Weg- und weg-Geschichten – Jesus Christus mitten unter uns – Predigt zu Lukas 10,38-42 von Maximilian Heßlein
Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihnen zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll! Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden. Lk 10,38-42
Liebe Gemeinde,
weitergezogen und angekommen. Angekommen und weitergezogen. So erzählt es der Evangelist Lukas. So erzählen es alle Evangelien. Jesus ist mit seinen Jüngern unterwegs. Die ganze Zeit. Er begegnet Menschen, hinterlässt eine tiefe Wirkung. Dann ist er wieder weg. Auf dem Weg. Der Herr zieht weiter und kommt an anderer Stelle neu an. Sein Wort, seine Gegenwart und seine Nähe zu den Menschen aber bleiben. Gott mit uns. Jesus Christus.
Die Evangelien sind Weggeschichte von Jesus Christus und seinen Begleitern. Zugleich aber sind sie auch weg-Geschichten. Sie spiegeln das Leben und Gottes Präsenz darin. Sie spiegeln den Glauben und den Zweifel, die Verzweiflung und die Hoffnung.
Da nämlich gehört er hin, Jesus Christus, auch wenn wir Menschen ihn manchmal nicht spüren und erfahren. Auch wenn wir manchmal gottverlassen und ängstlich der Zukunft harren, ist Jesus Christus da. Genau diese Spannung aber halten die Geschichten, die uns die Evangelisten erzählen, aus und lassen sie neu klingen. Sie ordnen damit das Leben und richten uns auf.
„Als sie aber weiterzogen, kamen sie in ein Dorf.“, erzählt Lukas. Die Bewegungen, die der Herr in dieser Welt vollführt, bringen Nähe und Distanz zu uns Menschen zugleich. Er ist kein ruhender und stiller, kein steter Gott.
Der Glaube weiß das. Wir wissen das. Es ist die Realität der Gemeinschaft mit ihm. Sie ist nie anders gewesen und sie wird auch nie anders sein. Es gibt wie unter uns Menschen keine gleichbleibende Beziehung, sondern sie unterliegt Schwankungen und Wellenbewegungen wie auf einem heftig sich regenden Meer.
So ist es auch kein Wunder, dass die Evangelien zwar Geschichten von vor 2000 Jahren sind, sie zugleich aber mit einer ungeheuren Aktualität in unser Leben treten. Sie erzählen von heute her gesehen schon damals die Geschichte unserer Zeit. Sie haben es über die vergangenen Jahrtausende ebenso getan. Und nie sind sie aktueller als in dem Augenblick, in dem sie gelesen, gehört und gepredigt werden. Jetzt.
Die Geschichte von Maria und Marta ist dabei eine der besonderen Weg- und weg-Geschichten Jesu. Er kommt. Marta nimmt ihn auf. Aber statt sich wirklich um den Gast zu kümmern, nimmt sie die Beine in die Hand und räumt. Sie richtet die Wohnung her, bereitet Essen und Trinken. Sie dient den Gästen. Ruhe findet sie nicht. Es ist ihr eine Last. Aber sie lässt nicht los. Die Arbeit muss getan werden.
Warum nur? Was treibt Marta an in diesem Moment? Ich vermute, es ist die Sorge, Jesus könne sie wieder verlassen, kaum dass er angekommen ist. Sie möchte ihn halten mit allen Mitteln. Marta weiß um seine Wege. Hier aber soll es ihm gut gehen. Doch die Sorge sitzt tief. Sie hat wohl die Tür geöffnet und staunend gesehen, wer da kommt. Jesus Christus ist eingetreten. Aber wie er eintritt, ist er schon wieder aus ihrem Leben heraus.
Ihre Schwester Maria geht einen ganz anderen Weg. Sie hat nichts dafür getan, dass er überhaupt gekommen ist. Nun aber setzt sie sich einfach dazu. Sie kümmert sich nicht um allen äußeren Schein. Vielmehr hängt sie Jesus an den Lippen, ist fasziniert von seinen Worten, seiner Erscheinung. Sie sucht seine Nähe. Die will sie spüren. Die will sie erfahren. Und – sie tut das. Denn Jesus Christus ist jetzt da. Es ist ein Geschenk, das sie sich nicht entgehen lässt. Sie nimmt und bleibt.
Jesus Christus trifft die Frauen beide in ihrem Leben an. Mittendrin. Beide ringen um die bleibende Gemeinschaft. Die arbeitende und dienende Marta, die zuhörende und annehmende Maria. Durch die Szene aber fährt ein Riss. Marta ist allein gelassen mit der Arbeit. Da tritt sie an Jesus heran. „Mahne Maria, Herr, dass sie mir helfe!“
Der Hilferuf Martas rührt Jesus an. Er erkennt, wie bedürftig sie ist. Der Herr erkennt ihre Sorge und ihre Angst. Er sieht, wie die Frau überfordert ist von dem hohen Gast und den eigenen Ansprüchen, das Leben hier und jetzt zu gestalten und es rinnt ihr aus den Fingern.
Wenn ich dieser Tage auf die kirchliche Landschaft in Deutschland schaue, höre ich in diesem Augenblick Jesu Worte, wie er sagt und spricht: „Du hast viel Sorge und Mühe!“ Wer wollte dem widersprechen.
Auch heute ist ein Schaffen, ein Tun und Machen in der Kirche. Da ist ungeheures Leben und Lust am Glauben. Dagegen stehen die immer sinkende Zahlen, Finanz- und Missbrauchsskandale. Wer hält uns am Leben? Noch mehr Aufgaben, noch mehr Dienst? Es nimmt schon jetzt kaum ein Ende. Aufgeregte Veränderungen, immer neue Ideen, damit die Kirche bleibt und nicht davon geht. Und Gott?
In unserem Tun und Machen befinden wir uns in den noch großen Kirche Deutschlands übrigens in trauter Zweisamkeit. Evangelische und Katholische Kirche gehen im Gleichschritt durch diese Zeit.
Neulich hat die Erzdiözese Freiburg ein neues Gemeindekonzept mit dem schönen Namen Pastoral 2030 veröffentlicht, das so manchem Priester, manchen der Referentinnen und Referenten die Sorgenfalten auf die Stirn treibt. In Freiburg werden derzeit Zukunftspläne geschmiedet. Die Kirche wird neu. Aus bisher über 1000 Pfarreien in 224 Seelsorgeeinheiten werden bis ins Jahr 2030 nur noch 40 Pfarreien gemacht. Der Bischof begründet dieses Vorgehen damit, dass er die Kirche zukunftssicher machen wolle. Die Reaktionen schwanken zwischen Zustimmung, weil nur so das Leben der Kirche zu erhalten wäre, und der Sorge darum, sich von dem Leben der Menschen auf Dauer zu entfernen. Und Gott?
Die Strukturveränderungen sind einschneidend. Sie sind geschäftig. Sie sind sorgenvoll. Seit nunmehr 14 Jahren können auch die Gemeindeglieder in der Evangelischen Kirche Deutschlands ein Lied davon singen. Es ist ein Weg- und ein weg-Lied. Es sollte von Freiheit singen, von Aufbruch und von ruhiger Lust am Leben. Es singt aber so oft von Überlastung und Angst, von Sorge und Burnout, von Zweifel und Verzweiflung. Und Gott?
Die Kirche soll zukunftssicher werden. Gibt es das überhaupt? Kann ich, können wir Menschen die Kirche zukunftssicher machen? Können wir überhaupt etwas sicher machen und auf die Zukunft ausrichten? Noch einmal: Gibt es das?
Marta versucht es. Aber sie scheitert. Jesus Christus wird aufbrechen. Hinaus in die Welt. Wir sind in unseren Kirchen wie sie. Wir tun und machen und schaffen, wir erfinden hier Neues und dort werden alte Zöpfe abgeschnitten. Werden wir Erfolg haben?
Und warum aber machen wir das? – Ich halte inne, schaue auf das Leben der Kirche und sehe: Wir tun das, weil wir wollen, dass das Wort Gottes bleibt und in dieser Welt hörbar wird. Wir tun das, weil wir davon überzeugt sind, dass es einen Zweck hat:
Ja, es ist gut, dass dieses Wort für alle Menschen hörbar und erfahrbar ist, weil wir Menschen damit nicht einfach nur in unserem eigenen Saft schmoren, sondern einen Dialogpartner haben. Gott spricht in unser Leben hinein.
Ja, es steht uns vor Augen, dass die Welt das richtende Wort Gottes braucht, weil sie ansonsten in ihrem Unheil untergeht, in ihrer Ungerechtigkeit und Gleichgültigkeit, krank und zerfressen von Neid und Habgier, in ihrer Gewalt gegenüber den Schwachen und ihrer Häme über die Verlierer.
In einem nüchternen Blick in unsere Gemeinden sehen wir: Ja, wir brauchen das heilende Wort Gottes, das vom Leben spricht und dieses Leben pflegt und streichelt und liebkost. Denn das Leben ist beständig mit dem Tod konfrontiert, der immer und immer spricht: Du, Menschenkind, du bist nicht! Du wirst nicht sein!
Deswegen bauen wir an der Kirche, weil wir wissen, hier erklingt das Wort Gottes für unser ganzes Leben. Hier hören wir es. Hier setzen wir uns nieder und lassen es in uns wirken. Hier loben wir Gott darüber, dass er mit diesem Wort wirklich unter uns ist und es uns nicht verlässt, wohin er auch weiter ziehen wird. Aber deswegen braucht es die Kirche. Nur deswegen. Es geht nicht um die Sicherung irgendwelcher Pfründe und Errungenschaften, sondern um die Wohltaten Gottes für seine Menschen.
Nur, noch einmal, warum tun wir das? – Ich sage, weil wir von dem Wort Gottes wissen. Von seinem Leben für uns. Lukas erzählt: Gottes Wort geht unserem Tun voraus. Es ist weitergezogen und angekommen.
Ich schaue auf Maria und Marta und erkenne: Marta ackert und tut. Sie will den Boden bereiten für Christus, für das wahre, heilende, pflegende und liebkosende Wort Gottes.
Marta aber übersieht, dass dieses Wort längst da ist. Alles Bauen und Schaffen nützt nichts, wenn es nicht gehört wird. In der ganzen Geschäftigkeit, in ihrer Sorge und Unruhe nimmt sie Jesus Christus überhaupt nicht wahr. Sie nimmt nichts von dem Lebenswort Gottes.
Alles, wofür sie sorgen möchte, ist längst geschehen. Aber das Wort geht an ihr vorbei. Nein, vielmehr geht sie an ihm vorbei. Es ist weg aus ihrem Leben. Erst als sie schon entkräftet und frustriert auf ihr Tagewerk schaut, wendet sie sich zu ihm und sucht Hilfe. Eigentlich eine traurige Geschichte.
Der Bischof der Erzdiözese Freiburg möchte die Kirche zukunftssicher machen. So viele möchten das. Lauter Martas sollen in der Kirche leben, die versuchen, Jesus Christus in diesem Haus zu halten. Aber wer hört das Wort Gottes vom Leben? Und wer traut ihm?
Unsere Geschichte erzählt: Die Kirche ist zukunftssicher, weil Jesus Christus mitten in ihr ist. Gegenwärtig, mit seinem Wort. Jesus Christus garantiert die Zukunft. Sonst niemand, auch wenn ich ihn nicht immer spüre. Durch sein Dasein nimmt er mir die Last, dass alles durch unsere Arbeit kommen muss. Wo Christus aber einkehrt, werden wir nicht bestimmen. Wir leben nur aus und mit ihm. Und vertrauen!
Ja, ich finde, Maria muss mit anpacken, wenn sie Christus gehört hat. Aber Marta muss hören und nicht durch die selbst auferlegte Arbeit den eigentlich wichtigen Punkt des Besuchs Jesu verpassen.
Nämlich: Gott ist da. Jetzt. „Ich gehöre zu dir, du lieber Mensch. Und du gehörst zu mir! Ich bin da.“, spricht er.
Die Geschäftigkeit, das Richten des Lebens und die Sorge um die richtige Gegenwart verstellen den Blick auf das, was sein soll, was immer schon ist und in Ewigkeit bleibt: Jesus Christus. „Eins ist not“, spricht der Herr. Es ist das Leben. Gottes und unseres. Amen.
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Mehr als entweder oder - Predigt zu Lukas 10,38-42 von Barbara Bockentin
Die letzten Gäste waren gegangen. Sie blieb noch einen Moment in der geöffneten Haustür stehen. Dann wandte sie sich um und schloss die Tür hinter sich. Sie seufzte. Wie so manches Mal vorher, so fragte sie sich auch jetzt wieder, warum sie sich das immer wieder antat. All die Arbeit. Alle Planung. Sie selbst hatte nicht viel von dem Abend gehabt. Immer wieder war sie aufgesprungen, kaum dass sie selbst zum Essen gekommen war. Hatte nachgeholt, abgedeckt, anderes aufgedeckt. Sie machte das gern. Es machte ihr Spaß, vorher zu überlegen, was sie kochen konnte. Aber wenn der Tag da war, dann verfiel sie jedes Mal zusehends in Hektik. Und wenn die Gäste nach und nach eintrudelten, konnte sie das nicht ablegen, selbst wenn alles vorbereitet war. Den Besuch konnte sie nicht so richtig genießen. Sie guckte auf die Uhr. So spät schon. Aber ihr Bruder war ja immer lange auf. Da konnte sie auch jetzt noch anrufen.
Er schaute das Telefon an. Wieder so ein Gespräch mit seiner Schwester. Inzwischen gab es das in schöner Regelmäßigkeit. Und immer dieser vorwurfsvolle Unterton. Seit sein Vater allein lebte, ging das so. Immer wieder rief sie ihn an, um ihn „auf Stand“ zu bringen, wie sie es nannte. Er hatte eher das Gefühl, dass sie an sein Gewissen appellierte. Wann er denn mal wieder vorbeischauen würde. Bei ihrem Vater. Er hätte doch schon lange versprochen, mal nach dem Dach zu sehen. Mit Handwerkern könne er einfach besser und auch mit dem Vater. Der müsse manchmal zu seinem Glück gezwungen werden. Da wäre er, der einzige Sohn, einfach der bessere Ansprechpartner. Er hörte sich das alles immer wieder an. Aber dabei blieb es auch. Er äußerte Verständnis. Er versprach, mit dem Vater zu sprechen. Was immer seine Schwester wollte. Aber hinfahren, nein, dazu reichte seine Zeit nicht. Schließlich hatte seine Familie auch ein Anrecht auf ihn. Die Arbeitsbelastung wurde einfach nicht weniger. Er konnte sich nicht zerreißen. Ein andermal gerne.
Der folgende Tag war von vielen Terminen geprägt. Als er nach Hause kam, nahm ihn gleich seine Frau beiseite. Sie hatte mit Sophie, ihrer ältesten Tochter gesprochen. Er hörte noch, wie eine Tür knallte. Dann schauten sich die beiden ratlos an. Aus dem Kinderzimmer der Großen drang das wilde Schluchzen bis zu ihnen. „Ihr habt Nele ja doch viel lieber als mich.“ Dabei hatte sie das mit keinem Wort gesagt. Sicher, sie hatte sich lang und breit darüber ausgelassen, dass Sophie sich mehr anstrengen müsse. Wenn sie auf der Schule bleiben wolle, ginge es nicht anders als mit Fleiß. Als Nele in den Flur kam, fragte sie, was denn los wäre. Die Eltern zuckten mit den Schultern. Immer dasselbe eben. Sophie war einfach schwierig jetzt in diesem Alter. Da konnte schon beim kleinsten Wort aus einem eben noch fröhlichen Kind ein wütendes werden. Und immer wieder der Vorwurf, dass sie sie nicht lieb hätten. Der Vater ging und klopfte an ihre Tür.
Eins aber ist not. – Täglich gilt es viele Entscheidungen zu fällen. Manchmal blitzschnell, ohne viel Zeit zum Überlegen. Da kann es schnell passieren, dass man es hinterher besser weiß. Oder dass andere es einem aufs Butterbrot schmieren: „Das hätte ich dir gleich sagen können.“ Wie belastend.
Eins aber ist not. – Jede Situation erfordert eine andere Entscheidung. Wer alles über einen Kamm schert, der wird niemandem und nichts gerecht. Hinter dieser Erkenntnis steht gleich eine andere: Man muss wendig sein. Sich anpassen können. Sich rasch einen Überblick verschaffen. Und dann eine passende Entscheidung fällen. Und diese in die Tat umsetzen. Wie anstrengend.
Eins aber ist not. – Als Jesus Marta mit diesen Worten antwortete, war das Missverständnis wohl schon vorprogrammiert. So haben es jedenfalls Generationen von Christenmenschen verstanden. Marta hatte das Nötige versäumt. Sie hatte es nicht einmal gesehen. Maria aber …
Aber war es wirklich so? Ergriff Jesus Partei? Oder wies er nicht vielmehr auf etwas hin? Darauf, dass Marta und Maria verschiedene Entscheidungen getroffen hatten. Marta vergrub sich in der Küche. Maria machte es sich zu Jesu Füßen bequem und hörte mit offenen Ohren und offenem Herzen zu. Mit seiner Antwort wies Jesus darauf hin, was das Notwendige in diesem Moment war. Wie missverständlich.
Vor der Geschichte von Marta und Maria erzählt Jesus das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Hier ist Hilfe gefragt. Sie ist es, was in dieser Situation Not tut. Jetzt hat sich etwas anderes ergeben. Jesus ist zu Besuch. Die Gelegenheit, ihm zu zuhören, ihm ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken, von ihm zu lernen. Maria trifft die für sie richtige Wahl, während Marta sich anders entscheidet. Maria wird von Jesus dazu ermuntert, zu ihrer Wahl zu stehen: zu hören und zu lernen. Und Marta wird ernst genommen in ihrer Fürsorge für die Gäste. Zum Schiedsrichter allerdings taugt Jesus nicht. Und auch seine Antwort lässt sich dazu nicht verwenden.
Eins aber tut not. – Wieder war ein großes Fest angesagt. Diesmal war der Bruder auch dabei. Er hatte sich Zeit genommen und war schon am Tag vorher mit seiner Frau und den beiden Töchtern angereist. Seinen Vater hatte er besucht. Hatte mit ihm erledigt, was zu erledigen war. Nun saßen sie alle beisammen. Stimmengeschwirr lag in der Luft. Er schaute auf und sah seine Schwester, ein vollbeladenes Tablett in der Hand. Er sprang auf, nahm es ihr ab und drückte sie in einen Stuhl.
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Bin ich zu laut? – Predigt zu Lukas 10,38-42 von Eberhard Busch
„Eins ist not", sagt Jesus. Aber vermutlich haben auch die zwei Schwestern Maria und Martha so gedacht, wie wir gern denken: Wir benötigten nicht nur Eines, sondern Vieles. Wir sollten eigentlich immer noch mehr haben: Geld und sonst Nützliches. Uns fehlt ja noch manche Bequemlichkeit, die unser Nachbar schon hat. Wir haben auch allerhand Überzeugungen, religiöse oder politische oder pädagogische, die wir unseren Mitmenschen an-wünschen. Wenn wir es näher überlegen, steht es bei uns so, wie vielleicht auch Maria und Martha meinten: Wir bräuchten Vieles, nicht nur Eines. Ist es nicht so?
Doch jetzt tritt Jesus mitten dahinein, wo diese Beiden wohnen und sich um Vieles sorgen und mühen. Er kommt zu ihnen mit der sie gänzlich überraschenden Botschaft: Nicht Vieles, Eines ist euch not! Diese Botschaft besagt: Ist nur Eines wichtig, dann ist das Viele, das uns beschäftigt, nicht mehr so vordringlich nötig. Dann sind wir frei von dem Zwang und Krampf all dessen, was uns sonst so überaus in Atem hält. So gesehen, ist diese Botschaft für uns auch hilfreich. Denn bei dem, was wir gewöhnlich für nötig halten, geht es so wie bei Manchen, die ihre Wohnung neu möblieren und die dann die Möbel nach einiger Zeit wieder abstoßen. Jenes Eine Nötige ist hingegen wie die eine köstliche Perle, von der Jesus geredet hat, hinter die einer alles Andre zurückgestellt hat (Mt 13,45f.).
Was ist dieses Eine, das Nötige, das uns wirklich nottut? Nun, wir müssen da nicht lange suchen, in irgendeiner Himmelshöhe oder Seelentiefe. Denn genau der, der uns sagt: Eins ist not, der ist auch das Eine, was uns nottut. Er teilt uns in immer neuen Variationen das Eine mit: Gott hat uns lieb. Und er sagt das nicht nur so dahin. In ihm geschieht das, was er sagt. In allem, was er redet und tut und bis in sein Leiden am Kreuz, ist er der Beweis der Liebe Gottes, - der Beweis, den Gott führt, um uns und allen Anderen vor Augen zu führen und es in unsere Köpfe und Herzen zu bringen: Euch habe ich herzlich gern. Ich bin euer Freund, trotz allem, was gegen euch spricht. Ihr seid bis in die verstecktesten Schlupfwinkel meine Geliebten. Ich trete für euch ein, dass ihr nicht zu kurz kommt.
Eben dies, dass Gott uns liebt, ist wichtiger als alles Andere. An diesem zarten, aber unzerreißbaren Faden hängt für uns Alles Weitere. „Gottes Güte ist‘s, das es mit uns nicht aus ist. Sie ist alle Morgen neu“, heißt es in der Bibel (Klgl 3,21f). Es wäre in der Tat aus mit uns, wenn Gott uns nicht lieb hat. Dieses Eine ist notwendig, weil es allemal Not wendet. Wir können vieles entbehren, aber wir können nicht die Liebe Gottes entbehren. Und wir entbehren sie auch gar nicht, auch wenn uns das verdunkelt ist. Und sie kommt auch nicht mit leeren Händen zu uns, sondern will, dass wir von ihr reichlich erfüllt und gesättigt werden. „Wie sollte Gott uns mit ihm nicht alles schenken!“ hat Paulus geradezu ausgerufen (Röm 8,32)
Aber woher wissen wir das? Wir wissen es darum, weil es uns gesagt wird. Wir wissen das nicht von selber, nicht, weil wir uns das ausgedacht haben. Wir wissen es darum nicht von uns aus, weil es gar nie selbstverständlich ist, dass Gott uns liebt. Wenn uns das je selbstverständlich wäre, dann hätten wir keine Ahnung von dem Wunder seiner Liebe. Er könnte uns ja sehr wohl auch nicht lieben. Und wenn man einmal vor Augen hat, was wir Menschen alles anstellen an Murks und Unfug in Gottes Schöpfung, dann bekommen wir eine Ahnung, dass Gott es sehr wohl reuen könnte, reuen müsste, uns Menschen in das irdische Paradies gesetzt zu haben. Nein, es ist und es bleibt eine Überraschung sondergleichen, wenn es gleichwohl zu uns gesagt wird: Gott hat uns lieb! Dass wir das jeden Tag neu hören, das gehört mit zu dem Einen, was uns nottut!
In unserer Geschichte ist es Jesus, dem zuzuhören ist. Auf ihn gilt es zu hören, weil er das eine Notwendige mitzuteilen hat. Und jetzt verstehen wir, weshalb Martha das schlechte Teil erwählt hat. Sie hat zweifellos Vieles getan, Vieles geleistet, Vieles zustande gebracht. Sie bekäme dafür von anderen Stellen dafür ein Verdienstkreuz oder wäre von Weiteren als Vorbild gepriesen worden. Aber Eines hat sie entschieden nicht getan – und das wäre gerade das Entscheidende gewesen. Sie hat sich bei aller Mühe nicht die Mühe gemacht, auf Jesus zu hören.
Sie ist in all ihrem verdienstvollen Fleiß nicht fleißig gewesen, an der Botschaft von der Liebe Gottes zu hängen, an der doch alles hängt Sie hat vor lauter Eifer, etwas Anständiges zu vollbringen, verpasst, dass es für sie darauf angekommen wäre, dabei von dem zu leben, was Gott in seiner Liebe für sie und für alle Menschen tut. Sie war so überaus beschäftigt mit dem Vielen, das doch vergeht, wie die Blumen verwelken – und so hat sie es verpasst, das Wort Gottes zu hören, das in Ewigkeit bleibt. Arme Martha!
Anders Maria. Sie ist nicht weniger fleißig als Martha. Doch sie ist anders fleißig. Sie ist fleißig im Hinhören auf das, was Jesus zu sagen hat. Für sie ist er einer, den wir nicht besser ehren können, als dass wir einmal all das auf sich beruhen lassen, was uns vordringlich dünkt. Sie hat verstanden, dass durch Jesus in unser Leben eine andere Reihenfolge kommt bei dem, was für uns wichtig ist. Sie hat begriffen, dass wir eben etwas Anderes zu tun haben, wenn Jesus in unser Leben tritt. Und das ist das Andere, was sie jetzt als ihre Aufgabe erkennt und zu tun bekommt: auf Jesus hören, auf das Eine Notwendige aufmerksam sein, auf das, was kein Mensch sich selber sagen kann. Aber es sich von ihm sagen lassen, das ist‘s.
Hören ist auch eine Tätigkeit und bekanntlich eine ziemlich schwere Arbeit, eine, bei der man allzu leicht abschweift, bei der es vorkommt, dass das Gehörte zum einen Ohr hineingeht und durchs andere wieder hinausgeht. Aber wer einmal mit dieser Arbeit begonnen hat, kann die Erfahrung machen, dass sie von sich aus einen nicht mehr loslässt. So dass wir mit dem Hören nicht mehr auf-hören mögen. Keine Sorge, dass wir dabei borniert werden. Im Gegenteil, wir bekommen dabei Einsichten und Ausblicke in die Nähe und Ferne, wie wir sie zuvor nicht hatten. Wer mit dem Hören nicht aufhört auf das, was Jesus uns zu sagen hat, der wird auch auf Andere hören, auf Worte selbst von ganz unerwarteter Seite. Und der wird auch selber Anderen etwas zu sagen haben und wird es sagen, sogar wenn er gegen den Wind zu reden meint.
So wie Samuel im Alten Testament, der Vieles gesagt und getan hat, aber alles unter dem Vorzeichen des Gebets, mit dem alles bei ihm anfing: „Rede Herr, denn dein Knecht hört“ (1Sam 3,10). Diese Bitte und die Erfüllung dieser Bitte geht all dem Folgenden voran. Denn das, was Gott zu sagen hat, das muss immer wieder all dem vorangehen, was wir zu sagen haben. Nicht unsre Meinung, Sein Wort muss vor allem laut werden, und was wir in Wort und Tat zu bemerken haben, kann nur ein stiller, bescheidener Beitrag dazu sein. Das muss uns nicht entmutigen, diesen Beitrag zu liefern. Recht verstanden, wird uns das sogar ermutigen, mit unseren „gedämpften, schwachen Stimmen“ (Joh. Seb. Bach) seinem Wort beizupflichten.
Vor einiger Zeit erschien ein Buch von dem Pianisten Gerald Moore, der stets mit berühmten Sängern aufgetreten ist. Das Buch trägt den hübschen Titel: „Bin ich zu laut? Erinnerungen eines Begleiters.“ Er hat nicht nichts getan. Er hatte auf seinen Tasten einiges zu leisten. Aber er hat bei dem allen ständig und bis in die kleinsten Nuancen zugleich gehört auf den Einen, den er mit seinem Spiel nur zu begleiten hatte. Darum hat er sich möglichst zurückgehalten. Ebenso sollen auch wir bei allem, was wir tun und denken und sagen, zugleich auch ganz Ohr sein. Ebenso sollen wir mitten in alle dem, was uns beschäftigt, unaufhörlich hören, auf Ihn, den Herrn, um ihn mit unseren kleinen oder größeren Gaben zu begleiten. So wird es recht zur Geltung kommen „Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren.“ (Lk 11,28)