuversicht und lässt sich nicht von schlechten Aussichten blenden.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Übersetzung der Basis Bibel aus Johannes 1,15, dass Christus uns „immer schon voraus“ ist (Johannes 1,15). Eine geniale Umschreibung. Das nehme ich mit ins neue Jahr. Christus ist mir voraus. Er erwartet mich an bestimmten Wegmarkierungen. Und ich höre ihn schon sagen: „Junge, stress dich bloß nicht. Wir kriegen das schon hin!“

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Das Coaching war richtig gut. Ich hatte in meinem ersten Entwurf die Tendenz, dass ich die drohenden Schatten doch zu sehr ausmale. Meine Absicht, das neue Jahr trotzig-mutig anzugehen, wäre dabei vielleicht untergegangen. Und es lohnt sich bei einem Thema zu bleiben. Ich habe versucht, bei diesem „Voraussein“ zu bleiben und nicht auf andere Themen wie „Licht“ oder „Stern“ abzuschweifen.

Perikope
06.01.2022
1,15-18

Neugeboren - Predigt zu Johannes 3, 1-8 von Matthias Rein

Neugeboren - Predigt zu Johannes 3, 1-8 von Matthias Rein
3, 1-8

Der Predigttext wird zu Beginn gelesen (Luther 2017).

I.

Wolken ziehen eilig über den Himmel. Der Wind bläst von vorn. Die Wellen rollen an den Strand. Das Meer ist in großer Bewegung.  Wir laufen gegen den Wind, immer gegen an. Die Worte wehen aus dem Mund.  Der Wind hat uns im Griff. Wir sehen ihn nicht, den Wind. Aber wir spüren seine Kraft. Wir sehen, was er wirkt: das Meer in Bewegung, eilige Wolken, Sand im Gesicht. „Der Wind bläst, wo er will. Du hörst sein Sausen wohl; aber du weisst nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren wird.“

So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren wird?  Was meint Jesus?

Was wirkt der Wind? Wellen, Wolken, Sausen. Was wirkt der Geist? Neugeborenwerden.  Wo kommen Wind und Geist her? Wo haben sie ihr Anfang?  Beim Wind können wir den Ausgangspunkt kaum finden.  Suchen wir den Ursprung des Geistes, dann begegnen wir Gott. Kein alter Mann, der mit dicken Backen bläst. Eher ein Spannungsfeld voller Energie. Da entspringen Wind und Geist.

II.

Nikodemus fragt und hört zu. Es ist Nacht. In der Nacht hört man den Wind stärker, hört man Worte anders, ahnt man das Licht. Aber sieht es nicht. Nikodemus sah, was Jesus tat: Aus Wasser wird Wein.  Geschrei im Tempel, den Jesus reinigt. Aus Menschen, die zweifeln, werden Nachfolger*innen Jesu. Alle haben es gesehen. Nikodemus hat es gesehen. Und sagt: „Du, Jesus, kommst von Gott.“

Und doch: Nikodemus hat Fragen. Fragen, die einem nachts durch den Kopf gehen: „Was habe ich gesehen? Was hat das zu bedeuten? Gott selbst in diesem Menschen Jesus? Das Reich Gottes?“ Jesus antwortet in der Nacht: „Nikodemus, du bist ein Lehrer Israels, ein kluger und verständiger Mann. Wir sehen das, was vor Augen steht. Wir sehen die irdischen Dinge. Diese Dinge zeigen aber mehr. Sie weisen auf Gottes Wirken, auf himmlische Zusammenhänge. Wer dies sehen will, muss anders sehen. Muss neu geboren werden aus Wasser und dem Geist Gottes. Muss die Welt mit Gottes Augen anschauen.“

III.

„Welch ein schöner Raum!“ Seit einer Stunde sitze ich mit dem Maler in der lichtdurchfluteten gotischen Kirche. Der Maler sieht mit anderen Augen als ich. Das Licht, die Proportionen, die Farben, die Akzente durch den Renaissance-Altar. Er sieht Dinge, die mir bisher verborgen waren. Ein Schattenspiel, eine Lichtbrechung, ein Farbklang. „Ich bin kein glaubender Mensch. Aber mich beschäftigt das Transzendente.“ Der Maler erzählt von sich. Er wird das Kirchenschiff in der Passionszeit umgestalten, wird den Altar verhüllen. Das Leiden des Menschen und das Handeln Gottes. Landschaft und Himmel. Violett. Das inspiriert ihn. Er macht sich auf den Weg zu einer künstlerischen Gestaltung. Er meditiert und probiert. So entsteht ein großes Flies. Eine Landschaft, ein Ausschnitt aus dem Himmel. „Ich bin kein glaubender Mensch. Aber ich habe den Himmel neu sehen gelernt bei dieser Arbeit. Ich sehe so viel mehr.“ So beschreibt der Maler seine Erfahrungen. Ein Mensch auf der Schwelle. Zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen. Auf der Schwelle wie wir. Mit ihm lerne ich neu sehen, lerne ich anders zu sehen.

So macht es Gott mit uns Menschen: er lehrt uns, neu zu sehen.

IV.

Wie geht „Neugeboren werden“? Nikodemus kann das nicht verstehen. Wieder zurück in den Mutterleib? Jesus meint etwas anderes. Es geht um ein „Geborenwerden aus Wasser und Geist“. Das geschieht, wenn ein Mensch im Namen Gottes getauft wird. Es beginnt etwas Neues. Ein neuer Anfang, neu geschaffen, wieder geboren. Nikodemus fragt, wie ein Mensch neu geboren werden kann.  Jesus antwortet: untergetaucht in das Reich des Todes und aufgetaucht zu neuem Leben. Erfüllt durch Gottes Geist. So wird ein Mensch von Gott neu geboren. Gott handelt. Mit uns Menschen geschieht dies.

Und woran erkenne ich das Wirken des Geistes? Wer von Gott neu geboren ist, richtet sich neu aus. Richtet Denken und Handeln an Jesus aus. Ein neues Sehen, ein neuer Blick, eine neue Verbindung, eine neue Bewegung. Im Blickfeld taucht das Himmlische und das Reich Gottes auf, mitten im Irdischen. Im Antlitz des Gekreuzigten leuchtet das Licht Gottes.

Ein Beispiel:

Rasul Sayab kam aus Afghanistan nach Deutschland und stellte einen Antrag auf Asyl. Er wurde am 10.12.2017 in der Erfurter Reglerkirche getauft. Er lebt als Christ und kam jeden Sonntag zum Gottesdienst in die Reglerkirche. Gemeindeglieder begleiteten ihn bei der Verhandlung seiner Zulassung zum Asylverfahren vor dem Verwaltungsgereicht Meiningen. Rasul hat keinen Aufenthaltsstatus in Deutschland bekommen und nun Deutschland auf der Flucht verlassen. Pfarrerin Lipski schreibt: „Rasul ist ein beeindruckender, freundlicher und sehr respektvoller Mensch. Ich bin sehr traurig darüber, dass er weiter in Angst leben muss. Wenn man ihn gefragt hat, wann sein Geburtstag ist, hat er immer gesagt, es sei der 10.12.2017 - der Tag, an dem er getauft wurde.“

V.

Wir sind auf dem Rückweg am Strand. Wir haben den Ursprung des Windes nicht gefunden. Aber nun spüren wir: Die Sonne von vorn, der Wind im Rücken. Er schiebt uns. Wir sprechen. Der Wind nimmt die Worte mit. Gottes Geist richtet unsere Augen aus und wärmt das Herz. Der Wind hat uns durchgepustet. Neue Gedanken, neues Sehen.

Gott wirkt.

Amen

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Dr. Matthias Rein

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt halte ich im Gottesdienst der Thomas-Gemeinde Erfurt, eine lebendige Ge-meinde im gutbürgerlichen Süden Erfurts. Ich habe fragende und suchende Menschen vor Augen: Menschen, die eine Familie gegründet haben, Mediziner*innen, Künst-ler*innen, Verwaltungsangestellte, Jurist*innen. Menschen, die den christlichen Glauben intellektuell durchdringen möchten, die ähnlich fragen wie Nikodemus. Menschen „auf der Schwelle“, die Fragen stellen, die nicht einfach zu beantworten sind.  
Aber die auch „frohe Botschaft“ hören und erleben wollen.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mich hat das Bild vom Wind beschäftigt, dessen Wirkungen wir wahrnehmen. Und mich hat die Frage nach dem Übergang vom Geborenwerden zum Neugeborenwerden beschäf-tigt. Gibt es einen Übergang, eine Vermittlung von dem einen Zustand zum anderen? Wenn ja, wie? Was wirkt Gott, welchen Anteil haben Menschen in diesem Geschehen?

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Gott ist als Schöpfer, Erlöser und Geist zugleich präsent und verborgen. Jesus spricht von der Unverfügbarkeit des Neugeborenwerdens, zugleich zeigt er den Weg auf, wie ein Mensch neu geboren wird: durch die Taufe und Durchdringung mit Gottes Geist. Gott wirkt, der Mensch empfängt.   

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Das Bild vom Wind am Meer, die Szene mit dem Maler tragen. Die Sprache soll einfach, gut hörbar und doch mit Tiefe sein. Am Ende wurde wichtig, Gottes offenbares und verborgenes Wirken in allem sichtbar werden zu lassen.

Perikope
30.05.2021
3, 1-8

Alles fließt - Predigt zu Johannes 7, 37-39 von Wolfgang Vögele

Alles fließt - Predigt zu Johannes 7, 37-39 von Wolfgang Vögele
7, 37-39

„Aber am letzten Tag des Festes, der der höchste war, trat Jesus auf und rief: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Geist war noch nicht da; denn Jesus war noch nicht verherrlicht.“

 

Liebe Schwestern und Brüder,

Morgendämmerung hat eingesetzt, es wird heller. An einem Arbeitstag kurz vor Sechs fiept der Wecker. Mütter, Väter, Schulkinder, Arbeiter und Angestellt räkeln sich halb verschlafen auf der Matratze. Sie schütteln den Schlaf aus dem Körper und quälen sich müde aus der Decke. Die Beine schwingen sie auf den Boden und stehen langsam auf, ohne das Licht anzuschalten. Sie suchen die Toilette auf, wechseln ins Badezimmer, streifen den Pyjama ab und stellen sich fröstelnd und nackt unter die Dusche. Ohne hinzuschauen, drehen sie das Wasser an, und aus dem Duschkopf prasseln Wasserströme, die dem Blutdruck des vom Schlaf noch trägen Körpers einen kräftigen Schub verleihen, bei kaltem Wasser noch mehr als bei warmem.

Solch eine nasse Explosion, liebe Schwestern und Brüder, stelle ich mir unter „Strömen lebendigen Wassers“ vor: die schäumende, spritzende Wasserkraft, die am Morgen den schlaftrunkenen Nachtkörper wieder in ein Energiebündel verwandelt. Niemandem muß die eigene Nacktheit peinlich sein. Der Glaube wird in diesem Predigttext als eine Art Kneippkur verstanden: Er regt den Kreislauf an und spendet Energie wie die Dusche am Morgen. Wer glaubt, der hat keinesfalls zu heiß gebadet und muß nicht vor dem Leben fliehen. Wer glaubt, der hat sich mit Strömen lebendigen Wassers wecken lassen.

Der Evangelist Johannes verbindet unnachahmlich schnöden Alltag und himmlische Weisheit. Er erzählt vom frisch gebackenen Brot, gegrillten Fischen, anregendem Wein in vollen Krügen und eben auch vom klaren Wasser. Die Vater-und-Sohn-Theologie des Johannes nehmen die hörenden Menschen durch Essen und Trinken, Arbeiten und Waschen auf. Er entwickelt eine Flüssigkeitslehre von Wasser und Wein, weniger von Milch, aber auch von Blut, was allerdings an dieser Stelle nicht auftaucht. Seine Wasserweisheiten hat der Evangelist aus dem Alten Testament gewonnen. In der Bibel fließt so viel Wasser, da können die Leser leicht ins Schwimmen kommen.

Das lebendige Wasser aus dem Predigttext sollte nicht allzu schnell symbolisch überhöht werden. Im Hebräischen meint diese Wendung das frische, klare Wasser aus dem Fluß oder Bach, weich und angenehm zu trinken. Totes Wasser dagegen riecht faulig, abgestanden und schal. Es kommt aus einer trüben Quelle, oder es stand zu lange in einer Zisterne. In einer trockenen Gegend wie dem Land um Jerusalem und Jericho kann der sich glücklich schätzen, der in der Nähe einer Wasserquelle lebt. Ich lese eine kurze Passage aus dem Propheten Jeremia, eine der schönsten Wasserstellen (Jer 17,7-8): „Gesegnet aber ist der Mann, der sich auf den HERRN verlässt und dessen Zuversicht der HERR ist. Der ist wie ein Baum, am Wasser gepflanzt, der seine Wurzeln zum Bach hin streckt. Denn obgleich die Hitze kommt, fürchtet er sich doch nicht, sondern seine Blätter bleiben grün; (…).“ Wasser ist lebensnotwendig, für den Olivenhain, für das kleine Kind, für das Lamm und den Dromedar, für Kühe und Kälber, für durstige Menschen, glaubende wie nicht-glaubende. Zu Quellen und Brunnen müssen alle Zugang haben.

Dieses Leben benötigt weder Zaubertrank noch medizinische Tinktur, die tröpfchenweise verabreicht wird. Leben benötigt Ströme von Wasser. Anderthalb Liter täglich: Darin kommen Alltagsroutine, Lebensweisheit und medizinische Notwendigkeit zusammen. Auf diese Alltagsweisheit baut die Glaubenslehre des Evangelisten: Sie ist nah am Wasser gebaut.

Und auf dieser Grundlage stimmt Jesus das Trinklied des Heiligen Geistes an. Dieses allerdings enthält Widersprüche und trifft darum auf Unverständnis bei den Jüngern. Die energiespendende Dusche mit dem Heiligen Geist versteht sich nicht von selbst. In der erzählten Gegenwart spricht Jesus mit den Jüngern. Für Johannes, den Schriftsteller, weiß Jesus stets, daß er über die Gegenwart der erzählten Szene hinausredet. Die Leser und Hörerinnen des Evangeliums sind schon mitangesprochen. Das bedingt Verständnisschwierigkeiten auf allen Seiten: Jünger und Leser verstehen nicht richtig. Aber der Evangelist erklärt geduldig. Die Jünger im Evangelium kennen den Heiligen Geist noch nicht. Die Leser des Evangeliums können nicht richtig nachempfinden, wie es war, dem Lehrer aus Nazareth als leibhaftige Person zu begegnen.

Die später geborenen Glaubenden sind um ihres Glaubens willen angewiesen auf den Heiligen Geist. Sie brauchen diesen Geist nicht nur tröpfchenweise, wie die Großmütter, die jeden Abend vor dem Schlafengehen einen Fingerhut voll Klosterfrau Melissengeist tranken. Der heilige Geist ist weder ein Likör, noch ein teurer Whisky oder ein Grand Cru aus dem Burgund. Letztere müssen erst jahrelang im Faß und dann auf eine Flasche gezogen gekühlt im Keller liegen, bevor sie in kleinen Schlucken zum runden Geburtstag oder der Hochzeit des Sohnes getrunken werden. Liebe Gemeinde, Sie erinnern sich an die Geschichte der Hochzeit von Kana; auch sie erzählt der Alltagstheologe Johannes (Joh 2,1-12). Der Speisemeister beschwert sich beim Bräutigam, daß er den Gästen den besten Wein bis zuletzt vorenthalten habe. Dabei war es Jesus selbst, der in seinem ersten öffentlichen Wunder Wasser in Wein verwandelt hatte. Den Heiligen Geist muß man sich vorstellen wie eine tägliche Dusche mit weichem, klaren Wasser. Der Heilige Geist sprüht, sprudelt, regnet, belebt, manchmal heiß, manchmal kalt. Der Geist tröstet, sagt Jesus an anderer Stelle im Evangelium (z.B. Joh 14,26). Und das heißt: Das Wasser löscht den Durst, es reinigt und belebt, es hilft zu nüchternem und klarem Bewußtsein. Wein, ab dem dritten Glas, betütert und berauscht. Der heilige Wasser-Geist ernüchtert – und das nachhaltig. Der Körper braucht das Wasser, um nicht zu vertrocknen. Glaube braucht den Geist, um nicht in frommer Rechthaberei, klerikaler Bürokratie oder endlosen Diskussionen in gestalteter Mitte zu erstarren.

Nun allerdings steht der Heilige Geist nicht wie die tägliche Dusche im Badezimmer zur Verfügung, wo das Wasser nach dem Betätigen der Armatur eiskalt oder lauwarm aus dem Duschkopf strömt. Aus der Predigtgeschichte ergeben sich einige Hinweise zur geistlichen Wasserkunde: Zuerst weist der Evangelist auf die Verbindung zwischen Jesus von Nazareth und dem Heiligen Geist hin. Ohne „Verherrlichung“, wie er es nennt, ohne Kreuz und Auferstehung Jesu, ist der Heilige Geist nicht zu haben. Der Geist wirkt dort, wo Menschen ahnen, hoffen und glauben, daß Gott die Leiden dieser Welt überwinden will und zu diesen Verheißungen steht. Der Heilige Geist stellt sich nicht auf Knopfdruck ein – und schon gar nicht von selbst. Den Trost des Geistes arbeitet Gott nicht am Fließband ab.

Den Glaubenden hilft das Gebet. Das ist die Armatur, die den Geist in Bewegung setzt. Es heißt im bekanntesten und schönsten aller Pfingstlieder, das am Sonntag Exaudi, eine Woche vor dem Pfingstfest, selbstverständlich schon zum Brausen der Orgel gesungen werden kann: „Nun bitten wir den Heiligen Geist/ um den rechten Glauben allermeist,/ dass er uns behüte an unserm Ende,/ wenn wir heimfahr‘n aus diesem Elende./ Kyrieleis.“ (EG 124,1) Im Lied vereinen sich die Sängerinnen und Sänger zum „Wir“ der Gemeinde. Jesus richtete seine Rede über den tröstenden Geist an die Gemeinschaft der Jünger, die bei Johannes zu einer Gemeinschaft von Freunden stilisiert werden. Wie Gott seine Sonne aufgehen läßt über Gute und Böse (Mt 5,45), so regnet es das Wasser des Heiligen Geistes über Gemeinschaften von Menschen. Häufig zielt es nicht auf einzelne Glaubende, sondern auf Gemeinschaften, Gemeinden. Und ein letztes ist wichtig: Beim Duschen am Morgen stellt die lauwarme Mittelstellung des Hebels einen guten Kompromiß zwischen der Erinnerung an das warme Bett und der Notwendigkeit kühlender, kräftiger Belebung dar. Die Bibel verhält sich gegenüber dem Lauwarmen sehr, sehr skeptisch (Apk 3,16). Der Heilige Geist ist nicht zu kanalisieren und auch nicht zu temperieren. Er fließt nicht zwingend durch Kirchen- und Gemeindeleitungen; er verbreitet sich dort, wo er will (Joh 3,8). Der Heilige Geist ist keine klerikale Bewässerungsanlage, sondern daran zu erkennen, daß er an den ungewöhnlichsten Orten für heiße und kalte Überraschungen sorgt. Der Geist bewirkt zugleich Offenheit und Kraft; er weckt die Glaubenden aus allen Formen der bleiernen, geistlichen Müdigkeit.

Deswegen, liebe Schwestern und Brüder, lassen sie uns durchbuchstabieren, was das heißen könnte. Die letzten Monate der Pandemiewellen haben bei vielen eher für Müdigkeit und Einsamkeit als für Energie und neue Projekte gesorgt. Dieser Zustand wird so nicht anhalten. Wir benötigen die Bereitschaft, uns überraschen und neu motivieren zu lassen. Wir müssen denen helfen, in Pflegeheimen und Krankenhäuser, die schon lange über den Rand der Erschöpfung hinaus arbeiten, um dafür zu sorgen, daß sich das Virus nicht weiter ausbreitet. Das kann der Applaus vom Parkplatz aus sein, die beim Haupteingang vorbeigebrachte Pizza, aber auch der vom Balkon gesungene Choral. Überhaupt das Singen und Musizieren, auf das wir in den Gottesdiensten sehnsüchtig warten. Geistliche Musik wird die Überraschung sein: Wie schön, nach dem Ende der Pandemie einen gemeinsam gesungenen Choral mitzuhören, mitzusingen und mitzubeten. Ein Choral, eine Kantate, ein Lobpreis-Song – das ist ein klares Wasser, das erfrischt und jegliche Form von Apathie vertreibt.

Es braucht Aufmerksamkeit und Geduld, manchmal mehr das Abwarten als das übereilte, vorschnelle Handeln. Der Geist, der erfrischt und munter macht, stellt das Leben in eine größere Perspektive. Sie reicht über solche Pandemiezeiten, die unsere Geduld strapazieren, und über den Tod hinaus. Im Predigttext heißt es, daß auch die Jünger noch nicht wußten, daß Jesus verherrlicht werden sollte. Genau dieses Wissen macht den Unterschied des Glaubens. Es erfrischt und gibt neuen Mut. Alle, die glauben, folgen dem, der in Kreuz und Auferstehung vorangegangen ist. Und das wird gegenüber allem, das beim Alten bleiben soll, noch für manche Überraschung sorgen, sei es im Gebet, sei es in der Gemeinde, sei es an Orten, wo es kein kirchlicher Aktenordner vermutet hätte. Das ist die einfache Einsicht des Evangeliums: Geist ist Klarheit, Mut und Überraschung.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als unsere Trägheit, klarer als unser Denkvermögen und überraschender als unsere Phantasien, bewahre eure Herzen und Sinne frisch gebraust in Christus Jesus. Amen. 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Dr. Wolfgang Vögele

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mir stehen Menschen vor Augen, die sich überraschen lassen, die nicht jeden Sonntag die üblichen homiletischen Formeln hören wollen. Ich habe versucht, einige Ideen über den Heiligen Geist zu artikulieren, die Menschen dazu anregen, über ihr tägliches Leben nachzudenken.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich habe mich durch die Wasserstellen der Bibel in Auszügen hindurchgelesen und war überrascht, an wie vielen Stellen Wasser vorkommt. Damit kommt zusammen, daß Wasser wieder zu einem sehr aktuellen ökologischen Thema geworden ist. Ich habe versucht, dieses nicht moralistisch auszuwalzen, sondern das Moment der Überraschung stark zu machen. Der Geist ist ein Geschenk, kein klerikaler Machtfaktor.

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Man kann sich über das Bild des Duschens am Anfang mokieren. Auf der anderen Seite zähle ich das zu den Zumutungen, denen sich nach dem Johannesevangelium Hörer und Prediger gleichermaßen aussetzen müssen. Und zur Überraschung des Geistes gehört dann auch die unkonventionelle Reaktion.

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Es war gut, die Predigt nach drei Wochen ein zweites Mal zur Hand zu nehmen. Ich bin der Überzeugung, daß sich der Wassergedanke als homiletisches Leitmotiv bewährt hat, selbst dann, wenn die Predigt dann nicht den Regeln entspricht, die andere Homiletiker aufstellen. Man sollte dem ersten Einfall vertrauen.

 

Perikope
16.05.2021
7, 37-39