Wetterläuten - Predigt zu Lukas 12,13-21 von Wolfgang Vögele

Wetterläuten - Predigt zu Lukas 12,13-21 von Wolfgang Vögele
12,13-21

Wetterläuten

„(Es sprach aber einer aus dem Volk zu ihm: Meister, sage meinem Bruder, dass er mit mir das Erbe teile. Er aber sprach zu ihm: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Erbschlichter über euch gesetzt?) Und [Jesus] sprach zu ihnen: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.

Und er sagte ihnen ein Gleichnis und sprach: Es war ein reicher Mensch, dessen Feld hatte gut getragen. Und er dachte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun? Ich habe nichts, wohin ich meine Früchte sammle. Und sprach: Das will ich tun: Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen und will darin sammeln all mein Korn und meine Vorräte und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut! Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast? So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.“

Liebe Schwestern und Brüder,

ein Lehrer kommt nach zehn Stunden Unterricht von Schule nach Hause. Eine Buchhalterin wird täglich von ihrem Chef mit vielen Aufgaben gequält und kehrt genauso erst nach Hause zurück, als es dunkel ist. Beide öffnen die Kühlschranktür. Sie stellen fest: Milch fehlt, Obst fehlt, Joghurt fehlt. Also gehen beide seufzend die paar Schritte zum Supermarkt in der nächsten Querstraße und kaufen ein, was sie benötigen: Milch, Brot, Mehl, Joghurt, Kartoffeln, Tomaten.

Vor sechshundert Jahren, im Mittelalter ging kein Dorfbewohner in einen Supermarkt. Supermärkte konnte sich kein Ritter und kein Leibeigener vorstellen. Für die Milch mußten sie warten, bis sie die Kuh abends im Stall melken konnten. Für Mehl und Kartoffeln bestellten sie das ganze Jahr über das Feld, um dann im Herbst die Ernte einzubringen.

Wenn die ersehnte Ernte ausfiel, drohte schwere Hungersnot. Vor sechshundert Jahren waren Wettervorhersage und Glaubenskraft, Glocke und Egge stärker verbunden als wir uns das heute vorstellen können. Wer auf seinen Feldern Getreide anbaute, der brachte im Herbst dem Glöckner einmal jährlich die sogenannten Läutegarben. Mit den Läutegarben wurde der Glöckner der Kirche für das Wetterläuten bezahlt. Der Glöckner mußte täglich auf Himmel, Wetter und Wind achten. Sobald sich die ersten grollenden Anzeichen eines Gewitters zeigten, fing er an, die Glocken zu läuten. Und er hörte nicht damit auf, bevor der letzte Donnerschlag verklungen war. Denn die Dorfbewohner des Mittelalters waren überzeugt, daß die Schallwellen der Glocken Blitzschläge und Hagel theologisch und meteorologisch vertreiben können. Deswegen war jeder Glöckner ein Wetterbeobachter, und wenn er im Herbst die Läutegarben bekam, konnte auch er stolz sein, daß es ihm gelungen war, mit den Glocken die schlimmsten Ernteschäden verhindern haben.

Wir wissen heute selbstverständlich, daß der Schall von Glocken weder Gewitter noch Hagel vertreibt. Wir sprechen auch einer Glocke keine magischen Kräfte mehr zu wie die Menschen des Mittelalters, die bei Gewittern böse Geister und Hexen am Werk sahen. Die Theologen der Reformation haben im 16.Jahrhundert dieses Wetterläuten verboten, aber in vielen Dörfern hielt man sich nicht an dieses Verbot. Das Wetterläuten bestand weiter, nicht weil die Dorfmenschen so abergläubisch waren. Es bestand weiter, weil die Ernte so wichtig war, daß die Bauern alles daran setzten, den Ernteausfall zu verhindern. Mißernten und Hungersnöte führten bis ins 18. und 19. Jahrhundert zu riesigen Auswanderungs- und Flüchtlingswellen. Umgekehrt waren die Menschen für jede erfolgreiche Ernte dankbar, denn sie wußten um die vielen Risiken, die das Wetter für Getreide, Äpfel und Trauben mit sich brachte.

Unserem täglichen Bewußtsein ist der Zusammenhang zwischen Ernteerfolg und sozialem Wohlstand und Wohlbefinden verloren gegangen. Bei trockenen Sommern, Abendgewittern und Hagelschauern stöhnen wir über die Hitzewelle, sorgen uns aber nicht mehr um Ernteausfall. Wir verlassen uns auf die ökonomischen Mechanismen des Marktausgleichs, die dafür sorgen, daß Milch- und Brotregal im Supermarkt stets gut gefüllt sind. Wenn die Ernte in einem Hagelgebiet ausfällt, greifen die Disponenten der Supermärkte auf Vorräte in anderen Ländern zurück. Ich will nichts gegen Supermärkte, Warenterminbörsen und Disponenten sagen. Es ist ein Gebot der Klugheit, daß sich Städte und Regionen für Nahrungsmittel Vorräte anlegen.

Bei dem reichen Mann aus dem Gleichnis klingt es beim ersten Hören so, als wolle der Weisheitslehrer aus Galiläa die Menschen überzeugen, daß sie keine Vorräte anlegen sollen. Aber diese Auslegung würde den Kern des Gleichnisses verfehlen.

Der Bergprediger hat zwar die Vögel unter dem Himmel gelobt, weil sie nicht säen, nicht ernten und sich keine Vorräte schaffen. Aber denken Sie an den biblischen Joseph, der es bis zum Premierminister des ägyptischen Pharao brachte. Mit Hilfe von Traumdeutung und politischer Weitsicht sorgte er dafür, daß in den sieben fetten Jahren Vorräte angelegt wurden, die in den folgenden mageren Jahren die ägyptische Bevölkerung und ihre Nachbarn unter Einschluß der Brüder Josephs ernährten. Der reiche Mann aus dem Gleichnis überlegt, wie er seine Vorräte unterbringt. Er sorgt vor. Und das ist – ganz unvoreingenommen – ein Teil seiner Weisheit, Klugheit, Voraussicht. Die Klugheit der Vorratsbeschaffung ist heute ganz selbstverständlich in das gesellschaftliche System eingegangen, sie ist nicht mehr Sache individueller Entscheidung.

Eine Kleinigkeit fällt sehr auf: Der reiche Mann im Gleichnis führt ein Selbstgespräch über Vorratsbeschaffung. Wer Landwirtschaft betreibt, neigt aus klugem Kalkül dazu, Gespräche zu führen, sich über Pflanztermine und Erntezeitpunkte zu verständigen, Risiken zu minimieren. In der Geschichte hat das zur Gründung von Raiffeisengenossenschaften, Kooperativen, Erzeugergemeinschaften geführt, die für ihre Produkte gewisse Qualitätsstandards bestimmen, sie selbst verkaufen und vermarkten.

Der reiche Mann aber spricht nicht mit Kollegen. Er spricht mit sich selbst. Er führt ein Selbstgespräch und meditiert über sein Leben. Jeder Leser und Theaterbesucher kennt Selbstgespräche aus der Literatur: Der dänische Prinz Hamlet schwankt zwischen Leben und Tod, Sein und Nichtsein, Faust beklagt seine vielen Studienfächer, hat nichts gelernt und ist keinen Schritt weiter gekommen. Das Selbstgespräch führt ins vertiefte Nachdenken über das eigene Leben, in das Herz des Menschen. Im Herzen, im Innersten treffen Menschen ihre Grundentscheidungen, das, was ihr Leben bestimmt, ohne daß sie das zwangsläufig anderen Menschen mitteilen. Deswegen ist die Literatur ist voll von Selbstgesprächen, weil Leser und Hörer einen knappen Einblick in das Herz erhält.

Jesus erzählt vom Selbstgespräch, vom Herzensinneren des reichen Mannes. Sein Selbstgespräch läßt sich auf einen einfachen Punkt bringen: Ich lege mir Vorräte an, um die Früchte meiner bisherigen Arbeit zu genießen. So einfach ist das: Ich verbrauche, was ich erzeugt habe. Aber Grundentscheidungen sind meist sehr einfach – und darum auch fehlerhaft. Der reiche Mann übersieht etwas, das sehr naheliegt.

Außenstehende Beobachter, also alle Hörer und Leserinnen des Gleichnisses, inspiriert dieser offensichtliche Fehler des reichen Mannes zu Schadenfreude. Aber Schadenfreude führt meistens in Überheblichkeit und deshalb in die Irre. Wer lacht, weil der andere den Schaden hat, wird als nächstes selbst hereingelegt. Nein, der reiche Mann aus dem Gleichnis ist eher ein entfernter Bruder von Till Eulenspiegel, der die Leute zur Schadenfreude verführt, ihnen in Wahrheit aber den Spiegel vorhält. Der reiche Mann trifft eine Fehlentscheidung, und die Zuhörer merken nicht, daß ihr eigenes Stück aufgeführt wird.

Die Fehlentscheidung des reichen Mannes besitzt eine negative und eine positive Seite. Die negative Seite heißt: Lieber reicher Mann, du beachtest den Tod nicht. Du kannst dir Vorräte schaffen, so viel du willst. Wenn du morgen früh tot im Bett liegst, helfen dir all deine Weizenkörner, deine Kartoffeln, Äpfel und Eurochecks nicht mehr.

Dankbarkeit – auf jeden Fall. Vorräte anlegen – auf jeden Fall. Sich damit zur Ruhe setzen – das könnte gefährlich werden, darin liegt Bequemes. Lebensgeschichte läuft nicht auf einer sicheren, geschützten und risikofreien Straße ohne Kurven, steile Anstiege und morsche Hängebrücken. Niemand kann die Überraschungen des nächsten Tages vorhersehen – trotz aller Besonnenheit, Weisheit und Planung. Vernünftige Berechnung hilft dann auch nicht mehr. Der reiche Mann bekommt den Spiegel ganz aus der Nähe vor Augen gehalten: Vergesse den Tod nicht.

In vielen Trauergesprächen fragen Pfarrer die Angehörigen: Hat sich der Verstorbene Gedanken über den Tod gemacht? Und zu oft erhalten sie die Antwort: Nein, das war nicht sein Thema. Wenn überhaupt, dann hat der Vater das einzig und allein mit sich selbst ausgemacht.

Nicht nur der reiche Mann des Gleichnisses vor zweitausend Jahren, auch wir heute leben stets im Bewußtsein der eigenen Sterblichkeit. Der Tod läßt sich nicht abstreifen, nur vergessen. Wer ihn vergißt, verliert sich in einer Täuschung. Wer ihn wahrnimmt und darüber nachdenkt, der kann sich vorbereiten und Vorsorge treffen. Wer Sterben und Tod vergessen will, der nimmt nicht die Bezüge seines eigenen Lebens zu den Mitmenschen, zur Welt und zu Gott wahr. Wer den Tod vergessen will, der fragt nicht nach dem Sinn des Lebens. Am reichen Mann, in diesem einfachen Gleichnis, ist das schrill und mit Ausrufezeichen abzulesen. Er baut eine Scheune für den Eigenbedarf. Die anderen Menschen sieht er nicht. Er denkt an sich selbst. Die Welt, die Wirklichkeit und vor allem Gott selbst spielen in seinen planenden Gedanken keine Rolle.

Damit bin ich bei der positiven Seite des Gleichnisses: Lukas, der in seinem ganzen Evangelium alle Formen materiellen Reichtums mit großem Mißtrauen verfolgt, spricht von einem anderen Reichtum als von Mengen an Weizen, Äpfeln, Kartoffeln, die in einer Scheune gelagert werden. Der Erzähler des Gleichnisses empfiehlt den Reichtum bei Gott. Darin findet der Erzähler die Pointe der Gleichnisses, die Pointe des Selbstgesprächs, aber auch die Pointe im Leben aller Christenmenschen. Vor Gott gelten andere Maßstäbe als in der überdrehten Welt von Bankautomaten, Kreditkarten, Supermärkten und Warenterminbörsen.

Zunächst: Gott spricht mit dem törichten reichen Mann, er würdigt ihn eines Gesprächs. Gott nimmt den betuchten Irrläufer ernst, weil er nicht zusehen kann, wie er sehenden Auges in sein überraschendes Unglück stolpert. Ich halte dieses Gespräch für einen Vertrauensbeweis Gottes. Und ich bin überzeugt: Menschen, die an Gott glauben, bleiben in ihrer Entscheidungsfreiheit, die ein wichtiges Gut ist, nicht allein. Das muß nicht so direkt geschehen, wie bei dem reichen Mann aus dem Gleichnis. Im Gleichnis kommt der Erzähler aus Nazareth ganz brüsk sofort auf die Pointe. In wirklichen Leben kann es länger dauern, bis eine Entscheidung reift. Gott kann uns anders begegnen als im Selbstgespräch.

Der reiche Mann im Gleichnis begeht den simplen, aber sehr alten Fehler, nur sein eigenes Leben in die hehre Aufmerksamkeit zu rücken. Aber wer stets nur in eine Richtung blickt, übrigens egal wohin, der verfällt in die Genickstarre des Egoismus. Der vergißt die anderen Richtungen, der vergißt über seinem eigenen Leben, noch sehr viel mehr in den Blick zu bekommen:  das größere Ganze, die Mitmenschen, die Flüchtlinge und Hilfsbedürftigen, das Gemeinwohl und die zukünftigen Generationen und nicht zuletzt auch - Gott. Es wäre nun viel zu sagen über das Gemeinwohl, die Flüchtlinge aus Syrien, Freundlichkeit gegenüber Fremden und die Grundwerte Europas, über Vorräte, Ernte und Hilfe. Ich lasse das alles weg und konzentriere mich auf einen Punkt.

Was heißt Reichtum bei Gott? Der reiche Mann vergißt Gott - und das kostet ihn sein Leben. Reichtum bei Gott ist ein Reichtum der Erinnerung und des Wechsels der Perspektive. Wahrhaft reich wäre der Scheunenbauer, wenn er Gott in Erinnerung behalten würde. Er würde sich umschauen, Dinge und Menschen auch einmal aus einer anderen Perspektive betrachten. Mit der Erinnerung an Gott würde der reiche Scheunenbauer an Beweglichkeit gewinnen. Er würde anfangen, das Leben aus der Perspektive Gottes zu betrachten. Das meint eine Perspektive, die nicht nur die Interessen einzelner, sondern die Interessen aller betrachtet. Das meint eine Perspektive, die ihren Ausgangspunkt nimmt bei der Bejahung dieser Schöpfung, bei ihrer Schönheit und bei gleichem Lebensrecht und Würde aller Menschen. Das meint eine Perspektive, die aus der Bewegung der Befreiung lebt, der Befreiung von Unrecht und Leid, der Befreiung von Hunger und Krankheit, der Befreiung von aller Art von Not.

Das klingt für einen einzelnen wie eine gigantische, nicht zu erfüllende Aufgabe. Aber wer sich mit anderen zu einer Gemeinschaft verbindet, kann besser helfen als eine Einzelperson. Die Wirklichkeit aus der Perspektive Gottes sehen, das meint schließlich auch, eine Perspektive jenseits des eigenen Lebens, über den Tod hinaus zu finden. Gott will die Menschen, jeden einzelnen, den reichen Scheunenbauer wie den armen syrischen Flüchtling trösten. Sich diesen Trost gefallen zu lassen, das ist wahrhaft ein Reichtum. Und diesen barmherzigen Trost spendet Gott jedem, unabhängig davon, ob er eine Villa an der Mittelmeerküste besitzt oder nur die Schwimmweste, die ihn aus dem Mittelmeer gerettet hat.

Im letzten Moment erkennt der Scheunenbauer: Wahrer Reichtum besteht darin, sich von Gott trösten zu lassen. Und dieser Trost läßt sich nicht in Geldscheinen aufwiegen. Amen.

Perikope
04.10.2015
12,13-21

Predigt zu Lukas 11,17-19 von Hanna Hartmann

Predigt zu Lukas 11,17-19 von Hanna Hartmann
11,17-19

Predigt zu Lukas 17,11-19

11 Und es begab sich, als Jesus nach Jerusalem wanderte, dass er durch Samarien und Galiläa hin zog.

12 Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!  

14 Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein.

15 Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme

16 und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter.

17 Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun?

18 Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde?

19 Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.

 

Liebe Gemeinde,

die Krankheit hatte sie zusammengeführt und zu einer Schicksalsgemeinschaft gemacht. Ausgestoßene waren sie. Und vermutlich alles andere als eine Augenweide. Wie das bei einer Hautkrankheit halt so ist: Die sieht man; die ist einem auf den Leib geschrieben: auf Armen und Händen oder sogar ins Gesicht. Und selbst wenn sie nicht ansteckend ist, ist da die Scheu, vor der Berührung.

Hautkrank zu sein, ist auch heute noch schwer. Aber zur Zeit der Bibel waren Hautkrankheiten ein Grund, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Ob es nun Lepra war, Schuppenflechte, Neurodermitis, ein Ekzem oder was auch immer. Die Leute nahmen Abstand: „Man kann ja nie wissen…“ Und man wusste damals tatsächlich auch nicht, was zB ansteckend war und was nicht.

Doch für die Betroffenen war es das gesellschaftliche Aus. Sie durften an nichts mehr teilnehmen und mussten Glück haben, wenn ihre Familien sie weiter versorgten.

Und so waren die Zehn zusammengekommen und schlugen sich irgendwie durch. Woher sie kamen und was sie vorher gewesen waren, das war jetzt zweitrangig: Rang, Name, Volkszugehörigkeit. Auch bei dem Mann aus Samarien, der unter normalen Umständen  abgeblitzt wäre. Jetzt war es ihr gemeinsames Schicksal, das sie verband.

Schicksalsgemeinschaften heute haben andere Gründe; aber es gibt sie auch heute: vom Unglück Betroffene; Patienten; Arbeitslose; und manchmal auch Menschen in Prüfungszeiten. Die gemeinsame Situation, in die sie geworfen sind und die bewältigt werden will, verbindet. Das gemeinsame Schicksal überbrückt Unterschiede. Nicht alle natürlich, aber viele. Man leidet gemeinsam, bangt gemeinsam und hofft gemeinsam. Und unterstützt sich. So wie damals auch die Zehn.

Einer war unter ihnen, der sich erinnerte: „Jesus? -  das ist doch der, der Kranke heilen kann! Kommt, das lassen wir uns nicht entgehen!“ Und er beginnt zu rufen und die anderen fallen mit ein: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!  So schreien sie; so betteln sie. Schaden kann es ja nie! Und sei es nur, dass er vielelicht ein Almosen gibt oder etwas zu essen da lässt. Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!  

Doch was tut Jesus? Er gibt ihnen nichts, nur einen Auftrag: Geht hin und zeigt euch den Priestern!  Das war damals sozusagen das Gesundheitsamt mit den Priestern als „Amtsärzten“.

Der eine mag verstört geschaut haben und der andere müde gelächelt. Aber ein paar wollten es auch riskieren: „Kommt, das machen wir jetzt einfach! Wir probieren‘s! Zu verlieren haben wir ja sowieso nichts…“  Und es geschah, so lesen wir weiter, als sie hingingen, da wurden sie rein. Ich stelle mir vor, dass es langsam war; beim Gehen. So, dass sie es gar nicht gleich merkten. Bis einer sich wunderte: „Du, mein Arm juckt gar nicht mehr.“ Und den andern anschaut und sagt: „Und deine Flecken im Gesicht! Knallrot hat du gestern ausgesehen; und heute sieht man sie nur noch ganz schwach. 

Und dann kam die Untersuchung. „Rein!“, sagte der Priester nachdem der Leibesvisitation des Ersten. Und dann noch neun Mal: „Rein!“ Gleich danach noch das offizielle Reinigungsritual mit dem Dankgebet, und sie hatten’s geschafft! Jetzt konnte das Leben also weitergehen; oder erst recht beginnen. Also nichts wie los!

„Geschafft!“ – so sagte man auch zu Harry nach seinem überstanden Darmkrebs: „Du hast es geschafft!“ Er saß in der Chefetage einer großen Versicherungsgesellschaft. Strebsam und ehrgeizig war er immer gewesen, einer der besten in seiner Branche. Jeder rechnete damit, dass er nach der gelungenen Operation wieder an seinen Schreibtisch zurückkehren würde. Das tat er auch. Aber nach zwei Tagen kündigte er. Etwa ein Jahr lang arbeitete Harry überhaupt nicht. Dann kaufte er einen Weinberg und wurde Weinbauer.  Später erzählt er: „In dem Moment, als ich aus der Narkose erwachte, da wusste ich ohne jeden Zweifel, dass ich das Leben eines anderen führte. Es hatte so viel Druck von meiner Familie gegeben, erfolgreich zu sein. … Zuerst hat mich die Herausforderung fasziniert. Und irgendwann habe ich dann aufgehört, auf mich selbst zu hören. … Es war ziemlich hart einsehen zu müssen, dass ich mich dermaßen an das Geschäft verkauft hatte, dass ich es selbst gar nicht mehr bemerkte.“ (R.N. Remen, Aus Liebe zum Leben, Arbor-Vlg., S. 55)

Dass wir nach einer Krankheit wieder gesund wurden, liebe Mitchristen, das haben wir alle mit Sicherheit schon am eigenen Leibe erlebt. Es muss ja keine so schwere Krankheit gewesen sein wie bei Harry; auch keine Hautkrankheit wie bei den Aussätzigen damals, die zu allem Elend auch noch den Ausschluss aus der Gesellschaft bedeutete.

Doch es ist dem Kranksein eigen, dass sie etwas ins Wanken bringt. Vielleicht nur für kurze Zeit, aber immerhin. Da muss ein Termin storniert und verschoben, oder eine Reise abgesagt werden. Kranksein wirft aus dem Tritt. Sie bringt einen ins Stolpern – v.a. wenn es eine schwere Krankheit ist. Sie fragt: Wer bist du, Mensch? Was tust Du? Und was ist dir wirklich wichtig?

Man kann sich diesen Fragen stellen. Man kann sie aber auch zur Seite schieben, überhören und nach überstandener Krankheit weitermachen, als sei nichts gewesen. Muss man aber nicht...

Es sind freilich meist nur einzelne, die es anders machen, die sich trauen, etwas zu ändern. Wie auch der einzelne in unserer Geschichte. Er kehrt um. Er geht noch einmal zurück an den Ort des Schreckens und erinnert sich: an das Elend, die Demütigungen, die Schmerzen. Aber auch an die Schicksalsgenossen, die sich kaum mehr von ihm verabschiedeten, weil sie es so eilig hatten. Dabei hatten sie doch so viel zusammen erlebt!

Doch vor allem will er zu dem, der sein Schicksal gewendet und sich erbarmt hat: zu Jesus!  „ER war es doch, der uns geholfen hat! IHM muss ich unbedingt Danke sagen!“ Es ist ein tiefes Bedürfnis, das ihn zurückkehren lässt.  Eine innere Notwendigkeit.

Sicher wird er auch schon in Gegenwart des Priesters Gott gedankt haben. Schließlich war er ja im Tempel gewesen. Und außerdem gehört dieser Dank zum Reinigungsritual dazu. Aber nein, das reicht ihm nicht. Er muss noch einmal zu Jesus selbst: … und er kam zurück, lobte Gott und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm.

Ja, es ist gut und wichtig, dass Dank auch konkret wird. Dank macht die Welt schön und von innen her reich und lebenswert.

Ich denke an jenen alten Lehrer. Er hatte viele Schüler durch die Grundschule seines Dorfes begleitet und ihnen ein solides Fundament gelegt. Eine ganze Reihe von ihnen konnte später sogar Abitur machen und studieren. Doch dass einmal jemand zu ihm gekommen und ihm gedankt habe, so erzählte er (etwas traurig), das sei nur ein einziges Mal vorgekommen.

Ein Dankgebet ist schön und gut, aber das allein reicht nicht. Auch den konkreten Menschen soll ein Danke! zukommen für das, was sie konkret Gutes getan haben und was wir ihnen verdanken. Bleibt uns doch nur dadurch bewusst, dass wir nicht für uns allein leben. Und dass wir unser Leben nicht uns selbst, sondern vielen, vielen anderen verdanken!

Oder auch nach einer Krankheit: Gesundwerden ist wichtig. Klar! Aber Gesundwerden ist nur der Anfang der Heilung. Denn bis zum Heil ist es noch ein weiter Weg. Und der will unter die Füße genommen werden. Mit einem Dankgebet. Ja. Aber auch mit einem konkreten Dank: an den Arzt und die Schwestern, die dazu ihr Teil beigetragen haben. Oder auch an die freundliche Frau aus Serbien, die immer so bescheiden und rücksichtsvoll das Zimmer geputzt hat? Oder an einen treuen Besucher…

Erst mit im Danken schließt sich der Kreis. Erst da geschieht Heil. Erst im Danken kommt der „Schalom “ Gottes an: Friede und Ganzheit!  Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen. – sagt Jesus. Warum?

Von ihrer Krankheit befreit, wurden doch auch die anderen, die nicht zu ihm zurückgekehrt waren? Doch ihnen bleibt verwehrt, was Jesus nur dem zusprechen kann, der zu ihm kommt: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.

Denn Gesundheit ist eines. Aber Dankbarkeit ist nicht weniger. Und ob nicht sogar ein Kranker, der danken kann, näher am Leben, heiler ist, als ein Gesunder, der nicht weiß, wie Danken geht?

Die in Amerika lebende jüdische Ärztin Remen erzählt von einer Frau namens Mae. Sie hatte ihr Leben lang hart gearbeitet. Und als sie sich trafen, war Mae bereits alt und schwer an Krebs erkrankt.  Doch Mae liebte das Leben. Von ihr konnte man lernen, was Lachen heißt. Als die Krankheit fortschritt, so erzählt die Ärztin, rief sie Mae alle paar Tage an, um zu hören, wie es ihr ging. Und Mae antwortete immer auf dieselbe Weise: „Ich bin gesegnet, Schwester. Ich bin gesegnet.“ Auch am Abend, bevor sie starb, brachte man ihr das Telefon ans Bett. Mae rang nach Luft und konnte kaum sprechen. Die ersten Worte waren nicht zu verstehen. Aber dann sagte sie wieder und mit einem Lächeln in ihrer Stimme: „Ich bin gesegnet, Rachel. Ich bin gesegnet.“ (R.N. Remen, a.a.O., S. 25f)

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

Perikope
06.09.2015
11,17-19

Predigt zu Lukas 17,11-19 von Rainer Kopisch

Predigt zu Lukas 17,11-19 von Rainer Kopisch
17,11-19

11. Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte, dass er durch Samarien und Galiläa hin zog.
12. Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne
13. und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! 14. Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern!
Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein.
15. Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme
16. und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm.
Und das war ein Samariter.
17. Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun?
18. Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde?
19. Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.

Liebe Gemeinde,

wenn Jesus Gleichnisse erzählt, will er seinen Zuhörern in einer Predigt nicht nur etwas über das Reich Gottes verdeutlichen sondern ihnen auch gleichzeitig sagen, das dieses Reich Gottes greifbar nahe - gegenwärtig ist.

Die Wirkungen seiner Predigten und Heilungen lassen sein Hauptanliegen gegenwärtig erlebbar werden, die Herzen der Menschen für das Reich Gottes zu öffnen und sie gleich zeitig in dieses Reich eintreten zu lassen, wenn sie dazu bereit sind.
Die Verkündigung dieser Botschaft vom Reich Gottes war seine Lebensaufgabe. Sein Lebensweg war dieser Aufgabe geschuldet und er führte ihn letztlich nach Jerusalem.
Es ist Jesus gelungen, seinen  Jüngern das Reich Gottes so nahe zu bringen, dass sie sich selbst in seinem Auftrag und in seiner Nachfolge auf den Weg machten, den Menschen in Predigten und auch in Heilungen das Reich Gottes nahe zu bringen.

In den Predigten der Jünger haben natürlich die Erinnerungen an ihre Erlebnisse mit Jesus eine große Rolle gespielt. Für uns ist es gut, dass viele Erinnerungen und Berichte auch aufgeschrieben wurden. Wir zehren von diesen Texten. Wo sich Christen um das Wort Gottes und im Namen Jesu versammeln, ist das Reich Gottes gegenwärtig greifbar. Die Bezeichnung Gottes Wort haben Bibeltexte dort zu Recht, wo Gottes Reich durch sie lebendig wird.

Im Gleichnis, das wir in der Lesung des heutigen Evangeliums schon gehört haben, lässt uns Lukas mit erleben, wie Gegenwart des Reiches Gottes erlebbar werden kann.

Auf dem Weg nach Jerusalem – Lukas deutet das Ende des Lebensweges Jesu an – begegnet Jesus in einem Dorf zehn Aussätzigen. Sie bleiben im der gebotenen Abstand stehen und rufen: „Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser.“ Er sieht sie an und spricht: „Geht hin und zeigt euch den Priestern.“ Die Priester waren für die Feststellung zuständig, ob jemand rein oder unrein im Sinne der kultischen Ordnung ist. Ein Mensch mit Aussatz war in diesem Sinne unrein.

Auf dem Weg zu den Priestern wurden alle zehn Männer geheilt. Einer von ihnen, ein Samariter, kehrte um und pries Gott mit lauter Stimme, als er sah, dass er geheilt war.
Er fiel vor Jesus auf sein Angesicht – ein Zeichen höchster Ehrerbietung und Anbetung – und dankt ihm für seine Heilung.
Jesus antwortete und sprach: „Sind nicht zehn rein geworden? Wo sind aber die neun?“
Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte,  um Gott die Ehre zu geben als nur dieser Fremde?
Dann erst spricht Jesus zu dem Samariter: „Steht auf, dein Glaube hat dir geholfen.“

Wenn wir auf Gefühle in diesem lukanischen Gleichnis achten, werden wir die überwältigend deutlichen großen Gefühle des geheilten Samaritaners erkennen. Sie weisen uns auf sein persönliches Erleben des gegenwärtigen Reiches Gottes hin. Sein Erleben beginnt mit dem Bewusstsein  seiner Heilung und seine Gefühle sind Freude und Dank für die göttliche Wohltat seiner Heilung. Er preist Gott mit deutlicher Stimme, kehrt um und bringt Jesus überschwänglich Dank, in dem er vor ihm mit der Geste der Verehrung und Anbetung niederfällt.
Obwohl uns Jesu Gefühle aus dem Bericht des Lukas nicht deutlich werden, bemerken wir doch so etwas wie einen inneren Zwiespalt in seiner Reaktion auf den Dank und die Verehrung des Samaritaners. Die Frage nach dem Dank der anderen neun Geheilten und die scheinbar sachliche Feststellung, dass allein ein Fremder zum Dank umkehrt, kommen erst  einmal über seine Lippen. Dann erst kann er sich dem Samaritaner persönlich zuwenden. Dein Glaube hat dir geholfen ist wie ein amtliches Siegel auf einer Einbürgerungsurkunde und Bestätigung der Teilhabe am Reich Gottes.

Joachim Jeremias, ein bedeutender Theologe nach Mitte des letzten Jahrhunderts schreibt: „ Vielmehr ist Jesu Verhalten gegenüber den Samaritanern, gerade auch in seiner scheinbaren Widersprüchlichkeit, nur von seinem Hoheitsbewusstsein und seiner Ankündigung der eschatologischen Wende zu begreifen.“ Juden und Samaritaner lebten zu Zeiten Jesu in einem gespannten Verhältnis zueinander. Die Verheißung des Heilsangebotes an Israel galt zunächst den Juden und musste sich erfüllen, bevor sich dann auch endzeitlich die Eingliederung der anderen Völker, zu denen Jesus auch die Samaritaner rechnete, in das Gottesvolk erfolgen konnte. Zugleich aber war Jesus dessen gewiss, dass mit seiner Sendung die Heilszeit schon angebrochen war. Soweit ein paar hilfreiche Gedanken von Joachim Jeremias zum Versuch eines Verständnisses Jesu.

Lukas hat in der Dreigliederung seiner Zeitvorstellung der Geschichte Gottes mit den Menschen deutlich gemacht, dass wir Christen in einer Zwischenzeit leben. Die erste Zeit beschreibt als die Zeit des Lebens Jesu mit Tod und  Auferstehung. Die Zweite Zeit der Apostel und Gemeinden beginnt mit Pfingsten und dauert, bis die dritte Zeit mit der Wiederkunft Christi und dem Beginn der ungeteilten und für alle Menschen sichtbaren Herrschaft Gottes erscheint.

Das Leben in der Zwischenzeit bedeutet für uns Menschen, dass wir täglich vielfältig herausgefordert sind, im Alltag der Welt unseren Weg zu finden. Als Christen wissen wir von unserem Ziel. Es ist das Reich Gottes. Wenn wir den Spuren von Heilung und Glaube in unserem Leben folgen, werden wir den Weg dorthin nicht verfehlen.

Diese Spuren gibt es deshalb, weil Gott in allen Zeiten lebendig gegenwärtig ist. Die Gegenwärtigkeit seines Reiches ist für uns Menschen erfahrbar, wenn wir Gott unser Herz öffnen.

Der geheilte Samaritaner hat sein Herz Gott geöffnet.
Dein Glaube hat dir geholfen, sagt Jesus den Geheilten. Er sagt auch uns damit deutlich, dass eine Heilung für Glaubende ein Schritt auf dem Weg in das Reich Gottes ist.

Was sagen uns die neun anderen Geheilten im Gleichnis des Lukas?

Sie sagen uns etwas von den verpassten Gelegenheiten in unserem eigenen Leben, von den Heilungen, die wir als selbstverständlich hingenommen haben. Sie sagen uns etwas von einer möglichen Kultur von Dankbarkeit in unserer Welt. Sie sagen uns etwas von Geben und Nehmen. Sie fragen uns nach uns selbst. Wie oft am Tag kommt Freude und Dank im Zusammenhang von Geben und Nehmen auf? Wie oft sind wir mit dem Herzen dabei, wenn wir mit anderen Menschen zu tun haben?

Immer, wenn wir in unserm Leben Heilung finden, dürfen wir glauben,
dass wir Schritte ins Reich Gottes machen.
Aber erst, wenn wir erfahren, dass unser Tod die letzte Heilung ist,
die den endgültigen und letzten Schritt in das Reich Gottes ermöglicht,
werden wir heil und ganz bei Gott sein.

Dann hat sich die Botschaft Jesu auch an uns erfüllt.     

Amen.

 

Perikope
06.09.2015
17,11-19

"Krieg und Frieden" - Predigt zu Lukas 10,25-37 von Luise Stribrny de Estrada

"Krieg und Frieden" - Predigt zu Lukas 10,25-37 von Luise Stribrny de Estrada
10,25-37

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn und Bruder Jesus Christus.

Amen.

Liebe Schwestern und liebe Brüder!

Wir hören den Text, über den wir heute in der Predigt gemeinsam nachdenken wollen. Lukas schreibt im 10. Kapitel seines Evangeliums:

„Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.

Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen.

Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinab zog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.

Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!“ (Lukas 10,25-37)

Marisa ist 20 Jahre alt. Sie lebt irgendwo im Osten von Deutschland auf dem Land und gehört zu einer Clique von Neonazis. So wie die jungen Männer aus ihrer Gang schlägt auch sie auf Menschen ein, die durch ihr Aussehen als Ausländer auffallen, und brüllt Hassparolen. Am Badesee provoziert die Gruppe einen Streit mit zwei Brüdern aus Pakistan, die in einer Asylbewerberunterkunft ihres Ortes wohnen. Als sie auf dem Weg nach Hause ist, überholt Marisa mit dem Auto die beiden Jugendlichen, die auf einem Mofa fahren. Ein Schlenker nach rechts – und im Rückspiegel sieht sie, dass sie das Mofa aus der Bahn geworfen hat und die Brüder am Straßenrand liegen.

Bald danach begegnet sie einem der Brüder, Rasul, wieder. Er kauft im Lebensmittelmarkt ihrer Mutter ein und hat nicht genug Geld, um alles zu bezahlen, was er auf das Band gelegt hat. Zuerst will Marisa ihm nur einen Teil der Lebensmittel überlassen, aber dann lässt sie sich durch seine Gesten überreden. Dass sie nachgibt, hat auch mit ihrem schlechten Gewissen zu tun, denn sie glaubt, dass sie seinen Bruder getötet hat. Bei ihrer nächsten Begegnung zeigt er ihr das verlassene Gebäude, in dem er inzwischen untergekommen ist, und sie verbringen einen Abend zusammen mit Kochen und Erzählungen von seiner Flucht in holprigem Englisch. Marisa lernt zum ersten Mal einen Menschen kennen, der in Deutschland fremd ist, der eine andere Heimat hat als sie. Zwischen ihnen entsteht eine freundschaftliche Beziehung. Marisa distanziert sich immer weiter von ihrer Neonazi-Gang und ihrem Freund, der dort der Anführer ist. Stattdessen engagiert sie sich immer mehr dabei, Rasul zu helfen. Dieser will nach Schweden, wo Verwandte von ihm leben. Marisa stellt Kontakt zu Schleppern her und bringt ihn zu einem Treffpunkt an der Ostsee, wo sie für ihn bezahlt und er in ein Boot steigt, das dort auf ihn gewartet hat. Dramatisch wird es am Schluss, als Marisas Ex-Freund auftaucht und sie durch einen Schuss in die Brust tötet. – „Kriegerin“ heißt der Film, der Marisas Geschichte erzählt, er wurde von David Wnendt gedreht und 2011 uraufgeführt.

Was hat der Film „Kriegerin“ mit dem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter zu tun, das Jesus erzählt, um vor Augen zu führen, wer unser Nächster ist? Ich lese den Film als eine moderne Fortschreibung der Geschichte vom Samariter: Marisa ist eine Frau, die heute in die Spuren des Samariters tritt. Sie und der Mann aus Samarien haben gemeinsam, dass sie bereit sind, den anderen anzusehen. Sie nehmen wahr, was dem anderen geschehen ist: der Überfallene in der älteren Geschichte blutet und liegt nackt auf dem Boden, er ist halb tot. Der pakistanische Junge in der modernen Geschichte hat Hunger, aber kein Geld. Er ist allein, nachdem sein Bruder ausgewiesen worden ist, und weit weg von seiner Familie. Er spricht kein Deutsch. Marisa und der Samariter sehen einen Menschen, der am Ende ist und nicht mehr weiter kann.

Und dann geschieht das Entscheidende: „Er jammerte ihn“, heißt es in der Geschichte Jesu. Der Anblick des Opfers rührt das Herz des Samariters, er trifft ihn in seinem Inneren. Er lässt sich das nahe gehen, was dem anderen passiert ist, und ändert seine Pläne, um dem Mann zu helfen. - Marisa, die Kriegerin, begreift, dass Rasul wirklich in Not ist und nichts zu essen haben wird, wenn sie ihm nicht hilft. Sie kapiert zum ersten Mal, wie sich ein Ausländer in Deutschland fühlt, wenn ihm nur Ablehnung entgegen schlägt. Und sie merkt, dass er nicht so ist, wie sie sich bisher Ausländer vorgestellt hat, die sie nur von weitem kannte. Rasul wird ihr sympathisch. Das bringt sie dazu nachzudenken und ihre Ideologie und die ihrer Freunde in Frage zu stellen.

Der Samariter bleibt nicht beim Mitleiden stehen, sondern handelt und tut das Notwendige. Er verbindet den Verletzten und bringt ihn in eine Herberge, wo er sicher ist. Dort versorgt er ihn weiter und bittet dann den Wirt, die Pflege zu übernehmen. Dafür bezahlt er ihn. - Marisa tut ebenso wie der Mann aus Samarien das, was jetzt am wichtigsten ist: Sie sorgt dafür, dass Rasul etwas zu essen bekommt, nicht nur einmal, sondern viele Male. Als sie mitbekommt, wie wichtig es ihm ist, nach Schweden weiterzuziehen, ruft sie für ihn bei den Schleppern an, besorgt Geld und bringt ihn zum vereinbarten Treffpunkt. Mehr kann sie nicht für ihn tun: Sie sieht ihm nach, als er ins Boot steigt, und hofft, dass dieses Boot ihn wirklich auf die andere Seite der Ostsee bringen wird. Ob das gelingt, erfährt der Zuschauer nicht.

„So geh hin und tu desgleichen!“, sagt Jesus am Schluss zu dem Schriftgelehrten, dem er das Gleichnis erzählt hat. Das gilt bis heute, es gilt auch uns. Lassen wir uns anrühren von dem, was dem Menschen neben uns passiert, und helfen ihm? Sind wir bereit, unser Herz für ihn zu öffnen und uns sein Schicksal nahe gehen zu lassen? In diesen Wochen hören wir täglich und stündlich von Menschen, die wie Rasul auf abenteuerlichen Wegen bis nach Deutschland flüchten und hoffen, dass sie hier in Sicherheit sind und die Chance auf ein neues Leben bekommen. Sie haben Schlimmes erlebt, sind vor Krieg, Zerstörung und Gewalt geflohen, haben viele ihrer Lieben sterben sehen. Fast alles haben sie zurückgelassen und kommen hier oft nur mit dem an, was sie auf dem Leib tragen.

Wer wird den Menschen, die hier bei uns ankommen, zum Nächsten? Leute wie Caroline, von der ich in der Zeitung gelesen habe (in: DIE ZEIT, No. 32). Caroline wohnt auf dem Land in der Nähe von Passau. Eines Morgens sah sie in ihrem Vorgarten 17 Leute sitzen, die sie nicht kannte. Als sie zu ihnen hinging, sprachen sie sie gleich auf Englisch an: „Police, police.“ Nach einigen Augenblicken begriff sie, dass sie gerade zu Fuß über die österreichische Grenze gekommen und jetzt am Ende einer langen Flucht waren. Sie rief bei der Polizei an, damit die sich um die Menschen kümmern könnte, und während alle auf das Eintreffen der Polizei warteten, schmierte sie für ihre Gäste Brote. „Nicht mit Schweinefleisch“, fiel ihr ein, deshalb griff sie zum Nutellaglas. Ihre Brote gingen weg wie warme Semmeln, die Flüchtlinge aßen mit Heißhunger. Es sollte nicht die einzige Gruppe von Flüchtlingen bleiben, um die sie sich kümmerte. Inzwischen stranden täglich Menschen in Carolines Gegend. Einige Nachbarn halten ihre Fenster und Türen geschlossen, weil sie Angst haben oder weil sie mit dem Schicksal dieser Menschen nichts zu tun haben wollen, andere wie Caroline geben ihnen zu essen und zu trinken, sammeln für sie Kleidung und Decken und sehen es als ihre Aufgabe an zu helfen, wo sie können.

Wer wird den Menschen, die hier bei uns ankommen, zum Nächsten? Jemand wie Tobias, der ein Programm für  Flüchtlingskinder koordiniert (in: DER SPIEGEL Nr. 34) Sie sind mit ihren Eltern in der Turnhalle von Tobias‘ Universität untergekommen, da die Erstaufnahmeeinrichtung überfüllt war. „Unsere Gäste“ nennt man sie an der Uni. In Tobias‘ Büro rufen im Minutentakt Leute an, die den Kindern helfen wollen: Eine Frau bietet an, dass sie vorlesen könnte. „Ja, klar“, ruft Tobias in den Hörer, „wann können Sie?“ Eine Familie aus der Nachbarschaft will dabei helfen, Essen auszugeben. „Kommt rüber“, fordert Tobias sie auf. Als nächstes meldet sich einer, der Spielsachen verschenken möchte. „Bitte geben Sie sie bei der Kirche ab, unsere Garage ist schon voll“, vermittelt Tobias ihn weiter. So geht es den ganzen Tag. Eigentlich hatte Tobias vor, in seinen Semesterferien auszuschlafen, Freunde zu treffen und Party zu machen. Jetzt ist er von morgens bis abends im Einsatz. Er weiß, dass er am richtigen Platz ist. „Geh hin und tu das Gleiche“, fordert Jesus am Schluss des Gleichnisses vom Barmherzigen Samariter. So etwas wie Tobias oder Caroline oder Marisa und viele Tausende für die Gäste tun, die es auf ihrer Flucht bis in unser Land geschafft haben.

Ich bin davon überzeugt, dass es auch für jeden von uns eine Aufgabe gibt, die wir übernehmen und zeigen können, dass wir solidarisch mit den Flüchtlingen sind, die in unserer Nähe wohnen. Dann sehen wir sie nicht nur auf Bildern im Fernsehen, im Internet und in der Zeitung, sondern begegnen ihnen wirklich. Wie das werden wird, müssen wir ausprobieren. In welcher Sprache wir miteinander sprechen, auch. Ob sich ein Miteinander entwickelt, hängt auch an uns und daran, wie wir auf die Menschen zugehen und wie wir uns verhalten.

Dabei können wir Christus begegnen. Er ist unter denen, die auf Hilfe angewiesen sind, die Essen, Kleidung und Unterkunft brauchen. „Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan“ (Matthäus 25,40), sagt Jesus. So heißt es im Wochenspruch dieses Sonntags. Christus ist einer der Flüchtlinge. Aber wir können ihn auch bei denen finden, die helfen. Martin Luther hat die Geschichte vom Barmherzige Samariter so verstanden, dass Christus der Mann aus Samarien ist, der sich erbarmt und dem Zusammengeschlagenen hilft. So kann uns Christus begegnen, wenn wir ins Gespräch kommen mit einer Frau, die einem Flüchtling Deutschunterricht gibt oder mit einem Mann, der jemanden zum Arzt begleitet.

„Christus hat keine Hände als unsere Hände“, hat die Theologin Dorothee Sölle gesagt. Aber unsere Hände hat er, und die sollen wir benutzen, um das Gleiche zu tun wie der Mann aus Samarien.

Dabei helfe uns Gott.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

Perikope
30.08.2015
10,25-37

Predigt zu Lukas 10, 25-37 von Frank Zeeb

Predigt zu Lukas 10, 25-37 von Frank Zeeb
10,25-37

Liebe Gemeinde,
„der Nächste bitte“. Sie kennen diesen Satz, aus unendlich vielen Zusammenhängen, beim Arzt, an der Käsetheke am Schalter im Bahnhof, bei der netten Bankangestellten. Und dann gibt es immer wieder einen Moment des Zögerns. Wer ist denn nun der Nächste? Ich meine doch, ich. Oder ist die Dame vielleicht doch vor mir an der Reihe, ich will mich ja nicht vordrängen und mein Recht als Nächster wahrnehmen, wenn ich gar nicht dran bin. Und wenn ich mir sicher bin, dass ich der Nächste bin, dann werde ich das dem Yuppie da auch klar sagen, der schon die Ellbogen ausfährt, als hätte er die Vorfahrt gepachtet. Wer ist der Nächste, darum geht es auch in dem Gespräch Jesus mit dem Schriftgelehrten.

So ein Diskussionsgespräch ist im Judentum – damals wie heute – eine beliebte Sache. Solche Gespräche beginnen mit einer Frage und der Befragte muss dann aus der Schrift und der Tradition Argumente für und gegen finden und das Problem einer Lösung zuführen. Dabei geht es nicht nur um den Erkenntnisgewinn. Wichtig ist nicht zuletzt, wie man antwortet, schlagfertige, einleuchtende Beispiele sind das Salz in der Suppe eines solchen Gesprächs.

So kommt ein Schriftgelehrter zu Jesus als dem berühmten Wanderprediger, der für seine Kunstfertigkeit in solchen Gesprächen bekannt und beliebt ist. Die Frage, die er einleitend stellt, zeigt: Er selbst, der Schriftgelehrte, ist erfahren in der Führung von Streitgesprächen. „Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe.“ Schon die Formulierung der Frage ist voll von theologischen Anspielungen. In moderner Theologie würden wir vielleicht sagen: Die Rechtfertigungslehre ist vorausgesetzt, es ist klar, dass das ewige Leben und die Gnade nur ererbt, von Gott geschenkt wird. Dennoch bleibt die Frage offen – und sie ist in der evangelischen Theologie heute genau wie damals im Judentum eine der drängendsten Fragen und eine der schwierigsten Problemstellungen: Wie verhalten sich eine dogmatische korrekte Rechtfertigungslehre und die Ethik, die Lehre vom rechten Handeln, zueinander? Ein Streitgespräch auf höchstem theologischen Niveau also.

Jesus antwortet mit einer Gegenfrage. Er stellt damit klar, dass er die Reichweite der Frage verstanden hat und die Brisanz ernst nimmt. Ein solches Thema lässt sich nur behandeln, wenn die theologischen Grundlagen klar sind: Schrift und Bekenntnis. Deshalb die Rückfrage: Was sagt die Schrift dazu – und die Zusatzfrage: Was liest du?, genauer übersetzt: Was rezitierst du – wie jeder fromme Jude – jeden Morgen in deinem Glaubensbekenntnis, dem „Höre Israel“?

Der Schriftgelehrte weiß sich hier auf sicherem Grund: Er gibt die richtige Antwort. Gottesliebe und Nächstenliebe, ist doch klar. Jesus verwandelt gleichsam die Steilvorlage: Stimmt, damit ist deine Frage beantwortet, das musst du tun, dann wirst du leben. Ende der theologischen Diskussion.

Aber so lässt der Schriftgelehrte Jesus nicht gehen. Das war einfach. Wo im Konfirmandenunterricht noch der Katechismus gelernt wird, hätte diese Antwort jede und jeder Jugendliche geben können. Das ist Grundwissen. Jetzt wird es erst richtig spannend. Der Schriftgelehrte fragt weiter. Nebenbemerkung: Die Übersetzung im Luthertext „er rechtfertigte sich“ klingt für unsere Ohren ein bisschen wunderlich. Es ist nicht gemeint, dass er sich gleichsam entschuldigt oder – so wurde es auch manchmal gedeutet – seine eigenen Unzulänglichkeiten vertuschen will. Er will die Bedeutsamkeit des Themas weitertreiben: Wenn die Nächstenliebe ein Gesichtspunkt für das Ererben des ewigen Lebens, dann muss doch das doch konkret werden: „Wer ist mein Nächster?“ Was kann redlicherweise von mir erwartet werden, wofür bin ich zuständig und wofür – für wen – nicht. Warum der Schriftgelehrte genau diesen Aspekt herausgreift, erfahren wir nicht. Für das damalige Judentum war die Antwort eigentlich klar: Der Nächste ist jeder, der Mitglied des jüdischen Volkes ist und die anderen sind zwar Mitmenschen, aber sie sind eben nicht „Nächste“ im Sinne des Gesetzes. Vielleicht – wir diskutieren hier ja auf sehr hohem Niveau – spielt der Schriftgelehrte darauf an, dass Jesus den Begriff des „Nächsten“ weiter fasst als der damalige Mainstream. Er heilt den Knecht eines heidnischen Hauptmannes, hilft der Tochter einer phönizischen Frau, predigt neben der Nächsten- auch die Feindesliebe. Auch diese Frage ist also voller Hintergründigkeit.

Und jetzt greift Jesus zu dem sprachlichen Mittel, das er am besten beherrscht: Er erzählt eine Geschichte. Ein Mann – er hat keinen Namen, es ist also nicht eine wirkliche Begebenheit, sondern eine Beispielgeschichte, es könnte jeder und jede sein, die Geschichte spricht von dem, was typisch ist, was menschlich ist. Dieser Mann also geht hinab von Jerusalem nach Jericho, durch felsiges und unwegsames Steppenland. Wenn Sie einmal nach Israel und Palästina kommen und es die Umstände zulassen: Machen Sie sich auf diesen Weg, es lohnt sich, es ist nicht nur eine touristisch ansprechende Wanderung, sondern vor allem eine spirituelle Erfahrung. Diesen Weg gehen Menschen seit Jahrtausenden, es ist ein Weg, der viel mit Gottesbegegnung zu tun hat. Jedenfalls: Der arme Wanderer hat Pech und fällt unter die Räuber, die ihn halbtot liegen lassen. Wer wird ihm helfen? Ich erzähle die Geschichte jetzt nicht nach, wir kennen sie alle, und spekuliere auch nicht darüber, warum Priester und Levit nicht geholfen haben. Die Pointe ist doch die: Der Samariter, der Ausländer, der Fremdling, der eigentlich nach der reinen Lehre nicht als Nächster zu gelten hat, der unternimmt, was nötig ist und hilft. Er fragt nicht nach der theologisch korrekten Antwort, sondern handelt – und ich nehme an, dass der Verwundete hier auch nicht an Dogmatik gedacht hat, sondern froh war, dass und wie ihm geholfen wurde.

Damit hat Jesus die Fragestellung gleichsam umgekehrt: Es geht nicht darum, wer mein Nächster ist – darauf kann man korrekte Antworten geben, die einen wunderbar aus der Verantwortung entlassen, sondern es geht darum: Wie kann ich selbst zum Nächsten werden, wenn Not am Mann oder an der Frau ist? In moderner Theologie ausgedrückt. Die Dogmatik ist wichtig und nützlich, aber sie bleibt womöglich blutleer, wenn Handeln not tut. Das lässt sich am Text zeigen: Das Wort „tun“ kommt im griechischen Text vier mal vor, aber nur im Diskussionsgespräch, wo es sozusagen abstrakt bleibt, in der Geschichte selbst nicht ein einziges Mal, da wird nicht räsoniert, sondern tatkräftig gehandelt. Oder mit Erich Kästner, der auf die berühmte Frage, was das Gute sei, antwortet: Es gibt nichts Gutes – außer man tut es.

Ich finde, liebe Gemeinde, die Geschichte hat eine beängstigende Aktualität. Ein Nebenaspekt ist ja, dass Jesus eine Absage erteilt an die Auffassung, dass der „Nächste“ in einfachen Begrifflichkeiten zu fassen ist. Die Eigenschaft des oder der „Nächsten“ wird eben nicht dadurch definiert, dass ein Mensch die und die Bedingungen erfüllt, demselben Volk angehört, dieselbe Sprache spricht oder denselben Glauben teilt. „Nächster“ wird man durch die Liebe. Und die Beziehung der Liebe braucht zwei Richtungen: Der Nächste ist der Mensch, der voller Liebe und mit Barmherzigkeit das Nötige tut – und der oder die, der Hilfe braucht und sich das Liebeswerk annehmend gefallen lässt.

Die Geschichte müsste heute also so erzählt werden: Menschen gehen weg aus ihrer Heimat und fallen auf ihrem Weg, der ihnen schwer genug fällt, unter Räuber, Schleuser und ähnliche verbrecherische Gestalten. Sie bleiben halbtot und traumatisiert auf der Strecke. Es gibt genug Einrichtungen und Beauftragte, denen sie begegnen. Hilfe wird ihnen nicht zuteil. Das hat verschiedene Gründe: Der eine ist nicht zuständig, manch einer kann nicht, wieder andere wollen nicht. Nicht selten hört man auch die Aussage: Diese Menschen sind selbst schuld, wären sie nicht losgegangen, dann wären sie auch nicht da, wo sie jetzt sind, nicht in der Lage, unter der sie jetzt leiden. Wir haben genug zu tun mit unserer eigenen Not und können nicht die Probleme der ganzen Welt lösen. Und überhaupt: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung: Es gibt Asylgesetze, Sozialgesetzbücher und EU-Richtlinien. Die reine Lehre ist klar. Zum guten Glück gibt es aber auch heute die andere Seite. Menschen tun was nötig ist, ohne nach der Person, ihrer Herkunft und den Hintergründen  zu fragen. Sie verbinden Wunden, geben aus dem eigenen Vorrat, was gebraucht wird, Kleidung, Spielsachen und andere Dinge. Öl und Wein, mit denen man im Altertum Wunden wusch, können hier auch übertragen gemeint sein: Gespräche und Zuwendung für die geplagten Seelen, bei der Behandlung von Traumata kann auch schlichtes Dasein ohne große Worte hilfreich sein. Der Wirt in der Erzählung steht dann dafür, dass der Einzelne beim Helfen den Einzelnen nicht alleine ist und sich überfordern muss. Es gibt Netzwerke, die verlässlich sind und tragfähig. Sie unterstützen den Helfenden und sorgen für professionelle Hilfe. Damit sind wir – die biblische Geschichte erzählt an Beispielen von Einzelmenschen – auch bei der gesellschaftlichen Dimension. Was tut die Gesellschaft, was die Kirche, was unsere Kirchengemeinde für die Menschen, die in Syrien und sonstwo unter die Räuber gefallen sind?

Was muss ich, was müssen wir tun, damit wir das ewige Leben ererben? Wer ist mein Nächster? Wer ist der Nächste dem, der unter die Räuber gefallen ist? Spannende theologische Fragen. Jesus antwortet nicht mit theologischen Begriffen, bleibt nicht bei zutreffenden Zitaten stehen, er erzählt eine Geschichte. Und er beendet das theologische wertvolle Gespräch mit den Worten: „Gehe hin und mache es ebenso.“

Amen

Perikope
30.08.2015
10,25-37

Predigt zu Lukas 10,25-37 von Gerda Altpeter

Predigt zu Lukas 10,25-37 von Gerda Altpeter
10,25-37

25 Und siehe, ein Rechtsgelehrter trat auf. Er stellte ihn auf die Probe und sagte:“Lehrer, was soll ich tun um das ewige Leben zu erben?“
26 Er aber sagte zu ihm:“Im Gesetz, was ist da geschrieben? Was liest du da?“
27 Er aber antwortete und sagte:“Du wirst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, und mit deinem ganzen Lebensodem, und mit deiner ganzen Fähigkeit, und deinen Nachbarn wie dich selbst.“
28 Er sagte zu ihm:“Das ist richtig. Tue das und lebe!“
29 Er aber wollte sich rechtfertigen. Er sagte zu Jesus:“Wer ist mein Nächster?“
30 Jesus entgegnete und sagte:“Ein Mensch ging hinab von Jerusalem nach Jericho. Er fiel Räubern in die Hände. Sie zogen ihn aus und schlugen ihn. Sie gingen weg und verliessen ihn halbtot.
31 Zufälligerweise ging ein Priester auf dem Weg hinab. Er sah ihn und ging vorbei.
32 Ebenso kam ein Levit an den Ort. Er sah ihn und ging vorbei.
33 Ein Samariter kam auch des Weges. Er sah ihn.
34 Er hatte Mitleid mit ihm. Er ging hinzu und verband seine Wunden. Er goss Olivenöl und Wein hinein. Er setzte ihn auf sein eigenes Zugtier, nahm ihn mit in die Herberge und pflegte ihn.
35 Am anderen Morgen nahm er zwei Drachmen, gab sie dem Wirt und sagte:“Pflege ihn. Und wenn du mehr aufwendest werde ich es dir bezahlen wenn ich wieder zurückkomme.“
36 Wer von den dreien scheint dir der Nächste zu sein dem, der den Räubern in die Hände gefallen ist?“
37 Er antwortete:“ Der Mitleid mit ihm hatte.“ Jesus sagte zu ihm:“Gehe und handele ebenso!“

Mitleiden – Leiden

Offensichtlich geht es hier um das Mitleiden, das zum Leiden führt. Ich verstehe, warum ein Mensch leidet. Ich fühle mit ihm. Da kann ich nicht anders als dieses Leiden nach Möglichkeit zu beenden. Ich muss helfen. Das fühle ich, Das weiss ich.

Dann denke ich nach. Was kann ich tun? Wie soll ich vorgehen? Und dann handele ich.

Zuerst kommt das Verstehen. Dann kommt das Handeln. So geht es zu. Besonders gilt es wenn ich die Bibel lese. Im Wort Gottes ist festgehalten wie die Menschen damals ihre Probleme mit Gottes Hilfe lösten. Ich kann nun versuchen meine Probleme auf dieselbe Weise zu lösen.

Da möchte ich ein Beispiel bringen.

Meine Tochter war vor vielen Jahren psychisch krank. Damals herrschte in Niedersachsen eine atheistische Therapie. Sie war in der medizinischen Hochschule in Hannover entwickelt worden. Niemand fragte nach der Ursache der Erkrankung. Die Patientin wurde von allen Bindungen gelöst, zuletzt von der Bindung an Gott. Die Betreuer boten dann ihre Bindungen an.

Bei meiner Tochter klappte es nicht. Sie sprang aus einem dritten Stock. Es war für sie eine fremde Macht, darum rollte sie sich zusammen und kam rollend auf dem Boden auf. Sie brach sich den rechten Fuss mehrfach und verstauchte sich das Rückgrat. Sie kam zurück in die medizinische Hochschule in die Intensivstation. Dort wurde sie künstlich beatmet, sollte aber bald wieder selbst atmen.

Der Arzt dort fasste Vertrauen zu mir. Er bat mich zu helfen. Ich hatte ihr einen alten Tauftaler umgehängt als Zeichen, dass sie als Getaufte ein Kind Gottes sei. Diesen Tauftaler hatte sie abgelegt als sie sprang. Ich holte den Tauftaler und fragte sie, ob sie ihn wieder haben wolle. Es standen zehn Leute in wiessen Kitteln da. Als sie meine Frage bejahte legte ich ihr den Tauftaler auf die Brust. Sie atmete und war gerettet.Die einen wie der Arzt der Intensivstation freuten sich. Die anderen waren entsetzt. Das war doch nicht möglich! Sie waren Atheisten. Wieso konnte ein Patient leben weil er wieder an Gott angeschlossen war? Das war gegen ihre Anschauung und ihre Therapie. Sie wurden reihenweise krank.

Die Staatsanwaltschaft schaltete sich ein. Es waren viele Patienten dort gestorben. Sie stammten aus angesehenen Familien. Was war da los?

Später untersuchte die Bundesanwaltschaft die Sache. Sie verboten die atheistische Therapie. Gott lebt. Er handelt heute wie vor vielen Jahren. Er schafft Neues.

War der Professor der Psychiatrie nicht wie ein Räuber, der seinen Patienten den Glauben raubte? Starben so viele Menschen weil sie ohne Glauben nicht leben konnten?

Heute wie zur Zeit Jesu gilt die Aussage des Gesetzes. Liebe schafft Leben. Liebe zu Gott und zum Nächsten und zu sich selbst, darauf kommt es an. Das alte Testament, das auch das erste Testament heisst, gilt heute wie vor vielen Jahren.

Jesus lebt danach. Er erwartet, dass auch wir danach leben. Wer so lebt bleibt bei Gott. Dort werden wir glücklich. Wer ausserhalb der Gegenwart Gottes lebt ist unglücklich, ja er ist in der Hölle. Da gibt es keinen Frieden, kein Gerechtigkeit, keine Liebe.

Liebe kann Leiden bringen wenn sie nicht beachtet wird. Liebe leidet. Liebe leidet mit sich und mit anderen.

Mitleiden – Leiden

Darauf kommt es an. Wir Menschen brauchen einander. Wir sind aufeinander angewiesen. Wir leben zusammen in Freude und Leid.

Der Rechtsgelehrte antwortet Jesus, dass der Nächste derjenige ist, der mit dem unter die Räuber gefallenen Mitleid hatte. Jesus antwortet damals wie heute:

„Gehe hin und handele ebenso!“

 

Perikope
30.08.2015
10,25-37

Alles Tun ist Antwort - Predigt zu Lukas 10, 25-37 von Søren Schwesig

Alles Tun ist Antwort - Predigt zu Lukas 10, 25-37 von Søren Schwesig
10, 25-37

Alles Tun ist Antwort

Liebe Gemeinde,

wir werden heute in einen gelehrten Disput verwickelt. Es geht um nichts weniger als den Sinn des Lebens. Um ewiges Leben. Aber dieses Gespräch zwischen einem uns unbekannten Schriftgelehrten und dem anderen Schriftgelehrten, den wir schon besser kennen, ist merkwürdig abstrakt. Jesus wird gefragt nach dem Sinn des Lebens. Er gibt keine fertige Antwort, sondern gibt die Frage zurück: „Wo würdest du eine Antwort suchen auf diese Frage nach dem Sinn des Lebens?“ Und der Schriftgelehrte antwortet in der einem frommen Juden einzig möglichen Weise, nämlich mit den Worten der Schrift:

25  Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was Muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? 26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? 27 Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18).  28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.

Richtig hat er geantwortet, unser Schriftgelehrter. Auch wir kennen diese Antwort. Wir lassen sie unsere Kinder im Konfirmandenunterricht lernen als Zusammenfassung aller Gebote. Wir lehren, dass die Liebe zu Gott und dem Nächsten allein zu einem sinnvollen Leben führen kann. Zu einem Leben, das über den Tod hinausgeht. Richtig hat er geantwortet, unser Schriftgelehrter.

Aber das Gespräch zwischen den beiden bleibt merkwürdig abstrakt. Es herrscht gelehrsame Distanz zwischen den beiden und auch zwischen den beiden und dem Thema, das sie besprechen. Dabei geht es doch um den Sinn des Lebens, das ewige Leben.

Also bohrt der Gesprächspartner Jesu weiter. Er will es genauer wissen und will vor allem wissen, was dieses Bibelwort für ihn bedeutet. Und so fragt er weiter an der einzig möglichen Stelle, die eine Nachfrage erlaubt. An der einzig möglichen Stelle, die einen Platz für ihn als Person hat. An dieser Stelle fragt er nach.

29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? 30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. 31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. 32 Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. 33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; 34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. 35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.

36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? 37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

Was jetzt folgt ist Schweigen. Nachdenken. Eine Geschichte, die an Eindeutigkeit nun wirklich nicht mehr zu überbieten ist. Und es arbeitet in dem frommen Mann. Er sucht nach seiner Rolle in der Geschichte. Wäre ich dem Überfallenen zur Hilfe geeilt - wissend wie Priester und Levit, dass man sich vor und nach dem Tempeldienst nach dem Gesetz Gottes nicht mit Toten oder Halbtoten verunreinigen darf? Hätte ich es diesem nicht rechtgläubigen Samaritaner zugetraut, dass er zu einem solchen Liebeswerk fähig ist? Es arbeitet in dem frommen Mann.

Überrascht hat ihn, dass Jesus am Ende der Geschichte seine eigene Frage umdreht. Jesus fragt nicht mehr: „Wer ist dein Nächster?“ Nein, er fragt: „Wer ist wohl dem unter die Räuber Gefallenen zum Nächsten geworden?“ Auch das macht ihn nachdenklich. Aber die Antwort ist klar. Daran ist nicht zu rütteln: Dem Überfallenen wurde der zum Nächsten, der sich seiner erbarmte. Den das Schicksal des Geschlagenen nicht kalt ließ, der half, wo es nötig war.

So weit, so gut: „So geh hin und tue desgleichen!“

Wir hören diese Aufforderung 2000 Jahre später. Und haben einen Arbeiter-Samariter-Dienst, ein diakonisches Netzwerk, einen Sozialstaat aufgebaut, der sich kümmert um all die, die in Not geraten sind. So weit, so gut. Wir haben die Geschichte verstanden.

Aber, haben wir auch schon einmal die andere Perspektive versucht? Vermögen wir es wegzukommen von der relativ engen Frage, wie weit mein Radius der Nächstenliebe geht? Was ich selbst tun muss, was ich an einen sozialen Dienst delegieren kann und ob nicht dringend wieder einmal ein Spende für die unter die Räuber Gefallenen nötig wäre?

Vermögen wir wegzukommen von der Distanz des Schriftgelehrten, die wir schon so sehr verinnerlicht haben und mit der die Antworten so leicht von den Lippen gehen?

Lassen sie uns einmal die Perspektive wechseln. Versetzen wir uns in den hinein, der unter die Räuber gefallen ist und verzweifelt nach Hilfe schreit. Einmal mit den Ohren des Überfallenen hören, sein Herzklopfen spüren, das Wechselspiel von Hoffnung und Enttäuschung, Bangen, ob nicht doch einer hört und sieht und hilft.

Da gerät die alleinerziehende Mutter mit ihrem Job unter die Räder der wirtschaftlichen Rezession. Die Firma macht pleite, sie verliert die Arbeit und versucht verzweifelt, sich und ihre beiden Kinder nicht an den dürftigen Tropf der Sozialhilfe hängen zu müssen. So schreibt sie unzählige Bewerbungen und versucht eine neue Stelle zu finden und ruft und schreit und ist verzweifelt, weil von allen eine Absage kommt. „Tut uns leid, aber wir haben zwingende Gründe, warum wir nicht helfen können!“

Eine andere Frau ist ganz anders unter die Räuber gefallen. Auch sie stöhnt und ruft verzweifelt. Sie stöhnt unter der Last, dass sie als Lehrerin immer größere Klassen unterrichten muss, dass die Kinder immer schwieriger werden. Dass das ganze Engagement, einen interessanten und ansprechenden Unterricht zu gestalten, nicht in Stunden zu zählen ist, aber doch so wenig anerkannt wird. Auch sie liegt geschlagen am Wegrand. Die Arbeit erschlägt sie und alle gehen vorbei. Keiner mag das verstehen. Sie eilen weiter und sagen: „Sei froh, dass du Arbeit hast. Andere haben’s auch nicht leicht!“

Und die Dritte hat ein Kind verloren. Es war noch nicht geboren. Ganz klein, noch kaum zu sehen. Aber es war ihr Kind. Ihr geliebtes Kind, auf das sie sich gefreut hat. Ein Teil von ihr. Und es durfte nicht leben. Sie ist verzweifelt, untröstlich über den Verlust, geschlagen, verletzt, ins Mark verletzt. Und die Menschen gehen an ihr vorbei und sagen: „Das kommt vor. Vielleicht bekommst du ja noch ein Kind. Nimm’s doch nicht so schwer.“ Und gehen alle an ihr vorbei und lassen sie liegen am Wegrand und bleiben ihr fern, so unendlich fern. Hilft denn niemand?

Doch. Einer kommt nahe. Es jammert ihn. Er leidet im Innersten mit. All der Schmerz, der nicht heraus darf, all die Verzweiflung, die keiner versteht. Er beugt sich herab, wischt die Tränen ab, verbindet die Wunden.

Martin Luther schreibt: „Darum gibt’s nur einen Samariter, durch den allein werden wir gesund, durch ihn bekommen wir Öl und Wein, und wenn wir gesund geworden sind, so üben wir Liebe.“

In vielen Situationen unseres Lebens gibt es für uns nur einen Samariter, der unsere innerste Not kennt und hilft: Jesus Christus. Gott sei Dank, gibt es diesen Samariter. Gott sei Dank gibt es ihn, der nicht danach fragt, warum ich hier liege, wer und was mir zugesetzt hat. Er fragt nicht, ob ich nicht irgendwie doch selbst Schuld bin an meiner Situation und verabreicht nicht die üblichen Trostpflästerchen: Nimm’s nicht so tragisch. Es kommen wieder bessere Zeiten!

Nein, dieser Samariter kommt ganz nahe, beugt sich zu mir herunter, blickt ins Herz und sieht all die verborgenen Wunden, die das Leben geschlagen hat. Er verbindet sie und bringt mich weg vom finsteren Wegrand an einen sicheren Ort. Dort kann ich aufatmen, sein, wer ich bin, in Ruhe genesen. Und mein Samariter garantiert mir einen sicheren Platz im Haus des Vaters.

„Darum gibt’s nur einen Samariter, durch den allein werden wir gesund, durch ihn bekommen wir Öl und Wein, und wenn wir gesund geworden sind, so üben wir Liebe.“

Ich habe einen sicheren Ort gefunden, die Wunden sind verbunden, ich bin gerettet – all das macht alles Weitere leicht. Weil es mir leicht ums Herz geworden ist, weil in meinem Herzen eigentlich nur noch Dankbarkeit ist, gehe ich heraus, werde dem zum Nächsten, der mich braucht: „Und wenn wir gesund geworden sind, so üben wir Liebe.“

Ich, der ich mich selbst als Geretteten begreife, tue mich leichter, denjenigen zu erkennen, der jetzt im Augenblick meine Hilfe braucht.

Vielleicht sind es die Kinder, für die eine Mutter ohne Arbeit und mit wenig Geld viel wichtiger und wertvoller ist als eine verzweifelte und in ihrem Selbstwertgefühl zutiefst erschütterte Mutter.

Vielleicht ist es eine ausländische Schülerin, die die Rückendeckung und Unterstützung der Lehrerin braucht, weil sie sonst keine hat.

Vielleicht sind es andere Mütter, die es nicht wagen, über ihre verlorenen Kinder zu reden und das Leid um das nicht geborene Leben tief in sich vergraben haben.

Alles Tun, das meinem Gerettet-Sein entspringt, alle Liebe, die aus meinem Geliebt-Werden entsteht, ist Antwort auf das, was ich erfahren habe.

Es gibt so viele, denen wir zum Nächsten werden können. Aber versuchen wir sie nicht krampfhaft zu finden. Denn dann wäre die Gefahr groß, dass auch wir vorübergehen, indem wir unser soziales Gewissen beruhigen mit einer Spende für Brot für die Welt oder einem Besuch im Altenheim oder einem sozialen Jahr in einer Behinderteneinrichtung. Manchmal gehen wir an denen, die uns brauchen, tagtäglich vorüber und bemerken ihre Hilferufe nicht. Denn alles andere ist wichtiger. Aber meistens, gehen wir direkt an ihnen vorbei.

Ich wünsche uns Augen und Ohren, die die kleine und große Not sehen. Ich wünsche uns Augen und Ohren für Menschen, die gerade auf unsere Hilfe warten. Manchmal sind es ganz nahe Menschen, in der eigenen Familie und im eigenen Freundeskreis. Und manchmal sind es ganz Fremde und Ferne.

Dafür gibt es keine Regel, wer heute oder morgen oder übermorgen mein Nächster ist. Aber dass es auf unserem Weg durchs Leben immer wieder Menschen gibt, die uns brauchen und denen wir Nächste oder Nächster werden können, daran besteht kein Zweifel.

Aber vergessen wir nie: Wir finden sie nur und verstehen sie nur und kommen ihnen auch dann nur wirklich nahe, wenn wir getragen sind von der tiefen Erfahrung, dass einer uns nahe gekommen ist, uns vor dem Verderben und sicheren Tod gerettet hat, uns einen sicheren Ort teuer erkauft hat und wir im Haus dem Vaters wohnen dürfen heute und allezeit.

„Darum gibt’s nur einen Samariter, durch den allein werden wir gesund, durch ihn bekommen wir Öl und Wein, und wenn wir gesund geworden sind, so üben wir Liebe.“

Amen.

Perikope
30.08.2015
10, 25-37

Zu Gott stehen - Predigt zu Lukas 18,9-14 von Matthias Wolfes

Zu Gott stehen - Predigt zu Lukas 18,9-14 von Matthias Wolfes
18,9-14

Zu Gott stehen

„Er (Jesus) sagte aber zu etlichen, die sich selbst vermaßen, daß sie fromm wären, und verachteten die andern, ein solch Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, zu beten, einer ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst also: Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich habe. Und der Zöllner stand von ferne, wollte auch seine Augen nicht aufheben gen Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus vor jenem. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“ (Jubiläumsbibel 1912)

Liebe Gemeinde,

„ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die anderen Leute“. Diese Worte richten unsere Abneigung von vornherein auf den Sprecher, den Pharisäer. Wenn dann der andere, der Zöllner (oder auch „Steuerpächter“), spricht: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ und sich dabei selbstanklagend an die Brust schlägt, dann ist klar, wie sich die Dinge verhalten. Jesu Schlußwort ergibt sich einfach aus der Sache selbst, und wir hören es mit Befriedigung: „Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden. So soll es sein in der Welt. Das wäre „gerecht“, und wir würden doch wohl gerne folgen, wenn uns einer eine Wirklichkeit in Aussicht stellte, in der es sich so verhält.

Jesus verkündigt genau diese Lehre. Am Ende der Zeiten – oder vielleicht auch schon früher, je nachdem, wie man die Dinge betrachtet – wird ein Zustand definitiver Gerechtigkeit herrschen. Dann wird die furchtbare Asymmetrie aufgehoben sein, die darin besteht, daß es denen gut geht, die sich am meisten nehmen, während alle darben, die nicht zuerst und zuletzt ihr eigenes Interesse im Auge haben. Dann wird vielmehr derjenige obenauf sein, der sich seiner Unzulänglichkeit bewußt war, der deshalb auch den Anderen sehen konnte und sich nicht vor ihm „erhöht“ hat.

Das ist die christliche Verheißung, und sie bildet den Rahmen unseres heutigen Bibelabschnittes. Man muß aber doch vorsichtig sein. Die Erzählung scheint uns an sich eine einfache Geschichte zu sein, die jeder gleich versteht und deren Wahrheit allen einleuchtet. Wir sollten uns aber hüten, sie für gar zu einfach und ihre Wahrheit für gar zu selbstverständlich zu halten.

Nun ist wohl allerdings kaum zu bezweifeln, daß das Gleichnis in eine bestimmte Richtung zielt. Es handelt sich darum, worin sich die beiden Personen eigentlich unterscheiden, und die Antwort lautet: im Gebet, in der Art und Weise, wie sie sich an Gott wenden. Dieser Frage wollen wir nachgehen. Zunächst aber möchte ich doch wenigstens ein ganz Geringes zu dem Stichwort „Pharisäer“ sagen.

I.

Es ist inzwischen bereits vielfach darauf hingewiesen worden, daß die Pharisäer im Neuen Testament einen zu schweren Stand haben. Ihre dortige Darstellung ist stark von Interessen der Abgrenzung bestimmt, und zwar wohl deshalb, weil sich die christliche Mission zum Zeitpunkt der Niederschrift der Evangelien bereits von den Juden ab- und den „Heiden“ zugewandt hatte. Unter diesen Umständen war es vorteilhaft, ein möglichst negatives Bild vom Judentum zu zeichnen. Die Pharisäer geraten dabei zu einer Karikatur. Ihre tatsächliche Bedeutung für die Entwicklung der jüdischen Religion, für ihr Bestehen in der Zerstreuung, der Diaspora, wird nicht einmal annähernd erkennbar.

Es ist ja zum Glück sehr leicht, sich ein zutreffenderes Bild von dieser hochwirksamen, äußerst bedeutsamen Bruderschaftsbewegung zu machen. Ihre vernünftige, durch und durch praktische Gestaltung des Glaubens steht derjenigen Jesu gar nicht so fern, wie Jesus selbst sich ja auch durchaus an dieser oder jener pharisäischen Gesetzesauslegung orientiert hat. Die zornsprühenden Reden Jesu, die die Evangelien berichten, dürfen wir uns jedenfalls nicht einfach zueigen machen, wenn wir wirklich etwas Trifftiges über die Pharisäer erfahren wollen. Daß die Judenheit zu einer unzerstörbaren Gemeinschaft geworden ist, daß die Gemeinde – und nicht Priester und Leviten – als Trägerin der Religion gilt und auch daß im Judentum viel stärker als im Christentum zwischen Religion und Magie unterschieden wird – alles dies wäre ohne pharisäischen Einfluß undenkbar.

II.

Wie aber werden nun in unserer Erzählung die beiden Figuren, der Pharisäer und der Zöllner, einander gegenübergestellt? Der entscheidende Punkt ist: Von welchem religiösen Innenleben geben die beiden unterschiedlichen Haltungen Zeugnis?

Der Gegensatz besteht in zwei völlig verschiedenen Weisen, sich an Gott zu wenden. Dabei besteht das Besondere weniger in dem „Erlebnis“-Gehalt rein an sich. Für ihn werden sich immer Begriffe und Formeln finden lassen, die sie einander ähnlich machen. Es besteht vielmehr in der Vorstellung von dem Gott, der als Adressat der jeweiligen Mitteilungen gedacht wird. Beide, der Pharisäer und der Zöllner, sind in unserer Erzählung Repräsentanten von Vorstellungen Gottes, und zwar solcher Vorstellungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

III.

Wir nehmen also in diesem Sinne den Pharisäer und den Zöllner jeweils als Vertreter einer bestimmten Haltung Gott gegenüber. Der Pharisäer steht für denjenigen Typ, der sich Gottes bemächtigt. Für ihn ist klar, daß Gott eine Gestalt wie den Zöllner nur disqualifizieren kann. Es fehlt dem Pharisäer daher nicht nur an Demut in sozialer Hinsicht, sondern auch an religiöser Demut. Sie mangelt ihm dem Gott gegenüber, der die Freiheit hat, auch dem Sünder sein Wohlgefallen zuzuwenden. Er nimmt damit aber Gott überhaupt die Freiheit.

Demgegenüber der Zöllner: Er wendet sich vertrauensvoll an Gott, er erniedrigt sich vor ihm, und es käme ihm nicht in den Sinn, Gott in seiner unverfügbaren Freiheit begrenzen zu wollen. Dabei wollen wir wohl beachten, daß solche Selbsterniedrigung, solche Demut vor Gott, nicht bedeutet, daß man die eigene Person entwertet und das eigene Herz notwendig „in Blut schwimmen“ muß. Man muß sich nicht scheuen, in der Ich-Form zu sprechen, wenn man sich Gott zuwendet. Das Ich-Sagen ist nicht moralisch verwerflich. Der Zöllner steht dafür, daß eine realistische Sicht auf sich selbst selbstbewußt und mutig machen kann. Man ist imstande, in die eigenen Abgründe zu schauen und Schuld, die man selbst trägt, nicht auf andere zu projizieren.

Das sind sehr krasse Differenzen im jeweiligen Gottes- und im Selbstbild. Sie treten nun in unserer Erzählung vor allem in der Weise hervor, wie die beiden jeweils als Betende vor Gott treten. Der Pharisäer schreibt Gott im Grunde nur die Bestätigung des Bildes vor, das er von sich hat. Er „dankt“ ihm dafür, daß er so ist wie er ist, nämlich anders als die anderen. Und er erklärt Gott überdies, weshalb er auf eine solche Bestätigung auch alles Recht habe, denn seine Erfüllung des Gesetzes ist tadellos und ohne Lücken.

Signifikant für die vollkommen andere Haltung des Zöllners ist dann zunächst einmal die Angabe, dieser befinde sich „weit entfernt“ und wage „auch nicht einmal, die Augen zum Himmel zu erheben“. Sein Gebet ist nicht, wie beim Pharisäer, geforderte Nähe zu Gott, sondern es ist Ausdruck seiner Sehnsucht nach ihr. Es ist konzentriert auf die eigene prekäre Stellung vor Gott, ohne sich mit anderen zu vergleichen. Der Zöllner setzt sich nicht in Szene, sondern er ruft – als ein Mensch ohne Ehre – den befreienden Gott an. Er spricht zu einem barmherzigen Gott. Er rechnet damit, daß Gott sich auch ihm, allem zum Trotz, zuwenden kann. Sein Gott ist ein freier Gott.

Und hier nun wird vollends klar, worum es in der Erzählung wirklich und am Ende geht: Es geht darum, daß wir in der Erkenntnis Gottes immer auch uns selbst erkennen. Indem wir uns an Gott wenden, sprechen wir uns so aus, wie wir wirklich sind. Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis gehen Hand in Hand.

Im Gebet kommt es eben zutage, ob der Mensch weiß, wie er zu Gott steht, oder ob er es nicht weiß. Es kommt zutage, ob er in seinem Wesen hochmütig ist oder ob er sich wahrhaft selbst zu sehen imstande ist. In einem Wort: Im Gebet stellt sich heraus, ob einer sich selbst kennt oder ob er sich über sich selbst betrügt. Für den aber, der glaubt, ist solche wahrhaftige Selbsterkenntnis kein Anlaß zur Verzweiflung. Denn er setzt auf den barmherzigen Gott, auf den Gott, der ihm nahe ist und auf dessen Beistand er vertraut.

Amen.

Literatur:

Rudolf Bultmann: Lukas 18, 9-14 (4. August 1940), in: Ders.: Marburger Predigten. Zweite Auflage, Tübingen 1968, 107-117.

Thomas Popp: Werbung in eigener Sache (Vom Pharisäer und Zöllner), in: Ruben Zimmermann (Hrsg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 681-695.

 

Perikope
16.08.2015
18,9-14

Pharisäer und Zöllner - Predigt zu Lukas 18,9-14 von Matthias Riemenschneider

Pharisäer und Zöllner - Predigt zu Lukas 18,9-14 von Matthias Riemenschneider
18,9-14

Pharisäer und Zöllner

Lieder: 166, 1-4;  299, 1-5;  395, 1-3;  NL 33, 1-3+5
Psalm  1 (EG 702)
Lesung: 2. Sam 12, 1-12
Predigttext: Lukas 18, 9-14:

9Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis:
10Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.
11Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.
12Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.
13Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!
14Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

Liebe Gemeinde,

dieses Gleichnis ist an „einige Leute“ gerichtet, die sich selbst anmaßen, fromm zu sein und daraus das Recht ableiten, andere Menschen abzuwerten. Wollen wir dieses Gleichnis recht verstehen und seinem Sinn auf die Spur kommen, dann sollten wir die anderen Leute nicht woanders suchen, sondern uns selbst in ihnen erkennen. Jesus erzählt dieses Gleichnis so, als wären wir heute seine Zuhörer.
Liebe Gemeinde von Benningen,
da gingen einst zwei Menschen in den Tempel, um zu beten. Zufällig zur gleichen Zeit. Sie kannten sich vorher nicht. Wir wissen auch nicht, wer diese Menschen waren oder wie sie hießen. Das spielt auch keine Rolle.
Wichtig ist in unserer Geschichte, wofür diese Menschen stehen. Und die waren nicht nur damals in Jerusalem stadtbekannt, sondern könnten auch in unserer Zeit  - unter ganz andren äußeren Bedingungen – aber doch mit den gleichen Zuschreibungen unter uns leben.

Der Pharisäer, das ist für uns der Heuchler und Hochmütige. Der, der fromm tut und sich selbst über andere Menschen erhebt. Zu seiner Zeit freilich haben die Leute über den Pharisäer ganz anders gedacht: er war gebildet, konnte lesen und schreiben und kannte sich daher in den religiösen Schriften aus. Er war aber nicht nur religiös aktiv, hielt alle Gesetze und Gebote peinlich genau ein, sondern er war auch in sozialen Fragen des Gemeinwesens aktiv, spendete regelmäßig einen Teil seines Einkommens und nahm sich der Armen in der Stadt an. Kurz und gut: er war ein von vielen geachteter Mann.

Der Zöllner dagegen stand am genau entgegengesetzten Ende der Jerusalemer Gesellschaft. Als jemand, der mit der römischen Besatzungsmacht zusammenarbeitete, wurde er von den meisten Menschen gemieden und verachtet. Und nicht nur, dass er mit fortgesetztem Landesverrat sein Geld verdiente, machte ihn bei den Menschen unbeliebt, sondern auch, weil  er mit willkürlich überhöhten Tarifen ganz kräftig in die eigene Tasche wirtschaftete. Betrug und Korruption sind die Begriffe, die sich mit dem Zöllner verbinden.
Ganz anders ist die Beurteilung bei uns, die wir unter diesem korrupten Verhalten nicht mehr leiden müssen. Wir empfinden eher so etwas wie Bewunderung für den Witz und die Findigkeit, mit der die Zöllner den Weg zu Jesus suchen, oder auch die Ehrlichkeit, mit der sie ihre Verzweiflung vor Gott bekennen.

Diese beiden ganz ungleichen Menschen, der Fromme und der Lump, sind nun in den Tempel gegangen, um das gleiche zu tun: nämlich zu beten.
In ihrem Gebet stellen sie sich selbst vor Gott dar, und sprechen aus, was sie bedrückt. In dieser Zwiesprache mit Gott suchen sie Gewissheit über sich zu erlangen. Und dabei unterwerfen sie sich der gleichen Norm.

Auch wir sind heute Morgen zum Gottesdienst gekommen, um zu Gott zu beten und auf sein Wort zu hören. Zwar sind wohl nur wenige von uns, so nehme ich mal an, so gut, so ehrbar und anerkannt wie jener Pharisäer. Aber es sind wohl auch nur wenige unter uns, die sich als so abstoßend wie jener korrupte Zöllner empfinden. Doch irgendwo dazwischen liegt wohl für jeden von uns die Mischung, die er selbst darstellt: teils ein Pharisäer, teils ein Zöllner, manchmal überheblich über andere, manchmal niedergeschlagen und über sich verzweifelt. So sind wir bekannt, anderen und uns selbst. Aber wer sind wir wirklich? Wer kennt wirklich das Innerste unserer Seele?

Ich möchte mit ihnen in dieser Predigt einen Weg der Erkenntnis nachgehen. Einer Erkenntnis, die die beiden beim Beten über sich erlangten.

Die erste Szene: Der Pharisäer tritt auf:
„Pharisäer“ – dieser Begriff passt nicht mehr in unsere Zeit. Zu fest sind die Bilder in unseren Köpfen verhaftet, was ein Pharisäer ist. Ich möchte ihn daher einfach den „untadeligen Menschen“ nennen.
Der untadelige Mensch geht in den Tempel, ein Dankgebet zu sprechen. Er betet erhobenen Hauptes, mit ausgebreiteten Armen, so wie es damals in Israel üblich war. So, wie er sich aufstellt und sich darstellt, sieht man ihm an, dass er nichts zu verbergen hat. Er hat seinen Lebensentwurf realisiert. Es ist ihm nicht leicht gefallen. Das, was er hat, das hat er sich erarbeitet. Und das, was er ist, dafür hat er an sich gearbeitet. Aber er hat auch gelernt, von dem seinen herzugeben: er fastet und gibt einen Teil seines Einkommens für soziale Zwecke.
Bei allem, was er erreicht hat, ist er nicht selbstgefällig. Er weiß auch, dass er aus eigener Kraft das Gebäude seines Lebens nicht hätte errichten können. Deshalb dankt er Gott, heute und auch bei anderen Gelegenheiten. Vielleicht betet er auch öfter mit Worten des 1. Psalms, so wie wir zu Beginn unseres Gottesdienstes ihn gebetet haben: „Der Herr kennt den Weg der Gerechten, aber der Gottlosen Weg vergeht.“

Aber wer ist er, dieser untadelige Mensch? Darauf vermag er nichts zu sagen! „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.“ (V. 11)
Er sagt nicht, wer er ist, sondern nur, wer er nicht ist. Das ist, so finde ich, doch ziemlich dürftig.
Wer Gott nur für all das danken kann, was er nicht ist, der kann lange reden und erfährt doch nie etwas über sich selbst. Und wer nur solch eine negative Identität besitzt, der braucht andere Menschen als Schreckfiguren, von denen er sich absetzen kann. Weil er keine Gewissheit in sich selbst gefunden hat, muss er die anderen Menschen klein machen, um selbst als groß zu erscheinen. Anstatt, dass dem untadeligen Menschen jener korrupte Zöllner leid täte, benutzt er ihn noch als Fußabtreter, um sich noch besser erhöhen zu können.

Zu etwas positivem kommt er erst, als er von seiner Person ablenkt und auf seine Werke weisen kann. „Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.“
Das macht schon etwas her. Ich glaube, davon können wir reichen Wohlstandsbürger uns etwas abschneiden. Zweimal fasten und zehn Prozent des Einkommens - das wäre ein Lastenausgleich zwischen den Reichen und Armen in unserem eigenen Land – und zwischen den Völkern auf dieser Erde. Damit könnte man Wüsten bewässern, Slums aufräumen und Krankenhäuser und Schulen bauen. Zweimal fasten und zehn Prozent des Bruttolohns (also zuzüglich zu der Steuerlast)  - das wäre der neue Lebensstil für glaubwürdiges Christentum.
Doch - halt! Ist unser guter Mensch wirklich so wohltätig, wie er uns auf den ersten Blick erscheint? Oder gibt er nur von den Dingen ab, die er sowieso im Überfluss hat? Großzügige Geschenke, die ohne menschliche Wärme gegeben werden, haben einen bitteren Beigeschmack. Sie können den, für den sie gedacht sind, auch demütigen. Was nützt es, wenn einer viel hat und viel gibt, wenn über den materiellen Geschenken die menschlichen Kontakte zu kurz kommen?

Die zweite Szene: Der Zöllner tritt auf:
Auch ihn möchte ich nicht mehr Zöllner nennen. Durch die lange Tradition christlichen Mitleids ist dieser Zöllner schon zum Prototyp des reuigen Sünders geworden. Ich möchte ihn einfach den „selbstbezogenen Menschen“ nennen. Alle seine Reue kann schließlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ein durch und durch korrupter Schuft ist. Mitleid ist hier fehl am Platze.
Also: der selbstbezogenen Mensch tritt auf. Man sieht ihn allerdings kaum. Er steht abseits und „von ferne“, so wie Luther übersetzt. Er tritt nicht ins Rampenlicht, so wie die untadeligen Menschen, sondern bleibt im Zwielicht stehen. Und dort gehört er auch hin.
Er wagt nicht zum Allerheiligsten aufzusehen. Er hat dazu auch keinen Grund. Er dankt Gott nicht mit offenen Händen. Sie sind auch zu schmutzig. Er steht vor den Trümmern seines Lebens. Sein Lebensentwurf ist gescheitert. Obwohl er reich ist, hat er an seinem Leben keine Freude mehr.

Er ruft: „Gott, sei mir Sünder gnädig.“ Damit sagt er die volle Wahrheit über sich. Denn ein Sünder, ein selbstbezogener Mensch ist er, vor Gott, vor dem Gesetz, vor den Normen seines Volkes und vor sich selbst. Er unternimmt gar nicht erst den Versuch, sich mit der einen oder anderen guten Tat - die er sicherlich auch mal getan hat - in ein gutes Licht zu rücken. Wenn diesem schlechten Menschen noch jemand gnädig sein kann, dann ist es nur noch Gott.

Was hat dieser selbstbezogene Mensch zu bieten? Weder gute Taten noch Selbstbewusstsein! Darum bleibt ihm nichts anderes als sein verkorkstes Leben. Sonst nichts.
Ich denke das ist schon ausreichend! Er bekennt sich zu allen seinen Taten und Untaten. Er nimmt alles auf sich und bekennt sich damit zu sich selbst. Und damit gewinnt er bei aller Selbstbezogenheit eine positive Identität seiner Person, eine Gewissheit über sich. Er macht nicht andere schlecht, um sich selbst herauszustellen. Er kommt sofort auf sich selbst zu sprechen. „Gott, sei mir Sünder gnädig.“
Wer so spricht, der ist ehrlich. Und wer so spricht, gibt Gott Recht. Indem dieser selbstbezogenen Mensch sich selbst einen Sünder nennt und Gott um seine Gnade bittet, gibt er Gott gegen sich selbst recht und vertraut darauf, dass Gott gnädig ist und nicht eine Instanz, die alle Untaten peinlichst genau bestraft.

In seinem Gebet zu Gott erkennt sich der Zöllner als der Mensch, der er ist, aber nicht sein möchte. In dem göttlichen Urteil, dass Jesus über ihn ausspricht, wird er gerechtfertigt. Das ist eigentlich mehr als die Gnade, um die er Gott gebeten hat.

Dritte Szene und Schluss:
Der das Gleichnis erzählt, tritt auf und urteilt. Jesus leitet seinen Richtspruch mit feierlichem Gewicht ein: „Ich aber sage euch ...“ Jesus urteilt hier im Namen Gottes selbst.
Um sein Urteil richtig verstehen zu können, muss man beide Personen, den untadeligen und den selbstbezogenen Menschen zusammen betrachten. Wir haben sie ja zuerst alleine betrachtet, jeden für sich. Das ist streng genommen nicht ganz richtig. Beide stehen zur gleichen Zeit im Tempel. Sie sind auch voneinander abhängig. Wenn man nur auf jede einzelne Person sieht, zerstört man das Gleichnis. Pharisäer und Zöllner sind aber in Wahrheit zwei Pole ein und derselben Gesellschaft. Sie gehören zusammen und sind auch voneinander abhängig. Der eine steht auf der guten Seite der Gesellschaft, der andere auf der schlechten Seite. Und der Pharisäer, unser untadeliger Mensch kann auch nur deshalb ein Pharisäer, ein Abgesonderter sein (wie die Bezeichnung übersetzt heißt), weil auf der anderen Seite ein selbstbezogenen Mensch, ein Außenseiter und Krimineller steht.

Den selbstbezogenen Menschen führt das Gebet zu einer Erkenntnis seiner selbst. Und in dieser Selbsterkenntnis liegt für ihn auch eine neue Gotteserkenntnis: das Gott als der gnädige Gott Vater der Barmherzigkeit ist.
Der untadelige Mensch hingegen erkennt im Gebet, dass Gott kein Gott ist, der sich nur durch Werke zufrieden stellen lässt. Jesu Richtspruch nötigt ihn dazu, umzudenken und zu einer neuen Gotteserkenntnis zu gelangen. Zu dieser Gotteserkenntnis gehört auch die Erkenntnis des eigenen Ichs. So endet für beide ihr Gebet mit einer Überraschung: der eine bekommt mehr als er erbittet; der andere erfährt etwas über sich, obwohl er danach nicht suchte.

Und wir als die Hörer dieser Geschichte? Wir werden auch überrascht! In uns schlummert beides: ein Pharisäer und ein Zöllner, ein untadeliger und ein selbstbezogener Mensch. Die Befreiung aus dieser Doppelexistenz können wir uns nicht einfach mit einem Gebet oder vorbildlichem Verhalten erkaufen. Sie haftet uns einfach an, eben weil wir Menschen sind. Aber als diese Menschen sind wir bei Gott gerechtfertigt.   

Amen.

 

Literatur:

Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. Der Hohepriester-der Zöllner-die Sünderin, Gütersloh 1985.

Jürgen Moltmann, Pharisäer und Zöllner; in: ohne Macht mächtig, München 1981.

 

Perikope
16.08.2015
18,9-14

Predigt zu Lukas 18,9-14 von Martina Janßen

Predigt zu Lukas 18,9-14 von Martina Janßen
18,91-14

I. Wie heißt es doch so schön: Hochmut kommt vor dem Fall! In der Geschichte vom Pharisäer und Zöllner scheinen die Rollen klar verteilt zu sein: Der Hochmütige und der Demütige, der Schlechte und der Gute, Schwarz und Weiß. Da ist der fromme Pharisäer, der Gott dafür dankt, dass er kein Sünder wie die anderen ist und für diesen Hochmut bei Gott in Ungnade fällt. Und da ist der sündige Zöllner, der voller Demut Gott um Erbarmen anfleht. Er ist derjenige, für den die Geschichte gut ausgeht. „Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“ (Lk 18,14). Die Moral von dieser Geschichte sollten sich die allzu Frommen und die allzu Selbstsicheren mal hinter die Ohren schreiben! Gott ist nicht auf der Seite der 150-Prozentigen, er ist nicht auf der Seite der religiösen Spießer und Streber; die andern hat er lieber. Das hör ich gern, denn ich fühle mich auf der richtigen Seite. Ich habe ja auch meine Fehler und kleinen Sünden und würde mich nie so weit aus dem Fenster lehnen wie dieser Pharisäer: Wie kann man nur so hochmütig sein?! Doch Vorsicht: Die Moral von der Geschicht‘ – so einfach ist die nicht. Dafür hatte der Dichter Eugen Roth ein sicheres Gespür. „Ein Mensch betrachtete einst näher / die Fabel von dem Pharisäer, / der Gott gedankt voll Heuchelei / dafür, dass er kein Zöllner sei. / Gottlob! rief er in eitlem Sinn, / dass ich kein Pharisäer bin!“ Merken Sie es? Schon ist es passiert. So leicht kann man in die Falle tappen. Eh man sich versieht, sind die Rollen vertauscht. Wer mit dem Finger auf Heuchler zeigt, wird schnell selbst zu einem. Also noch mal von vorn, schauen wir genauer hin – auf die Geschichte vom Pharisäer und Zöllner und auf uns selbst.

II. „Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner“ (Lk 18,10). Fangen wir beim Pharisäer an. Er ist ein frommer Mensch. Glauben wir ihm mal, dass er tut, was er sagt. „Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme“ (Lk 18,12). Glauben wir ihm mal, dass er wirklich fromm ist. Das ist zweifelsohne gut und das gefällt Gott. Auch dagegen, dass der Pharisäer das stolz von sich sagt, ist nichts einzuwenden. „Tu Gutes und sprich darüber“. Warum auch nicht? So weit, so gut. Aber der Pharisäer sagt noch etwas anderes: „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner“ (Lk 18,11). Das allerdings klingt nicht gut in Gottes Ohren. Um sich selbst mit noch mehr Ruhm zu bekleiden, stellt er den anderen bloß; um sich selbst groß zu machen, macht er den anderen klein. Und eh er sich versieht, macht er damit seine Frömmigkeit kaputt und all seine Heiligkeit wird zum eitlen Schein. Denn das Verhalten des Pharisäers ist nicht nur unfein – man muss denen, die am Boden liegen, nicht auch noch einen Tritt verpassen -, das ist nicht nur eitle Lästerei, selbstgerecht, herablassend, hochmütig oder ein wenig elitär - „der Pharisäer stand für sich“(Lk 18,11) – nein, was der Pharisäer tut, das ist viel schlimmer, der Stachel sitzt viel tiefer. Es ist die alte Sünde, das alte Spiel: Sein zu wollen wie Gott, sich selbst zu erheben, sich selbst gerecht zu sprechen und über andere den Stab zu brechen. Der Pharisäer überlässt das Urteil nicht Gott – weder das über sich noch das über andere. Damit ist er in die Falle getappt, damit hat der Teufel ihn. Der Pharisäer versündigt sich nicht nur gegenüber dem Zöllner, sondern auch gegenüber Gott, weil er an seine Stelle will. Die alte Sünde, das alte Spiel seit Adam und Eva. Dadurch wird der Allerfrömmste zum größten Sünder. Nun kann der Pharisäer sich wieder ganz hinten anstellen, direkt neben den Zöllner. „Der Sünder aber stand ferne…“(Lk 18,13).

III. „Ein Mensch betrachtete einst näher / die Fabel von dem Pharisäer, / der Gott gedankt voll Heuchelei / dafür, dass er kein Zöllner sei. / Gottlob! rief er in eitlem Sinn, / dass ich kein Pharisäer bin“ (Eugen Roth). Machen wir nun nicht den Fehler, den Pharisäer zu verurteilen, machen wir nicht den gleichen Fehler wie er. Statt mit dem Finger auf andere zu zeigen, fassen wir uns doch lieber an die eigene Nase! Lebt nicht in uns allen so ein Pharisäer? Da ist zu hören: „Wie kann man nur bei diesem Billigdiscounter einkaufen und die miesen Arbeitsbedingungen dort unterstützen; nachhaltig produziert ist die Ware da auch nicht. Ich bin nicht so verantwortungslos wie diese Leute, ich kaufe im Bioladen - fair trade, versteht sich.“ Schon ist es passiert. Schon bist du die Falle getappt, hast geurteilt über dich und den anderen – und vielleicht komplett danebengelegen. Ja, es ist gut, dass du dich für den Bioladen entscheidest; du kannst es ja auch. Doch die Rentnerin, die im Alter kaum über die Runden kommt, hat keine Wahl. Sie muss da einkaufen, wo es billig ist, ob sie will oder nicht. Was wirfst du ihr vor, dass sie sich ein gutes Gewissen schlichtweg nicht leisten kann? Oder der junge Mann, der kaum etwas über Produktions- und Arbeitsbedingungen weiß und dem jedes politisches Bewusstsein fehlt, weil es ihm nie jemand vorgelebt hat – Wer bist du, seine Schuld zu messen? Wie leicht kann man anderen Unrecht tun, wenn man zu selbstgerecht ist! In uns allen lebt so ein Pharisäer. „Wie kann man Kirche einfach nur konsumieren, so was Laues. Ich bin nicht so wie solche Leute; ich bin ein besserer Christ, engagiere mich, investiere meine Kraft und Zeit; gehöre seit Jahren zum harten Kern.“ Und schon ist es wieder passiert. Ja, es ist gut, dass du dich engagierst, aber weißt du wirklich, warum andere es nicht tun und so handeln wie sie handeln? Weißt du, welchen Kummer der hat, der nur ab und an den Gottesdienst besucht, der vielleicht kaum Kraft und Zeit findet, um den nächsten Tag zu überstehen? Mit welchem Recht forderst du mehr von ihm, als er geben kann? Wer mit dem Finger auf die Sünder zeigt, wird schnell selbst zu einem. Es ist gut, zu fasten und den Zehnten zu geben, es ist gut, ökologisch und fair einzukaufen, es ist gut, sich zu engagieren. Und das auch ab und an zu sagen. Tu Gutes und rede darüber. Aber man muss andere nicht im gleichen Atemzug klein machen. Solche Urteile stehen uns nicht zu, sie beweisen nicht unsere Gerechtigkeit, sondern können anderen Unrecht tun. Weißt du, warum der andere sündigt? Weißt du, wann du es selber tust? Warum überlässt du das Urteil nicht Gott?

IV. „Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner“ (Lk 18,10). Kommen wir zum Zöllner. Viele Worte macht er nicht. Er schweigt lieber, weil er kaum etwas Gutes über sich zu sagen weiß. In die Augen gucken kann er seinem Gott jedenfalls nicht - „und wollte auch die Augen nicht zum Himmel aufheben“ (Lk 18,13). Das ist traurig. Das gefällt Gott nicht. Man darf die Sünden des Zöllners nicht kleinreden, denn sie sind groß. Der Zöllner müsste etwas an sich ändern, das ist klar. Da könnte er sich ruhig an der Frömmigkeit des Pharisäers ein Beispiel nehmen. Doch bei allem, was der Sünder falsch macht - eins macht er richtig: Er überlässt das Urteil Gott und hofft auf sein Erbarmen. Das wiederum könnte der Pharisäer vom Zöllner lernen. Der Zöllner ist tateinsichtig; er weiß um seine Schuld. Da allein ist schon gut. Doch das ist nicht alles. Der Zöllner ist nicht fertig mit sich, sein Urteil steht nicht fest, da ist Platz für Gott und seine Gnade. „Gott, sei mir Sünder gnädig“ (Lk 18,13)! Diese Bitte zeigt, dass der Zöllner nicht mit sich, seinem Leben und seiner Schuld abgeschlossen hat, sondern sich zu Gott hin öffnet. Dadurch wird er kein Heiliger, gewiss, aber dadurch geht ein Riss durch seine Sünde. Es gibt eine Liedzeile von Leonard Cohen, da heißt es „There is a crack in everything, that’s how the light gets in“.  Da ist ein Riss in allem – durch ihn fällt das Licht ein. So ist es auch mit dem Zöllner und seiner Sünde. Er verdeckt sie nicht, schließt sie nicht ein, er bringt sie vor Gott. „Gott, sei mir Sünder gnädig! (Lk 18,13) – diese Bitte ist der Riss, der durch seine Sünde geht; diese Bitte ist der Riss, durch den das Leben des Sünders durchlässig für Gottes Gnade wird. Wegen dieser Bitte geht die Geschichte für den Zöllner gut aus. „Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus“ (Lk 18,14).

V. Hochmut kommt vor dem Fall, das ist wohl war. Aber die Moral von der Geschicht erschöpft sich in dieser allgemeinen Weisheit nicht. Es geht nicht nur ein Lehrstück über menschliche Demut und Hochmut. Da gibt es andere vom tiefen Fall der Mächtigen und von der Schadenfreude der anderen, mit der das Spiel dann wieder neu beginnt. In der Geschichte der „zwei Menschen, die hinauf in den Tempel gehen, um zu beten“ (Lk 18,10), steckt mehr drin. Wie begegne ich Gott? Welche Worte finde ich? Spreche ich wie der Pharisäer „Ich doch nicht!“ oder bitte ich wie der Zöllner „Herr, erbarme dich!“? Ich bin ganz ehrlich – manchmal weiß ich es nicht – aber ich hoffe, Gott öffnet mir mein Herz und schafft Raum für seine Gnade in meinem Leben.

Amen

 

 

Perikope
16.08.2015
18,91-14