Sie waren allezeit im Tempel und priesen Gott - Predigt zu Lukas 19,41-48 von Michael Nitzke

Sie waren allezeit im Tempel und priesen Gott - Predigt zu Lukas 19,41-48 von Michael Nitzke
19,41-48

Sie waren allezeit im Tempel und priesen Gott.

41 Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie 42 und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen.

43 Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen 44 und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.

45 Und er ging in den Tempel und fing an, die Händler auszutreiben, 46 und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben »Mein Haus soll ein Bethaus sein«; ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht. 47 Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten und die Angesehensten des Volkes trachteten danach, dass sie ihn umbrächten, 48 und fanden nicht, wie sie es machen sollten; denn das ganze Volk hing ihm an und hörte ihn.

Gebet: Herr öffne Dein Wort für uns und öffne uns für Dein Wort. Amen.

Liebe Gemeinde,

"und [sie] waren allezeit im Tempel und priesen Gott." (Lk 24, 53) Nach dem er diese Worte auf das Papyrus geschrieben hatte, legte Lukas die Feder aus der Hand und lehnte sich zurück. Ja, nun hatte er den Bericht für seinen Freund Theophilus abgeschlossen. Vieles mehr hätte er noch schreiben können. So viele Ideen hatte er noch im Kopf, zum Beispiel all die Dinge, die den Aposteln widerfahren sind. Aber das war eine andere Geschichte. Die würde vielleicht geschrieben werden, wenn die Zeit dafür reif erschien.

Aber nun hatte er sein Werk über die Geschehnisse um Jesus von Nazareth aufgeschrieben. Nein, er war beileibe nicht der erste, der das versucht hatte. Aber er wollte es aus seiner Sicht schreiben. Sein Freund Theophilus, der sein erster Leser sein würde, machte seinem Namen alle Ehre: Theophilus, der Gottesfreund. Diesem Namen war er es schuldig, alles so genau wie möglich aufzuschreiben. Er hatte das nicht alles selbst erlebt. Aber er wusste, wen er fragen musste, und er wusste, wie er fragen musste, damit man ihm Einzelheiten und Zusammenhänge erzählte. Und dabei machte er so manche Entdeckung, über die er sich selbst wunderte. So war er doch irgendwie froh, dass ihm Leute aus Bethlehem, das mit der Krippe erzählt haben. Die Geburt des Gottessohnes in einer Behausung von Tieren, das wusste selbst Matthäus nicht, der sich doch noch darüber aufgeregt hatte, dass dieser Markus so gar nichts von der Geburt des Herrn geschrieben hatte. Ja, Lukas wusste, was so alles erzählt und geschrieben wurde über Jesus, den Christus. Aber vieles, was ihm wichtig war, fehlte dort, und um manches wurden viele Worte gemacht, die doch nicht weiter führten. Er wollte sich mit seiner Schrift nicht wichtigmachen, und auf seinen Namen kam es auch gar nicht an. Aber er wollte schreiben, was ihm wichtig war. Und das war zum Beispiel dieser letzte Satz seines Evangeliums, den er über die Jünger geschrieben hatte: "und [sie] waren allezeit im Tempel und priesen Gott."

Ja, das war für ihn von großer Bedeutung, diese enge Verbindung zum Tempel. Er wollte betonen, dass die, die Jesus folgten, nie das Band zum Glauben ihrer Vorväter haben abreißen lassen. Ja, es gab Auseinandersetzungen und Streitgespräche mit den Vertretern des Glaubens der Mütter und Väter. Aber die gab es immer. Das war es ja gerade, was diesen Glauben ausmachte: das Ringen um die Wahrheit. Der Kampf ums Wort Gottes mit den Worten, die Gott im Herzen seiner Gläubigen lebendig werden ließ. Dass dieses Ringen um Worte seinen Herrn ans Kreuz geführt hatte, war zunächst unglaublich. Aber wie wurde dieser Glaube gestärkt, als er die Worte Jesu am Kreuzt hörte: "Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!". Wer in dieser Situation so versöhnlich sein kann, der hat eine besondere Nähe zum Gott der Väter. Andere erzählen davon, Jesus habe als letztes Wort gesagt: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mk 15,34) Aber Lukas konnte sich nicht durchringen, das in seinen Bericht zu schreiben. Für Lukas zeigt Jesus am Kreuz das, was ihn immer ausgemacht hat: Er ist eins mit Gott. So schrieb Lukas als letztes Wort Jesu am Kreuz: "Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!" (Lk 23,46) Ja, den Händen des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs vertraut er seinen Geist an. Jesus ist eins mit Gott und dem Gottesvolk. Egal, was passiert ist. Und dieser Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der ihn vom Tod am Kreuz zurück ins Leben geholt hat, der zeigt, dass die Liebe siegt. Auch und gerade die Liebe zu diesem Volk, das Jakob mit wenigen nach Ägypten geführt hat, und das Mose mit vielen zurück ins gelobte Land gebracht hat.

Einen besseren letzten Satz kann es nicht geben: "und [sie] waren allezeit im Tempel und priesen Gott."

Ja, im Tempel fing alles an: Als Zacharias für den Tempeldienst erwählt wurde! Der wolle damals nicht wahrhaben, dass er einen Sohn bekommen würde. Gott hat ihn wegen seines mangelnden Vertrauens stumm gemacht. "Er soll Johannes heißen", das konnte er nicht aussprechen, sondern musste es auf eine Tafle schreiben, denn er konnte immer noch nicht wieder sprechen. Sein Sohn soll Johannes heißen, später würden sie ihn "den Täufer" nennen. Er bereitete den Weg für den, der kommen sollte: Jesus. Und auch dessen erste Wege ließ Gott zum Tempel führen. Wie froh war Lukas, dass man ihn von den beiden alten Leuten erzählt hatte, die Jesus im Tempel priesen: Simeon und Hannah, sie hatten ihr ganzes Leben auf den Christus gewartet und nun hatten sie ihn in dem neugeborenen Jesus erkannt. Und als Jesus zwölf Jahre alt war, machte er seinen Eltern Angst und lief weg. Drei Tage haben sie nach ihm gesucht. Drei Tage war er nicht zu sehen, sie standen Todesängste aus. Das Kind war verschwunden! Es war wie eine Vorahnung auf die drei Tage nach dem Ereignis am Kreuz. Und wo fanden sie ihn nach diesen drei Tagen? Im Tempel, im Haus seines Vaters, wie er sagte. Er sprach mit den Schriftgelehrten seines Gottesvolkes, im Tempel!

Lukas, dreht immer wieder an seiner Schriftrolle, schaut hier noch mal nach, und vergleicht dort mit den Aufzeichnungen seiner vielen Zwiegespräche, die er in all den Jahren geführt hat. Theophilus wird stolz auf ihn sein. Nein, stolz ist das falsche Wort! Glücklich soll sein erster Leser Theophilus sein über die Worte, die Lukas berichtet.

Während er den gottesfürchtigen und glücklichen Freund Theophilus vor Augen hat und hier und da noch einen Federstrich nachzieht, bleibt sein Auge an einer Stelle hängen, die so gar nicht glücklich erscheinen will.

Jesus weint. Jesus vergießt Tränen. Tränen über Jerusalem: Diese bedeutende Stadt, Zentrum des Glaubens. Die Stadt, die der große König David gegründet hat. Er hatte viel mit ihr vor, er wollte die Ansiedlung des kleinen Volks der Jebusiter zum Zentrum des Glaubens der Kinder Israels machen. Doch erst sein Sohn Salomon hat das geschafft, indem er den prächtigen Tempel errichten ließ. Als Jesus auf diesen Tempel sah, mag er daran gedacht haben, wie er mit zwölf Jahren hier mit den Lehrern gesprochen hat. Aber er sah nicht mehr den Tempel, den Salomo errichten ließ. Der wurde zerstört, weil sein Volk den Pakt mit den Mächtigen eingehen wollte, aber zwischen diesen Mächtigen zerrieben wurde. Vierzig Jahre saßen sie an den Wassern von Babel und weinten, bevor sie wieder zurück konnten. Und viele Jahre brauchte es noch, bis sie wieder Mut und Kraft hatten, einen neuen Tempel zu errichten. Auf diesen Tempel fällt sein Blick, ein Blick unter Tränen, denn Jesus sieht, was in Jerusalem noch niemand wahrhaben will: Geschichte wird sich wiederholen, jedenfalls zum Teil.

Lukas, hatte die Menschen in Jerusalem gefragt. Viele wussten, dass Jesus damals geweint hatte. Doch sie verstanden erst warum, als die Römer ernst gemacht hatten. Sie hatten die Stadt angegriffen und den Tempel zerstört. In Rom rühmten sie sich mit Skulpturen und Triumphbögen, dass sie die heiligen Geräte aus dem Tempel geholt hatten. Das Volk Gottes ist gedemütigt worden. Es vergoss wieder Tränen, wie damals an den Wassern zu Babel. Jesus hatte diese Tränen schon im Voraus vergossen. Und er sprach dabei zu dieser Stadt Jerusalem:

Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient!

Ja, wieder einmal hat man auf die falschen Mächte vertraut. Ein König wie Herodes, war König von Roms Gnaden, und der Hohe Rat, die höchste religiöse Institution, scheute sich nicht, die Römer zu instrumentalisieren, wenn man meinte, das könnte helfen. Aber das große Römische Reich lässt sich nicht von einem kleinen Volk an der Nase herumführen.

Lukas las die Worte Jesu, die man ihm berichtet hatte: 43 Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen 44 und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.

Und nach diesen Worten, fielen die Blicke Jesu auf den Tempel. Er liebte diesen Tempel. Es war für ihn von Kindheit an das Haus seines Vaters. Lukas dachte daran, wie andere schrieben, Jesus könne den Tempel abbrechen und ihn in drei Tagen wieder aufrichten. Ja, so erzählten sie überall. Aber wie Lukas seine Hand auch hielt, seine Feder wollte diese Worte einfach nicht zum Papyrus bringen. Jesus wollte den Tempel abbrechen? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Die das sagten, bezogen Natürlich die drei Tage auf seine Auferstehung. Aber das konnte Lukas nicht schreiben. Da musste sein Leser Theophilus, sich mit den drei Tagen begnügen, die Maria und Joseph brauchten, bis sie den kleinen Jesus im Tempel wieder fanden.

Jesus liebte diesen Tempel. Deshalb konnte er auch nicht ertragen, wie man in seinen Vorhöfen Geschäfte machte. Jesus wischte seine Tränen ab, und machte sich daran, dieser Geschäftemacherei ein Ende zu machen. Aber bitte nicht mit Gewalt. Andere schrieben, er habe da die Tische umgekippt. Das konnte Lukas sich nicht vorstellen. Wer geht in sein Vaterhaus und wirft die Möbel um? Nein, hinauskomplimentiert wird er sie haben. Mit scharfen Worten, die im nicht fremd waren, aber nicht mit Handgreiflichkeiten: »Mein Haus soll ein Bethaus sein«!

Lukas ließ beim Lesen der eigenen Worte die Gedanken schweifen. Hat er es richtig gemacht? Hat er es wirklich so geschrieben, wie man ihm berichtet hat, obwohl doch manche in Einzelheiten anderes verlesen? Er wollte sich selbst treu bleiben und dachte an seine Worte, mit der er seine Schrift einleitete. Da hatte er geschrieben: (Lk 1:) 1 Viele haben es schon unternommen, Bericht zu geben von den Geschichten, die unter uns geschehen sind, 2 wie uns das überliefert haben, die es von Anfang an selbst gesehen haben und Diener des Worts gewesen sind. 3 So habe auch ich's für gut gehalten, nachdem ich alles von Anfang an sorgfältig erkundet habe, es für dich, hochgeehrter Theophilus, in guter Ordnung aufzuschreiben, 4 damit du den sicheren Grund der Lehre erfährst, in der du unterrichtet bist.

Dieser sichere Grund der Lehre ist ihm wichtig, und der besteht in der Treue zum Glauben an Gott, wie er sich Abraham, Mose und den Propheten offenbart hat, dieser Gott, den Jesus seinen Vater genannt hat. Dieser Gott hat Jesus von den Toten auerweckt, und nun bekennen ihn viele als den Christus, als den erwarteten Heilsbringer, der Gottes Liebe den Menschen mit seinem ganzen Dasein bezeugt.

Wie um das zu überprüfen, fiel der Blick des Lukas nochmal auf seine Schrift. Nach der Auseinandersetzung mit den Händlern im Tempel hatte er über Jesus geschrieben: 47 Und er lehrte täglich im Tempel. Auch etwas worüber andere nicht so viel erzählten. Als sei es auf einmal überhaupt nicht mehr wichtig, dass Jesus lange und intensiv, also täglich im Tempel lehrte. Da erzählt man höchstens, er ging dort umher (Mk 11,27). Und wenn jemand sagte, er lehrte dort (Mt 21,23), dann hatte man nicht den Eindruck, als sei das eine Dauereinrichtung, sondern eher so etwas wie eine Gastpredigt. Lukas war es wichtig, dass sein Freund Theophilus die intensive Beziehung Jesu zum Tempel auch schwarz auf weiß vor Augen hatte.

Und dennoch konnte auch Lukas nicht daran vorbeigehen, was er selbst geschrieben hatte: 47 ... die Angesehensten des Volkes trachteten danach, dass sie ihn umbrächten,

Ja, das kommt vor, das einzelne missgünstige Personen ein ganzes Volk in Misskredit bringen. Lukas konnte die Tatsache nicht übergehen, dass aus der Spitze der Gesellschaft der Auftrag zur Beseitigung eines Ruhestörers namens Jesus kam. Aber nichts hätte ihm ferner gelegen, als dies: Ein ganzes Volk mit seinem überlieferten Glauben dafür verantwortlich zu machen. Eine kleine Führungsclique eines besetzten Landes macht gemeinsame Sache mit den ungläubigen Besatzern. Aus diesem Stoff haben schon die Propheten ihre Strafpredigten entwickelt. Das ist Israel gewohnt. Diese Moralpauken sind ihnen zur Heiligen Schrift geworden, und diese Schrift soll sie immer wieder zurück auf den richtigen Weg führen. Auf den Weg zurück zu Gott, dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Deshalb lieben sie und wir die Worte dieses Psalms. (Ps 119,105) Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.

Lukas hat die Tränen, die Jesus über Jerusalem weinte, an seinen eignen Augen getrocknet. Vielleicht ist sogar eine dieser Tränen auf das Papyrus getopft. Er rollt seine Schrift zusammen und kann sie nun reinen Gewissens an Theophilus übergeben. Alles ist darin, was ihm von Jesus wichtig ist. Die Geburt in Betlehem, die Lehren in Galiläa, die Tränen über Jerusalem, der Leiden auf Golgatha, die Himmelfahrt nach der Auferstehung, und ganz am Ende auch dieser Satz: über die Jünger Jesu: "und [sie] waren allezeit im Tempel und priesen Gott."   Amen.

Nachwort:

Liebe Gemeinde, gestatten sie mir ein Nachwort. Am heutigen traditionellem Israelsonntag, kam es mir darauf an, vorhandene Gräben zwischen Juden und Christen zu überbrücken. Immer wieder führten Aussagen des Neuen Testamentes dazu, diese Klüfte zwischen Juden und Christen zu vertiefen. Ich habe versucht, anhand einiger Besonderheiten des Lukasevangeliums zu zeigen, dass man manches auch ganz anders interpretieren kann. Es kam mir darauf an, die Kontinuität des christlichen Glaubens zur jüdischen Tradition herauszustellen. In den letzten zwei Jahren wurde nicht nur in der Fachwelt eine intensive Diskussion geführt, welchen Stellenwert das Alte Testament gegenüber dem Neuen haben sollte. Einige Diskutanten ließen erkennen, dass das Alte Testament, oder die hebräische Bibel, wie man auch sagt, einen geringeren Wert habe. Dieser Ansicht ist zu widersprechen. Weitesten Teilen des Christentums ist die enge Verbindung zum Judentum wichtig, dies gilt es immer wieder zu betonen. Dass beide Religionen dennoch unterschiedliche Glaubensaussagen treffen, soll nicht dem Frieden dieser Religionen entgegenstehen. - Der Stil der Predigt, ein fiktiver innerer Gedankengang des Evangelisten Lukas, ist sicherlich einigen historischen Romanen zuzuschreiben, die in den letzten Monaten auf meinem Nachttisch lagen. Vielen Dank.

Perikope
09.08.2015
19,41-48

zwischen zärtlichkeit und wut - predigt zu lukas 19,41-48 von tobias götting

zwischen zärtlichkeit und wut - predigt zu lukas 19,41-48 von tobias götting
19,41-48

zwischen zärtlichkeit und wut

jesus
gottes schönstes gesicht auf dieser erde
unendlich oft beschrieben
gemalt
gedeutet

manchmal mir mit vielen worten
unendlich weit weg gerückt
verborgen unter einer flut von buchstaben
versteckt unter einem berg von bildern

aber hier in dem kürzestmöglichen satz
in nur zwei worten aufgedeckt
jesus ent-deckt
weggenommen die decke von beschreibungen
und theoretischen gedankengebäuden
mir wieder einmal wie schon so oft
endlich unendlich unwahrscheinlich nah gekommen

jesus weinte
lese ich
das ist mein evangelium
das ist frohe botschaft
für mich
trotz der tränen
gerade wegen der tränen

endlich sich der eigenen tränen nicht schämen
sie fliessen lassen
statt sie runterzuschlucken
jesus weinte
wie ich manchmal auch
wie ich manchmal gerade auch nicht

andere feiern starke helden
bewaffnet bis an die zähne
stark bis zum umfallen
bereit zum kämpfen und siegen

jesus weinte
ein schwacher held
ein anti-held
vermeintlich schwach
darin unendlich stark
im verzicht auf macht
mit dem mut zur sanftheit
einer mit der „gabe der tränen“ *

jesus weinte
ohnmächtig den damals mächtigen gegenüber
unbewaffnet
nur mit der kraft der worte stark
seit damals bleibt wahr
„es geht um's tun und nicht um's siegen“ **

jesus
mit seinen tränen andere stärkend
die auch machtlos sich wähnen
denen nur zum weinen zumute sein kann
weil das leben ihnen tiefe kerben
in die seele geschlagen hat

jesus weinte
über jerusalem
den ort der besonderen anwesenheiten gottes
die zerstörung durch die römischen besatzer vorausfühlend

jesus weinte
weil ihm die gier der mächtigen
tränen in die augen treibt
er spürt die unfähigkeit der vielen
ihn zu verstehen

er spürt die ohnmacht
seine ohnmacht
die heilige stadt zu retten

er kann sie nicht aufhalten
die katastrophe
in die sein geliebtes volk hinein geraten wird
damals in jerusalem

er kann die katastrophen nicht aufhalten
die gottes auserwähltem volk
noch bevorstehen sollten
vor allem durch den „meister aus deutschland“ ***
der millionenfach gräber aushob in den himmeln

jesus weinte
in auschwitz
als gottes geliebter augapfel
sein volk
seine jüdischen geschwister
verbrannten

jesus weint
über alle orte
wo die menschen- und gotteswürde mit füssen getreten wird
wo macht die ohnmächtigen bedrängt
wo leben beschnitten und gedämpft wird
wo tränen zurückgehalten und unterdrückt werden
wo starke über die schwachen herrschen
weil sie ihre eigenen schwächen übersiegen wollen

jesus weinte
lese ich
aber nach den tränen geht es weiter
sie haben die herzkammern und die seelenhaut durchspült
sie haben die augen nicht trübe bleiben lassen
sie machen den neuen durchblick möglich

nach den tränen der ohnmacht
kommt das machtvolle handeln
gott sei dank

jesus lehrt mich
nach den tränen
muss nicht starre resignation bestimmend bleiben

tränen bringen ins fliessen
setzen neue energie frei
vielleicht nicht immer
aber es mag sein dass

jesus weint
und jesus wütet
nicht nur sanfter rebell
nicht nur zärtlich
sondern auch wütend

wütend über die vermischung von glaube und kommerz
über die käuflichkeit von gebet und gnade
über den vorrang des geldes vor dem vertrauen
über eine kirche in der die habenichtse unsichtbar sind

jesus wütet
weil es keinen billigen frieden geben darf
weil sein haus ein bethaus sein soll
ein ort der zuerst die herzen öffnet
uns einander wahrnehmen hilft
als gemeinsam dürftige und bedürftige

dass wir uns dort besinnen auf das wort
das in jesus ein gesicht bekommen hat
damit wir es von jetzt an
in den gesichtern der vielen gespiegelt finden

jesus weint
jesus wütet

und ich ahne neu

„zwischen zärtlichkeit und wut
tut das leben richtig gut.

zwischen zärtlichkeit und wut
fasse ich zum leben mut“ ****

 
* dorothee sölle: „gib mir die gabe der tränen, gott“

** konstantin wecker: „die weiße rose“

***paul celan: „der tod ist ein meister aus deutschland“

**** konstantin wecker: „wut und zärtlichkeit“, lied auf der gleichnamigen cd
 

Perikope
09.08.2015
19,41-48

KONFI-IMPULS zu Lukas 5,1-11 von Stefan Nitschke

KONFI-IMPULS zu Lukas 5,1-11 von Stefan Nitschke
5,1-11

In der Regel wird davon auszugehen sein, dass die Konfirmandinnen und Konfirmanden den Predigttext erstmalig im Rahmen des Gottesdienstes zu Gehör bekommen. Manchmal werden Vorkenntnisse bestehen und nur selten wird das Thema des Predigttextes mit den Inhalten des Mittwochs-Unterrichtes verknüpft werden, so dass ein vorbereitetes Hören für die Konfirmandinnen und Konfirmanden möglich würde. Vielleicht ein Grund, mehr nach Bezügen zwischen Mittwoch und Sonntag zu suchen?

Für diesen Impuls kommt erschwerend hinzu, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen den Konfi-Jahren oder ganz zu Beginn des neuen Jahrganges liegt, wo meist anderes im Vordergrund steht.      

Deshalb zwei Vorschläge:

1)      Exemplarischer Gottesdienstbesuch: Gerade zu Beginn des neuen Jahrganges, wo meist darauf hingewiesen wird, wie viele Gottesdienstbesuche von den Konfis erwartet werden, ob nun mit oder ohne Strichliste, böte es sich doch an, exemplarisch das Hören der Predigt und den Besuch des Gottesdienstes in der Gruppe vorzubereiten. Vielleicht steigen so Verständnis und Lust daran? Meiner 8. Klasse habe ich ohne Einleitung und ohne Begründung, so wie es im Gottesdienst eben auch meist geschieht, den Text vorgelesen. Nach ersten ungläubigen Blicken fragte ich nach ersten Eindrücken und Assoziationen. Das daraus sich entwickelnde Gespräch bezog sich auf die folgenden drei Themen. Hier einige O-Töne und Anmerkungen:

-          Erfolglosigkeit und Erfolg: „Ist Jesus für den Erfolg der Fischer verantwortlich oder hatten sie nur Glück?“ „Braucht Jesus solche Beweise, damit die Menschen ihm glauben?“ „Warum lassen sich die erschöpften Fischer noch einmal auf eine Fahrt ein? Nur weil einer sagt, probiert es noch einmal?“ „Was hat er eigentlich vorher den Menschen gesagt, dass sie ihn so ernst nehmen?“

-          Menschenfischer: Dieses Wort wirkte auf die meisten anstößig. „Sollen Menschen Jesus ins Netz oder auf den Leim gehen?“ „Fische sterben, verlieren ihre Freiheit, wenn sie gefangen werden, soll Petrus das etwa mit Menschen tun?[1]“ Eine andere aktuelle Assoziation eines Schülers bezog sich auf die Situation der Flüchtlinge im Mittelmeer. Auf der einen Seite makaber, dass dort tatsächlich Menschen gefischt werden, auf der anderen Seite bekommt das Wort dann eine positive Wendung, wenn damit die Rettung der Menschen verbunden ist.

-          Nachfolge: „Alles zurücklassen, würde ich nie machen!“ „Was versprechen sich die davon? Nur weil sie einmal Erfolg hatten, als Jesus dabei war?“ „Besticht Jesus die Fischer mit dem Fang?“ „Also bei twitter ist es aber einfacher, ein follower zu werden.“ Die Antwort einer Schülerin: „Ja, das stimmt, aber wenn du damals ohne Handy aktuelle Nachrichten von Jesus wolltest, musstest du wohl oder übel hinterhergehen.“

Anhand dieser Themen und Fragen könnte ein erstes Problembewusstsein zu Lukas 5,1-11 entstehen. Daraus folgt die Höraufgabe für die Predigt, genau auf ein Thema oder eine Frage zu achten. Was geschieht in der Predigt damit? Gibt es eine Antwort? Wird das Problem umgangen, ausgeblendet oder vermieden? Oder gibt es eine interessante Wendung, die so nicht erwartet wurde? Anschließend gilt es natürlich, sich in einem Predigtnachgespräch noch einmal den Konfis und ihren Eindrücken zu stellen. Sicherlich kann dies nicht jeden Sonntag geleistet werden, aber warum die Konfirmanden nicht einmal als Predigthörer ganz ernst nehmen?  

2)      Vorstellungsgottesdienst

Als zweite Möglichkeit könnte man Lukas 5,1-11 im Vorstellungsgottesdienst der neuen Konfirmandinnen und Konfirmanden verwenden. Vielfältige Bezüge zwischen Text und Lebenswelt bieten sich an:

-          Die ersten Jünger begeben sich in die Nachfolge Jesu, ohne so genau zu wissen, worauf sie sich einlassen. Nur auf die Aufforderung Jesu hin – bei den Konfis werden diese Rolle die Eltern übernommen haben – machen sie sich auf den Weg? Kannten sich eigentlich alle Jünger Jesu bereits? Wahrscheinlich nicht. Ebenso geht es den Konfis. Aus unterschiedlichen Ecken zusammengewürfelt, sind sie für ein Jahr an diese Gruppe gebunden.

-          Das Stichwort Menschenfischer könnte Anlass sein, manche unausgesprochenen Ängste zu thematisieren. Wollen die mich hier von etwas überzeugen, was ich gar nicht glauben kann? Bin ich denen hier ins Netz gegangen?

-          Ebenso kann das Bild vom Netz positiv gedeutet werden. Neue Kontakte und Bezüge werden geknüpft. Ein Netz, mit dem sich etwas erreichen lässt, das tragfähig ist. Die Gemeinde kann ein Bild für dieses Netz sein, an das sie nun anknüpfen, in das sie sich einbinden können, so dass neue starke Knotenpunkte entstehen. Und nicht etwa, damit Löcher gestopft werden.

-          Liturgische Vorschläge: Der Gottesdienstraum könnte mit einem Netz gestaltet werden, in das sich die Konfis im Laufe des Gottesdienstes symbolisch einknüpfen – sprich: ein Symbol von sich oder ihren Namen hineinhängen und ein paar Worte dazu sagen. Lied: „Gut, dass wir einander haben“ von Manfred Siebald.

 

 



[1] Vielleicht kann es hier auch angebracht sein, über die Grenzen von Sprachbildern zu sprechen.     

 

 

Perikope
05.07.2015
5,1-11

Kanzelgedanken eines Schwermütigen - Predigt zu Lukas 5,1-11 von Stefan Henrich

Kanzelgedanken eines Schwermütigen - Predigt zu Lukas 5,1-11 von Stefan Henrich
5,1-11

Kanzelgedanken eines Schwermütigen

Es begab sich aber, als sich die Menge zu Jesus drängte, um das Wort Gottes zu hören, da stand er am See Genezareth und sah zwei Boote am Ufer liegen; die Fischer aber waren ausgestiegen und wuschen ihre Netze.

Da stieg er in eines der Boote, das Simon gehörte, und bat ihn, ein wenig vom Land wegzufahren. Und er setzte sich und lehrte die Menge vom Boot aus.
Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon: Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!
Und Simon antwortete und sprach: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen.
Und als sie das taten, fingen sie eine große Menge Fische und ihre Netze begannen zu reißen. Und sie winkten ihren Gefährten, die im andern Boot waren, sie sollten kommen und mit ihnen ziehen. Und sie kamen und füllten beide Boote voll, sodass sie fast sanken.
Als das Simon Petrus sah, fiel er Jesus zu Füßen und sprach: Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch.
Denn ein Schrecken hatte ihn erfasst und alle, die bei ihm waren, über diesen Fang, den sie miteinander getan hatten, ebenso auch Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, Simons Gefährten.
Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen fangen. Und sie brachten die Boote ans Land und verließen alles und folgten ihm nach.

Liebe Gemeinde,

Sonntag morgens, fünf vor zehn: die Glocken läuten, die Kirchentüren stehen offen, kaum einer tritt ein.
Wenn jetzt nicht noch ein Bus kommt, denkt der Pastor und begrüßt die Gemeinde doch freundlich mit den Worten Jesu: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.
Eine Kirchenvorsteherin liest den Wenigen in den Bänken die Geschichte von dem wunderbaren Fischzug des Petrus als Evangelium und Predigttext, als gute Botschaft.
Dem Pastor wird weh zumute, als er hört: Eine große Menge drängt zu Jesus, um das Wort Gottes zu hören.
Er wünscht sich dabei gewesen zu sein an jenem Anfang, als Jesus sich das Fischerboot zur Kanzel macht und Simon den Fang seines Lebens fischt.
Trübe Gedanken umspülen diese Sehnsucht.
Hat er selber nicht dem Simon Petrus gleich auch die ganze Nacht gearbeitet? Die Nachbarn wissen immer zu erzählen, dass das Licht im Arbeitszimmer am Samstagabend vor der Predigt lange leuchtet.
Nur an Erleuchtung fehlt es ihm. Unzufrieden ist er mit der Predigt. Hölzern und wenig inspiriert kommt sie ihm vor, als er sie vorträgt auf der Kanzel. In seinem tiefsten Herzen kann er ganz gut verstehen, dass die Leute nicht in Scharen gekommen sind. Er fragt sich, ob er sich selber zuhören wollte, sonntags morgens um zwanzig nach zehn?
Vor der Antwort drückt er sich, fragt sich aber, was ist denn mit den Liedern und den Gebeten und der Gemeinschaft? Und wir haben öfter auch mal Kirchenkaffee nach dem Gottesdienst, das ist doch immer ganz schön.
Seine Frau sagt immer, er habe zur Zeit wohl eine ausgesprochene Midlife-Crisis. Andere sprechen von Burnout, jetzt aber plagt ihn eine Schwitzattacke oben auf der Kanzel.
O Je, denkt der Pastor, die Schwiegermutter des Simon Petrus hatte auch Fieber gehabt und Jesus war zu ihr eingekehrt und hatte das Fieber vertrieben. In Simons Haus war das passiert.
Jesus und  Petrus  hatten sich vermutlich von daher schon gekannt, bevor sie sich wieder begegnen an jenem Morgen am Strand bei den Schiffen vor den leeren Netzen.
Jetzt aber blasen Petrus und seine Kollegen Trübsal, während sie die Netze säubern von dem Schmutz der See. Die ganze Nacht gefischt und nichts gefangen, da fangen andere Glocken an zu läuten. Existenznot und Hunger heißen die, kein schöner Morgen ist das.
Andere Leute kommen, Strandgänger. Was oder wen suchen die? Sie finden Jesus. Der bittet Simon, ihn ein wenig hinauszufahren auf seinem Boot.
Von Boot aus predigt er den Vielen. Ach, denkt der Pastor, die Kanzel hat was. Jesus sitzt wahrscheinlich im Bug des Schiffes, lässt sich von den Wellen schaukeln, über ihm die Weite des Himmel, vor ihm der Strand. Bilder von Urlauberseelsorge, inszenierten Piratenfahrten und Strandgottesdiensten tauchen auf vor des Pastors inneren Augen.
Jetzt aber kämpft er sich weiter durch seine Predigt, die ganz bei Petrus gelandet ist.
Dem fühlt er sich nah, so viel vergebliche Mühe in der Nacht und kaum noch Kraft jetzt am Tag.
Was aber sagt Jesus ihm? Fahr hinaus auf die Tiefe.
Es ist, als sei das ein Sinnbild für das Leben schlechthin: Gib nicht auf, schürfe tiefer, fische frischer, verlass dich nicht auf eigene Weisheiten, vertraue dich jemand anderem an.
Natürlich, Jesus hat einen Vertrauensvorschuss gehabt. Mit der Schwiegermutter hatte das ja auch geklappt, und Versuch macht klug, so denkt der Pastor, dass Petrus vielleicht gedacht haben könnte.
Was aber, wenn Petrus gedacht hätte, dieser Jesus ist doch nur eines Zimmermannes Sohn und ansonsten ein Klugschwätzer? Ich selber weiß, wie man fischt und da lass ich mir nicht dreinreden. Ja, wenn Petrus so gedacht hätte, dann wäre es wohl nichts geworden mit erstens reichem Fang und zweitens mit der Kirche.
Denn, und das sagt der Pastor auch auf seiner Kanzel im Kirchenschiff, dieses Fischerboot auf dem See Genezareth, das war die erste Kirche, die zur Freude Gottes sich gründete.
Im wahrsten und positiven Sinne des Wortes neugierige Ohren hören Worte Jesu, welche die Herzen erreichen. Strandläufer und erfolglose Fischer hören, was Gott zu sagen hat durch Jesu Mund. Auch wenn leider kein Wort der Predigt Jesu überliefert ist, eines weiß der Pastor: So viel bewirkt die Predigt, dass mindestens einer einen neuen Anlauf nimmt, dem Mangel seines Lebens abzuhelfen. Mit Jesu Hilfe, das ist genaugenommen das Hören und Befolgen seines Wortes, gelingt das.
Petrus macht den Fang seines Lebens. Die eben geflickten Netze reißen, die zur Hilfe herbeigekommenen Boote schaukeln bedrohlich ob der Menge des Fanges, all das ist mit Sinnen und Verstand nicht zu fassen.

Petrus geht in die Knie, Schrecken und Furcht werden zum tiefen Graben, in dem er zu versinken droht. Ein weiter Sund tut sich auf zwischen ihm und Gott. Ich bin ein sündiger Mensch, der über diesen Graben nicht springen kann, du aber kommst zu mir.
Was für eine Erkenntnis auf der Tiefe des Wassers! Und daraufhin lösendes Wort Jesu, seit jeher Gottesbotenformel dem Menschen zugut: Fürchte dich nicht!
Jesus traut Petrus schlussendlich uranfänglich Großes zu. Du, Petrus, wirst Menschen für Gott und seine Güte begeistern. Von diesem wunderbaren Fischzug an wirst du Menschen fangen, damit du das Gefängnis ihrer Seelen aufbrichst und sie glücklich machst als Kinder Gottes, die glauben, hoffen und lieben gegen alle Not der Welt gegen an.
Der Pastor denkt angesichts der Menschenfischerfangworte unwillkürlich erschüttert an die übervollen Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer. Hier sind Menschen in Todesgefahr gefangen, die von verbrecherischen Menschenschleppern und Schleusern erst um ihr Erspartes gebracht und dann auf todesgefährliche Fahrt geschickt werden.
Die Menschenfänger und Menschenjäger im sicheren Hintergrund sind das zerstörerische Zerrbild dessen, wozu Petrus beauftragt ist. Petrus stünde wohl auf den Seiten der Fischer, die als Sea-Watchleute sich aufmachen, um den Flüchtlingen zu helfen sicher an die Küsten Europas zu kommen zu neuem Anfang und neuem Leben , nachdem das vorherige zusammengebrochen ist unter Krieg, Vertreibung oder existentieller Not.
Der Pastor spürt, wie nah der Text geht, mitten hinein in die Tiefe des Lebens. Bevor er die Kanzel verlässt, sagt er: Jesus ist gekommen die Fülle des Lebens zu bringen (Joh. 10,10) den Fernen und den Nahen.
Am Ausgang bedankt sich eine der Getreuen bei ihm für die Predigt. Er habe so  müde gewirkt und doch sei im Widerschein seiner Anstrengung ein anderer Geist zu spüren gewesen. Das war  petrus- und christusnah, sagt sie, und doch authentisch.

Der anschließende Kaffee war heiß und gut.

Amen

 

Anmerkung: In der Predigt klingt auch titelmäßig an die Auslegung zur Stelle in dem wunderbaren wiederentdeckten Kommentar von Helmut Gollwitzer, Die Freude Gottes. Einführung in das Lukasevangelium, 9. Auflage 1979, Burckhardthaus-Laetare Verlag, Gelnhausen u.a., S.68ff.

 

Perikope
05.07.2015
5,1-11

Es kommt ein Schiff geladen. Advent mitten im Sommer - Predigt zu Lukas 5,1-11 von Maximilian Heßlein

Es kommt ein Schiff geladen. Advent mitten im Sommer - Predigt zu Lukas 5,1-11 von Maximilian Heßlein
5,1-11

Es kommt ein Schiff geladen. Advent mitten im Sommer

Liebe Gemeinde,

„Es kommt ein Schiff geladen bis an sein höchsten Bord. Trägt Gottes Sohn voll Gnaden des Vaters ewigs Wort.“ Wenn wir dieses Lied heute gemeinsam sängen, liebe Gemeinde, was würden Sie wohl sagen?
Was ist denn heute los? Haben wir etwa Advent mitten im Sommer? Ankunft des Herrn? Jetzt und hier? Weihnachten vor der Tür?
Nein, Adventszeit haben wir nicht im Kirchenjahr.
Genau den ersten Vers aber dieses wunderschönen alten Liedes finde ich in der Geschichte wieder, die Lukas uns heute erzählt. Advent mitten im Sommer. Ankunft des Herrn.

Die Menschen bedrängen Jesus: Erzähle uns. Wir wollen das Wort Gottes hören. Der Platz ist eng. Jesus muss ausweichen.
Da sieht er die Fischer. Nach getaner Arbeit waschen sie am frühen Morgen ihre Netze im Wasser des Sees aus. Eine mühevolle, beschwerliche Nacht ist das gewesen. Und, das erfahren wir von Simon später, diese Arbeit ist ohne Ertrag geblieben.
Abgerackert, abgekämpft, müde und enttäuscht stehen und knien die Männer am Ufer des Sees und säubern ihre Netze. Einer von ihnen ist Simon. Zu ihm geht Jesus an Bord und lässt sich ein kleines Stück auf das Wasser hinausfahren.
Nun kommt ein Schiff geladen. Geladen mit dem Wort Gottes, Mensch geworden in Jesus, begleitet von einer müden Schar.
Doch was ist denn das für ein Wasser, auf das dieses Boot hinaus fährt?
Für uns Christen ist Wasser untrennbar von Jesus her mit der Taufe verbunden. Ein Zeichen des Heils, das in Gestalt des Herrn zu uns gekommen ist. Heilsames Wasser.
Aber wenn ich in diese Geschichte weiter hineingehe, dann finde ich ein anderes Wasser, auf das dieses Boot hinausfährt. Es ist dunkel, abgründig und tief wie ein See bei einem  heraufziehenden Gewittersturm.
Sie kennen die Wasser, über die Gottes Geist zu Beginn der Urgeschichte schwebt, als die Erde noch wüst und leer ist. Das große Durcheinander, Verwirrung liegt noch auf der Erde. Es ist ein Tohuwabohu. Unbeschreibliche Unordnung. Unsägliches Chaos.
Und die Geschichte von der Sintflut. „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“, spricht der Herr. Im Zorn darüber schickt Gott die Sintflut auf die Erde. Das kennen sie auch. Die Erde, Gottes Schöpfung, wird verschlungen von diesen Wassern aus dem Himmel.
Sie erinnern sich sicher auch an den letzten Gewittersturm, der über unsere Stadt hinweggefegt ist. Da war der Weltuntergang wirklich nah. Die plötzliche Finsternis. Der Wind. Die Unmengen von Wasser, die aus den Schleusen des Himmels auf uns herabfielen. Von der chaotischen Urgewalt, die dem Wasser zu eigen ist, lernen wir immer wieder aufs Neue.
Gott jedenfalls lässt dem Chaos und der Unordnung in der Sintflut wieder freien Lauf. Es scheint geradezu, als wolle er die Schöpfung zurückdrehen. „Es reute ihn, dass er die Menschen gemacht hatte“, sagt die Schrift. Nur ein Boot, Noahs Arche, bietet Überleben und lässt Zuflucht finden vor der Gefährdung des Lebens.
Können wir das nicht auch erleben in arbeitsreicher und druckvoller Zeit? Chaos und Bedrohung, die Möglichkeit von diesem Druck und den Ansprüchen des Lebens und der Welt verschlungen, vertilgt zu werden?
Am Ende des Schuljahrs lerne ich etwas von dem Stress und dem Druck, der schon in manchem jungen Leben liegt.
Der Kampf um gute Ausgangspositionen für dieses Leben nämlich, der fängt immer deutlicher und immer klarer schon in der Schule an. Viele Schülerinnen und Schüler, auch ihre Lehrer können Ihnen sicher einiges davon berichten. Klassenarbeiten und Tests stehen an. Noten werden gemacht. Zeugnisse werden geschrieben. Leistung wird eingefordert und bewertet. Immer wieder. Schon in den ersten Klassen einer Schulkarriere werden die Grundsteine für Erfolg oder Misserfolg gelegt. Die Frage des sozialen Aufstiegs oder Abstiegs ist vielfach eine Frage der Grundschule geworden. Sie betrifft Kinder im Alter von 6 bis 10 Jahren. Und es wird hart darum gefochten.
Aus der Schule entlassen, ändert sich die Situation im Arbeitsleben zumeist nicht mehr. Die Konkurrenz untereinander bleibt enorm. Das betrifft alle Berufe gleich in welchem Bildungsstand.
Bilanzen und Gewinnerwartungen, Profite oder Verluste. Die Arbeit wird immer effizienter ausgerichtet.
Wer unter diesem Druck nicht genug arbeitet, wer krank wird und einknickt, hat schlechte Karten. Die Umstände der Arbeit können einem das tägliche Leben sehr schwer machen. Kommt es nicht hier manchmal gar zu einem Kampf ums Überleben? Und spielt der sich nicht heute schon mitten in Kollegien und Belegschaften ab? Ein Freund hat mir neulich erzählt, wie das ist, wenn verschiedene Abteilungen der gleichen Firma aufeinander gehetzt werden, sich gegenseitig zu unterbieten und auszustechen.
Das Leben gerät in Chaos und Unordnung. Die Schleusen des Himmels scheinen weit geöffnet zu sein. Ja, die Sintflut bricht ein.

Auf diesem Wasser des Chaos und der Bedrohung, der Vernichtung, auf diesem Wasser nun fährt Jesus ein kleines Stück hinaus. Er gibt sich dort hinein. Des Vaters ewigs Wort, getragen durch ein kleines Fischerboot.
„Er lehrt die Menge vom Boot aus“, heißt es da bei Lukas ganz einfach. Anbruch des Lichts. Das Wort Gottes liegt über den Wassern.
Doch was lehrt Jesus die Menschen denn? Lukas berichtet doch gar nichts davon. Hören wir, was der Evangelist weiter erzählt!
„Fahr weiter auf den See hinaus“, fordert Jesus den Simon auf. „Dorthin, wo es die tiefsten Stellen gibt. Fahr hinaus und wirf aus.“
Und, Simon fährt hinaus. Was muss Jesus, dieser Mann aus Nazareth, was muss dieser Prediger gesagt haben, dass Simon bereit ist, sich noch am gleichen Tag erneut der harten Arbeit auszusetzen?
Ich glaube, er hat den Lichtfunken gespürt. Vertrauen wächst zu dem Mann und seinem Wort.
Also, Simon fährt mit seinen Gefährten in die Mitte des Sees. Am helllichten Tag. Gegen jede Erfahrung. „Auf dein Wort hin!“, sagt er. Er fährt.
Nun trägt das Boot das Wort Gottes noch weiter, mitten hinein in die Abgründe des Lebens, unseres Lebens, meines Lebens. Mitten hinein Jesus. Er setzt sich diesem Leben aus. Dort, wo die Tiefe am tiefsten, am geheimnisvollsten und abgründigsten ist. Dorthin kommt der Heiland in seinem Boot. Kommt das Wort Gottes.
Sie werfen ihre Netze aus und machen einen reichen Fang. So reich, dass die Netze reißen und eine Bootsbesatzung zu wenig ist, den Fang einzuholen. Die Fischer müssen zusammenarbeiten.

Nebenbei gesagt, liebe Gemeinde, ist das ein Lehrstück darüber, was Menschen leisten können, wenn sie sich zusammentun und miteinander arbeiten. Das gilt im eigenen privaten Leben wie im Zusammenarbeiten großer Institutionen. Es gilt für uns ein Ende zu machen mit Ausbeutung und Bedrückung der Menschen in dieser Welt und um uns herum.
Stellt euch zusammen und packt an, heißt Gottes Aufforderung an Sie und an mich! Das sind Positionen, die in der immer noch weiter zunehmenden Individualisierung der heutigen Gesellschaft wenig populär sind.
Doch die Menschen brauchen einander. Wie das ist, für einander da zu sein, das können wir in der Kirche, in der Gemeinde Jesu erfahren. So wie wir hier heute Morgen.

Zurück aber zu Simon und seinen Gefährten. Der nämlich erkennt im Angesicht des reichen Fangs, den er zu so unmöglicher Tageszeit gemacht hat, mit wem er es in seinem Boot zu tun hat.
Er erkennt den Sohn Gottes.
Er erkennt Christus.
Er erkennt Gott selber.

Erschrecken und Furcht zwingen ihn auf die Knie. Sie gehen ihm durch Mark und Bein.
„Geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch.“ Eine ergreifende Szene.
Und, liebe Gemeinde, vielleicht erinnern Sie sich. Das war schon einmal so. Damals, Sie kennen das, als Adam vom Baum der Erkenntnis aß, es aber nicht durfte. Da fürchtete er sich vor dem Herrn, als dieser in der Kühle des Abends im Garten umherging. Verstecken wollte er sich. Adam weiß auf einmal um seinen Stand vor Gott. Adam erkennt in der Gegenwart des Herrn den Abgrund seines Tuns. Sein Vertrauensbruch, sein Misstrauen machen ihn angreifbar. Er hat Gott abgestreift wie alte und löchrige Kleidung. Nichts kann ihn mehr schützen. Das ist seine Furcht. Vor Gott ist er vollkommen nackt.
Genauso ergeht es Simon in unserer Geschichte. Wie Schuppen fällt es ihm von den Augen. Die Gegenwart des Allerheiligsten wird ihm zur Bedrohung. Er, der an dieser Stelle im Evangelium des Lukas den Namen Petrus erhält, er erkennt den Herrn. Und im Blick auf den Herrn erkennt er die Abgründe seines Lebens.
„Vor Gott kann ich nicht genügen.“ Dieses Ungenügen stellt ihn bloß und zieht ihm Gott aus. Seine Müdigkeit, sein erfolgloses Arbeiten, seine Ungeduld, sein Verzagen und Erschrecken. Verlorenes Vertrauen. Das ist es, was in der Bibel Sünde heißt und was Simon nackt vor Gott stehen lässt.
Wie Adam ergeht es ihm, dem schmählichen Übertreter der Gebote Gottes. Simon Petrus ein Mensch wie Adam im getrübten Garten des Paradieses, ein Mensch wie Sie und ich. Die Gegenwart des Herrn macht ihn fürchten.
„Geh weg von mir! Geh weg von mir!“
 
Doch Christus spricht in der Milde und Sanftmut, die nur ihm eigen ist: „Fürchte dich nicht!“ Das ist alles. „Fürchte dich nicht!“ Das ganze Wort Gottes.
Mit diesem Wort richtet er den leuchtenden Bogen der Versöhnung Gottes auf. Er bekleidet in diesem Wort an Simon die Nacktheit Adams und erlöst ihn von seiner Furcht.
Christus macht die Versöhnung offensichtlich. „Fürchte dich nicht, du lieber Mensch“, ruft er mit sanfter Stimme. „Ich weiß um deine Mühen und Plagen, ich weiß um deine Angst und Not. Komm. Komm an meine Hand. Ich halte dich frei von dem, was dich belastet.“
Hier ist die Ankunft des Sohnes Gottes in der Welt wirklich vollzogen. Das Boot trägt ihn. Im Vertrauen auf den Christus, der die Abgründe und Ängste der Menschen, meine Ängste, sieht, sich ihrer annimmt und sie überwindet, erfahre ich die Versöhnung meines Lebens mit Gott. Diese ausstrahlende Ruhe der Liebe Gottes wird erlösen von dem, was an Last und Bedrückung, an Hektik und Leistungsanforderung in diesem Leben ist.
So finde ich in den Booten, die auf den See Genezareth hinaus fahren, ein Bild unserer Kirche wieder, die in einer chaotischen und hektischen Welt ein Pol der Ruhe und der Liebe, des Entspannens und der Stärkung ist.
In dieser Kirche wird unser Leben vor dem Verderben bewahrt. Gezogen aus den allertiefsten Tiefen der Gottesferne hinein in diese Versöhnung Gottes mit den Menschen. In dieser Kirche hören wir den Ruf des Herrn: „Fürchte dich nicht!“
Aus dieser Zusage treten wir in die Nachfolge Christi ein, vertrauen ihm und setzen sein Werk in die Tat um. Sanftmut und Milde sind dabei die wichtigen Dinge, nicht Durchsetzungskraft und Gerissenheit.
Gott will nicht das Erschrecken oder die Furcht, nicht Adams, nicht Simons, nicht Ihre, nicht meine. „Fürchte dich nicht!“ Das ewige Wort Gottes. In ihm liegt das Vertrauen zu Gott begründet, das uns im Heilswasser der Taufe und im Glauben entgegenkommt. „Fürchte dich nicht“, ist seine einfache Botschaft, die im Blick auf das eigene Leben häufig so schwer ist.
 
Die Aufgabe, diese Botschaft des Wortes sichtbar zu machen und in der Welt zur Geltung zu bringen, geht an die Kirche. Und also geht dieser Anspruch an jede einzelne Gemeinde, an jeden von uns, an mich. Gehalten und gedeckt von dem wärmenden, versöhnenden und letztlich also dem erlösenden Zuspruch Gottes im Wort unseres Heilands werden wir frei, an der Welt zu handeln. Der Bogen Gottes, der im Gedenken an Noah in dieser Welt ist, wird weiterhin leuchten über alle Menschen und Länder.
Dazu ziehen die Fischer ihre Boote an Land und folgen dem Herrn nach. Sie treten ein in den Dienst der Nachfolge Jesu. Und sie gehen hinaus, Menschen für diesen Dienst zu gewinnen. Sie vertrauen einem neuen Weg.
Gerne möchte ich mitgehen und lade Sie ein: Gehen wir gemeinsam. Lassen wir es auch mitten im Sommer Advent werden. Hier in unserer Kirche ist die Ankunft des Herrn Gegenwart. Hier kommt das Schiff geladen bis an sein höchsten Bord.
Amen.

Lied EG 8

 

Perikope
05.07.2015
5,1-11

Predigt zu Lukas 6,38-46 von Heinz Behrends

Predigt zu Lukas 6,38-46 von Heinz Behrends
6,38-46

Es ist ein Mitsommerabend, der Tag war heiß, die Luft ist lau. Ich sitze draußen mit Freunden auf der Terrasse, wir trinken unseren Riesling, wir reden über unsere Sommerpläne, über die Bücher, die wir gerade lesen, über unsere Kinder, wir schweigen miteinander und betrachten den Himmel, das untergehende Licht, die aufziehenden Sterne, das Spiel des Lichtes am Himmel.
Es gibt Situationen, in denen stimmt alles.
Ich bringe die Kinder ins Bett, lese noch eine  Geschichte vor, spreche das bergende Gebet und lege die Hand auf ihren Kopf. Sie schlafen ein, ich betrachte wie entspannt sie dort liegen.
Behütetes Leben.
Ach, ich könnte noch so manche Situation erzählen, in denen alles stimmt.
Wenn ich am Meer stehe, die Weite des Horizonts genieße, das leidenschaftliche Wasser, das die Küste küsst, den Gleichklang von Ebbe und Flut, das Blau des Himmels, das sich im Wasser spiegelt. Frische Luft durchzieht meine Brust. Mein Atem ist frei.
Es gibt Situationen, da stimmt alles.
Da öffnet sich das Herz, ich fühle mich voller Liebe. Ich bin beschenkt. Ich bin befreit von aller Selbstsucht, von meiner Selbstbeschäftigung, ich bin unmittelbar verbunden mit dem Leben.
Plötzlich ist nicht mehr nötig, nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit zu leben, nach dem Gesetz der Sünde. Ich mache mein Tun nicht abhängig von anderen Menschen.

Dies am Anfang zu sagen, ist wichtig, bevor ich über das Richten und über Barmherzigkeit spreche. Denn ohne diese Liebe, diese Barmherzigkeit, die ich in gelungenen Situationen geschenkt bekomme, bleibt von dem Jesus-Wort nur eine volkstümliche Weisheit.
„Was man nicht will, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“. Oder akademischer ausgedrückt: „Do ut des“. Gib so wird dir gegeben.

An der Liebe, die uns geschenkt wird, spüren wir, mit welchem Maß Gott uns misst.

Das anzuerkennen, erscheint nicht leicht zu sein.
Einleuchtender scheint das Maß zu sein, dass der große Philosoph Immanuel Kant formuliert hat. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Das ist ein Gesetz der Vernunft. Den kategorischen Imperativ nennen wir seinen Satz. Imperativ. Als wenn man das befehlen könnte.

Warum klappt das nicht?

Berthold Brechts Antwort ist genial. „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“. Barmherzig sein kann nur, wer es sich materiell leisten kann.

Etwas tiefer in die Seele des Menschen schaut der Schriftsteller Albert Camus. Wir haben ihn in den 70zigern und 80zigern leidenschaftlich gern gelesen.
In seinem Buch „Der Fall“ erzählt er von dem Strafverteidiger Clamence. Er ist bekannt für knifflige Fälle, die nicht nur juristischen Sachverstand, sondern auch Mitgefühl und Selbstlosigkeit verlangten. Eines Nachts, auf dem Weg in der Stadt, hört er als einziger den Schrei einer Frau, die in die Seine springt und sich das Leben nimmt. Der Richter Clemance kümmert sich nicht drum und geht unbeteiligt weiter.
Bis in die Geschichte ihn zu Hause einholt. Das Erlebnis hat ihn angestoßen, in sich selbst hineinzuschauen. Er sieht sich völlig neu. Seine Bescheidenheit erkennt  er als Selbstbeweihräucherung, weil sie einem Erfolgreichen gut ansteht. Er entlarvt seine Demut als Herrschsucht. Er will diesem Leben entkommen und wird Bußrichter –so nennt er sich jetzt- in den Slums von Amsterdam. Er will in einer immerwährenden Beichte und Buße allen Richtern das Schwert aus der Hand nehmen. „Richtet, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet“ , er kehrt das Wort Jesu um. Aber auch er entgeht dem Gesetz des Richtens nicht. Es hat was berauschendes, zu richten über andere, in einer Welt, die Gott als Richter nicht mehr kennt.
In einer Welt, in der Gott als Richter abgesetzt ist, wird jeder zum Richter über andere.
Etliche Medien gehen mit konkreten Menschen oft gnadenloser und unbarmherziger um als Gott es jemals tun würde.
Camus lehrt, nur im Zeigen deines Doppelgesichtes können wir miteinander leben.
Die Geschichte von dem Fall des Richters ist Literatur und erscheint fern, aber sie stimmt.

Da kommen zwei Menschen zusammen. Worüber reden sie? Über andere.
Suchen ihre Informationen zusammen, tauschen sie aus, reimen sich was zu recht, bilden ein Urteil, ohne Liebe. Achtlos, Sinnlos.
In allem, was ich über andere Menschen aufpieke, steckt eine Information über mich selber drin.
Manchmal ärgere ich mich über andere. Er nimmt sich raus, was ich mir nicht traue.
Kompensation nennen die Psychologen das.

Jesus öffnet das Thema mit einem Augenzwinkern, fast hintergründigem Humor. Du siehst den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken im eigenen Auge nicht.
Ein Blinder führt einen Blinden und beide fallen in die Grube. Putzige Vorstellung. Recht hat er.

Bedeutet das nun, dass wir uns kein Urteil mehr über andere Menschen erlauben dürfen, um nicht unbarmherzig zu sein?
Luther unterscheidet zwischen einem Richten,  das einem Amt übertragen ist und dem persönlichen Richten. Richten kraft Amt darf es geben, muss es geben. Das private, persönliche Richten nicht, sagt er.

Aber muss man nicht manchmal deutlich reden, gerade unter Freunden? Was ist unsere Freundschaft wert, fragte mich ein Freund aus Studententagen, du sagst mir nie etwas Kritisches. Er hat recht. Vieles bewegt mich, ich könnte es sagen, aber ich tue es nicht.
Welches recht habe ich, zu urteilen, denke ich. Ich verschone. Wir leben in einer Schon-Kultur.
„Ich bin okay, du bist okay“, hieß ein viel gelesenes Buch vor 30 Jahren. Wir haben es verschlungen. Es bestätigte uns. Es ist alles gut. Okay. Okay.

Nur, viele Ehen scheitern an dem, was nicht gesagt wird. Wahrheiten können weh tun. Aber ohne Wahrheit keine Entwicklung einer Beziehung.

Wahrheiten müssen gesagt werden. Manchmal wird man hell wach, wenn einen jemand schüttelt.
Aber der Zusammenhang, in dem sie gesagt werden, ist wichtig. Sie muss im Kontext einer Beziehung gesagt werden.
In seinem letzten Aufsatz hat Dietrich Bonhoeffer dieses Thema durchdacht.
Er überschreibt ihn mit „Was heißt: Die Wahrheit sagen“ ( Ethik) ?
Er erzählt von einem Lehrer, der in der Öffentlichkeit der Schulklasse einen Schüler fragt: „Ist Dein Vater ein Trinker“? Der Junge antwortet: „Nein“.
Der Vater ist ein Trinker. Doch Bonhoeffer sagt, der Lehrer lügt, der Junge sagt die Wahrheit. Der Junge schützt die Familie. Der Lehrer hat kein Recht, in die Ordnung der Familie einzugreifen. „Was in der Familie vorgeht, gehört nicht vor die Ohren der Schulklasse“.
Daraus formuliert Bonhoeffer den Spitzensatz: „Wer ohne Berechtigung und ohne Veranlassung spricht, ist ein Schwätzer“.
Richten, dem anderen die Wahrheit sagen, geschehe nur in einer Beziehung, die mir ein Recht gibt zu sprechen.
So gebietet es der Geist Jesu. Das ist gelebte Barmherzigkeit.

Gott hat eine weisheitliche Ordnung errichtet. So versteht es Lukas. Am Ende wird alles wieder gegeben werden. Eine Ordnung, die sich an der Barmherzigkeit orientiert.

Und Du: Du bist überreichlich beschenkt. Gott war nicht geizig, als er Dir aus seinem Vollen in den Schoss gelegt hat. Er hat das Maß so kräftig geschüttelt, dass möglichst viel rein passt.
In den Situationen, in denen für Dich alles stimmt, da leuchtet davon auf.

 

Perikope
28.06.2015
6,38-46

Predigt zu Lukas 6,36-42 von Christian Stasch

Predigt zu Lukas 6,36-42 von Christian Stasch
6,36-42

Lukas 6, 36:  Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.  37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.  38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.

39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?  40 Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er voll ausgebildet ist, so ist er wie sein Meister.   41 Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?   42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!

Liebe Gemeinde! Gebt. So wird euch gegeben.

„Ach Quatsch, das stimmt doch gar nicht“, denkt Rolf. „Ich hab nichts zu verschenken. Das ist alles sauer verdient. Mir sind schließlich nie gebratene Tauben in den Mund geflogen. Ne, ich hab wirklich nichts zu verschenken.“ Und das, obwohl er mit seinen 64 Jahren und ohne Frau inzwischen nur noch für sich selber sorgen muss.

Rolf erinnert sich an diesen Werbespot, den es jetzt nicht mehr gibt, aber der ihm haften geblieben ist: „Unterm Strich zähl ich“. Stimmt doch – denkt er sich. Kritische Ausdrücke dagegen wie „Ellenbogengesellschaft“, die kann er schon gar nicht mehr hören. Was soll´s: wenn andere ihre Ellenbogen benutzen, dann mach ich´s eben auch.

Gebt, so wird euch gegeben. Diese fünf Worte ziehen sich durch. Ach, wie soll das gehen. Wenn ich was weggebe, hab ich anschließend weniger. Ist doch ganz einfach. Die Punker in der Stadt stehen zehn Meter vor dem Bäckerstand und betteln die Passanten an. Wenn ich den Euro, mit der ich mir die Brezel kaufen will, dem Punker gebe, gibt´s für mich keine Brezel. Und was hätte ich davon? Ne, so blöd bin ich nicht.

Gebt, so wird euch gegeben. Rolf ist skeptisch. In Wahrheit zeigt sich doch: „Undank ist der Welt Lohn“ – ja, das hat er mehr als einmal erlebt. Die Schauspielerin Edda Seippel im Film als Mutter Kempowski spricht ihm aus der Seele mit ihrer Klage: „Da tut und macht man, bis einem das Blut unter den Fingern „hervorsprützt“ – und dann so was.“  

Euch wird gegeben? Na ja, wenn Rolf seinen Lottoschein ausfüllt, hofft er schon, dass er nicht nur den Schein und das Geld abgibt, sondern eines Tages auch mal ein richtiger Geldsegen zurückkommt. Aber das war bislang Fehlanzeige, und er weiß ja auch, dass das der Sinn des Lottospiels der ist, dass die Lottogesellschaft viel mehr einnimmt als sie an Gewinnen ausbezahlt.

Unvergessen ist ihm auch, wie er damals einen Teil seines kleinen Vermögens in Aktien investierte. Der Schauspieler, der von Liebling Kreuzberg… - ihm fällt gerade der Name nicht ein - der hatte so schön dafür geworben. Rolf hat´s probiert. So schnell wie der Aktienkurs fiel, konnte Rolf gar nicht gucken. Gebt, und ihr seid es los.

Wenn die Kinder und die Enkel zum Geburtstag kommen, ja, das ist ein anderes Klima, da ist er dann auch freigiebiger. Das Geld bleibt ja gewissermaßen in der Familie.

Und sie sollen ihm bloß nichts mehr schenken. Ich hab doch alles, sagt er. Diese Sache mit den Geschenken findet er sowieso lästig. Wenn er wo eingeladen war früher, hat er immer lange hin und her überlegt: Was schenke ich, nicht zu groß, das wirkt gönnerhaft, nicht zu klein, das wirkt knauserig, und was habe ich eigentlich das letzte Mal von Michael geschenkt bekommen? Daran könnte ich mich ungefähr orientieren.

Gebt, so wird euch gegeben. Diese fünf Worte ziehen sich hindurch. Ha! Wie peinlich war das, als er mal seinem Cousin ein Buch geschenkt hat, so einen Band mit Erzählungen (hatte er richtig schön ausgesucht), und der das auspackt und ihm ins Gesicht sagt: „Hm, sorry, aber den Autor mag ich ehrlich gesagt überhaupt nicht. Ist leider nichts für mich.“ So als wollte er ihm das Buch sofort zurückgeben. Na toll. Ja, gut, Schenken ist schon manchmal eine Art Tauschgeschäft, mit Schenken und Wieder-geschenkt-bekommen, aber doch nicht so!      

Gebt, so wird euch gegeben. Diese fünf Worte ziehen sich durch, durch den Gottesdienst, in dem die Konfirmanden etwas mit gestalten, und sein eigener Enkeljunge ist mit dabei. Nur seinem Enkel zuliebe ist er mal wieder hingegangen, zur Kirche. In dem Teil vor der Predigt haben die Konfirmanden noch einige weitere Jesusworte zum Thema Gabe und Geben zusammengestellt, und Rolf hört sich das an.

„Liebet eure Feinde. Tut Gutes, und leiht, ohne etwas zurück zu erhoffen, (Rolf muss dabei schlagartig an Griechenland denken)  leiht, ohne etwas zurück zu erhoffen, und euer Lohn wird groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein.“

Jetzt tritt eine Konfirmandin ans Mikro und liest dieses Jesuswort vor: „Wenn du ein Mittag- oder ein Abendessen machst, so lade nicht deine Freunde ein, noch deine Brüder, noch deine Verwandten, noch reiche Nachbarn, damit nicht etwa auch sie dich wieder einladen und dir Vergeltung  zuteilwerde. Sondern wenn du ein Mahl machst, so lade Arme, Krüppel, Lahme, Blinde ein! Und glückselig wirst du sein, weil sie nichts haben, um dir zu vergelten; denn es wird dir vergolten werden bei der Auferstehung der Gerechten.“

Nun ist, mit schlurfendem Gang und orangenen Turnschuhen, sein Enkelsohn an der Reihe. Mensch, ist der Junge groß geworden. „Achtet darauf, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen tut, um ihnen ein Schauspiel zu bieten; wenn aber doch, habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater in den Himmeln. Wenn du nun Geld gibst, sollst du das nicht vor dir her posaunen lassen, sondern es soll  deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut; damit deine Gabe im Verborgenen sei, und Gott, der ins Verborgene sieht, wird dir vergelten.“

Rolf hat aufmerksam zugehört. Beim nachfolgenden Lied ist er mit seinen Gedanken dann noch bei diesen Textausschnitten. Und bei Jesus. Das war ihm vorher nie so klar. Ein Geben, ohne dass der Geber irgendwas davon hätte, wird nicht verlangt. Offensichtlich kritisiert Jesus überhaupt nicht, dass es für eine Gabe auch eine Gegengabe gibt. Und wenn der Beschenkte oder der Eingeladene zu arm ist, dann kommt die Gegengabe, die „Belohnung“, eben nicht von diesem Menschen, sondern später von Gott.   

Allerdings wird Rolf nun gleich wieder stutzig: Wie soll das gehen, dass ein Mensch sich „Lohn“ bei Gott erwirbt… - ist doch eine komische Vorstellung, oder? Und funktioniert das nur für Gläubige? Und woher weiß man, ob es diese himmlische Belohnung dann auch wirklich gibt?

„Unser Leben - ein Geben und Nehmen“, liest Rolf noch mal die Überschrift auf dem Gottesdienstblatt. Ja, gut, dagegen ist nichts zu sagen. Wenn Rolf so sein Leben betrachtet: Er hat sich da so einiges „genommen“, hat beherzt zugegriffen, vieles hart erarbeitet, und er weiß auch, dass er vieles wieder wird weggeben müssen, hat ja auch schon die große Wohnung aufgegeben und wohnt jetzt kleiner, und er weiß: dann ganz am Ende, wann auch immer das sein wird – er nennt es: „den Löffel abgeben“… Die Gedanken nehmen ihn mit.

Oh, stellt Rolf plötzlich fest. Von der Predigt weiß ich fast gar nichts mehr. Peinlich.

Jetzt wird bereits Abendmahl gefeiert. Die junge Pfarrerin singt mit ihrer glockenklaren Stimme die Worte Jesu: „Nehmet hin und esset, das ist mein Leib, der für euch gegeben wird.“ Nehmt hin und esst. Guten Appetit – muss Rolf denken, und ist mit seinen Gedanken kurz bei dem schönen Freitagabend, mit Ingrid beim Argentinier, ein wunderbar rosa Steak haben sie gegessen. Superlecker. Allerdings: Für dieses Lebensmittel hat ein Lebewesen sein Leben gelassen. Hm, Fleischkonsum, Leben auf Kosten anderer, Schuld, kein gutes Thema im Steakhaus, oder? Ingrid machte das anscheinend nichts aus – so als hätte sie für sich eine Antwort darauf. Sie war dann aber so taktvoll, das Gespräch bald woanders hin zu lenken.

„Kommt, alles ist bereit, sehet und schmecket, wie freundlich der Herr ist“, sagt die Pastorin. Gehe ich hin zum Abendmahl, oder nicht? Ach, ich glaub nicht. Von den Konfirmanden gehen auch nur ganz wenige nach vorn. Rolf bleibt sitzen. Um den Altar bildet sich ein Kreis von Abendmahlsgästen. Der Organist entlockt der Orgel zarte Töne, die Raum lassen für eigenes Anknüpfen. Gut, dass ich Ingrid kennen gelernt habe. Was, vier Wochen ist das erst her? Sie ist anders als ich, irgendwie so fröhlich und zuversichtlich, wie macht sie das nur?

Ihr Job wirft kaum mehr ab als Rolfs Rente. Das scheint für sie aber ohnehin nicht so wichtig zu sein. Sie hat so viele Kontakte, bekommt Besuch, macht was mit ihren Freundinnen, ist großzügig. Neulich im Eiscafé, als sie unbedingt zahlen wollte – dieses Trinkgeld! „Das ist viel zu viel, was hast du denn davon?“, schoss es Rolf durch den Sinn, nicht ohne dass er sich für den Gedanken auch schämte.

Ingrid lässt sich ohnehin nicht beirren. Jetzt hat sie der Stadt drei Bänke gestiftet, die stehen am Waldrand, auf ihrem Lieblingsspazierweg. So was fehlte da bislang. Ein Tischler hat die Bänke gebaut, eine Firma hat alles hintransportiert und ausgerichtet, aber gezahlt hat es Ingrid. Die Stadt hat an die Rückseiten der Lehnen Ingrids Namen anbringen lassen. Als kleines Dankeschön. Wenn Ingrid auf einer der Bänke sitzt, die ja nun allen gehören, strahlt sie.

In den Abendmahlskreis da vorn kommt Bewegung. Alle fassen einander an der Hand. Die Pastorin sagt irgendwas zu den Leuten in die Runde, zu leise, als dass Rolf es hören könnte.

Einmal haben Ingrid und er bislang eine Nacht miteinander verbracht, einander hingegeben. Schön war das, sehr schön.

Die Leute setzen sich wieder in die Reihen. Jetzt gibt es noch einen zweiten Kreis. Ach komm schon. Rolf geht hin. Er steht da, umgeben von Menschen, die er nicht kennt. Das Brot wird ohne Eile im Kreis herumgereicht. Nun wird es ihm gegeben. „Brot des Lebens – für dich.“ Rolf nimmt sich ein Stück. Und gibt den Brotkorb weiter. Amen.

Perikope
28.06.2015
6,36-42

Predigt zu Lukas 6,36-42 von Walter Meyer-Roscher

Predigt zu Lukas 6,36-42 von Walter Meyer-Roscher
6,36-42

Liebe Gemeinde,

„Seid unbequem, seid Sand und nicht Öl im Getriebe der Welt“, hat der Schriftsteller Günther Eich meine Generation am Beginn unseres Berufslebens aufgefordert.“ Denkt an das, was ihr für euch und für eure Gesellschaft erreichen wollt“, hat er gemahnt.

Wir haben es damals gehört. Wir haben uns beeindrucken, motivieren, herausfordern lassen. Wir sehen heute: Diese Herausforderung ist aktuell geblieben. Sie ist angesichts einer sich ausbreitenden Politikverdrossenheit gerade unter jungen Menschen vielleicht noch drängender geworden: „Seid unbequem, seid Sand und nicht Öl im Getriebe der Welt“.

Das ist zuerst ein Aufruf, Verantwortung zu übernehmen für die, mit denen wir zusammen leben wollen und zusammen leben müssen, für die Gemeinschaft, in der wir zu Hause sind, und für unsere Gesellschaft, in der alle menschenwürdig leben sollen.

Wer zu dieser Verantwortung bereit ist, muss auch bereit sein, unbequeme Kritik zu üben. Keine Gesellschaft kann auf ihre Kritiker verzichten. Ohne kritisches Mitdenken gibt es keine Veränderung, auch keine Warnung vor falschen Weichenstellungen für unsere Zukunft. Ohne kritisches Mithandeln werden wir letzten Endes zu einer sterilen Gemeinschaft der Angepassten, der müden, stumpfen Mitläufer. Dann unterwerfen wir uns einer Ordnung, die eine freie und von allen Normen und Werten befreite Wirtschaft, ein technischer Fortschritt ohne Ethik, eine Politik ohne Rückfragen nach den geistig-kulturellen Grundlagen unserer Gesellschaft uns vorgibt .Das darf nicht sein! Kritik, auch  unbequeme Kritik bleibt notwendig.

 Aber Kritik kann schnell in verletzende, zerstörende Verurteilung umschlagen. Da geht es plötzlich nicht mehr um das, was allen nützt und für das Gemeinwohl notwendig bleibt. Da werden gegenteilige Meinungen regelrecht verteufelt, andersdenkende Kritiker als gemeinschaftsschädigend abgestempelt, Menschen mit einer anderen religiösen Überzeugung ausgegrenzt – gnadenlos.

Ja, jeder von uns muss sich durchaus selbstkritisch fragen, wie oft auch er mit seiner Kritik richtet und zu einem gnadenlosen Richter wird, obwohl er nicht besser ist als die, die er verurteilt. Was ist das für ein Richter, der selbst auf Gnade angewiesen ist und doch keine Gnade mit anderen kennt?!

Jesus wendet sich an solche Richter: „Du siehst den Splitter im Auge deines Gegenübers. Alle Aufmerksamkeit richtest du darauf, und den Balken im eigenen Auge übersiehst du. Du willst einen Blinden führen, wie kannst du das, wenn du selbst blind bist? Du willst den Balken im eigenen Auge oder die eigene Blindheit nicht wahr haben. Aber das hält keiner durch, irgendwann kommt der Augenblick der Wahrheit.“

Da steht ein Mann eines Nachts in Paris auf einer Brücke, die über die Seine führt. Eben ist vor seinen Augen eine Frau in den Fluss gesprungen. Nun ist sie verschwunden. Und er? Er ist ihr nicht nachgesprungen. Er hat nicht versucht, sie zu retten. Nun ist er da, dieser Augenblick der Wahrheit.

Albert Camus, Literaturnobelpreisträger, hat ihn in seinem Roman „Der Fall“ beschrieben. Darin lässt er seine Hauptperson erkennen: Die eigentliche Antriebskraft in seinem Leben war immer die Sorge, Recht zu haben und Recht zu behalten, über die Unzulänglichkeiten anderer, ihre Fehler, ihr Versagen urteilen zu können, erhaben zu sein über alle anderen. Macht wollte er haben über sie, bewundert wollte er werden.

In dieser Nacht aber auf der Brücke über die Seine gibt es keine Bewunderer. Da gibt es nur die Erkenntnis eigener Unzulänglichkeit und eigenen Versagens. Das aber ist eine andere Wahrheit als die, in deren Besitz er sich wähnte, als er andere mit seiner Kritik beurteilte und so oft gnadenlos aburteilte.

Ja, auf die Wahrheit, die wir zu besitzen meinen, berufen wir uns so gern, und dabei wird unsere Gesellschaft zu einer Bühne, auf der sich die Rechthaber in Fragen von Politik und Wirtschaft, von Wissenschaft und Bildung, auch so viele Rechthaber im religiös-kulturellen Zusammenleben in Szene setzen. Wir sollten  im Blick behalten, dass es einen Augenblick der Wahrheit gibt, der – wie in Camus‘ Roman – den selbstgefälligen Schein zerreißt. Aber was dann?

Der Mann, der eben noch auf der Brücke über die Seine mit der fremden Frau auch das bisherige eigene Leben versinken sieht, glaubt bald darauf, einen genialen Ausweg gefunden zu haben. Er klagt sich selbst an, um dann aber alle anderen zu fragen: „Und Ihr, was würdet Ihr denn tun, wenn Ihr des Nachts auf eine Brücke kämet und vor Euren Augen eine Frau ins Wasser spränge? Ihr nachspringen? Der Fluss ist tief und das Wasser ist kalt. Was würdet Ihr tun?“

Wenn dann die Antwort ausbleibt, kann unser Mann doch aufatmen und denken:“ Ihr seid ja auch nicht besser. Wo ist dann meine Schuld? Muss ich mir überhaupt Vorwürfe machen?“ Würden wir nicht ähnlich reagieren?

Camus gebraucht ein eingängiges, fast zum Lachen reizendes Bild: Man sollte alle Leute unter die gleiche Dusche stellen, um das Recht zu haben, sich selbst ganz an den Rand zu manövrieren, etwas weiter weg von allen anderen. So kann man sich selbst schneller an der Sonne trocknen, während die anderen immer noch unter der Dusche stehen. Ein Geniestreich! Wirklich?

„Du Heuchler“, sagt Jesus. „Er ist ja noch da, der Balken in deinem eigenen Auge. Du kannst die Blindheit nicht leugnen, in der du selbst lebst. Das ist kein Ausweg, sich durch einen Trick darüber hinwegzutäuschen. Das macht die Sache nur noch schlimmer. Wer kann denn in einer Atmosphäre dauernder Selbstrechtfertigung und gegenseitigen Verurteilens noch mit anderen und für andere verantwortlich handeln? Richtet nicht, verurteilt nicht!  Erhebt euch nicht über die anderen. Ihr seid aufeinander angewiesen – nicht als Richter und nicht als Angeklagte, sondern als Menschen, die auch Gnade vor Recht ergehen lassen, die gnädig miteinander umgehen können.“

Vielleicht ist das ein Ausweg, wenn wir zuerst einmal in den Blick bekommen, wovon wir denn eigentlich leben und was unser Zusammenleben überhaupt erst  möglich macht. Ich denke jetzt an alltägliche Erfahrungen, die mancher in der Hetze des Alltags auch leicht wieder vergisst. Wir haben Menschen, die uns lieben und uns verstehen. Wir können mit guten Freunden umgehen. Wir erfahren oft Zuwendung und Fürsorge, wo wir sie gar nicht erwartet haben. Können wir überhaupt existieren, ohne dass andere uns mit solcher Zuwendung und Fürsorge begleiten, ohne dass sie bereit sind, auch einmal Gnade vor Recht ergehen zu lassen?

Wir leben von solchen Erfahrungen, und wir sollten sie mit offenen Augen wahrnehmen. Dann bleibt unser Blick nämlich nicht mehr an uns selbst hängen.  Dann geht er in eine andere Richtung und konzentriert sich auf das, was wir Gott sei Dank jeden Tag bekommen – trotz manchen Versagens und ohne jeden Rechtsanspruch: Freiraum, Lebensraum!

Dann kommt plötzlich Gott in den Blick, aber nicht als Richter, der Versagen und Schuld aufrechnet und ein gnadenloses Urteil spricht. Jesus redet ja anders von Gott. Er nennt ihn den Vater, der barmherzig ist und gnädig mit uns umgeht, auch wenn wir das nicht verdient haben. Ich erinnere an eine der großen Geschichten, die Jesus von diesem Vater erzählt hat: Er wartet auf seinen Sohn. Der ist vor Jahren auf und davon gegangen, mit allem Vermögen, das ihm zustand. Er hat es durchgebracht, ohne sich damit eine neue Existenz aufzubauen. Jetzt ist ihm nichts mehr geblieben – nur noch die Erinnerung an das Zuhause und an den Vater. Aber wie wird der reagieren, wenn der missratene, verlorene Sohn als mittelloser Versager zurückkommt? Er geht dem Sohn entgegen! Er hat ja auf ihn gewartet. Sein Versagen hält er ihm nicht vor. Seine Vergangenheit rechnet er nicht auf. Im Gegenteil! Er setzt ihn wieder in seine Rechte ein, ein gnädiger Vater.

Das hat Jesus sagen wollen: Gott legt uns nicht fest auf unser Versagen, unsere Versäumnisse, unser Unvermögen. Er verurteilt nicht:  Missraten, höchstens noch bedingt tauglich. Er stempelt uns nicht auf ewig als Versager ab. Er gibt uns vielmehr jeden Tag eine Chance des neuen Anfangs.

Jesus sagt: „Das ist viel, das ist ein überfließendes Maß. Davon lebst du. Du kannst es dir leisten, auf Selbstrechtfertigung und gegenseitiges Verurteilen zu verzichten. Du kannst es dir leisten, die  Zuwendung, die du selbst jeden Tag erfährst, weiter zu geben. Du kannst es dir leisten, gnädig mit denen umzugehen, die dir etwas schuldig geblieben sind. Du brauchst nicht mehr ängstlich auf dich oder dein Gegenüber zu starren. Der Blick auf einen weiten Horizont ist frei geworden.“

Da gehen zwei Menschen an einem Fluss entlang. Sie gehen in die gleiche Richtung. Sie haben das gleiche Ziel. Nur geht jeder auf einer anderen Seite. Wenn sie aufeinander starren, sehen sie nur den breiten Fluss, der sie trennt. Wenn sie aber zurück oder nach vorn auf den weiten Horizont blicken, wird der trennende Fluss zu einem schmalen Strich. Unter dem weiten Horizont laufen die Linien ineinander. Da stehen die Menschen beieinander.

„Seid doch barmherzig“, sagt Jesus, „wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist! Seht das Gemeinsame, unsere gemeinsame Abhängigkeit von der Barmherzigkeit Gottes. Da verlieren die Gegensätze ihre zerstörerische Schärfe. Da können sachliche Differenzen auch sachlich ausgetragen werden. Kritisiert und beurteilt! Es geht nicht anders. Aber werft euch nicht zu Richtern auf, die nur den Splitter im Auge ihres Gegenübers, aber nicht den Balken im eigenen Auge sehen, die sich als Blindenführer gebärden, obwohl sie selbst blind sind.  Verurteilt keinen Menschen. Seid doch barmherzig, denkt daran: ohne Barmherzigkeit ist jede Solidargemeinschaft existenzunfähig und wird nicht überleben. Darum lasst  Barmherzigkeit zu in eurem Zusammenleben. Barmherzigkeit ist ein guter Wegweiser in eine menschenwürdige Zukunft.

Amen

 

Perikope
28.06.2015
6,36-42

„Den anderen, findigen Gott - und die andern auch alle“ - Predigt zu Lukas 15,1-3.11-32 von Dörte Gebhard

„Den anderen, findigen Gott - und die andern auch alle“ - Predigt zu Lukas 15,1-3.11-32 von Dörte Gebhard
15,1-3.11-32

„Den anderen, findigen Gott - und die andern auch alle“

(Predigt im OpenAirGottesdienst in Bottenwil/Schweiz)

Liebe Gemeinde

Wie oft schon ist dieser Sohn vor unseren Ohren fortgegangen und heimgekehrt!
Wie oft schon haben wir die unglaubliche Geschichte aus dem Lukasevangelium gehört,
wie oft sagen wir immer noch, es sei das Gleichnis vom „verlorenen Sohn“.

Davon handelt die Passage im Lukasevangelium ganz höchstens am Rande. Hören Sie selbst, wie der berühmt-berüchtigte Sohn gerade nicht verloren geht:

1 Alle Zöllner und Sünder suchten seine Nähe, um ihm zuzuhören. 2 Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten: Der nimmt Sünder auf und isst mit ihnen. 3 Er aber erzählte ihnen das folgende Gleichnis:

11 Und er sprach: Ein Mann hatte zwei Söhne. 12 Und der jüngere von ihnen sagte zum Vater: Vater, gib mir den Teil des Vermögens, der mir zusteht. Da teilte er alles, was er hatte, unter ihnen. 13 Wenige Tage danach machte der jüngere Sohn alles zu Geld und zog in ein fernes Land. Dort lebte er in Saus und Braus und verschleuderte sein Vermögen. 14 Als er aber alles aufgebraucht hatte, kam eine schwere Hungersnot über jenes Land, und er geriet in Not. 15 Da ging er und hängte sich an einen der Bürger jenes Landes, der schickte ihn auf seine Felder, die Schweine zu hüten. 16 Und er wäre zufrieden gewesen, sich den Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Schweine frassen, doch niemand gab ihm davon. 17 Da ging er in sich und sagte: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot in Hülle und Fülle, ich aber komme hier vor Hunger um. 18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. 19 Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen; stelle mich wie einen deiner Tagelöhner. 20 Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater.

Er war noch weit weg, da sah ihn sein Vater schon und fühlte Mitleid, und er eilte ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. 21 Der Sohn aber sagte zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen. 22 Da sagte der Vater zu seinen Knechten: Schnell, bringt das beste Gewand und zieht es ihm an! Und gebt ihm einen Ring an die Hand und Schuhe für die Füsse. 23 Holt das Mastkalb, schlachtet es, und wir wollen essen und fröhlich sein! 24 Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an zu feiern. 25 Sein älterer Sohn aber war auf dem Feld. Und als er kam und sich dem Haus näherte, hörte er Musik und Tanz. 26 Und er rief einen von den Knechten herbei und erkundigte sich, was das sei. 27 Der sagte zu ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das Mastkalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederbekommen hat. 28 Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Sein Vater aber kam heraus und redete ihm zu. 29 Er aber entgegnete seinem Vater: All die Jahre diene ich dir nun, und nie habe ich ein Gebot von dir übertreten. Doch mir hast du nie einen Ziegenbock gegeben, dass ich mit meinen Freunden hätte feiern können. 30 Aber nun, da dein Sohn heimgekommen ist, der da, der dein Vermögen mit Huren verprasst hat, hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet. 31 Er aber sagte zu ihm: Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist dein. 32 Feiern muss man jetzt und sich freuen, denn dieser dein Bruder war tot und ist lebendig geworden, war verloren und ist gefunden worden.


Liebe Gemeinde

Wäre der Sohn letztlich und ganz und gar verloren gegangen, hätte Lukas diese Passage nicht in sein Evangelium aufnehmen müssen.
Er hätte es als bekannt voraussetzen können. Wir wissen, wie jemand in die grosse, weite Welt hinauszieht und dabei natürlich auch verloren gehen kann, wie jemand nur eine halbe Weltreise schafft, wie jemand abbricht, was er vorhatte, zerbricht an sich selbst ...
Wir kennen solche Söhne, die in die Welt hinausgezogen sind, von denen nie wieder jemand hörte, die für uns verloren gegangen sind.
Wir kennen sogar Väter, die im Alkohol verloren gehen, wenn das Leben daheim misslingt, auch ohne dass sie je gross losgezogen wären.
Wir kennen solche Mütter, die sich selbst verlieren in der Sorge um ihre Kinder, die das Mass des Sinnvollen verloren haben ...
Wir kennen solche Töchter, die ihr Leben verlieren, nur weil sie es verloren glaubten, die bei der Suche nach echtem Leben den echten Tod früher finden.
Wir kennen uns selbst – zur Genüge, wie wir uns verlieren können in Nichtigkeiten, wie schnell wir die Suche aufgeben, wenn etwas verloren gegangen ist, ...
Damals kannten alle Juden auch das Gebot der Thora, was mit so einem scheinbar verlorenen, widerspenstigen Sohn zu geschehen hat. Wer alles verloren hat, was er zum Leben nötig hat, sollte einst auch sein Leben verlieren. Es heisst in der Thora, im 5. Buch Mose:

Wenn jemand einen widerspenstigen und ungehorsamen Sohn hat, der der Stimme seines Vaters und seiner Mutter nicht gehorcht und auch, wenn sie ihn züchtigen, ihnen nicht gehorchen will, so sollen ihn Vater und Mutter ergreifen und zu den Ältesten der Stadt führen und zu dem Tor des Ortes und zu den Ältesten der Stadt sagen: Dieser unser Sohn ist widerspenstig und ungehorsam und gehorcht unserer Stimme nicht und ist ein Prasser und Trunkenbold. So sollen ihn steinigen alle Leute seiner Stadt, dass er sterbe, und du sollst so das Böse aus deiner Mitte wegtun, dass ganz Israel aufhorche und sich fürchte ...
(5. Mose 21,18-21)


Steinigen ist wieder alltäglich geworden auf unserer Welt, und nicht nur steinigen, so zeigen es  die Videos der Terroristen, die voller Stolz und unerträglicher Menschenverachtung im Namen Gottes auftreten und doch nur ihre eigene Gewalttätigkeit vergöttert haben.
Steinigen kann jeder, so lehren es die grausamen Bilder dieser Tage,
normale Menschen lassen sich radikalisieren und werden fähig, ihre eigenen Leute, ihre Nächsten umzubringen.

Gewaltexzesse sind der Menschheit zu keiner Zeit ‚abhanden’ gekommen, foltern und steinigen sind nicht nur vereinzelten Psychopathen möglich, sondern können sich offenbar immer wieder ausbreiten, wenn Menschen Gehirnwäschen unterzogen und ihr Aggressionspotential entdeckt und fürchterlich fruchtbar gemacht wird.

Steinigen ist nicht so weit entfernt, wie es der steinalte Bibeltext nahelegt.
Auch im 21. Jahrhundert gehen Menschen verloren, finden sich Menschen zum Steinigen bereit und leben in der Gewissheit, dass es mehr als gut und gerecht ist, was sie tun. Und beschämt müssen wir bekennen, dass auch in Europa die Hoffnungslosigkeit unter manchen Jugendlichen so gross ist, dass sie sich Lebenssinn und Anerkennung, sogar ein besseres Leben versprechen, wenn sie nach Syrien reisen und sich dem Islamischen Staat, dem IS, anschliessen.
Ob diese Söhne und Töchter verloren sind?
Die Passage im Lukasevangelium lässt anderes hoffen.

Liebe Gemeinde

Das alte Steinigungsgebot und die aktuellen Gewaltausbrüche setzt Lukas als bekannt voraus. Anderes, Neues muss er berichten, vor allem von einem anderen, findigen Vater.

Es ist ein Vater, wie ihn die Welt nicht alle Tage sieht, aber stets nötig hat.
Wir sollten einen solchen Vater kennen!
Das Gleichnis handelt vor allen Dingen von Gott, viel mehr noch als von einem losgezogenen und heimgekehrten Sohn.

Denn ein normaler, orientalischer Patriarch täte das Geschilderte alles nicht und schon gar nicht in dieser Reihenfolge!
Zuerst sieht er seinen Sohn schon von weitem, als hätte er Tag und Nacht nach ihm Ausschau gehalten.
Er war noch weit weg, da sah ihn sein Vater schon ...
Wer von uns hält denn dauerhaft Ausschau nach dem, was er für verloren, sogar für tot hält? Wer hält das aus? Wer hält das durch?
Manche Menschen vermögen es, aber sie werden selten berühmt und wir kennen ihre Namen nicht. Aber es gibt sie und es gibt:
Gott, den anderen, findigen Vater.

Er war noch weit weg, da sah ihn sein Vater schon und fühlte Mitleid.
Wer von uns kann auf weite Distanz Mitleid empfinden? Wen jammert ein Leid, das er nur im Fernsehen sieht? Eine Not, die er nur von Ferne sieht?
Und wer hat Mitleid, überhaupt, wenn es vollkommen selbstverschuldet abwärts ging?

Manche Menschen vermögen es, und brechen auf, um zu helfen in den Krisen- und Kriegsgebieten dieser Welt; solche, die es nicht nötig hätten, gehen zu den „Ärzten ohne Grenzen“, obwohl sie auch ein  vergleichsweise beschauliches Arbeitsleben in einem westeuropäischen Krankenhaus wählen könnten.
Wir kennen ihre Namen kaum, aber doch einen, der zu diesem besonderen Mitleid immer fähig ist:
Gott, den anderen, findigen Vater.

Er war noch weit weg, da sah ihn sein Vater schon und fühlte Mitleid, und er eilte ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.

Ein normaler, orientalischer Patriarch rennt grundsätzlich nicht, schon gar nicht so einem entgegen!

Wenn wir von jemandem Reue erwarten, mindestens eine Entschuldigung, dann lassen wir ihn zu uns kommen und hören das an, natürlich, wir sind anständig. Aber rennen wir raus und herzen und küssen einen, der noch mit keinem Ton um Vergebung gebeten hat? Von dem es beim besten Willen nichts Positives zu berichten gibt?
Manche Menschen haben ein so weites Herz und wohl dem, der auch nur einen von ihnen kennt, und:
Gott, den anderen, findigen Vater.

Es ist mehr als gut zu erkennen: Gottes ‚Findigkeit’ ist grösser als unsere menschlichen Möglichkeiten, ganz verloren zu gehen.

Das ist Grund zu einer Freude, mit der sich Menschen manchmal schwer tun.
Und sie fingen an zu feiern. 
Das wäre eigentlich ein geeigneter, letzter Satz!
Aber, leider, nur sie feierten, nicht: Alle feierten.
Wir kennen solche älteren Brüder, die sich nicht freuen können, solche, die immer alles richtig gemacht haben, jahrelang, solche, die nun auch auch einen solchen Vorrat an Rechtschaffenheit aufgehäuft haben, dass er für jahrelange Vorwürfe reicht: Ich habe immer gearbeitet, ich habe nie gefeiert ...
All die Jahre diene ich dir nun, und nie habe ich ein Gebot von dir übertreten. Doch mir hast du nie einen Ziegenbock gegeben, dass ich mit meinen Freunden hätte feiern können.

Echtes, hilfreiches Mitleid ist nicht alle Tage zu finden. Ehrliche Mitfreude aber ist noch seltener anzutreffen.
Mitleid, so schreibt Jürgen Moltmann[1], ist viel leichter zu haben als Mitfreude.
Mitfreude ist ein Wort, dass wir fast zuerst erfinden müssen, so ungewohnt kommt es uns über die Lippen.
Im Mitleid können wir uns hinabbeugen, kommen also von oben. Mitfreude aber bedarf des Aufblickens, der völligen Selbstlosigkeit für einen Moment. Jedes Nachrechnen, jeder Vergleich mit dem Eigenen verdirbt sofort alles. Wenn das Herz voller Neid ist, hat die Freude keinen Platz daneben. Echte Mitfreude braucht viel Raum, braucht Zeit.

Jürgen Moltmann, der grosse Theologe der Hoffnung, hat ein altersweitsichtiges Buch geschrieben. Rainer Haak fasst die Freude zusammen, wenn man das überhaupt kann:

„Freude ist der Sinn menschlichen Lebens. Für die Freude an Gott wurden Menschen geschaffen. Für die Freude am Leben wurden sie geboren. Damit werden die oft gestellten Lebensfragen: Wozu bin ich da? Bin ich noch brauchbar? Kann ich mich nützlich machen? aus den Angeln gehoben. Es gibt keine Zwecke und keinen Nutzen, für die menschliches Leben da sein muss. Es gibt keine ethischen Ziele oder idealen Zwecke, mit denen sich menschliches Leben rechtfertigen muss. Das Leben selbst ist gut. Dasein ist schön und Hiersein ist herrlich. Wir leben, um zu leben.
Die Arbeitswelt der modernen Industriegesellschaft erzieht schon Kinder in der Kita mit solchen bedrohlichen Existenzfragen, nach denen der Sinn des Lebens in Zwecken und Nutzen liegen soll. Wer aber den Sinn seines Lebens in Brauchbarkeiten und Nützlichkeiten findet, kommt unausweichlich in Lebenskrisen, wenn er krank, behindert oder alt wird. Der „Sinn“ des Lebens liegt nicht außerhalb des Lebens, sondern in ihm selbst. …“[2]

Die Religion, die Rückbindung Gott, sei daher, so Moltmann, an den Fest-punkten des Lebens entstanden. Rel-igion begann, wenn es etwas zu feiern gab, nicht an den Unglücksorten eines Volkes. Gott war bei unseren frühen Vorfahren nicht zuerst gefragt, wenn es not-wendig war, sondern wenn sein Dasein Grund zur Freude gab.
Im älteren Testament wird immer wieder betont, dass Gott nicht nur Freude macht, sondern sich selbst auch freut.
Der Prophet Zephania hat davon eine echte Ahnung und ist erfüllt von Mitfreude:

Fürchte dich nicht, Zion! Lass deine Hände nicht sinken! Denn der HERR, dein Gott, ist bei dir, ein starker Heiland. Er wird sich über dich freuen und dir freundlich sein, er wird dir vergeben in seiner Liebe und wird über dich mit Jauchzen fröhlich sein. (Zeph 3, 16f).

Gott hat Freude – beim Suchen und noch mehr beim Finden.
So kann man sich vorstellen, dass Gott auch Freude erhofft, spontan und erstaunt, später auch die Mitfreude. Das Gleichnis bei Lukas hört auf, ehe wir erfahren, ob der ältere Bruder noch feiern konnte.

Aber wir hoffen es! So kann der allerletzte Satz im Gleichnis über den anderen, findigen Vater und die andern alle doch für uns heissen: „Freude herrscht.“[3]

Die Betonung lag damals auf „Freude herrscht!“ – nun wäre zu sagen: „Freude herrscht!“
Für den einen ist das leicht, für den anderen und überhaupt: für die 99 Gerechten ein wenig schwieriger, aber es ist zu schaffen, dass „Freude herrscht!“

Und der Friede und die Freude Gottes, die höher sind als unsere Vernunft, die stärken und bewahren Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen

 

[1]  Vgl. zum ganzen Gedankengang über die Freude Jürgen Moltmann, Der lebendige Gott und die Fülle des Lebens. Auch ein Beitrag zur Atheismusdebatte unserer Zeit, Gütersloh 2014, S. 91-101.

[2]  Rainer Haak: Glaubenssplitter. Ein frischer Blick auf den „alten“ Glauben, unter www.glaubenssplitter.com, abgerufen am 17. 6. 2015 in seinen Gedanken zu Moltmanns Buch.

[3]  Adolf Ogi. Als der erste Schweizer Astronaut Claude Nicollier die Erde umkreiste, begrüsste ihn Adolf Ogi am 7. August 1992 mit seinem rasch zum Bonmot gewordenen «Freude herrscht».

 

 

Perikope
21.06.2015
15,1-3.11-32

Predigt zu Lukas 15,1-3.11b-32 von Andreas Schwarz

Predigt zu Lukas 15,1-3.11b-32 von Andreas Schwarz
15,1-3.11b-32

1 Es nahten sich ihm aber allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören.
2 Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.
3 Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach:
11 Ein Mensch hatte zwei Söhne.
12 Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie.
13 Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen.
14 Als er nun all das Seine verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land und er fing an zu darben
15 und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten.
16 Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm.
17 Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger!
18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.
19 Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner!
20 Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn; er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.
21 Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße.
22 Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße
23 und bringt das gemästete Kalb und schlachtet's; lasst uns essen und fröhlich sein!
24 Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.
25 Aber der ältere Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen
26 und rief zu sich einen der Knechte und fragte, was das wäre.
27 Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederhat.
28 Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn.
29 Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre.
30 Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.
31 Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein.
32 Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.

Eine Familiengeschichte, wie sie häufig vorkommt.
Ein junger Mensch verabschiedet sich aus dem warmen und sicheren Nest der Familie.
Weder rebellisch noch sündig.
Dem Ruf der Freiheit folgend.
Ich muss raus. Raus aus der Geborgenheit.
Ich will lernen, auf eigenen Füßen zu stehen.
Dafür verzichte ich darauf, dass zuhause für mich gesorgt wird – um alles.
Ich möchte mich ausprobieren, eigene Wege gehen,
ohne zu wissen, wohin mich das führt.
Und ob ich ankomme wo ich will oder ganz woanders hingeführt werde,
das Risiko gehe ich ein.
Ich möchte gehen, ohne jemandem sagen zu müssen wohin
oder wann ich nachhause komme.
Wenn ich nachts nachhause komme, möchte ich niemanden wecken und ich möchte auch nicht gefragt werden, wo ich war und warum ich erst jetzt komme.
Ich möchte nicht, dass jemand sich Sorgen macht.
Ich möchte nichts begründen und mich nicht rechtfertigen müssen.
Gerne will ich dafür auf Fürsorge und Sicherheit verzichten.
Ich spüre ganz tief in mir die Sehnsucht, Bindungen und Fesseln abzustreifen.
Ich will Freiheit erleben, wie ich sie mir wünsche.
Und wenn mich die harte Realität auf den Boden der Tatsachen des Lebens zurückholt, dann will ich auf meine Erfahrung nicht verzichtet haben.
Ich glaube, ich kann nie der werden, der ich bin,
wenn ich immer da bleibe, wo ich bin.
Ich lerne mich selbst auch erst kennen,
wenn ich nicht die klaren Regeln und Formen der Familie immer um sich habe.
Ich möchte selbst überlegen und entscheiden.
Ich bin bereit, auch selbst die Konsequenzen  meines Tuns zu tragen.

Wie will ich leben?
Wie übernehme ich Verantwortung für das, was ich tue?
Wie viel Schutz und Begleitung brauche ich?
Wie viel Risiko kann ich eingehen?
Kann ich damit umgehen, wenn es anders wird, als ich wollte?
Was mache ich, wenn Träume platzen und Hoffnungen scheitern?
Wie will ich leben?
Freue ich mich, wenn andere mir sagen, wie es geht
und ich entspreche den Erwartungen?
Brauche ich die Freiheit eigener Wege – ohne Netz und doppelten Boden?

Menschheitsfragen.
Keineswegs moderne Selbstverwirklichung.
Selbsterfahrung des Menschen zu allen Zeiten.
An keiner Stelle der Geschichte kritisiert der Vater das Verhalten des Sohnes.
Kein mahnendes Wort, dass er sich auszahlen lässt.
Es steht ihm zu.
Er ist der Jüngere. Den Hof des Vaters bekommt er später ohnehin nicht.
Er erhält, was ihm zusteht und verliert damit jeglichen Erbanspruch.
Mehrere Familien kann der Hof nicht ernähren.
Der Jüngere ist genötigt, sich anderswo den Lebensunterhalt zu verdienen.
Der Vater lässt seinen jüngeren Sohn gehen.
Ohne ein böses Wort.
Ohne ihm ein schlechtes Gewissen zu machen.
Ohne Ratschläge und Verhaltensmaßregeln.
Mit ganz viel Vertrauen und viel Hoffnung, sicher.

Und es ist gut, dass die Eltern nicht alles, wissen, was geschieht.
Wie der Sohn sein Leben führt und wie es ihm ergeht.
Dass er sein Erbteil verschleudert.
Dass eine Wirtschaftskrise ausbricht, Menschen Hunger leiden.
Dass er in der schweren Zeit nicht arbeiten und seinen Lebensunterhalt verdienen kann.
Dass es bergab mit ihm geht, in jeder Hinsicht.
Er verliert alles, was für ihn wichtig war, was sein Leben bestimmt hat:
sein Erbe hat er verschleudert, seine religiöse Grundlagen gehen vor die Hunde, oder besser: zu den Schweinen,
und für sein Leben gibt es keine Form der Sicherheit mehr.
Er ist am Ende.
Das ist eine entwürdigende Situation.
Selbst fühlst du dich keineswegs wohl dabei, du kannst dich selbst nicht mehr riechen, wenn du bei den Schweinen lebst. Du würdest Schweinefraß fressen, wenn du dürftest, aber nicht einmal das ist erlaubt. Tiefer geht es nicht mehr.
Und bevor du überhaupt mit jemandem redest, hörst du schon die Vorhaltungen.  „Siehst du, so geht das, wenn man meint, alles selber entscheiden zu müssen, wenn man meint, frei sein zu wollen. Jetzt hast du deine Freiheit. Ich hätte es dir ja gleich sagen können, aber du hast ja nicht auf mich gehört“. 
Ach, diese unglaublichen Besserwisser.
Die haben ja wahrscheinlich alle nur darauf gewartet, dass es so kommt.
Die wussten ja schon immer, dass man seine Sicherheiten nicht weggibt, dass man sein Erbe nicht verschleudert.
„Keine Verantwortung, diese jungen Leute, kein Gespür für das, was im Leben und seiner Zukunft wirklich wichtig ist. Bleibe im Lande und nähre dich redlich – das wusste schon die Weisheit Israels; und die Eltern wissen auch, wo es langgeht. Hör doch auf die Lebenserfahrung der Alten. Aber nein, alles besser wissen. Das hast du jetzt davon“.

Glaubt irgendjemand, der Junge hätte große Lust nachhause zu gehen?
Und sich das anzuhören?
Er weiß es doch.
Ja, ihr habt ja Recht. Es gibt nichts zu beschönigen, nichts zu entschuldigen.
Ich habe nichts mehr, ich stinke, niemand will mit mir zu tun haben.
Das trage ich nun.
Und auch die zahlreichen Sprüche, Belehrungen, Vorhaltungen, Besserwissereien. Da ich sowieso überall untendurch bin, vor allem bei mir selbst, kann ich auch zu meinem Vater gehen. Arbeiten kann ich und will ich ja auch, dann kann ich wenigstens leben und nicht vegetieren. Ich bin nicht mehr ganz unten, bei den Schweinen.
Vieles habe ich verloren, im Grunde genommen alles – mein Geld, meinen Erbanspruch, mein Recht Sohn zu sein, die Achtung vor Anderen und vor mir selbst, meine religiösen Grundsätze. Aber ich kann arbeiten und ich will leben. Ich werde zu meinem Vater gehen, zugeben, dass ich mich falsch verhalten habe, dass ich Fehler gemacht habe, dass ich keinen anderen Weg mehr weiß, als zu ihm zu gehen.
Das Szenario musste von Anfang an auf der Liste gestanden haben.
Aber wenn es dann kommt, dann ist es doch bitter.
Sein Traum von Freiheit ist geplatzt.
Seine Sehnsucht, die ihn nach draußen trieb, hat sich nicht erfüllt.
Jetzt sehnt er sich nach einfachen Dingen: Essen, trinken, ein Dach über dem Kopf. Die Ansprüche sind spürbar niedriger geworden.
Das macht er zuerst mit sich aus, in seinem Kopf, in seinem Herzen.
Kein leichter Weg, zu sehen: ich bin gescheitert.
Ein schweres Vorhaben, es auch anderen gegenüber einzugestehen.
Dem Vater, der Mutter, den Geschwistern.
Er hat keine Ahnung, was die denken.
Ob sie ihn vergessen haben?
Abgeschrieben?

Das Herz des Vaters ist voller Sehnsucht.
Was immer der Sohn an Gedanken seines Vaters gemutmaßt hat,
der Vater sehnt sich nach seinem Sohn.
Sowie er seinen Sohn von Weitem sieht,
läuft er auf ihn zu und nimmt ihn in die Arme.
Und wenn er noch so dreckig ist und stinkt, er drückt ihn an sein Herz.
Da nämlich gehört er ihn – und war er wohl auch immer – am Herz des Vaters.
Die Sehnsucht erfüllt sich.
Durch nichts konnte der Sohn die Liebe des Vaters zu seinem Sohn zerstören.
Das ist, was Eltern spüren und erleben.
Liebe zu ihren Kindern auch dann, wenn sie ganz anders denken und handeln, als sie es für richtig erachten.
Kinder, um die sie sich Sorgen machen, auch wenn sie längst erwachsen sind. Kinder, die immer willkommen sind.
Türen und Herzen und Arme stehen ihnen offen, wo immer sie waren, was immer sie erlebt haben.
Wo warst du?
Warum bist du weggegangen ist?
Wo ist dein Geld?
Was hast du angestellt hat?
Warum bist du so dreckig und stinkst so widerlich?
Nicht davon. Keine Frage. Kein Wort.
Der Vater nimmt seinen Sohn in die Arme: Du bist mein Sohn.
Du kannst in deinem Leben viel kaputt machen, du kannst so viel verspielen, du kannst deine Zukunft riskieren, deine Gesundheit, dein Ansehen, deine moralischen Prinzipien. Aber mein Sohn zu sein verlierst du nicht.
Du bist nicht deshalb wieder Sohn, weil du deine Fehler bekannt hast, weil du deine Reue ausgedrückt hast, weil du zugegeben hast, dass du versagt hast.
Du bist mein Sohn, weil ich dich liebe.
Ich freue mich, dass du wieder da bist.
Du hast deine Würde nicht verloren und sollst leben.

Wer spürt, dass er geliebt wird, der hat auch Mut, Fehler zuzugeben und um Verzeihung zu bitten.
Aber darauf antwortet der Vater gar nicht.
Er ordnet ein Freudenfest an.
Alle auf dem Hof sollen sich mitfreuen, dass der Sohn wieder da ist, als Teil der Familie. Wie vorher.
Jetzt gibt es tatsächlich eine neue Chance; es ist nicht alles vorbei.
Das Leben kann neu beginnen und es ist um mehrere Erfahrungen reicher.
Vor allem um die: ich wurde nicht abgeschrieben, ich wurde nicht aus dem Familienbuch gestrichen, ich musste mir das Zuhause sein nicht verdienen, erarbeiten. Mir wurde verziehen, bevor ich um Verzeihung bitten konnte.
Mit dieser Erfahrung lässt es sich jetzt tatsächlich neu anfangen und ganz anders leben. Die vorher wenig miteinander geredet hatten, die sagen und zeigen, wie es ihnen ums Herz ist und feiern miteinander. 
Und sie lebten glücklich und zufrieden miteinander ihr ganzes Leben.
Wäre es ein Märchen, könnte dieser Satz folgen.
Aber es ist kein Märchen, es ist das Leben.
Und das hat keinen Schluss. Es ist offen.
Jesus sieht die Menschen, wie sie leben und wie sie miteinander umgehen.
Er lässt sie Neues erleben. Er hat Menschen neue Chancen geschenkt.
Denen, die erleben, sie sind gescheitert. Er hat die Prostituierten, die Zöllner angenommen und ihnen eine neue Lebenschance gegeben.
Aber nicht jeder will sich mitfreuen.
Denn es ist nicht nur der Drang nach Freiheit, den wir spüren,
nicht nur die angenehme Erfahrung, unverdient angenommen zu werden.
Es ist auch der Ärger über Andere und die Hilflosigkeit, damit umzugehen.
Der ältere Sohn kann sich nicht mitfreuen, dass sein Bruder, den er im Gespräch ‚dein Sohn‘ nennt, wieder da ist und der Vater sich auch noch darüber freut!
Furchtbar mitzuerleben, dass Vater und Sohn scheinbar nie wirklich miteinander geredet haben. Der Sohn hat nie gesagt, was er möchte, worüber er sich freut. Er hat geschwiegen, hat treu und zuverlässig, aber offensichtlich ohne Freude seine Arbeit gemacht. Und jetzt kommt raus, wie unzufrieden er ist. Jahrelang hat er es mit sich herumgetragen – und jetzt ist die Heimkehr des kleinen Bruders der Anlass, es dem Vater vorzuwerfen.
Der Vater wirbt um seinen älteren Sohn, dass er sich mitfreut.
Er war doch frei, er war zuhause, er hatte jede Chance und jedes Recht zu sagen, was er möchte, zu tun, was er wollte und verantwortete. All die Jahre wäre es leicht gewesen, darüber zu reden. Jetzt ist es schwer. Jetzt geht es um eine innere Überwindung. Das Gefühl, falsch, schlecht, ungerecht behandelt worden zu sein, verhindert die Mitfreude. Aber der Vater hört nicht auf, genau darum zu bitten.
Die Geschichte löst den Konflikt nicht.
Es ist unsere Geschichte, es sind unsere ungelösten Konflikte. Mit Gott und untereinander. Sie stehen unter dem Werben des himmlischen Vaters.
Die Freude, zu Gott zu gehören ist wichtiger als alle bedrückende Erfahrung – ich werde nicht ernst genommen, nicht genug geachtet und wert geschätzt.
Der Vater liebt den einen wie den anderen.
Indem Jesus diese Geschichte erzählt, wirbt er um das Vertrauen in die Liebe des Vaters. Die Geschichte hat kein Ende – die Einladung zur Freude gilt uns.
Gemeinsames Feiern wäre der erste Schritt auf dem Weg zu einer gelingenden Kommunikation zwischen dem Vater und seinen beiden Söhnen. Amen.
 

Perikope
21.06.2015
15,1-3.11b-32