Predigt zu Lukas 10, 25-37 von Frank Zeeb

Predigt zu Lukas 10, 25-37 von Frank Zeeb
10,25-37

Liebe Gemeinde,
„der Nächste bitte“. Sie kennen diesen Satz, aus unendlich vielen Zusammenhängen, beim Arzt, an der Käsetheke am Schalter im Bahnhof, bei der netten Bankangestellten. Und dann gibt es immer wieder einen Moment des Zögerns. Wer ist denn nun der Nächste? Ich meine doch, ich. Oder ist die Dame vielleicht doch vor mir an der Reihe, ich will mich ja nicht vordrängen und mein Recht als Nächster wahrnehmen, wenn ich gar nicht dran bin. Und wenn ich mir sicher bin, dass ich der Nächste bin, dann werde ich das dem Yuppie da auch klar sagen, der schon die Ellbogen ausfährt, als hätte er die Vorfahrt gepachtet. Wer ist der Nächste, darum geht es auch in dem Gespräch Jesus mit dem Schriftgelehrten.

So ein Diskussionsgespräch ist im Judentum – damals wie heute – eine beliebte Sache. Solche Gespräche beginnen mit einer Frage und der Befragte muss dann aus der Schrift und der Tradition Argumente für und gegen finden und das Problem einer Lösung zuführen. Dabei geht es nicht nur um den Erkenntnisgewinn. Wichtig ist nicht zuletzt, wie man antwortet, schlagfertige, einleuchtende Beispiele sind das Salz in der Suppe eines solchen Gesprächs.

So kommt ein Schriftgelehrter zu Jesus als dem berühmten Wanderprediger, der für seine Kunstfertigkeit in solchen Gesprächen bekannt und beliebt ist. Die Frage, die er einleitend stellt, zeigt: Er selbst, der Schriftgelehrte, ist erfahren in der Führung von Streitgesprächen. „Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe.“ Schon die Formulierung der Frage ist voll von theologischen Anspielungen. In moderner Theologie würden wir vielleicht sagen: Die Rechtfertigungslehre ist vorausgesetzt, es ist klar, dass das ewige Leben und die Gnade nur ererbt, von Gott geschenkt wird. Dennoch bleibt die Frage offen – und sie ist in der evangelischen Theologie heute genau wie damals im Judentum eine der drängendsten Fragen und eine der schwierigsten Problemstellungen: Wie verhalten sich eine dogmatische korrekte Rechtfertigungslehre und die Ethik, die Lehre vom rechten Handeln, zueinander? Ein Streitgespräch auf höchstem theologischen Niveau also.

Jesus antwortet mit einer Gegenfrage. Er stellt damit klar, dass er die Reichweite der Frage verstanden hat und die Brisanz ernst nimmt. Ein solches Thema lässt sich nur behandeln, wenn die theologischen Grundlagen klar sind: Schrift und Bekenntnis. Deshalb die Rückfrage: Was sagt die Schrift dazu – und die Zusatzfrage: Was liest du?, genauer übersetzt: Was rezitierst du – wie jeder fromme Jude – jeden Morgen in deinem Glaubensbekenntnis, dem „Höre Israel“?

Der Schriftgelehrte weiß sich hier auf sicherem Grund: Er gibt die richtige Antwort. Gottesliebe und Nächstenliebe, ist doch klar. Jesus verwandelt gleichsam die Steilvorlage: Stimmt, damit ist deine Frage beantwortet, das musst du tun, dann wirst du leben. Ende der theologischen Diskussion.

Aber so lässt der Schriftgelehrte Jesus nicht gehen. Das war einfach. Wo im Konfirmandenunterricht noch der Katechismus gelernt wird, hätte diese Antwort jede und jeder Jugendliche geben können. Das ist Grundwissen. Jetzt wird es erst richtig spannend. Der Schriftgelehrte fragt weiter. Nebenbemerkung: Die Übersetzung im Luthertext „er rechtfertigte sich“ klingt für unsere Ohren ein bisschen wunderlich. Es ist nicht gemeint, dass er sich gleichsam entschuldigt oder – so wurde es auch manchmal gedeutet – seine eigenen Unzulänglichkeiten vertuschen will. Er will die Bedeutsamkeit des Themas weitertreiben: Wenn die Nächstenliebe ein Gesichtspunkt für das Ererben des ewigen Lebens, dann muss doch das doch konkret werden: „Wer ist mein Nächster?“ Was kann redlicherweise von mir erwartet werden, wofür bin ich zuständig und wofür – für wen – nicht. Warum der Schriftgelehrte genau diesen Aspekt herausgreift, erfahren wir nicht. Für das damalige Judentum war die Antwort eigentlich klar: Der Nächste ist jeder, der Mitglied des jüdischen Volkes ist und die anderen sind zwar Mitmenschen, aber sie sind eben nicht „Nächste“ im Sinne des Gesetzes. Vielleicht – wir diskutieren hier ja auf sehr hohem Niveau – spielt der Schriftgelehrte darauf an, dass Jesus den Begriff des „Nächsten“ weiter fasst als der damalige Mainstream. Er heilt den Knecht eines heidnischen Hauptmannes, hilft der Tochter einer phönizischen Frau, predigt neben der Nächsten- auch die Feindesliebe. Auch diese Frage ist also voller Hintergründigkeit.

Und jetzt greift Jesus zu dem sprachlichen Mittel, das er am besten beherrscht: Er erzählt eine Geschichte. Ein Mann – er hat keinen Namen, es ist also nicht eine wirkliche Begebenheit, sondern eine Beispielgeschichte, es könnte jeder und jede sein, die Geschichte spricht von dem, was typisch ist, was menschlich ist. Dieser Mann also geht hinab von Jerusalem nach Jericho, durch felsiges und unwegsames Steppenland. Wenn Sie einmal nach Israel und Palästina kommen und es die Umstände zulassen: Machen Sie sich auf diesen Weg, es lohnt sich, es ist nicht nur eine touristisch ansprechende Wanderung, sondern vor allem eine spirituelle Erfahrung. Diesen Weg gehen Menschen seit Jahrtausenden, es ist ein Weg, der viel mit Gottesbegegnung zu tun hat. Jedenfalls: Der arme Wanderer hat Pech und fällt unter die Räuber, die ihn halbtot liegen lassen. Wer wird ihm helfen? Ich erzähle die Geschichte jetzt nicht nach, wir kennen sie alle, und spekuliere auch nicht darüber, warum Priester und Levit nicht geholfen haben. Die Pointe ist doch die: Der Samariter, der Ausländer, der Fremdling, der eigentlich nach der reinen Lehre nicht als Nächster zu gelten hat, der unternimmt, was nötig ist und hilft. Er fragt nicht nach der theologisch korrekten Antwort, sondern handelt – und ich nehme an, dass der Verwundete hier auch nicht an Dogmatik gedacht hat, sondern froh war, dass und wie ihm geholfen wurde.

Damit hat Jesus die Fragestellung gleichsam umgekehrt: Es geht nicht darum, wer mein Nächster ist – darauf kann man korrekte Antworten geben, die einen wunderbar aus der Verantwortung entlassen, sondern es geht darum: Wie kann ich selbst zum Nächsten werden, wenn Not am Mann oder an der Frau ist? In moderner Theologie ausgedrückt. Die Dogmatik ist wichtig und nützlich, aber sie bleibt womöglich blutleer, wenn Handeln not tut. Das lässt sich am Text zeigen: Das Wort „tun“ kommt im griechischen Text vier mal vor, aber nur im Diskussionsgespräch, wo es sozusagen abstrakt bleibt, in der Geschichte selbst nicht ein einziges Mal, da wird nicht räsoniert, sondern tatkräftig gehandelt. Oder mit Erich Kästner, der auf die berühmte Frage, was das Gute sei, antwortet: Es gibt nichts Gutes – außer man tut es.

Ich finde, liebe Gemeinde, die Geschichte hat eine beängstigende Aktualität. Ein Nebenaspekt ist ja, dass Jesus eine Absage erteilt an die Auffassung, dass der „Nächste“ in einfachen Begrifflichkeiten zu fassen ist. Die Eigenschaft des oder der „Nächsten“ wird eben nicht dadurch definiert, dass ein Mensch die und die Bedingungen erfüllt, demselben Volk angehört, dieselbe Sprache spricht oder denselben Glauben teilt. „Nächster“ wird man durch die Liebe. Und die Beziehung der Liebe braucht zwei Richtungen: Der Nächste ist der Mensch, der voller Liebe und mit Barmherzigkeit das Nötige tut – und der oder die, der Hilfe braucht und sich das Liebeswerk annehmend gefallen lässt.

Die Geschichte müsste heute also so erzählt werden: Menschen gehen weg aus ihrer Heimat und fallen auf ihrem Weg, der ihnen schwer genug fällt, unter Räuber, Schleuser und ähnliche verbrecherische Gestalten. Sie bleiben halbtot und traumatisiert auf der Strecke. Es gibt genug Einrichtungen und Beauftragte, denen sie begegnen. Hilfe wird ihnen nicht zuteil. Das hat verschiedene Gründe: Der eine ist nicht zuständig, manch einer kann nicht, wieder andere wollen nicht. Nicht selten hört man auch die Aussage: Diese Menschen sind selbst schuld, wären sie nicht losgegangen, dann wären sie auch nicht da, wo sie jetzt sind, nicht in der Lage, unter der sie jetzt leiden. Wir haben genug zu tun mit unserer eigenen Not und können nicht die Probleme der ganzen Welt lösen. Und überhaupt: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung: Es gibt Asylgesetze, Sozialgesetzbücher und EU-Richtlinien. Die reine Lehre ist klar. Zum guten Glück gibt es aber auch heute die andere Seite. Menschen tun was nötig ist, ohne nach der Person, ihrer Herkunft und den Hintergründen  zu fragen. Sie verbinden Wunden, geben aus dem eigenen Vorrat, was gebraucht wird, Kleidung, Spielsachen und andere Dinge. Öl und Wein, mit denen man im Altertum Wunden wusch, können hier auch übertragen gemeint sein: Gespräche und Zuwendung für die geplagten Seelen, bei der Behandlung von Traumata kann auch schlichtes Dasein ohne große Worte hilfreich sein. Der Wirt in der Erzählung steht dann dafür, dass der Einzelne beim Helfen den Einzelnen nicht alleine ist und sich überfordern muss. Es gibt Netzwerke, die verlässlich sind und tragfähig. Sie unterstützen den Helfenden und sorgen für professionelle Hilfe. Damit sind wir – die biblische Geschichte erzählt an Beispielen von Einzelmenschen – auch bei der gesellschaftlichen Dimension. Was tut die Gesellschaft, was die Kirche, was unsere Kirchengemeinde für die Menschen, die in Syrien und sonstwo unter die Räuber gefallen sind?

Was muss ich, was müssen wir tun, damit wir das ewige Leben ererben? Wer ist mein Nächster? Wer ist der Nächste dem, der unter die Räuber gefallen ist? Spannende theologische Fragen. Jesus antwortet nicht mit theologischen Begriffen, bleibt nicht bei zutreffenden Zitaten stehen, er erzählt eine Geschichte. Und er beendet das theologische wertvolle Gespräch mit den Worten: „Gehe hin und mache es ebenso.“

Amen

Perikope
30.08.2015
10,25-37

Predigt zu Lukas 10,25-37 von Gerda Altpeter

Predigt zu Lukas 10,25-37 von Gerda Altpeter
10,25-37

25 Und siehe, ein Rechtsgelehrter trat auf. Er stellte ihn auf die Probe und sagte:“Lehrer, was soll ich tun um das ewige Leben zu erben?“
26 Er aber sagte zu ihm:“Im Gesetz, was ist da geschrieben? Was liest du da?“
27 Er aber antwortete und sagte:“Du wirst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, und mit deinem ganzen Lebensodem, und mit deiner ganzen Fähigkeit, und deinen Nachbarn wie dich selbst.“
28 Er sagte zu ihm:“Das ist richtig. Tue das und lebe!“
29 Er aber wollte sich rechtfertigen. Er sagte zu Jesus:“Wer ist mein Nächster?“
30 Jesus entgegnete und sagte:“Ein Mensch ging hinab von Jerusalem nach Jericho. Er fiel Räubern in die Hände. Sie zogen ihn aus und schlugen ihn. Sie gingen weg und verliessen ihn halbtot.
31 Zufälligerweise ging ein Priester auf dem Weg hinab. Er sah ihn und ging vorbei.
32 Ebenso kam ein Levit an den Ort. Er sah ihn und ging vorbei.
33 Ein Samariter kam auch des Weges. Er sah ihn.
34 Er hatte Mitleid mit ihm. Er ging hinzu und verband seine Wunden. Er goss Olivenöl und Wein hinein. Er setzte ihn auf sein eigenes Zugtier, nahm ihn mit in die Herberge und pflegte ihn.
35 Am anderen Morgen nahm er zwei Drachmen, gab sie dem Wirt und sagte:“Pflege ihn. Und wenn du mehr aufwendest werde ich es dir bezahlen wenn ich wieder zurückkomme.“
36 Wer von den dreien scheint dir der Nächste zu sein dem, der den Räubern in die Hände gefallen ist?“
37 Er antwortete:“ Der Mitleid mit ihm hatte.“ Jesus sagte zu ihm:“Gehe und handele ebenso!“

Mitleiden – Leiden

Offensichtlich geht es hier um das Mitleiden, das zum Leiden führt. Ich verstehe, warum ein Mensch leidet. Ich fühle mit ihm. Da kann ich nicht anders als dieses Leiden nach Möglichkeit zu beenden. Ich muss helfen. Das fühle ich, Das weiss ich.

Dann denke ich nach. Was kann ich tun? Wie soll ich vorgehen? Und dann handele ich.

Zuerst kommt das Verstehen. Dann kommt das Handeln. So geht es zu. Besonders gilt es wenn ich die Bibel lese. Im Wort Gottes ist festgehalten wie die Menschen damals ihre Probleme mit Gottes Hilfe lösten. Ich kann nun versuchen meine Probleme auf dieselbe Weise zu lösen.

Da möchte ich ein Beispiel bringen.

Meine Tochter war vor vielen Jahren psychisch krank. Damals herrschte in Niedersachsen eine atheistische Therapie. Sie war in der medizinischen Hochschule in Hannover entwickelt worden. Niemand fragte nach der Ursache der Erkrankung. Die Patientin wurde von allen Bindungen gelöst, zuletzt von der Bindung an Gott. Die Betreuer boten dann ihre Bindungen an.

Bei meiner Tochter klappte es nicht. Sie sprang aus einem dritten Stock. Es war für sie eine fremde Macht, darum rollte sie sich zusammen und kam rollend auf dem Boden auf. Sie brach sich den rechten Fuss mehrfach und verstauchte sich das Rückgrat. Sie kam zurück in die medizinische Hochschule in die Intensivstation. Dort wurde sie künstlich beatmet, sollte aber bald wieder selbst atmen.

Der Arzt dort fasste Vertrauen zu mir. Er bat mich zu helfen. Ich hatte ihr einen alten Tauftaler umgehängt als Zeichen, dass sie als Getaufte ein Kind Gottes sei. Diesen Tauftaler hatte sie abgelegt als sie sprang. Ich holte den Tauftaler und fragte sie, ob sie ihn wieder haben wolle. Es standen zehn Leute in wiessen Kitteln da. Als sie meine Frage bejahte legte ich ihr den Tauftaler auf die Brust. Sie atmete und war gerettet.Die einen wie der Arzt der Intensivstation freuten sich. Die anderen waren entsetzt. Das war doch nicht möglich! Sie waren Atheisten. Wieso konnte ein Patient leben weil er wieder an Gott angeschlossen war? Das war gegen ihre Anschauung und ihre Therapie. Sie wurden reihenweise krank.

Die Staatsanwaltschaft schaltete sich ein. Es waren viele Patienten dort gestorben. Sie stammten aus angesehenen Familien. Was war da los?

Später untersuchte die Bundesanwaltschaft die Sache. Sie verboten die atheistische Therapie. Gott lebt. Er handelt heute wie vor vielen Jahren. Er schafft Neues.

War der Professor der Psychiatrie nicht wie ein Räuber, der seinen Patienten den Glauben raubte? Starben so viele Menschen weil sie ohne Glauben nicht leben konnten?

Heute wie zur Zeit Jesu gilt die Aussage des Gesetzes. Liebe schafft Leben. Liebe zu Gott und zum Nächsten und zu sich selbst, darauf kommt es an. Das alte Testament, das auch das erste Testament heisst, gilt heute wie vor vielen Jahren.

Jesus lebt danach. Er erwartet, dass auch wir danach leben. Wer so lebt bleibt bei Gott. Dort werden wir glücklich. Wer ausserhalb der Gegenwart Gottes lebt ist unglücklich, ja er ist in der Hölle. Da gibt es keinen Frieden, kein Gerechtigkeit, keine Liebe.

Liebe kann Leiden bringen wenn sie nicht beachtet wird. Liebe leidet. Liebe leidet mit sich und mit anderen.

Mitleiden – Leiden

Darauf kommt es an. Wir Menschen brauchen einander. Wir sind aufeinander angewiesen. Wir leben zusammen in Freude und Leid.

Der Rechtsgelehrte antwortet Jesus, dass der Nächste derjenige ist, der mit dem unter die Räuber gefallenen Mitleid hatte. Jesus antwortet damals wie heute:

„Gehe hin und handele ebenso!“

 

Perikope
30.08.2015
10,25-37

Alles Tun ist Antwort - Predigt zu Lukas 10, 25-37 von Søren Schwesig

Alles Tun ist Antwort - Predigt zu Lukas 10, 25-37 von Søren Schwesig
10, 25-37

Alles Tun ist Antwort

Liebe Gemeinde,

wir werden heute in einen gelehrten Disput verwickelt. Es geht um nichts weniger als den Sinn des Lebens. Um ewiges Leben. Aber dieses Gespräch zwischen einem uns unbekannten Schriftgelehrten und dem anderen Schriftgelehrten, den wir schon besser kennen, ist merkwürdig abstrakt. Jesus wird gefragt nach dem Sinn des Lebens. Er gibt keine fertige Antwort, sondern gibt die Frage zurück: „Wo würdest du eine Antwort suchen auf diese Frage nach dem Sinn des Lebens?“ Und der Schriftgelehrte antwortet in der einem frommen Juden einzig möglichen Weise, nämlich mit den Worten der Schrift:

25  Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was Muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? 26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? 27 Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18).  28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.

Richtig hat er geantwortet, unser Schriftgelehrter. Auch wir kennen diese Antwort. Wir lassen sie unsere Kinder im Konfirmandenunterricht lernen als Zusammenfassung aller Gebote. Wir lehren, dass die Liebe zu Gott und dem Nächsten allein zu einem sinnvollen Leben führen kann. Zu einem Leben, das über den Tod hinausgeht. Richtig hat er geantwortet, unser Schriftgelehrter.

Aber das Gespräch zwischen den beiden bleibt merkwürdig abstrakt. Es herrscht gelehrsame Distanz zwischen den beiden und auch zwischen den beiden und dem Thema, das sie besprechen. Dabei geht es doch um den Sinn des Lebens, das ewige Leben.

Also bohrt der Gesprächspartner Jesu weiter. Er will es genauer wissen und will vor allem wissen, was dieses Bibelwort für ihn bedeutet. Und so fragt er weiter an der einzig möglichen Stelle, die eine Nachfrage erlaubt. An der einzig möglichen Stelle, die einen Platz für ihn als Person hat. An dieser Stelle fragt er nach.

29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? 30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. 31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. 32 Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. 33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; 34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. 35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.

36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? 37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

Was jetzt folgt ist Schweigen. Nachdenken. Eine Geschichte, die an Eindeutigkeit nun wirklich nicht mehr zu überbieten ist. Und es arbeitet in dem frommen Mann. Er sucht nach seiner Rolle in der Geschichte. Wäre ich dem Überfallenen zur Hilfe geeilt - wissend wie Priester und Levit, dass man sich vor und nach dem Tempeldienst nach dem Gesetz Gottes nicht mit Toten oder Halbtoten verunreinigen darf? Hätte ich es diesem nicht rechtgläubigen Samaritaner zugetraut, dass er zu einem solchen Liebeswerk fähig ist? Es arbeitet in dem frommen Mann.

Überrascht hat ihn, dass Jesus am Ende der Geschichte seine eigene Frage umdreht. Jesus fragt nicht mehr: „Wer ist dein Nächster?“ Nein, er fragt: „Wer ist wohl dem unter die Räuber Gefallenen zum Nächsten geworden?“ Auch das macht ihn nachdenklich. Aber die Antwort ist klar. Daran ist nicht zu rütteln: Dem Überfallenen wurde der zum Nächsten, der sich seiner erbarmte. Den das Schicksal des Geschlagenen nicht kalt ließ, der half, wo es nötig war.

So weit, so gut: „So geh hin und tue desgleichen!“

Wir hören diese Aufforderung 2000 Jahre später. Und haben einen Arbeiter-Samariter-Dienst, ein diakonisches Netzwerk, einen Sozialstaat aufgebaut, der sich kümmert um all die, die in Not geraten sind. So weit, so gut. Wir haben die Geschichte verstanden.

Aber, haben wir auch schon einmal die andere Perspektive versucht? Vermögen wir es wegzukommen von der relativ engen Frage, wie weit mein Radius der Nächstenliebe geht? Was ich selbst tun muss, was ich an einen sozialen Dienst delegieren kann und ob nicht dringend wieder einmal ein Spende für die unter die Räuber Gefallenen nötig wäre?

Vermögen wir wegzukommen von der Distanz des Schriftgelehrten, die wir schon so sehr verinnerlicht haben und mit der die Antworten so leicht von den Lippen gehen?

Lassen sie uns einmal die Perspektive wechseln. Versetzen wir uns in den hinein, der unter die Räuber gefallen ist und verzweifelt nach Hilfe schreit. Einmal mit den Ohren des Überfallenen hören, sein Herzklopfen spüren, das Wechselspiel von Hoffnung und Enttäuschung, Bangen, ob nicht doch einer hört und sieht und hilft.

Da gerät die alleinerziehende Mutter mit ihrem Job unter die Räder der wirtschaftlichen Rezession. Die Firma macht pleite, sie verliert die Arbeit und versucht verzweifelt, sich und ihre beiden Kinder nicht an den dürftigen Tropf der Sozialhilfe hängen zu müssen. So schreibt sie unzählige Bewerbungen und versucht eine neue Stelle zu finden und ruft und schreit und ist verzweifelt, weil von allen eine Absage kommt. „Tut uns leid, aber wir haben zwingende Gründe, warum wir nicht helfen können!“

Eine andere Frau ist ganz anders unter die Räuber gefallen. Auch sie stöhnt und ruft verzweifelt. Sie stöhnt unter der Last, dass sie als Lehrerin immer größere Klassen unterrichten muss, dass die Kinder immer schwieriger werden. Dass das ganze Engagement, einen interessanten und ansprechenden Unterricht zu gestalten, nicht in Stunden zu zählen ist, aber doch so wenig anerkannt wird. Auch sie liegt geschlagen am Wegrand. Die Arbeit erschlägt sie und alle gehen vorbei. Keiner mag das verstehen. Sie eilen weiter und sagen: „Sei froh, dass du Arbeit hast. Andere haben’s auch nicht leicht!“

Und die Dritte hat ein Kind verloren. Es war noch nicht geboren. Ganz klein, noch kaum zu sehen. Aber es war ihr Kind. Ihr geliebtes Kind, auf das sie sich gefreut hat. Ein Teil von ihr. Und es durfte nicht leben. Sie ist verzweifelt, untröstlich über den Verlust, geschlagen, verletzt, ins Mark verletzt. Und die Menschen gehen an ihr vorbei und sagen: „Das kommt vor. Vielleicht bekommst du ja noch ein Kind. Nimm’s doch nicht so schwer.“ Und gehen alle an ihr vorbei und lassen sie liegen am Wegrand und bleiben ihr fern, so unendlich fern. Hilft denn niemand?

Doch. Einer kommt nahe. Es jammert ihn. Er leidet im Innersten mit. All der Schmerz, der nicht heraus darf, all die Verzweiflung, die keiner versteht. Er beugt sich herab, wischt die Tränen ab, verbindet die Wunden.

Martin Luther schreibt: „Darum gibt’s nur einen Samariter, durch den allein werden wir gesund, durch ihn bekommen wir Öl und Wein, und wenn wir gesund geworden sind, so üben wir Liebe.“

In vielen Situationen unseres Lebens gibt es für uns nur einen Samariter, der unsere innerste Not kennt und hilft: Jesus Christus. Gott sei Dank, gibt es diesen Samariter. Gott sei Dank gibt es ihn, der nicht danach fragt, warum ich hier liege, wer und was mir zugesetzt hat. Er fragt nicht, ob ich nicht irgendwie doch selbst Schuld bin an meiner Situation und verabreicht nicht die üblichen Trostpflästerchen: Nimm’s nicht so tragisch. Es kommen wieder bessere Zeiten!

Nein, dieser Samariter kommt ganz nahe, beugt sich zu mir herunter, blickt ins Herz und sieht all die verborgenen Wunden, die das Leben geschlagen hat. Er verbindet sie und bringt mich weg vom finsteren Wegrand an einen sicheren Ort. Dort kann ich aufatmen, sein, wer ich bin, in Ruhe genesen. Und mein Samariter garantiert mir einen sicheren Platz im Haus des Vaters.

„Darum gibt’s nur einen Samariter, durch den allein werden wir gesund, durch ihn bekommen wir Öl und Wein, und wenn wir gesund geworden sind, so üben wir Liebe.“

Ich habe einen sicheren Ort gefunden, die Wunden sind verbunden, ich bin gerettet – all das macht alles Weitere leicht. Weil es mir leicht ums Herz geworden ist, weil in meinem Herzen eigentlich nur noch Dankbarkeit ist, gehe ich heraus, werde dem zum Nächsten, der mich braucht: „Und wenn wir gesund geworden sind, so üben wir Liebe.“

Ich, der ich mich selbst als Geretteten begreife, tue mich leichter, denjenigen zu erkennen, der jetzt im Augenblick meine Hilfe braucht.

Vielleicht sind es die Kinder, für die eine Mutter ohne Arbeit und mit wenig Geld viel wichtiger und wertvoller ist als eine verzweifelte und in ihrem Selbstwertgefühl zutiefst erschütterte Mutter.

Vielleicht ist es eine ausländische Schülerin, die die Rückendeckung und Unterstützung der Lehrerin braucht, weil sie sonst keine hat.

Vielleicht sind es andere Mütter, die es nicht wagen, über ihre verlorenen Kinder zu reden und das Leid um das nicht geborene Leben tief in sich vergraben haben.

Alles Tun, das meinem Gerettet-Sein entspringt, alle Liebe, die aus meinem Geliebt-Werden entsteht, ist Antwort auf das, was ich erfahren habe.

Es gibt so viele, denen wir zum Nächsten werden können. Aber versuchen wir sie nicht krampfhaft zu finden. Denn dann wäre die Gefahr groß, dass auch wir vorübergehen, indem wir unser soziales Gewissen beruhigen mit einer Spende für Brot für die Welt oder einem Besuch im Altenheim oder einem sozialen Jahr in einer Behinderteneinrichtung. Manchmal gehen wir an denen, die uns brauchen, tagtäglich vorüber und bemerken ihre Hilferufe nicht. Denn alles andere ist wichtiger. Aber meistens, gehen wir direkt an ihnen vorbei.

Ich wünsche uns Augen und Ohren, die die kleine und große Not sehen. Ich wünsche uns Augen und Ohren für Menschen, die gerade auf unsere Hilfe warten. Manchmal sind es ganz nahe Menschen, in der eigenen Familie und im eigenen Freundeskreis. Und manchmal sind es ganz Fremde und Ferne.

Dafür gibt es keine Regel, wer heute oder morgen oder übermorgen mein Nächster ist. Aber dass es auf unserem Weg durchs Leben immer wieder Menschen gibt, die uns brauchen und denen wir Nächste oder Nächster werden können, daran besteht kein Zweifel.

Aber vergessen wir nie: Wir finden sie nur und verstehen sie nur und kommen ihnen auch dann nur wirklich nahe, wenn wir getragen sind von der tiefen Erfahrung, dass einer uns nahe gekommen ist, uns vor dem Verderben und sicheren Tod gerettet hat, uns einen sicheren Ort teuer erkauft hat und wir im Haus dem Vaters wohnen dürfen heute und allezeit.

„Darum gibt’s nur einen Samariter, durch den allein werden wir gesund, durch ihn bekommen wir Öl und Wein, und wenn wir gesund geworden sind, so üben wir Liebe.“

Amen.

Perikope
30.08.2015
10, 25-37

Zu Gott stehen - Predigt zu Lukas 18,9-14 von Matthias Wolfes

Zu Gott stehen - Predigt zu Lukas 18,9-14 von Matthias Wolfes
18,9-14

Zu Gott stehen

„Er (Jesus) sagte aber zu etlichen, die sich selbst vermaßen, daß sie fromm wären, und verachteten die andern, ein solch Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, zu beten, einer ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst also: Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich habe. Und der Zöllner stand von ferne, wollte auch seine Augen nicht aufheben gen Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus vor jenem. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“ (Jubiläumsbibel 1912)

Liebe Gemeinde,

„ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die anderen Leute“. Diese Worte richten unsere Abneigung von vornherein auf den Sprecher, den Pharisäer. Wenn dann der andere, der Zöllner (oder auch „Steuerpächter“), spricht: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ und sich dabei selbstanklagend an die Brust schlägt, dann ist klar, wie sich die Dinge verhalten. Jesu Schlußwort ergibt sich einfach aus der Sache selbst, und wir hören es mit Befriedigung: „Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden. So soll es sein in der Welt. Das wäre „gerecht“, und wir würden doch wohl gerne folgen, wenn uns einer eine Wirklichkeit in Aussicht stellte, in der es sich so verhält.

Jesus verkündigt genau diese Lehre. Am Ende der Zeiten – oder vielleicht auch schon früher, je nachdem, wie man die Dinge betrachtet – wird ein Zustand definitiver Gerechtigkeit herrschen. Dann wird die furchtbare Asymmetrie aufgehoben sein, die darin besteht, daß es denen gut geht, die sich am meisten nehmen, während alle darben, die nicht zuerst und zuletzt ihr eigenes Interesse im Auge haben. Dann wird vielmehr derjenige obenauf sein, der sich seiner Unzulänglichkeit bewußt war, der deshalb auch den Anderen sehen konnte und sich nicht vor ihm „erhöht“ hat.

Das ist die christliche Verheißung, und sie bildet den Rahmen unseres heutigen Bibelabschnittes. Man muß aber doch vorsichtig sein. Die Erzählung scheint uns an sich eine einfache Geschichte zu sein, die jeder gleich versteht und deren Wahrheit allen einleuchtet. Wir sollten uns aber hüten, sie für gar zu einfach und ihre Wahrheit für gar zu selbstverständlich zu halten.

Nun ist wohl allerdings kaum zu bezweifeln, daß das Gleichnis in eine bestimmte Richtung zielt. Es handelt sich darum, worin sich die beiden Personen eigentlich unterscheiden, und die Antwort lautet: im Gebet, in der Art und Weise, wie sie sich an Gott wenden. Dieser Frage wollen wir nachgehen. Zunächst aber möchte ich doch wenigstens ein ganz Geringes zu dem Stichwort „Pharisäer“ sagen.

I.

Es ist inzwischen bereits vielfach darauf hingewiesen worden, daß die Pharisäer im Neuen Testament einen zu schweren Stand haben. Ihre dortige Darstellung ist stark von Interessen der Abgrenzung bestimmt, und zwar wohl deshalb, weil sich die christliche Mission zum Zeitpunkt der Niederschrift der Evangelien bereits von den Juden ab- und den „Heiden“ zugewandt hatte. Unter diesen Umständen war es vorteilhaft, ein möglichst negatives Bild vom Judentum zu zeichnen. Die Pharisäer geraten dabei zu einer Karikatur. Ihre tatsächliche Bedeutung für die Entwicklung der jüdischen Religion, für ihr Bestehen in der Zerstreuung, der Diaspora, wird nicht einmal annähernd erkennbar.

Es ist ja zum Glück sehr leicht, sich ein zutreffenderes Bild von dieser hochwirksamen, äußerst bedeutsamen Bruderschaftsbewegung zu machen. Ihre vernünftige, durch und durch praktische Gestaltung des Glaubens steht derjenigen Jesu gar nicht so fern, wie Jesus selbst sich ja auch durchaus an dieser oder jener pharisäischen Gesetzesauslegung orientiert hat. Die zornsprühenden Reden Jesu, die die Evangelien berichten, dürfen wir uns jedenfalls nicht einfach zueigen machen, wenn wir wirklich etwas Trifftiges über die Pharisäer erfahren wollen. Daß die Judenheit zu einer unzerstörbaren Gemeinschaft geworden ist, daß die Gemeinde – und nicht Priester und Leviten – als Trägerin der Religion gilt und auch daß im Judentum viel stärker als im Christentum zwischen Religion und Magie unterschieden wird – alles dies wäre ohne pharisäischen Einfluß undenkbar.

II.

Wie aber werden nun in unserer Erzählung die beiden Figuren, der Pharisäer und der Zöllner, einander gegenübergestellt? Der entscheidende Punkt ist: Von welchem religiösen Innenleben geben die beiden unterschiedlichen Haltungen Zeugnis?

Der Gegensatz besteht in zwei völlig verschiedenen Weisen, sich an Gott zu wenden. Dabei besteht das Besondere weniger in dem „Erlebnis“-Gehalt rein an sich. Für ihn werden sich immer Begriffe und Formeln finden lassen, die sie einander ähnlich machen. Es besteht vielmehr in der Vorstellung von dem Gott, der als Adressat der jeweiligen Mitteilungen gedacht wird. Beide, der Pharisäer und der Zöllner, sind in unserer Erzählung Repräsentanten von Vorstellungen Gottes, und zwar solcher Vorstellungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

III.

Wir nehmen also in diesem Sinne den Pharisäer und den Zöllner jeweils als Vertreter einer bestimmten Haltung Gott gegenüber. Der Pharisäer steht für denjenigen Typ, der sich Gottes bemächtigt. Für ihn ist klar, daß Gott eine Gestalt wie den Zöllner nur disqualifizieren kann. Es fehlt dem Pharisäer daher nicht nur an Demut in sozialer Hinsicht, sondern auch an religiöser Demut. Sie mangelt ihm dem Gott gegenüber, der die Freiheit hat, auch dem Sünder sein Wohlgefallen zuzuwenden. Er nimmt damit aber Gott überhaupt die Freiheit.

Demgegenüber der Zöllner: Er wendet sich vertrauensvoll an Gott, er erniedrigt sich vor ihm, und es käme ihm nicht in den Sinn, Gott in seiner unverfügbaren Freiheit begrenzen zu wollen. Dabei wollen wir wohl beachten, daß solche Selbsterniedrigung, solche Demut vor Gott, nicht bedeutet, daß man die eigene Person entwertet und das eigene Herz notwendig „in Blut schwimmen“ muß. Man muß sich nicht scheuen, in der Ich-Form zu sprechen, wenn man sich Gott zuwendet. Das Ich-Sagen ist nicht moralisch verwerflich. Der Zöllner steht dafür, daß eine realistische Sicht auf sich selbst selbstbewußt und mutig machen kann. Man ist imstande, in die eigenen Abgründe zu schauen und Schuld, die man selbst trägt, nicht auf andere zu projizieren.

Das sind sehr krasse Differenzen im jeweiligen Gottes- und im Selbstbild. Sie treten nun in unserer Erzählung vor allem in der Weise hervor, wie die beiden jeweils als Betende vor Gott treten. Der Pharisäer schreibt Gott im Grunde nur die Bestätigung des Bildes vor, das er von sich hat. Er „dankt“ ihm dafür, daß er so ist wie er ist, nämlich anders als die anderen. Und er erklärt Gott überdies, weshalb er auf eine solche Bestätigung auch alles Recht habe, denn seine Erfüllung des Gesetzes ist tadellos und ohne Lücken.

Signifikant für die vollkommen andere Haltung des Zöllners ist dann zunächst einmal die Angabe, dieser befinde sich „weit entfernt“ und wage „auch nicht einmal, die Augen zum Himmel zu erheben“. Sein Gebet ist nicht, wie beim Pharisäer, geforderte Nähe zu Gott, sondern es ist Ausdruck seiner Sehnsucht nach ihr. Es ist konzentriert auf die eigene prekäre Stellung vor Gott, ohne sich mit anderen zu vergleichen. Der Zöllner setzt sich nicht in Szene, sondern er ruft – als ein Mensch ohne Ehre – den befreienden Gott an. Er spricht zu einem barmherzigen Gott. Er rechnet damit, daß Gott sich auch ihm, allem zum Trotz, zuwenden kann. Sein Gott ist ein freier Gott.

Und hier nun wird vollends klar, worum es in der Erzählung wirklich und am Ende geht: Es geht darum, daß wir in der Erkenntnis Gottes immer auch uns selbst erkennen. Indem wir uns an Gott wenden, sprechen wir uns so aus, wie wir wirklich sind. Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis gehen Hand in Hand.

Im Gebet kommt es eben zutage, ob der Mensch weiß, wie er zu Gott steht, oder ob er es nicht weiß. Es kommt zutage, ob er in seinem Wesen hochmütig ist oder ob er sich wahrhaft selbst zu sehen imstande ist. In einem Wort: Im Gebet stellt sich heraus, ob einer sich selbst kennt oder ob er sich über sich selbst betrügt. Für den aber, der glaubt, ist solche wahrhaftige Selbsterkenntnis kein Anlaß zur Verzweiflung. Denn er setzt auf den barmherzigen Gott, auf den Gott, der ihm nahe ist und auf dessen Beistand er vertraut.

Amen.

Literatur:

Rudolf Bultmann: Lukas 18, 9-14 (4. August 1940), in: Ders.: Marburger Predigten. Zweite Auflage, Tübingen 1968, 107-117.

Thomas Popp: Werbung in eigener Sache (Vom Pharisäer und Zöllner), in: Ruben Zimmermann (Hrsg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 681-695.

 

Perikope
16.08.2015
18,9-14

Pharisäer und Zöllner - Predigt zu Lukas 18,9-14 von Matthias Riemenschneider

Pharisäer und Zöllner - Predigt zu Lukas 18,9-14 von Matthias Riemenschneider
18,9-14

Pharisäer und Zöllner

Lieder: 166, 1-4;  299, 1-5;  395, 1-3;  NL 33, 1-3+5
Psalm  1 (EG 702)
Lesung: 2. Sam 12, 1-12
Predigttext: Lukas 18, 9-14:

9Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis:
10Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.
11Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.
12Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.
13Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!
14Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

Liebe Gemeinde,

dieses Gleichnis ist an „einige Leute“ gerichtet, die sich selbst anmaßen, fromm zu sein und daraus das Recht ableiten, andere Menschen abzuwerten. Wollen wir dieses Gleichnis recht verstehen und seinem Sinn auf die Spur kommen, dann sollten wir die anderen Leute nicht woanders suchen, sondern uns selbst in ihnen erkennen. Jesus erzählt dieses Gleichnis so, als wären wir heute seine Zuhörer.
Liebe Gemeinde von Benningen,
da gingen einst zwei Menschen in den Tempel, um zu beten. Zufällig zur gleichen Zeit. Sie kannten sich vorher nicht. Wir wissen auch nicht, wer diese Menschen waren oder wie sie hießen. Das spielt auch keine Rolle.
Wichtig ist in unserer Geschichte, wofür diese Menschen stehen. Und die waren nicht nur damals in Jerusalem stadtbekannt, sondern könnten auch in unserer Zeit  - unter ganz andren äußeren Bedingungen – aber doch mit den gleichen Zuschreibungen unter uns leben.

Der Pharisäer, das ist für uns der Heuchler und Hochmütige. Der, der fromm tut und sich selbst über andere Menschen erhebt. Zu seiner Zeit freilich haben die Leute über den Pharisäer ganz anders gedacht: er war gebildet, konnte lesen und schreiben und kannte sich daher in den religiösen Schriften aus. Er war aber nicht nur religiös aktiv, hielt alle Gesetze und Gebote peinlich genau ein, sondern er war auch in sozialen Fragen des Gemeinwesens aktiv, spendete regelmäßig einen Teil seines Einkommens und nahm sich der Armen in der Stadt an. Kurz und gut: er war ein von vielen geachteter Mann.

Der Zöllner dagegen stand am genau entgegengesetzten Ende der Jerusalemer Gesellschaft. Als jemand, der mit der römischen Besatzungsmacht zusammenarbeitete, wurde er von den meisten Menschen gemieden und verachtet. Und nicht nur, dass er mit fortgesetztem Landesverrat sein Geld verdiente, machte ihn bei den Menschen unbeliebt, sondern auch, weil  er mit willkürlich überhöhten Tarifen ganz kräftig in die eigene Tasche wirtschaftete. Betrug und Korruption sind die Begriffe, die sich mit dem Zöllner verbinden.
Ganz anders ist die Beurteilung bei uns, die wir unter diesem korrupten Verhalten nicht mehr leiden müssen. Wir empfinden eher so etwas wie Bewunderung für den Witz und die Findigkeit, mit der die Zöllner den Weg zu Jesus suchen, oder auch die Ehrlichkeit, mit der sie ihre Verzweiflung vor Gott bekennen.

Diese beiden ganz ungleichen Menschen, der Fromme und der Lump, sind nun in den Tempel gegangen, um das gleiche zu tun: nämlich zu beten.
In ihrem Gebet stellen sie sich selbst vor Gott dar, und sprechen aus, was sie bedrückt. In dieser Zwiesprache mit Gott suchen sie Gewissheit über sich zu erlangen. Und dabei unterwerfen sie sich der gleichen Norm.

Auch wir sind heute Morgen zum Gottesdienst gekommen, um zu Gott zu beten und auf sein Wort zu hören. Zwar sind wohl nur wenige von uns, so nehme ich mal an, so gut, so ehrbar und anerkannt wie jener Pharisäer. Aber es sind wohl auch nur wenige unter uns, die sich als so abstoßend wie jener korrupte Zöllner empfinden. Doch irgendwo dazwischen liegt wohl für jeden von uns die Mischung, die er selbst darstellt: teils ein Pharisäer, teils ein Zöllner, manchmal überheblich über andere, manchmal niedergeschlagen und über sich verzweifelt. So sind wir bekannt, anderen und uns selbst. Aber wer sind wir wirklich? Wer kennt wirklich das Innerste unserer Seele?

Ich möchte mit ihnen in dieser Predigt einen Weg der Erkenntnis nachgehen. Einer Erkenntnis, die die beiden beim Beten über sich erlangten.

Die erste Szene: Der Pharisäer tritt auf:
„Pharisäer“ – dieser Begriff passt nicht mehr in unsere Zeit. Zu fest sind die Bilder in unseren Köpfen verhaftet, was ein Pharisäer ist. Ich möchte ihn daher einfach den „untadeligen Menschen“ nennen.
Der untadelige Mensch geht in den Tempel, ein Dankgebet zu sprechen. Er betet erhobenen Hauptes, mit ausgebreiteten Armen, so wie es damals in Israel üblich war. So, wie er sich aufstellt und sich darstellt, sieht man ihm an, dass er nichts zu verbergen hat. Er hat seinen Lebensentwurf realisiert. Es ist ihm nicht leicht gefallen. Das, was er hat, das hat er sich erarbeitet. Und das, was er ist, dafür hat er an sich gearbeitet. Aber er hat auch gelernt, von dem seinen herzugeben: er fastet und gibt einen Teil seines Einkommens für soziale Zwecke.
Bei allem, was er erreicht hat, ist er nicht selbstgefällig. Er weiß auch, dass er aus eigener Kraft das Gebäude seines Lebens nicht hätte errichten können. Deshalb dankt er Gott, heute und auch bei anderen Gelegenheiten. Vielleicht betet er auch öfter mit Worten des 1. Psalms, so wie wir zu Beginn unseres Gottesdienstes ihn gebetet haben: „Der Herr kennt den Weg der Gerechten, aber der Gottlosen Weg vergeht.“

Aber wer ist er, dieser untadelige Mensch? Darauf vermag er nichts zu sagen! „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.“ (V. 11)
Er sagt nicht, wer er ist, sondern nur, wer er nicht ist. Das ist, so finde ich, doch ziemlich dürftig.
Wer Gott nur für all das danken kann, was er nicht ist, der kann lange reden und erfährt doch nie etwas über sich selbst. Und wer nur solch eine negative Identität besitzt, der braucht andere Menschen als Schreckfiguren, von denen er sich absetzen kann. Weil er keine Gewissheit in sich selbst gefunden hat, muss er die anderen Menschen klein machen, um selbst als groß zu erscheinen. Anstatt, dass dem untadeligen Menschen jener korrupte Zöllner leid täte, benutzt er ihn noch als Fußabtreter, um sich noch besser erhöhen zu können.

Zu etwas positivem kommt er erst, als er von seiner Person ablenkt und auf seine Werke weisen kann. „Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.“
Das macht schon etwas her. Ich glaube, davon können wir reichen Wohlstandsbürger uns etwas abschneiden. Zweimal fasten und zehn Prozent des Einkommens - das wäre ein Lastenausgleich zwischen den Reichen und Armen in unserem eigenen Land – und zwischen den Völkern auf dieser Erde. Damit könnte man Wüsten bewässern, Slums aufräumen und Krankenhäuser und Schulen bauen. Zweimal fasten und zehn Prozent des Bruttolohns (also zuzüglich zu der Steuerlast)  - das wäre der neue Lebensstil für glaubwürdiges Christentum.
Doch - halt! Ist unser guter Mensch wirklich so wohltätig, wie er uns auf den ersten Blick erscheint? Oder gibt er nur von den Dingen ab, die er sowieso im Überfluss hat? Großzügige Geschenke, die ohne menschliche Wärme gegeben werden, haben einen bitteren Beigeschmack. Sie können den, für den sie gedacht sind, auch demütigen. Was nützt es, wenn einer viel hat und viel gibt, wenn über den materiellen Geschenken die menschlichen Kontakte zu kurz kommen?

Die zweite Szene: Der Zöllner tritt auf:
Auch ihn möchte ich nicht mehr Zöllner nennen. Durch die lange Tradition christlichen Mitleids ist dieser Zöllner schon zum Prototyp des reuigen Sünders geworden. Ich möchte ihn einfach den „selbstbezogenen Menschen“ nennen. Alle seine Reue kann schließlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ein durch und durch korrupter Schuft ist. Mitleid ist hier fehl am Platze.
Also: der selbstbezogenen Mensch tritt auf. Man sieht ihn allerdings kaum. Er steht abseits und „von ferne“, so wie Luther übersetzt. Er tritt nicht ins Rampenlicht, so wie die untadeligen Menschen, sondern bleibt im Zwielicht stehen. Und dort gehört er auch hin.
Er wagt nicht zum Allerheiligsten aufzusehen. Er hat dazu auch keinen Grund. Er dankt Gott nicht mit offenen Händen. Sie sind auch zu schmutzig. Er steht vor den Trümmern seines Lebens. Sein Lebensentwurf ist gescheitert. Obwohl er reich ist, hat er an seinem Leben keine Freude mehr.

Er ruft: „Gott, sei mir Sünder gnädig.“ Damit sagt er die volle Wahrheit über sich. Denn ein Sünder, ein selbstbezogener Mensch ist er, vor Gott, vor dem Gesetz, vor den Normen seines Volkes und vor sich selbst. Er unternimmt gar nicht erst den Versuch, sich mit der einen oder anderen guten Tat - die er sicherlich auch mal getan hat - in ein gutes Licht zu rücken. Wenn diesem schlechten Menschen noch jemand gnädig sein kann, dann ist es nur noch Gott.

Was hat dieser selbstbezogene Mensch zu bieten? Weder gute Taten noch Selbstbewusstsein! Darum bleibt ihm nichts anderes als sein verkorkstes Leben. Sonst nichts.
Ich denke das ist schon ausreichend! Er bekennt sich zu allen seinen Taten und Untaten. Er nimmt alles auf sich und bekennt sich damit zu sich selbst. Und damit gewinnt er bei aller Selbstbezogenheit eine positive Identität seiner Person, eine Gewissheit über sich. Er macht nicht andere schlecht, um sich selbst herauszustellen. Er kommt sofort auf sich selbst zu sprechen. „Gott, sei mir Sünder gnädig.“
Wer so spricht, der ist ehrlich. Und wer so spricht, gibt Gott Recht. Indem dieser selbstbezogenen Mensch sich selbst einen Sünder nennt und Gott um seine Gnade bittet, gibt er Gott gegen sich selbst recht und vertraut darauf, dass Gott gnädig ist und nicht eine Instanz, die alle Untaten peinlichst genau bestraft.

In seinem Gebet zu Gott erkennt sich der Zöllner als der Mensch, der er ist, aber nicht sein möchte. In dem göttlichen Urteil, dass Jesus über ihn ausspricht, wird er gerechtfertigt. Das ist eigentlich mehr als die Gnade, um die er Gott gebeten hat.

Dritte Szene und Schluss:
Der das Gleichnis erzählt, tritt auf und urteilt. Jesus leitet seinen Richtspruch mit feierlichem Gewicht ein: „Ich aber sage euch ...“ Jesus urteilt hier im Namen Gottes selbst.
Um sein Urteil richtig verstehen zu können, muss man beide Personen, den untadeligen und den selbstbezogenen Menschen zusammen betrachten. Wir haben sie ja zuerst alleine betrachtet, jeden für sich. Das ist streng genommen nicht ganz richtig. Beide stehen zur gleichen Zeit im Tempel. Sie sind auch voneinander abhängig. Wenn man nur auf jede einzelne Person sieht, zerstört man das Gleichnis. Pharisäer und Zöllner sind aber in Wahrheit zwei Pole ein und derselben Gesellschaft. Sie gehören zusammen und sind auch voneinander abhängig. Der eine steht auf der guten Seite der Gesellschaft, der andere auf der schlechten Seite. Und der Pharisäer, unser untadeliger Mensch kann auch nur deshalb ein Pharisäer, ein Abgesonderter sein (wie die Bezeichnung übersetzt heißt), weil auf der anderen Seite ein selbstbezogenen Mensch, ein Außenseiter und Krimineller steht.

Den selbstbezogenen Menschen führt das Gebet zu einer Erkenntnis seiner selbst. Und in dieser Selbsterkenntnis liegt für ihn auch eine neue Gotteserkenntnis: das Gott als der gnädige Gott Vater der Barmherzigkeit ist.
Der untadelige Mensch hingegen erkennt im Gebet, dass Gott kein Gott ist, der sich nur durch Werke zufrieden stellen lässt. Jesu Richtspruch nötigt ihn dazu, umzudenken und zu einer neuen Gotteserkenntnis zu gelangen. Zu dieser Gotteserkenntnis gehört auch die Erkenntnis des eigenen Ichs. So endet für beide ihr Gebet mit einer Überraschung: der eine bekommt mehr als er erbittet; der andere erfährt etwas über sich, obwohl er danach nicht suchte.

Und wir als die Hörer dieser Geschichte? Wir werden auch überrascht! In uns schlummert beides: ein Pharisäer und ein Zöllner, ein untadeliger und ein selbstbezogener Mensch. Die Befreiung aus dieser Doppelexistenz können wir uns nicht einfach mit einem Gebet oder vorbildlichem Verhalten erkaufen. Sie haftet uns einfach an, eben weil wir Menschen sind. Aber als diese Menschen sind wir bei Gott gerechtfertigt.   

Amen.

 

Literatur:

Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. Der Hohepriester-der Zöllner-die Sünderin, Gütersloh 1985.

Jürgen Moltmann, Pharisäer und Zöllner; in: ohne Macht mächtig, München 1981.

 

Perikope
16.08.2015
18,9-14

Predigt zu Lukas 18,9-14 von Martina Janßen

Predigt zu Lukas 18,9-14 von Martina Janßen
18,91-14

I. Wie heißt es doch so schön: Hochmut kommt vor dem Fall! In der Geschichte vom Pharisäer und Zöllner scheinen die Rollen klar verteilt zu sein: Der Hochmütige und der Demütige, der Schlechte und der Gute, Schwarz und Weiß. Da ist der fromme Pharisäer, der Gott dafür dankt, dass er kein Sünder wie die anderen ist und für diesen Hochmut bei Gott in Ungnade fällt. Und da ist der sündige Zöllner, der voller Demut Gott um Erbarmen anfleht. Er ist derjenige, für den die Geschichte gut ausgeht. „Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“ (Lk 18,14). Die Moral von dieser Geschichte sollten sich die allzu Frommen und die allzu Selbstsicheren mal hinter die Ohren schreiben! Gott ist nicht auf der Seite der 150-Prozentigen, er ist nicht auf der Seite der religiösen Spießer und Streber; die andern hat er lieber. Das hör ich gern, denn ich fühle mich auf der richtigen Seite. Ich habe ja auch meine Fehler und kleinen Sünden und würde mich nie so weit aus dem Fenster lehnen wie dieser Pharisäer: Wie kann man nur so hochmütig sein?! Doch Vorsicht: Die Moral von der Geschicht‘ – so einfach ist die nicht. Dafür hatte der Dichter Eugen Roth ein sicheres Gespür. „Ein Mensch betrachtete einst näher / die Fabel von dem Pharisäer, / der Gott gedankt voll Heuchelei / dafür, dass er kein Zöllner sei. / Gottlob! rief er in eitlem Sinn, / dass ich kein Pharisäer bin!“ Merken Sie es? Schon ist es passiert. So leicht kann man in die Falle tappen. Eh man sich versieht, sind die Rollen vertauscht. Wer mit dem Finger auf Heuchler zeigt, wird schnell selbst zu einem. Also noch mal von vorn, schauen wir genauer hin – auf die Geschichte vom Pharisäer und Zöllner und auf uns selbst.

II. „Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner“ (Lk 18,10). Fangen wir beim Pharisäer an. Er ist ein frommer Mensch. Glauben wir ihm mal, dass er tut, was er sagt. „Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme“ (Lk 18,12). Glauben wir ihm mal, dass er wirklich fromm ist. Das ist zweifelsohne gut und das gefällt Gott. Auch dagegen, dass der Pharisäer das stolz von sich sagt, ist nichts einzuwenden. „Tu Gutes und sprich darüber“. Warum auch nicht? So weit, so gut. Aber der Pharisäer sagt noch etwas anderes: „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner“ (Lk 18,11). Das allerdings klingt nicht gut in Gottes Ohren. Um sich selbst mit noch mehr Ruhm zu bekleiden, stellt er den anderen bloß; um sich selbst groß zu machen, macht er den anderen klein. Und eh er sich versieht, macht er damit seine Frömmigkeit kaputt und all seine Heiligkeit wird zum eitlen Schein. Denn das Verhalten des Pharisäers ist nicht nur unfein – man muss denen, die am Boden liegen, nicht auch noch einen Tritt verpassen -, das ist nicht nur eitle Lästerei, selbstgerecht, herablassend, hochmütig oder ein wenig elitär - „der Pharisäer stand für sich“(Lk 18,11) – nein, was der Pharisäer tut, das ist viel schlimmer, der Stachel sitzt viel tiefer. Es ist die alte Sünde, das alte Spiel: Sein zu wollen wie Gott, sich selbst zu erheben, sich selbst gerecht zu sprechen und über andere den Stab zu brechen. Der Pharisäer überlässt das Urteil nicht Gott – weder das über sich noch das über andere. Damit ist er in die Falle getappt, damit hat der Teufel ihn. Der Pharisäer versündigt sich nicht nur gegenüber dem Zöllner, sondern auch gegenüber Gott, weil er an seine Stelle will. Die alte Sünde, das alte Spiel seit Adam und Eva. Dadurch wird der Allerfrömmste zum größten Sünder. Nun kann der Pharisäer sich wieder ganz hinten anstellen, direkt neben den Zöllner. „Der Sünder aber stand ferne…“(Lk 18,13).

III. „Ein Mensch betrachtete einst näher / die Fabel von dem Pharisäer, / der Gott gedankt voll Heuchelei / dafür, dass er kein Zöllner sei. / Gottlob! rief er in eitlem Sinn, / dass ich kein Pharisäer bin“ (Eugen Roth). Machen wir nun nicht den Fehler, den Pharisäer zu verurteilen, machen wir nicht den gleichen Fehler wie er. Statt mit dem Finger auf andere zu zeigen, fassen wir uns doch lieber an die eigene Nase! Lebt nicht in uns allen so ein Pharisäer? Da ist zu hören: „Wie kann man nur bei diesem Billigdiscounter einkaufen und die miesen Arbeitsbedingungen dort unterstützen; nachhaltig produziert ist die Ware da auch nicht. Ich bin nicht so verantwortungslos wie diese Leute, ich kaufe im Bioladen - fair trade, versteht sich.“ Schon ist es passiert. Schon bist du die Falle getappt, hast geurteilt über dich und den anderen – und vielleicht komplett danebengelegen. Ja, es ist gut, dass du dich für den Bioladen entscheidest; du kannst es ja auch. Doch die Rentnerin, die im Alter kaum über die Runden kommt, hat keine Wahl. Sie muss da einkaufen, wo es billig ist, ob sie will oder nicht. Was wirfst du ihr vor, dass sie sich ein gutes Gewissen schlichtweg nicht leisten kann? Oder der junge Mann, der kaum etwas über Produktions- und Arbeitsbedingungen weiß und dem jedes politisches Bewusstsein fehlt, weil es ihm nie jemand vorgelebt hat – Wer bist du, seine Schuld zu messen? Wie leicht kann man anderen Unrecht tun, wenn man zu selbstgerecht ist! In uns allen lebt so ein Pharisäer. „Wie kann man Kirche einfach nur konsumieren, so was Laues. Ich bin nicht so wie solche Leute; ich bin ein besserer Christ, engagiere mich, investiere meine Kraft und Zeit; gehöre seit Jahren zum harten Kern.“ Und schon ist es wieder passiert. Ja, es ist gut, dass du dich engagierst, aber weißt du wirklich, warum andere es nicht tun und so handeln wie sie handeln? Weißt du, welchen Kummer der hat, der nur ab und an den Gottesdienst besucht, der vielleicht kaum Kraft und Zeit findet, um den nächsten Tag zu überstehen? Mit welchem Recht forderst du mehr von ihm, als er geben kann? Wer mit dem Finger auf die Sünder zeigt, wird schnell selbst zu einem. Es ist gut, zu fasten und den Zehnten zu geben, es ist gut, ökologisch und fair einzukaufen, es ist gut, sich zu engagieren. Und das auch ab und an zu sagen. Tu Gutes und rede darüber. Aber man muss andere nicht im gleichen Atemzug klein machen. Solche Urteile stehen uns nicht zu, sie beweisen nicht unsere Gerechtigkeit, sondern können anderen Unrecht tun. Weißt du, warum der andere sündigt? Weißt du, wann du es selber tust? Warum überlässt du das Urteil nicht Gott?

IV. „Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner“ (Lk 18,10). Kommen wir zum Zöllner. Viele Worte macht er nicht. Er schweigt lieber, weil er kaum etwas Gutes über sich zu sagen weiß. In die Augen gucken kann er seinem Gott jedenfalls nicht - „und wollte auch die Augen nicht zum Himmel aufheben“ (Lk 18,13). Das ist traurig. Das gefällt Gott nicht. Man darf die Sünden des Zöllners nicht kleinreden, denn sie sind groß. Der Zöllner müsste etwas an sich ändern, das ist klar. Da könnte er sich ruhig an der Frömmigkeit des Pharisäers ein Beispiel nehmen. Doch bei allem, was der Sünder falsch macht - eins macht er richtig: Er überlässt das Urteil Gott und hofft auf sein Erbarmen. Das wiederum könnte der Pharisäer vom Zöllner lernen. Der Zöllner ist tateinsichtig; er weiß um seine Schuld. Da allein ist schon gut. Doch das ist nicht alles. Der Zöllner ist nicht fertig mit sich, sein Urteil steht nicht fest, da ist Platz für Gott und seine Gnade. „Gott, sei mir Sünder gnädig“ (Lk 18,13)! Diese Bitte zeigt, dass der Zöllner nicht mit sich, seinem Leben und seiner Schuld abgeschlossen hat, sondern sich zu Gott hin öffnet. Dadurch wird er kein Heiliger, gewiss, aber dadurch geht ein Riss durch seine Sünde. Es gibt eine Liedzeile von Leonard Cohen, da heißt es „There is a crack in everything, that’s how the light gets in“.  Da ist ein Riss in allem – durch ihn fällt das Licht ein. So ist es auch mit dem Zöllner und seiner Sünde. Er verdeckt sie nicht, schließt sie nicht ein, er bringt sie vor Gott. „Gott, sei mir Sünder gnädig! (Lk 18,13) – diese Bitte ist der Riss, der durch seine Sünde geht; diese Bitte ist der Riss, durch den das Leben des Sünders durchlässig für Gottes Gnade wird. Wegen dieser Bitte geht die Geschichte für den Zöllner gut aus. „Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus“ (Lk 18,14).

V. Hochmut kommt vor dem Fall, das ist wohl war. Aber die Moral von der Geschicht erschöpft sich in dieser allgemeinen Weisheit nicht. Es geht nicht nur ein Lehrstück über menschliche Demut und Hochmut. Da gibt es andere vom tiefen Fall der Mächtigen und von der Schadenfreude der anderen, mit der das Spiel dann wieder neu beginnt. In der Geschichte der „zwei Menschen, die hinauf in den Tempel gehen, um zu beten“ (Lk 18,10), steckt mehr drin. Wie begegne ich Gott? Welche Worte finde ich? Spreche ich wie der Pharisäer „Ich doch nicht!“ oder bitte ich wie der Zöllner „Herr, erbarme dich!“? Ich bin ganz ehrlich – manchmal weiß ich es nicht – aber ich hoffe, Gott öffnet mir mein Herz und schafft Raum für seine Gnade in meinem Leben.

Amen

 

 

Perikope
16.08.2015
18,91-14

Predigt zu Lukas 18,9-14 von Rudolf Rengstorf

Predigt zu Lukas 18,9-14 von Rudolf Rengstorf
18,9-14

Liebe Leserin, lieber Leser!

Fett und aufgeblasen füllte er die eine Seite des Bildes in meiner Kinderbibel - der Pharisäer natürlich. In der Mitte des Bildes eine kostbare Schale, in welche die Hand des Pharisäers sehr augenfällig ein Goldstück wirft. Links im Bild, ganz am Rand ist der Zöllner zu sehen. Bescheiden hält er sich im Hintergrund - mit gezogenem Hut, den Stock in der Hand. Ein ungemein sympathischer Wandersmann. Hier die sich brüstende Selbstgefälligkeit und da - ein paar Stufen niedriger - die Bescheidenheit in Person, sich verneigend und schlank.

 Liebes Kind, so wurde von diesem Bild viel tausendmal gepredigt, sei nicht wie der Pharisäer, stolz und angeberhaft. Den Zöllner nimm dir zum Vorbild, der sich zurücknimmt und im Hintergrund bleibt. Ganz so, wie man in den Poesiealben der damaligen Zeit lesen konnte:

Sei das Veilchen im Moose,
so still, bescheiden und rein.
Nicht wie die stolze Rose,
die stets bewundert will sein.

Freilich das von der Kinderbibel gemalte Bild passt nicht zu einer Geschichte, die unsere mitgebrachten Moral- und Wertvorstellungen gerade nicht bestätigen, sondern sie stören und durcheinanderbringen will.

Jesus erzählt nämlich so, dass die Sympathien seiner damaligen Zuhörerschaft sich von vornherein dem Pharisäer und nicht etwa dem Zöllner zuwenden mussten. Keine Rede ist da von feister Sattheit, sondern uns wird ein Mann vor Augen gestellt, der zweimal in der Woche fastete, und das macht ja bekanntlich schlank. Dabei  war die Triebfeder dieses Fastens nicht das Bemühen um  Gesundheit und körperliches Wohlbefinden. Nein der Mann wollte mit seinem Fasten  deutlich machen, dass  Gott ihm noch wichtiger war als satt zu sein. Pharisäer, das waren Leute die davon durchdrrungen waren: Es genügt nicht, dass wir einen Tempel und Priester haben für den Gottesdienst. Vor allem anderen  kommt es darauf an, dass wir Laien Gott im Alltag unseres Lebens dienen. Und so verbrachten sie viel Zeit damit, im Gebet und im Gespräch mit anderen über den Willen Gottes für ihr Leben in Beruf, Familie und dem Gemeinwesen nachzudenken. Leute, die ein Zehntel ihres Geldes dem Tempel und der Versorgung der Armen zur Verfügung stellten. Das ist zehnmal mehr als unsere Kirchensteuer. Und dazu kamen noch die erheblichen Steuern und Zölle, die von den Römern zwangsweise eingetrieben wurden.

Fasten und den Zehnten geben - das waren beileibe nicht nur Äußerlichkeiten. Wo es um den Magen und noch mehr um den Geldbeutel geht, da zeigt sich, was einem Menschen wichtig ist, woran sein Herz hängt. Bei vielen Zeitgenossen hören beim Geld  die Gemütlichkeit und auch das Christentum auf. Der Pharisäer aber, den Jesus uns hier vor Augen stellt, hat seinen Glauben mit Leib und Seele, mit Geld und Gut gelebt und damit seine Freude daran gehabt, ganzheitlich dem Willen Gottes zu entsprechen.

Und während dieser Mann - so erzählt Jesus - im Tempel Gott dafür dankt, dass sein Leben eine gute klare und überzeugende Richtung hat und er nicht zu denen gehört, die mehr nach dem eigenen Wohl und Spaß fragen als nach dem Willen Gottes - da fällt sein Blick auf einen Zöllner, der sich im Hintergrund des Tempels herumdrückt. Und der hatte auch allen Grund, dort im Halbdunkel zu bleiben und sich als Sünder zu bekennen. Denn am Willen Gottes lebte er vorbei. Stand er doch im Dienste der römischen Besatzungsmacht, im Dienst von Herren, die nicht nach dem Willen des einen Gottes, Schöpfers des Himmels und der Erden, fragten,

sondern die neben einer Vielzahl von Götzen auch noch den römischen Kaiser vergötterten. Zöllner - das waren Leute, die das Volk Gottes politisch und religiös im Stich gelassen hatten, die sich  bedenkenlos an ihren Landsleuten bereicherten und nicht im Traum daran dachten, sich Abgaben für den Tempel und die Armen vom Munde abzusparen. Entsprechend unbeliebt und verhasst waren sie in Israel. Hätte man damals ein Bild vom Pharisäer und Zöllner gemalt, fett und unsympathisch wäre der Zöllner, hager und glaubwürdig der Pharisäer erschienen.

Auf diesem Hintergrund wird die Störung und die Provokation deutlich, die Jesus auslöst, wenn er feststellt: statt des Gerechten kehrt der Sünder als von Gott gerechtfertigt in sein Haus zurück. Was kein Mensch für möglich hält, am wenigsten der sich im Hintergrund haltende Sünder - das tut Gott. Was zwischen einem Menschen und ihm steht, das räumt

Gott aus dem Wege und sagt: Du bist mir recht. Dich will ich haben.

Diesen grundlos barmherzigen Gott zum Zuge kommen zu lassen – darum geht es in dieser Geschichte und in ihrer Fortsetzung. Denn die Geschichte ist ja noch nicht zu Ende. Die beiden im Tempel müssen ja noch mitbekommen, was Jesus hier erzählt. Damit sie nicht - jeder in seiner Glaubens- und Lebenshaltung verschlossen bleiben, sondern erfahren, wie

öffnend und befreiend sich die Barmherzigkeit Gottes auswirkt.

Und ich meine, das ist unter uns auch schon im Gange - darin dass sich im Tempel unserer Kirche zwei ganz unterschiedliche Gruppen begegnen, die durchaus vergleichbar sind mit dem eindrucksvollen Pharisäer und dem eher zweifelhaft erscheinenden Zöllner. Auf der einen Seite – so stellt es sich mir jedenfalls dar - die Gemeindeglieder, die mit Ernst

Christen sein wollen, die mit ihrem Kommen den regelmäßigen Gottesdienst halten, aufrechterhalten, die die Arbeit ihrer Gemeinde mittragen und weder Zeit noch Kosten scheuen, um Christi willen zu helfen und zu lindern, wo immer ihnen das möglich ist. Menschen, die bis in ihre berufliche und private Lebensführung hinein dem Willen Gottes nachzukommen suchen, deren Glaubwürdigkeit über jeden Zweifel erhaben und denen es zu verdanken ist, wenn Kirche und Christentum Vertrauen genießen.

Ihnen steht die große Mehrheit der Gemeindeglieder gegenüber, die nicht auf Anhieb als Christen zu erkennen sind, die in der Kirche nur zu ganz bestimmten Gelegenheiten erscheinen - zu Weihnachten oder zur Konfirmation oder bei einem anderen familiären Anlass. U-Boot-Christen heißen sie an der Küste, weil sie nur selten auftauchen. Und wenn sie es tun, dann auch mehr als Zaungäste, weil die Gottesdienstordnung ihnen fremd

und das Singen von Liturgie und Chorälen ihnen ungewohnt ist. Was ist von denen zu halten, die nur kommen, wenn sie die Kirche brauchen, sie aber sonst links oder rechts liegen lassen?

Für Gott gehören sie dazu, für ihn stehen die sogenannten Randsiedler in der Mitte, seinem Herzen sind die distanzierten Gemeindeglieder ganz nah. Davon sollen sie und wir alle hier so viel wie möglich mitbekommen und auch mit nach Hause nehmen.

Er liebt Gottesdienste,  die den Gelegenheitsbesuchern, zu denen doch auch die Konfirmandinnen und Konfirmanden  gehören, ganz viel mitgeben von seiner Wertschätzung; Gottesdienste, in denen sie spüren, dass sie willkommen sind und wir sie gern in unsere Mitte nehmen; Gottesdienste,. in denen  auch sie Gelegenheit haben, ihren Hunger nach  glückendem Leben, ihre Sehnsucht nach Gott auszudrücken  Amen.

Perikope
16.08.2015
18,9-14

Hochmut und Demut - Predigt zu Lukas 18,9-14 von Martin Weeber

Hochmut und Demut - Predigt zu Lukas 18,9-14 von Martin Weeber
18,9-14

Hochmut und Demut

Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis:
Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.
Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.
Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.
Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!
Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.
(Lukas 18, 9-14)


Einen Hochmütigen und einen Demütigen führt Jesus uns in diesem Gleichnis vor.
Einen, der mit sich selbst zufrieden ist, und einen, der von sich selber überhaupt nichts hält.
Die Geschichte ist schnell erzählt und schnell verstanden.
Der mit sich selbst zufrieden ist, weil er so gut und ordentlich und anständig ist und sich mit so viel Erfolg darum bemüht, ein Leben zu führen – der schaut herab auf den Zöllner, der ja mit gutem Grund nichts von sich hält.
Denn das weiß man ja von den Zöllnern in der damaligen Zeit: Die waren Gauner. Nicht ordentlich und zuverlässig wie die Zöllner und anderen öffentlichen Amtsträger heutzutage und hierzulande. Die Zöllner damals nutzten jede Gelegenheit aus, um die Leute über’s Ohr zu hauen. Der Zöllner ist also der Inbegriff der Unanständigkeit.

Nun bekommt freilich nicht der Zöllner, sondern der Anständige im Gleichnis den Schwarzen Peter zugespielt. Denn er ist nicht nur anständig, was ja in Ordnung ginge, sondern er ist eben auch hochmütig. Er bildet sich auf seine Anständigkeit ordentlich was ein und schaut auf den Zöllner herab: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.

Es sieht so aus, als sei das die Moral dieser Geschichte, und vordergründig betrachtet ist sie es auch: Sei demütig wie der Zöllner und nicht hochmütig wie der Pharisäer.
Bilde Dir nichts ein auf das, was Du tust und was Du leistest. Und schau nicht auf andere herab, die nicht so anständig und ordentlich und fleißig und moralisch sind wie Du selbst.
Demut will die Erzählung lehren und loben und Hochmut will sie strafen. „Solche Demut (wie die des zerknirschten Zöllners) will der Herr uns im heutigen Evangelium lehren und vor Hoffart und Stolz uns warnen.“ So sagt es Martin Luther in einer Predigt über den Text.
Also: Demütig sein, das wäre die Empfehlung. Klare Sache. Von nun an: demütig.

Aber ganz so einfach ist die Sache dann doch nicht.
Denn wer demütig sein will, der begibt sich in Gefahr.
Wo das Rettende ist, da wächst auch Gefahr.
Denn die Sache kann schnell umkippen.

Ganz schnell kann es dazu kommen, dass ich auf meine Demut stolz werde – und dann schaue ich auf den Pharisäer herab.
Wir kennen ja solche Leute aus eigener Erfahrung:
Solche Leute gab es nicht nur damals, die gibt es heute noch genauso.
Furchtbar stolz sind sie auf das, was sie erreicht haben.
Natürlich alles erreicht auf Grund eigener Anstrengung.
Furchtbar stolz sind sie auf ihre wohlgeratenen Kinder.
Natürlich sind die nur so wohlgeraten, weil man sie konsequent erzogen und immer gefordert und gefördert hat.
Furchtbar stolz sind sie auf ihre eigene Gesundheit.
Natürlich sind sie nur deshalb so gesund, weil sie immer auf sich aufgepasst und regelmäßig Sport getrieben haben.
Wir kennen solche Leute.

Aber halt!
Was ist jetzt passiert?
Ich bin in die Falle getappt. Ich habe ins Messer gegriffen.
Hochmütig und arrogant habe ich über die Hochmütigen und Arroganten geredet.
So leicht ist das ja, die Selbstgerechten schlechtzumachen.
Aber sofort schnappt die Falle zu.
Ich schaue herab auf den Selbstgerechten – und bin im gleichen Augenblick wie er geworden:
Selbstgerecht und überheblich.
Getreu dem Motto: „An Demut nimmt’s mit mir keiner auf!“
Es ist offensichtlich gar nicht so leicht, demütig zu sein.
Auf geniale Weise hat Friedrich Nietzsche das Problem der Demut erfasst und benannt.
Er formuliert den Satz um, mit dem Jesus das Gleichnis beschließt.
Jesus sagt: „Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“
Nietzsche sagt: „Wer sich selbst erniedrigt, der will erhöht werden.“
Nur ein Wörtlein tauscht Nietzsche aus, nur zwei Buchstaben sogar:
„Wer sich selbst erniedrigt, der will erhöht werden.“
Nietzsche hat das Problem der Demut präzise erkannt und formuliert.
So leicht wird aus Demut Hochmut.
Blitzschnell wird die Kritik der Überheblichkeit zur gesteigerten Überheblichkeit.
Deshalb ist höchste Vorsicht geboten bei der Kritik an „denen da oben“, an denen auf den Gipfeln des Erfolges.

Die Demut ist ein scharfes Messer:
Herrlich hilfreich, aber zugleich höchst gefährlich.
Herrlich hilfreich ist die Demut, weil sie uns auf den Boden zurückholt:
Wir haben doch keinen Grund, eingebildet und überheblich zu sein.
Höchst gefährlich ist die Demut aber, weil sie blitzschnell umkippen kann in die Verachtung derer, von denen man meint, sie seien nicht demütig.

Aber trotz ihrer Gefährlichkeit plädiert Jesus eindeutig für die Demut. Seine Sympathie gilt dem Demütigen: Ich sage euch: Dieser Sünder ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener Anständige.
Ein Hochmütiger ist einer, der meint, er habe alles Glück seines Lebens selber verdient.
Ein Hochmütiger ist stolz darauf, was für ein guter Mensch er doch ist.
Er ist stolz auf seine Leistungen.
Ein Demütiger hingegen weiß, dass alles Glück seines Lebens verdanktes, geschenktes Glück ist. Insofern ist Demut nichts Anderes als die realistische Einschätzung unserer selbst.

So weit, so gut.
Aber noch viel zu harmlos formuliert.
Denn Demut ist mehr als einfach nur realistische Selbsteinschätzung.
Der Zöllner des Gleichnisses ist nicht einfach ein dankbarer und bescheidener Mensch, der nicht auf andere herabschaut.
Er ist ein Mensch, der sich als Sünder versteht.
Er ist zerknirscht.
Er ist ein Mensch, der weiß, dass er nicht so ist, wie er sein sollte:
Gott, sei mir Sünder gnädig!

Er schreibt es sich selbst als Schuld zu, dass er nicht so ist, wie er sein sollte.
Nicht die Anderen sind schuld, nicht die Verhältnisse, nicht die Umstände.
Der Zöllner prüft sich selber – und er besteht diese Prüfung nicht.
Und er findet keinen Trost in dem Gedanken, dass andere auch nicht besser sind als er.
Wer sich wirklich als Sünder fühlt, der fühlt sich als einziger Sünder auf der ganzen, weiten Welt: „Niemand ist so schlecht wie ich“ – so lautet die Selbstbeschreibung des Sünders.
Wir fassen solche Selbstbeschreibungen heute als Ausdruck einer tiefen Depression auf.
Wir tun alles dafür, dass Menschen es lernen, freundlicher von sich selber zu denken.
Wir halten es für den Ausdruck von Lebenskunst, „mit uns selber befreundet zu sein.“[1]
Und wir sind froh, wenn es jemandem gelingt, aus dem Kreislauf der negativen Selbstbeurteilungen wieder herauszukommen.
An dieser Stelle merken wir, wie uns bestimmte Züge des christlichen Glaubens fremd geworden sind. Es scheint, als hätten wir den Sinn für die Dramatik des Glaubens verloren.
Sich selber als Sünder aufzufassen: Das passt nicht mehr so recht zu unserem Lebensgefühl.

Es gibt eine Kantate von Johann Sebastian Bach. Sie heißt: „Mein Herze schwimmt im Blut.“ Der liegt der heutige Predigttext vom Pharisäer und vom Zöllner zu Grunde. Geschrieben wurde der Text der Kantate von einem heute vergessenen Textdichter. Dessen Namen muss man nicht kennen. Mit einem Rezitativ setzt diese Kantate ein. Der Sünder beschreibt, wie er sich fühlt:

Mein Herze schwimmt im Blut,
Weil mich der Sünden Brut
In Gottes heilgen Augen
Zum Ungeheuer macht.


Wer will das heute noch? Sich als „Ungeheuer“ fühlen in Gottes Augen?

Freilich:
Man sollte die Kantate bis zum Schluss anhören.
Dann merkt man, worauf sie hinausläuft.
Sie läuft hinaus auf einen großen Trost.
Sie endet mit einer Sopranarie im heiter-hüpfenden 12/8-Takt:

Wie freudig ist mein Herz,
Da Gott versöhnet ist
Und mir auf Reu und Leid
Nicht mehr die Seligkeit
Noch auch sein Herz verschließt.


Jubelnde Seligkeit steht am Ende.
Das Herz des Sünders ist voller Freude.
Darauf soll alles hinauslaufen.
Das hat Bachs Textdichter und das hat Bach als Komponist bestens verstanden:
Die Botschaft des Gleichnisses, das Jesus erzählt, ist am Ende eine Freudenbotschaft.
Das Gleichnis ist vielschichtig – aber am Ende zielt es auf Freiheit und auf Freude!
Am Ende ist der Sünder frei von allen Selbstvorwürfen, freudig schlägt sein Herz!

Einen Hochmütigen und einen Demütigen führt Jesus uns in diesem Gleichnis vor.
So habe ich es am Anfang der Predigt gesagt und so habe ich am Anfang die Erzählung verstanden.
Aber dann sind mir Zweifel gekommen und ich frage mich inzwischen:
Führt Jesus uns wirklich zwei verschiedene Menschen vor?
Schildert er uns nicht eher zwei Zustände unseres Herzens?
Sind wir nicht bisweilen der Pharisäer und bisweilen der Zöllner?

Meiner Beobachtung nach verhält es sich bei den meisten Menschen so:
Mal sind wir höchst zufrieden mit uns und durchaus stolz auf das, was wir tun und können und leisten. Und solange wir da nicht auf Andere herabschauen, ist das auch in Ordnung und schön und darf genossen werden.
Aber zu anderen Zeiten, da plagen wir uns mit Selbstvorwürfen.
Unsere Fehler und Versäumnisse lasten uns dann schwer auf der Seele:
„Ach, hätte ich doch dies oder jenes anders gemacht oder dies oder jenes nicht getan. Aber nun ist es zu spät.“ Manche von uns kommen aus diesen Selbstvorwürfen gar nicht mehr heraus.

Inzwischen bin ich mir ziemlich sicher:
Es geht in dem Gleichnis nicht um die Einen und um die Anderen.
Es geht in dem Gleichnis um zwei Seiten unserer selbst.

Und deshalb hat das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner uns mindestens zweierlei zu sagen: Wenn wir in der Gefahr sind, auf andere herabzuschauen, weil wir so angetan sind von uns selber, weil wir uns selber so wunderbar finden, dann sagt es uns: „Bleib auf dem Boden und schau nicht auf andere herab.“
Wenn wir aber zerknirscht sind und uns Vorwürfe machen, dann sagt es uns: „Sei getrost: Trotz Deiner Fehler lässt Gott Dich nicht fallen.“
Gerechtfertigt geht der Zerknirschte aus dem Tempel nach Hause.
Vielleicht sogar beschwingt und mit einer fröhlichen Melodie auf den Lippen.
Amen.

[1] Vgl. Wilhelm Schmid: Mit sich selbst befreundet sein, Frankfurt 2004.
 

 

Perikope
16.08.2015
18,9-14

Predigt zu Lukas 19,41-48 von Jochen Riepe

Predigt zu Lukas 19,41-48 von Jochen Riepe
19,41-48

I

Wo ist Gott ? Oder um ganz konkret zu fragen : Wo wohnt Gott ? Gibt es einen Raum , einen besonderen , einen heiligen Raum , den er sich  erwählt und zu eigen gemacht hat ? ‚Hast du Gott besucht ?‘, fragen  die Kindergartenkinder, wenn ich aus der Kirche komme. ‚War er denn auch da?‘ spottet der Zeitgenosse ,‘oder ist er wieder einmal verreist?‘

 II

Jerusalem – ‚Schauung des Friedens‘  … ‚jeder Stein erzählt hier eine Geschichte‘, schwärmt der Reisende und ein Journalist sprach von der ‚geballten Heiligkeit‘ dieser Stadt. Juden , Muslime und verschiedene christliche Konfessionen ehren diesen Ort und – streiten um ihn. Der Tempelberg ist so etwas wie ein traumhafter, energiegeladener Raum , der Sehnsuchtsberg der Völker, das ‚Tor zum Himmel‘. In oder auf den Ruinen des jüdischen Tempels haben Muslime die Al-Aqsar- Moschee und den Felsendom errichtet. Den Juden blieb die Klagemauer und die Welt hält immer wieder den Atem an, wenn irgendeine Seite versucht, an dem prekären Status etwas zu ändern.

 III

Jesus weint. Jesus weint um Jerusalem. Nach dem Bericht des Lukas nähert er sich der Stadt , sieht sie vor sich liegen und ihm kommen die Tränen. Feinde werden sie belagern, nicht einen Stein auf dem anderen lassen , den Tempel zerstören. Für Lukas ist die Person Jesu eng mit diesem Gotteshaus verbunden. Hier wird er ‚dargestellt‘ und von Simeon und Hannah als der Messias Gottes erkannt. Hier schockiert er als 12jähriger seine Eltern : ‚Wißt ihr nicht, daß ich sein muß in dem , was meines Vater ist ?‘ Und hier schließlich lehrt er täglich vor vielen Zuhörern, vor Freunden und Feinden. Darf man sagen : Es sind die Tränen des Juden Jesus , der mit seinem Volk den drohenden Verlust der Mitte , der Identität – ja: des Vater-Hauses beklagt ?

 IV

Jesus weint um Jerusalem. Immer wieder haben Bibelleser sich darüber gewundert, daß Lukas diese gleichsam schwache Seite Jesu berichtet.  Und umgekehrt : In manchen Bibelhandschriften ist der Satz  gestrichen oder weggelassen worden. Ein Messias , der weint und der auch noch als Jude um Jerusalem weint, war nicht mehr verständlich oder sogar ein Ärgernis. Hatte Jesus es nicht selbst gesagt : Diese Stadt hat ‚die Zeit nicht erkannt‘ – ‚Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben‘- sie hat nicht erkannt , was zu ihrem Frieden dient und vor allem : Sie hat ihn , den Messias, den Friedenskönig , der , in dem Gott doch sein Reich errichten wollte, gelästert und verworfen. Für die Kirche späterer Zeiten war es dann klar : Mit der Zerstörung Jerusalems durch die Römer hat Gott ein deutliches Zeichen gesetzt. Das erste Gottesvolk wurde gleichsam abgelöst. Rom und Byzanz überholten Jerusalem und den Berg Zion.

V

Wo ist Gott ? ‚Hast du Gott besucht?‘, fragen die Kinder. Natürlich : Ein Gotteshaus , das Haus Gottes ist das Wohnhaus Gottes. Sie drücken es auf ihre Weise ganz unbefangen aus : Der Glaube hat einen ‚Raum-Bezug‘  und jeder von uns wird Stätten , Kirchen , Gebäude kennen, mit denen er sich besonders verbunden fühlt. ‚Das Vaterhaus meines Glaubens‘. Wo wohnt der Heilige, wo dürfen wir ihm nahekommen … wenn es den Tempel nicht mehr gibt , diese Steine , denen Er doch seine Gegenwart zugesagt hatte ?  Es gibt im heutigen Israel eine kleine Gruppe, die nennt sich : ‘Gläubige Bewegung Tempelberg und Eretz Jisrael‘.  Diese Bewegung  trägt den Schmerz über das verlorene Heiligtum und die sehr menschliche Sehnsucht : ‚Zurück!‘ in sich und spielt doch eben darin  mit dem Feuer . Ihr Ziel ist der Wiederaufbau des Tempels als jüdisches Zentralheiligtum an der Stelle , an der er einst stand, die nun aber andere längst als die ihre verstehen. Als Christen in Deutschland ist uns dieser Wille sehr nahe. Wie groß war die Freude, als die Dresdener Frauenkirche  wieder errichtet war . Wir wissen aber auch , wie in solchen Wiederaufbauplänen  Trauer und Traum und Wahn einander berühren : Das Tor zum Himmel – das Tor zur Gewalt.

VI

‚Und als er hinzukam , sah er die Stadt und weinte über sie‘. Ich sagte es schon : Manche haben diesen Satz gestrichen oder weggelassen. Wurde in diesen Tränen nicht noch etwas zweites , anderes , für unseren Glauben Rätselhaftes oder sogar Abgründiges sichtbar ? Wenn die Wohnung Gottes zerstört ist, wenn kein Stein auf dem anderen bleibt, wenn das Vaterhaus nicht mehr ist, was ist dann mit dem Vater selbst ? ‚Er wurde mit zerstört‘, sagt der Nüchterne. ‚Er ist rechtzeitig verreist oder ausgezogen‘, spottet der Spötter : ‚Seht, sein Name an der Tür ist verblaßt.‘ Dritte schließlich meinen : ‚Seht doch die Befreiung, die darin liegt. Religion und Gewalt sind miteinander verschwistert und erst ein Jerusalem, das eine Stadt wie jede andere sein darf, erst die Entschärfung der ‚Heiligkeits-Bombe‘ wird den Menschen  dort , allen Menschen dort , den ersehnten Frieden bringen‘. Mit dem Ende der heiligen Orte , mit dem Abschied vom Heiligen wird auch der Streit darum ein Ende haben und die Stadt wird endlich ihrem Namen  Ehre machen : Jerusalem – Schauung des Friedens.

  VII

Wenn das Haus Gottes zerstört ist , was ist dann mit Gott selbst ? Wo wohnt er auf Erden? Wo ist er angesichts der zerstörten Städte, Synagogen und Kirchen ?  Ich glaube , im Sinne des Evangelisten darf man sagen : Diese verlorenen Orte , diese Trümmerhaufen der Geschichte , diese gefallenen Mauern haben ihre eigene Gottes-Sprache . Als zerstörte schließen sie nicht mehr aus . Sie führen zusammen. Die einander Fremden oder die Verfeindeten treten zusammen und leben so die Versöhnung und den Frieden , den Er, der Messias, einst Jerusalem bringen wollte. Die Steine der untergegangenen Gotteshäuser schreien es in die Welt hinaus : Laßt euch seinen Frieden gefallen. Entwaffnet euch , wie euer Gott sich entwaffnet hat, und lernt mit dem anderen zu leben. Erkennt seine Trauer, seinen Verlust und seine Sehnsucht nach Anerkennung in seinem Leid. Weint mit ihm.

 VIII

Was wird aus dem Tempelberg , dem Zion , den ‚Wohnungen und Vorhöfen des Herrn‘ ? Wie Eretz Jisrael träumen viele Juden von einer Wiedererrichtung des Tempels. Sie haben diesen Traum aber – eben damit er nicht zum gewaltsamen  Wahn wird – gleichsam nach vorn gelesen und sind so in eine Nüchternheit eingekehrt, die uns vieles lehrt. Gott selbst wird am Ende der Tage den Tempel vom Himmel fallen lassen. Von Menschenhand kann er nicht errichtet werden. Die Stelle, da das Allerheiligste war, das Tor zum Himmel, dort , wohin Priester  in biblischer Zeit nur einmal im Jahr gehen durften – diese Stelle ist unbekannt und keiner wird sie wiederfinden. Der Glaube braucht einen Raum , ja, aber er hält es aus, daß dieser Raum noch aussteht.

  IX

Wo ist Gott ? Wo wohnt er ? Im Wort , im Gesang , im Herzen , sagen wir aufgeklärten Protestanten. Gott braucht kein Haus aus Steinen . Er ist doch überall… Mag sein, aber die Kinderfrage hat auch ihr Recht. ‚Hast du heute schon Gott besucht?‘ ‚Ja, ich habe sogar an seinem Tisch gestanden‘.

‚Wohl denen , die in deinem Hause wohnen , die loben dich immerdar‘  (Ps 84,4 ).

 

Perikope
09.08.2015
19,41-48

KONFI-IMPULS zu Lukas 18,9-14 von Frank Zeeb

KONFI-IMPULS zu Lukas 18,9-14 von Frank Zeeb
18,9-14

Pharisäer und Zöllner

1. Umfeld

Der 11. Sonntag nach Trinitatis liegt mitten in den Sommerferien. Es sind daher zwei Grundgegebenheiten zu beachten:

– es werden nicht allzu viele Konfirmandinnen und Konfirmanden im Gottesdienst sein.

– vielerorts kann der Text also nicht vorab im Konfirmandenunterricht oder einer Gemeindegruppe besprochen werden kann. In manchen Orten gibt es allerdings Kinderferienprogramme, bei denen die Kirchengemeinde mit einigen Jugendlichen diesen Text für den Sonntag aufbereiten kann.

Daraus ergeben sich zwei Möglichkeiten: Entweder besteht die Möglichkeit, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten oder der Gottesdienst muss für die anwesenden Jugendlichen aus sich selbst stimmig sein.

2. Der Text für die Jugendlichen

–  Die Ausgangssituation mit „einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein und die anderen verachteten“ wird den meisten Jugendlichen unmittelbar einsichtig sein. Vielleicht ist es nicht die Frömmigkeit, sondern eine andere Eigenschaft: Dass einige glauben, aufgrund einer Eigenschaft oder eines Verhaltens besser zu sein als die anderen und deshalb auf diese heruntersehen, kennen Jugendliche aus beiden Perspektiven.

– Spannend ist die Perspektive dessen, der seine „moralische Unterlegenheit“ einsieht. In der Beispielgeschichte wird angedeutet, dass er unter seinen Fehlern leidet. Er bringt sie nichtöffentlich vor Gott.

– Nicht erzählt wird, wie die beiden Betroffenen selbst mit der unerwarteten Lösung umgehen, das gibt Raum für eigene Identifikationen.

– Ferner wird nicht erzählt, was Jugendliche vielleicht am meisten interessiert: Wie reagieren denn jetzt die Leute auf die beiden Personen und die Erläuterung in V. 14?

– Ob V. 14 als allgemeine Regel für das eigene Leben tauglich ist, bedarf noch der Überlegung.

3.    Umsetzung

 a)    Wo es möglich ist, im Rahmen eines Kinderferienprogramms, Waldheims o.ä. den Text mit Jugendlichen und Kindern zu erarbeiten, wird der Wert für die Jugendlichen darin liegen, dass sie als Leitende und Textforscher ernst genommen werden. Daher wäre ein Anspiel mit ihnen gemeinsam zu erarbeiten. Ich würde es so gestalten, dass jeweils ein Vers der Lutherübersetzung verlesen wird und dann verschiedene Szenen aus dem heutigen Leben von Kindern und Jugendlichen angespielt werden. Die Schlussfrage kann in den Anspielen durchaus verschieden beantwortet werden. Aufgabe der Predigt (oder eines Interviews?) wird es dann sein, hier die Bezüge herzustellen, z.B. zur Rechtfertigung ohne eigene Werke, zur Theologie des Reiches Gottes …

 b)    Wenn eine vorbereitende Erarbeitung nicht möglich ist und der Gottesdienst also für Jugendliche aus sich selbst heraus stimmig sein muss, würde ich auf das Wochenlied entweder ausnahmsweise verzichten, oder dieses als Eingangslied wählen. Dann als Psalmgebet aus unserer Zeit EG 767 und als Schriftlesung das Magnificat der Maria (Lk 1, 46-54). Als weitere Lieder bieten sich an: EG 619; 627; 629, 630; 639.

In die Predigt würde ich ebenfalls mit einer Szene aus dem heutigen Leben einsteigen und dann versuchen, die beiden Personen jeweils als Gott-suchende zu schildern, mit je eigener Lebensgeschichte und einem ernsthaften Anliegen. Dabei würde ich aller Schwarz-weiß-Schematisierung wiedersprechen (Unnötig zu sagen, dass die Pharisäer jahrhundertelang als Zerrbild geschildert wurden …). Mein Predigtziel wäre, dass Gott sich auf verschiedenen Wegen finden lassen mag, egal was die Menschen sagen. Diese Erkenntnis der „Rechtfertigung ohne eigene Leistung“ mag unterschiedliche Menschen ins Gespräch bringen und die eigene Meinung relativieren.

»Ein Mensch betrachtete einst näher / Die Fabel von dem Pharisäer, / Der Gott gedankt voll Heuchelei / Dafür, dass er kein Zöllner sei. / Gottlob! rief er in eitlem Sinn, / Dass ich kein Pharisäer bin!“ (Eugen Roth)

 

Perikope
16.08.2015
18,9-14