Auf schmalem Grat - Predigt zu Lukas 18,9-14 von Olaf Waßmuth
Liebe Gemeinde,
über manche Leute kann ich nur den Kopf schütteln.
In letzter Zeit besonders. Meine erste Zugfahrt seit Corona: Der ICE ist ordentlich voll und bei vielen hängt der Mund-Nase-Schutz nur locker am Kinn. Sogar bei der Zugbegleiterin! So bringt das wirklich nichts, denke ich. Ich habe meine Maske natürlich ordnungsgemäß aufgesetzt und vor der Reise extra gewaschen. Warum kapieren die andern eigentlich nicht, dass es beim Corona-Schutz auf jeden ankommt? Es regt mich auf.
Über manche Leute kann ich nur den Kopf schütteln.
Da hat wieder einer sein SUV haarscharf neben unsere Garageneinfahrt gestellt. Ich würde mir nie so ein Riesenauto kaufen, das massenhaft CO2 in die Luft bläst. Und unser Nachbar, der meistens alleine unterwegs ist, behauptet, er fühlt sich einfach sicher darin. Klimaschutz geht uns alle an, lieber Nachbar! Das sage ich allerdings nicht, sondern denke es bloß.
Über manche Leute kann ich nur den Kopf schütteln.
Über Donald Trump und alle, die ihn unterstützen, sowieso. Auf Facebook habe vor ein paar Wochen auch ich „Black Lives Matter“ gepostet. Gerne zitiere ich Martin Luther King. Schlimm, wie tief die Diskriminierung der Schwarzen in den USA immer noch verwurzelt ist. „Und wie ist das bei Euch?“ fragt eine amerikanische Kollegin auf Facebook zurück: „Was tut Ihr gegen Rassismus?“ Dazu fällt mir erst mal nichts ein.
Es gibt so einige Punkte, da bin ich überzeugt, ich habe Recht. Bin ich nicht gut informiert? Handle ich nicht so verantwortungsvoll wie möglich?
Ja, vielleicht habe ich Recht. Und doch: wer Recht hat und das Richtige tut, wandelt manchmal auf schmalem Grat.
9 Jesus sagte aber zu einigen, die überzeugt waren, fromm und gerecht zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis: 10 Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. 11 Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. 12 Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. 13 Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!
14 Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.
Liebe Gemeinde,
Jesus erzählt eine Geschichte, der man nicht entkommen kann. Ganz schnell gleichen wir als Hörerinnen und Hörer dem Bibelleser in einem Gedicht von Eugen Roth:
Ein Mensch betrachtete einst näher
die Fabel von dem Pharisäer,
der Gott gedankt voll Heuchelei
dafür, dass er kein Zöllner sei.
Gottlob! rief er in eitlem Sinn,
dass ich kein Pharisäer bin!
Menschen vergleichen sich mit anderen. Ständig. Ganz schnell tappt man in die Falle. Ganz schnell ist gerade der, der starke Überzeugungen hat, vor allem von sich selbst überzeugt.
Um das zu zeigen, wählt Jesus zwei Gruppen, bei denen man zu seiner Zeit zu wissen meinte, wer die Guten und die Bösen sind. Die Pharisäer waren die religiöse Elite. Wir assoziieren mit ihnen heute oft Heuchelei, was auch an dieser Geschichte liegt. Tatsächlich waren Pharisäer, die Mitglieder einer Laienbewegung, aber durchaus ernst meinende und konsequente Menschen. Ihnen lag viel an einer Erneuerung des Judentums durch persönliche Frömmigkeit. Darin waren sie gar nicht so weit von Jesus entfernt. Die anderen, die Zöllner, waren Steuereintreiber, nicht selten korrupt, die sich von der verhassten römischen Besatzungsmacht ein paar Privilegien erkauft hatten. Das muss man nicht sympathisch finden. Jesus aber stellt Gut und Böse auf den Kopf: Der Pharisäer erhebt sich vor Gott über andere Menschen und spricht sich selbst gerecht; der Zöllner ist demütig und erwartet alles von Gott.
Die christliche Leserschaft hat sich, wie im Gedicht von Eugen Roth, gerne mit dem Zöllner identifiziert: Wie gut, dass wir nicht so selbstgerecht sind wie jener Pharisäer; wir wissen es wenigstens noch und stehen dazu, dass wir Sünder sind. Besonders der evangelische Teil der Christenheit neigte zu etwas, was man „Sündenstolz“ nennt: Wir haben Gott nichts zu bieten, aber – ha! – uns ist unser menschliches Elend wenigstens bewusst! – Und schon schnappt die Falle der Geschichte wieder zu…
Heute dürfte es kaum noch möglich sein, sich mit Frömmigkeit und religiöser Praxis zu brüsten. Aber Rechthaberei und Überheblichkeit blühen auch jenseits davon. Je polarisierter eine Gesellschaft ist, desto größer die Gewissheit der einen, den anderen überlegen zu sein. Die anderen, das sind die Idioten, die auf Fake-News, Populismus oder Hetze reinfallen.
Von einer Sache überzeugt zu sein, ohne sich dabei über andere zu erheben – das ist eine Gratwanderung. Der Versuch, demütig zu bleiben, ohne sich dann darauf etwas einzubilden – dabei kann einem schwindelig werden. Letztlich ist dieser Versuch zum Scheitern verurteilt. Darum hat Martin Luther die Christenmenschen als solche beschrieben, die immer „gerecht und Sünder zugleich“ sind. Manche sagen: das ist protestantischer Pessimismus. Ich finde: Das ist der Realismus von Menschen, die sich selbst ganz gut kennen.
Jesus mutet den Menschen, die ihm begegnen, den Moment des Erschreckens über sich selbst zu. Der ist nötig. Aber dabei bleibt es nie. Die Geschichte vom Pharisäer und vom Zöllner zeigt: Man kann, man darf, man soll mit leeren Händen vor Gott stehen. Welche Anforderungen wir selbst und andere auch immer an uns stellen: Vor Gott genügt es, ehrlich und hoffnungsvoll um seine Barmherzigkeit zu bitten.
Mit leeren Händen vor Gott stehen heißt nicht, die Hände in die Hosentaschen stecken. Was wir tun und sagen, wie wir leben, ist damit nicht egal. Nur weil Menschen, die nach ihren Überzeugungen handeln, so schnell von sich selbst überzeugt sind, sollte man nicht aufhören zu tun, was man als richtig erkannt hat. Unsere Geschichte legitimiert nicht den wohlfeilen und hässlichen Spott über sogenannte „Gutmenschen“. Im Gegenteil.
Einem Rassisten, Antisemiten oder Verschwörungstheoretiker muss man widersprechen. Eine Wende in unserem Lebensstil braucht Menschen, die sie vorleben und einfordern. Und unser Glaube bedarf durchaus der Menschen, die seine Traditionen und Rituale praktizieren und weitergeben, wie es die Pharisäer zu ihrer Zeit taten.
Wer versucht, das Richtige zu tun, ohne der Selbstgerechtigkeit zu verfallen, ist auf schmalem Grat unterwegs. Vier Gedanken möchte ich nennen, die mir persönlich helfen, dabei die Balance zu halten:
1. Moralische Entrüstung ist fast immer schädlich, besonders dann, wenn sie an die Stelle moralischen Handelns tritt. Das versuche ich mir immer neu zu sagen, wenn es mich juckt, einen Leserbrief zu schreiben oder einen Facebook-Kommentar abzugeben. Entrüstung schafft, anders als konkrete Kritik, keine Veränderung, sondern bloß negative Stimmung.
2. Das Zentrum der Botschaft Jesu sind nicht „Werte“, sondern Liebe, die erfahren, verkündet und weitergegeben wird. Die gelebte Liebe ist viel weniger in Gefahr, sich zu überheben als ein moralischer Anspruch. Jedes Urteil über andere muss geprüft werden, ob es diesem anderen in Liebe dient – oder ob ich mich damit bloß selbst bestätige.
3. Barmherzigkeit lebt von der Phantasie. Ich versuche mir vorzustellen, ich wäre der, über den ich urteile. Nur wenig hätte in meinem Leben anders laufen müssen, dann stünde ich Pharisäer dort, wo jetzt der Zöllner steht. Gewiss, ich habe mir meine Überzeugungen selbst gebildet – aber die Voraussetzungen dafür lagen meistens nicht in meiner Hand. Mit ganz viel Phantasie kann ich mir sogar vorstellen, dass ich es bin, der sich irrt…
4. Miteinander reden ist immer besser als übereinander. Das hat Jesus vorgelebt. Die Geschichte, die Jesus erzählt, ist eingebettet in sein Leben, in dem er sich immer wieder mit beiden, mit den Pharisäern und den Zöllnern, an einen Tisch gesetzt hat. Den anderen zu kennen, schließt Kritik nicht aus. Aber es beugt der Verachtung vor.
Mir helfen diese Einsichten, wenn ich in unserer Zeit mit denen zu tun habe, über die ich im Stillen – und manchmal auch laut – den Kopf schüttele. Dann denke ich daran, dass ich auf schmalem Grat wandere. Dann kneife ich mich und sage still – und manchmal auch laut –: Gott, sei mir Sünder gnädig! Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
In Corona-Zeiten kommt, zumal in den Sommerferien, vor allem die Kerngemeinde zum Gottesdienst. Die ist bei uns gut bürgerlich, eher älter, aber gesellschaftlich und kirchlich interessiert und oft überdurchschnittlich engagiert. Es sind Menschen, die viel Gutes tun und im eigenen Bewusstsein gewiss „auf der richtigen Seite“ stehen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Geschichte, die Jesus erzählt, erscheint mir überraschend zeitlos. Darum wollte ich nicht zum x-ten Mal Exkurse über Pharisäer und Zöllner halten, sondern die Zuhörer in das Spiegelkabinett führen, in dem man sich immer wieder selbst ertappt. Ja, auch ich vergleiche mich mit anderen – und wäre gerne frei davon. Die Frage „Wie komme ich da raus?“ hat mich beschäftigt. Dabei bin ich immer davon ausgegangen, dass heute moralische Selbstgerechtigkeit an die Stelle der religiösen getreten ist.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das Bild des Balanceaktes zwischen Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit hat im Laufe der Vorbereitung das Bild des Spiegelkabinetts, in das Jesus uns führt, verdrängt. Ich vermute, es gibt keinen „Ausweg“ aus dem Dilemma, sondern nur vorsichtige Schritte „im Dilemma“. Das Gerechte tun und dabei nicht in Selbstgerechtigkeit verfallen, ist eine bleibende Herausforderung. Ein Balanceakt eben.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Rückmeldung der Beraterin hat mich den Eingangsteil neu schreiben lassen, in dem das „Ich“ vorher nicht ausreichend mit meiner Person verbunden schien. Außerdem habe ich etwas Bildungsballast reduziert und versucht, den theologischen Mittelteil weniger steil zu formulieren. Das Bild der Gratwanderung, das ursprünglich nur im letzten Teil vorkam, habe ich nun mehrfach verwendet.
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Geheimnis des Glaubens – Aufbruch ins Neue - Predigt zu Lukas 5, 1-11 von Elisabeth Tobaben
36 000 kleine Glasstücken haben die Schülerinnen und Schüler der Juister Inselschule bunt eingefärbt und daraus mit ihrem Kunsterzieher Herbert Gentzsch den „Fischzug des Petrus“ zusammengesetzt. Über 60 Jahre ist das inzwischen her, heute hängt dieses Bild an der Altarwand der Inselkirche.
Das ganze Bild ist aus sechzig 30 x 30 cm großen Quadraten zusammengefügt, die Glasstückchen mussten über Kopf und seitenverkehrt zusammengebaut werden, eine ganz schön knifflige Aufgabe! So manche Farb- und Linienbrüche sind dadurch entstanden.
Die Jugendlichen wollten sich mit dem Mosaik einen Brennofen finanzieren für ihre Tonarbeiten, doch als das Bild fertig war, interessierte sich niemand dafür, und es lag jahrelang auf dem Boden der Inselschule. Als 1964 die alte Inselkirche abgerissen und erweitert wieder aufgebaut wurde, kam das Mosaik als Geschenk der politischen Gemeinde in die neue Inselkirche.
Die Glasteilchen blinken und blitzen seitdem dort, besonders wenn Sonnenstrahlen darauf fällen. Die hoch erhobene Jesus-Hand scheint bis heute den Segen auf die versammelte Gemeinde zu legen. Und die erschüttert wirkenden Gesichter der Fischer scheinen uns zu fragen: Und ihr? Wärt ihr mitgegangen, damals? Einfach so?
In der Szene, die Jugendlichen sich ausgesucht haben, ist noch alles offen. Das Gedrängel am Seeufer liegt bereits hinter den Fischern, und auch die Predigt Jesu von Simons Boot aus, genauso der verrückte Auftrag: Fahrt noch mal raus!
Noch sitzt Simon in einem Boot mit den drei Fischerkollegen. Alles wie gehabt. Soweit noch: Alltag. Aber etwas ist schon anders als sonst: Jesus sitzt mit im Boot. Segnend hat er die rechte Hand erhoben, sitzt hinter den Vieren – Rückendeckung.
Fünf Männer in einer schmalen Nussschale weit draußen auf dem unruhigen See Genezareth mit all seinen Unberechenbarkeiten, Tiefen und Strömungen, plötzlichen Böen und Stürmen. Bei hellem Tageslicht sollten sie zum Fischen hinausfahren, die Sonne steht hoch am Himmel. Kein erfahrener Fischer würde unter normalen Umständen so etwas tun! Die Sonne wirft den Schatten des Bootes durch das klare Wasser auf den Grund, warnt die Fische, das weiß doch jedes Kind, der erneute Misserfolg scheint vorprogrammiert.
„Auf dein Wort hin...“ sagt Simon „wollen wir die Netze noch einmal auswerfen. Weil du es sagst, wollen wir auch das Unmögliche probieren.“
Auf dein Wort? Diese Aufforderung Jesu, am helllichten Tag zu fischen, musste in den Ohren eines erfahrenen Fischers wie Simon doch ziemlich unkundig und überraschend klingen. Sicher, Simon hätte ihm ohne weiteres einen langen, fachkundigen Vortrag halten können über die geeigneten Methoden des Fischfangs auf dem See Genezareth, damit kannte er sich schließlich aus. Aber offenbar war Simon zutiefst bewegt von den Worten, die er zuvor von Jesus gehört hatte, als er vom Schiff aus zu der Menge sprach. Offenbar war da schon eine Beziehung, ein Vertrauen gewachsen, das auch Zumutungen aushalten konnte. Kurzum, ich denke, es muss irgendetwas gegeben haben, was Simon an diesem Mann so fasziniert hat, dass es ihn jetzt sagen lässt: “Wir probieren es, und wenn es sämtlichen Erfahrungen widerspricht ...“
Dass durch die Begegnung mit Jesus Simons ganzes Leben durcheinander gewirbelt wird, hat trotzdem für mich etwas Geheimnisvolles. Es lässt sich nicht wirklich erklären, was diesen bodenständigen Fischer bewegt hat, aus freien Stücken den Worten Jesu zu folgen: „Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!“ – und er tut es. „Folgt mir nach, ich will euch zu Menschenfischern machen“ – und Simon und seine Gefährten tun es, verlassen die Netze und folgen ihm nach. Mag sein, dass bei Simon und den andern eine Kleinigkeit im Text eine Rolle spielt: Es liegt ein Stück Wasser zwischen Jesus und der Menge am Land, zu der er spricht. Jesus guckt sich ein Boot aus, steigt einfach ein und bittet dann erst Simon, ein paar Meter auf den See hinaus zu fahren. Ich habe bisher immer gedacht: Natürlich, er will vermeiden, dass jemand ins Wasser fällt, oder dass er womöglich selbst reingedrängt wird von der erwartungsvollen Menge. Oder er will einfach, dass man ihn besser hört, oder dass ihn alle gut sehen können.
Das alles sicherlich auch. Aber: dieser Abstand hat für mich –zumindest im Nachhinein- auch einen inhaltlichen Grund. Jesus bedrängt seine fasziniert lauschenden Zuhörerinnen und Zuhörer nicht. Er spricht über diese kurze Distanz hin so, dass das, was er sagt, in Ruhe wirken kann. Er erzählt Geschichten, ohne dass er damit jemandem zu nahe tritt, ihn oder sie überfährt oder mitreißt, ohne dass die Menschen die Freiheit der Entscheidung hätten. Und so kann eine ganz neue Nähe zu den Menschen erwachsen.
In der Momentaufnahme des Juister Mosaikbildes zeichnet sich der Fischsegen bereits ab. Noch sind es gar nicht so viele Fische, und sie sind beinahe alle noch im Leben erhaltenden Wasser. Wenn man nicht zu genau hinguckt, sieht es aus, als würden sie fröhlich spielen, durch das grün-blaue Wasser gleiten, springen und sich wohlfühlen. Und doch zieht sich das Netz um sie herum bereits zu.
Simon kniet auf dem Bild vorn im Boot, versucht, das Netz herauf zu ziehen, er probiert es in einer völlig steifen, unpraktischen Haltung, fast hat man Sorge, er könnte das Übergewicht kriegen und die nächste größere Welle könnte ihn über Bord reißen. Jedenfalls sieht man sofort: so wird das nichts.
Wo sollen sie auch hin mit dem gewaltigen Fischsegen in diesem winzigen Boot?
Das Gesicht des Petrus spricht Bände: Er scheint ganz weit weg zu sein mit den Gedanken, wie in einer anderen Welt. Die beiden Fischerkollegen direkt hinter ihm helfen ziehen, der dritte klammert sich verbissen an das Ruder, das er in der Hand hat und verschließt die Augen vor dem Geschehen.
Was für Gedanken mögen ihnen in diesem Moment durch den Kopf gehen? „Wie kann das angehen, so viele Fische im Netz, mitten am Tag?“ werden sie sich sicher gefragt haben. „Wo wir doch hochprofessionell und ausdauernd die ganze Nacht gearbeitet haben, gänzlich erfolglos, ohne einen einzigen Fisch zu fangen! Vielleicht gehen die Gedanken zurück zum frühen Morgen: Völlig deprimiert hatten sie angelegt im Hafen von Tiberias, voller Sorge um ihre Familien. Womit sollten sie ihre Kinder ernähren, wenn der Ertrag ausbleibt? Was, wenn das jetzt öfter passiert, steht eine Wirtschaftskrise bevor?
Für Rücklagen und Ersparnisse hatte es nie gereicht, schließlich mussten sie regelmäßig investieren, mal ein neues Netz, mal eine Reparatur am Boot.
Und jetzt? Was, wenn das Boot jetzt tatsächlich sinkt? Dann ist trotzdem der ganze schöne Fang wieder hin; Und was wird aus uns? Keiner von uns kann schwimmen. Würden die Kollegen aus dem andern Boot rechtzeitig da sein, um uns zu retten? Wer kümmert sich um unsere Frauen und Kinder, wenn wir jetzt alle ertrinken?“ Angespannte, erschrockene Gesichter haben die Männer im Boot. Das kann nicht sein, was sie da gerade erleben!
Haben sie in diesem Moment vielleicht an das gedacht, was sie vorhin von Jesus gehört hatten? An die Predigt von Simons Boot aus? An die Begeisterung der Menge? Und sie werden sich gefragt haben: „Was ist das bloß für einer, der da mit uns im Boot sitzt?“ Es sieht aus, als wagten sie gar nicht, sich nach ihm umzudrehen, ihn womöglich selbst zu fragen!
Gleich werden sie das andere Boot zu Hilfe rufen, die Kollegen bitten, ihnen ziehen zu helfen, gemeinsam gegen den drohenden Untergang zu kämpfen.
Und zuletzt – man weiß nicht so recht, ob schon wieder an Land - sicheren Boden unter den Füßen – oder noch auf den schwankenden Planken des Bootes -
Da wird sich Simon zu Boden werfen und diesen merkwürdigen und unerwarteten Satz sprechen: „Geh von mir hinaus, Herr, denn ich bin ein sündiger Mensch.“
Er hätte ja auch sagen können: „Wunderbar, tolle Erfahrung, Jesus, vielen Dank für den Tipp und den super Fang, meine Mitarbeiter machen dir noch gleich ein Fischpaket fürs Abendbrot ... und wenn du mal wieder nach Tiberias kommst, guck doch mal rein.“
Genau das tut er aber nicht. Der Schreck sitzt zu tief, und er weiß: Irgend etwas muss sich ändern!
Was bewegt Menschen, die ihr Leben so gründlich ändern? Wie kommt es, dass eine Lebenserfahrung zu einer spirituellen Erfahrung wird? Ohne das Geheimnisvolle daran auflösen zu wollen, interessiert mich diese Frage. Und ich beobachte: Es müssen gar nicht immer die überwältigenden, spektakulären Erlebnisse sein.
Über meinem Schreibtisch hängt ein kleines Aquarellbild, das mich an einen solchen Veränderungsprozess erinnert. Ein Kurgast saß sehr oft schweigend irgendwo ganz hinten in unserer Kirche, und war ganz schnell verschwunden, wenn er sich beobachtet fühlte oder man gar freundlich grüßte. Aber er kam immer wieder, irgendwann fiel er mir auch in einem Gottesdienst auf. Eines Tages schließlich sprach er mich an, um sich zu verabschieden.
Seine Kur sei nun zu Ende sagte er, und er wollte sich schlicht bedanken.
Er ließ mich gar nicht zu Wort kommen und sagte auf meinen überraschten Blick:
Doch , hier in der Kirche sei etwas ganz Besonderes mit ihm passiert. Er habe unter einem enormen Druck gestanden, Anforderungen und Ansprüchen hätten ihn niedergedrückt und kleingekriegt, bis er schließlich krank geworden und zusammengebrochen sei.
"Immer sagten alle nur: „Du musst dich ändern, du musst alles anders machen, so kann es nicht weitergehen" erzählte er. Und natürlich hatten auch alle gute Ratschläge parat, das ging von strikter Tageseinteilung über Umschulung bis zu verschiedenen Therapieverfahren...
"Na ja, und ich, ich wollte es ja auch selbst mit allen Fasern, war ganz unzufrieden mit mir und meinem Leben. Ich strengte mich unheimlich an und bemühte mich immer mehr, anders zu werden, und irgendwann ging dann gar nichts mehr. Ich konnte einfach nicht mehr, und schließlich bin ich hier in der Kurklinik gelandet. Als ich hier in der stillen Kirche saß, da hatte ich eigentlich resigniert," sagte er, "da wollte ich eigentlich gar nichts mehr. Und dann erst ging mir plötzlich auf: Zum ersten mal verlangt ja auch keiner etwas von mir! Ich konnte einfach hier sein, und wie umarmt habe ich mich gefühlt von ihm da vorn“, sagt er und zeigt auf den segnenden Christus.
Und dann schenkte er mir das kleines Landschaftsaquarell. Die Zeit in unserer Kirche hatte ihm geholfen, zum ersten mal nach langen quälenden und bedrückenden Jahren zum Pinsel greifen können. Er konnte das tun, was er sich vorher nie zugetraut hatte. Die Last seines Lebens war nicht einfach verschwunden, aber er hatte Zugang gefunden zu den Segenskräften, die ihm geholfen hatten, neue Schritte zu wagen.
Simon Petrus und seine Gefährten werden alles verlassen, die Boote auf den Strand ziehen, sich einlassen auf eine höchst ungewisse Zukunft. Wie wird es weiter gehen? Sie haben verstanden: Jesus nur zu vereinnahmen, ihn mit ins eigene Boot zu nehmen, das reicht offenbar nicht. Aber: „Menschen fangen?“
Das könnte heißen: Andere mitnehmen auf den Weg des Abenteuers mit Jesus, des neuen Anfangs, den Zuspruch im Rücken: „Fürchte dich nicht!“
Doch mit dem Entschluss, die Boote auf Land zu ziehen und mit Jesus zu gehen, ist für Simon noch längst nicht einfach alles perfekt. Wenig später sehen wir den Simon, wie er im Wasser versinkt, über das er zu seinem Rabbi laufen wollte. Wir hören von ihm, dass er vollmundig sagt, bevor Jesus gefangen genommen wird:
„...und wenn ich mit dir sterben müsste, - niemals würde ich dich im Stich lassen!“ Und dann nicht zuletzt den, der auf die Frage einer Magd ruft: „ich kenne den Menschen nicht!“ und ihn damit verleugnet. Es gibt eine Menge Brüche in seiner Biographie.
So ist es zutiefst nachdenkenswert, dass diese Szene gerade als Mosaik dargestellt ist, auch Jesus selbst, mit seinen weit geöffneten Armen und segnenden Händen.
Auch Zeichen dafür, dass er sich zerbrechen lässt;
Konsequent den Weg geht, der ihn schließlich ans Kreuz bringt.
Aber gerade weil er nicht heil und ganz, strahlend und unverletzbar über allem schwebt, kann ich ihm glauben, dass er den Weg mitgeht, auch durch die Bruchstellen meines Lebens. So kann ich ihm glauben, dass er auch den Bruchstücken meines Lebens eine sinnvolle Deutung geben kann. Dass es in ihm heil und ganz werden kann.
Zuletzt: es ist ein offenes Bild. Der Heiligenschein, der den Kopf Jesu umschließt, ragt nach oben über das Bild hinaus, in den Himmel sozusagen. Und unten ist es das Netz, das ins Wasser hängt, und uns, die Betrachtenden mit hineinzieht in das Boot. Und so kommt durch die Jahrtausende hin Jesu Ruf auch zu uns:
„Komm, und folge mir nach!“
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe die Inselgemeinde auf Juist vor Augen, die in jedem Gottesdienst anders zu-sammengesetzt ist aus Gästen und Insulanerinnen und Insulanern. Die Gemeinde hat das Mosaik, das in der Predigt eine tragende Rolle spielt, an der Altarwand vor sich. Der Kunstlehrer, der das Bild mit Schülerinnen und Schülern erarbeitet hat, wäre in diesem Jahr 111 Jahre alt geworden, und am 12. Juli 1964 wurde in der erst halbfertigen Kirche der erste Gottesdienst gefeiert.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mich hat besonders der Gedanke beschäftigt, dass die Distanz zwischen Boot und Festland nicht nur praktische sondern auch inhaltliche Gründe haben könnte und die daraus resultierende Freiheit in der Begegnung mit Christus.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich möchte weiter über das Geheimnisvolle im Prozess der Entstehung oder Entde-ckung von Glauben nachdenken. Welche Möglichkeiten haben wir als Kirche /Gemeinde, in alles Freiheit Räume, Geschichten, Erfahrungen zur Verfügung zu stel-len, die hilfreich sein können?
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Neben den sehr hilfreichen Beobachtungen des Coaches fand ich es hilfreich, den Text der Predigt wiederholt laut zu lesen. Ich habe dabei etliche sprachliche Dubletten ent-deckt und verändert, aber auch einzelne Worte und Formulierungen immer wieder ausgetauscht, um auszuprobieren, was im Moment für mich stimmiger erscheint.
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„Die Füchse haben Gruben…lass die Toten ihre Toten“ - Predigt zu Lukas 9,57-62 von Rudolf Rengstorf
Liebe Leserin, lieber Leser!
Es gibt wohl keine andere Stelle im Neuen Testament, in der Jesus uns so fremd und anstößig begegnet wie im Evangelium dieses Sonntages, das wir eben gehört haben. Das „Lob sei dir o Christus“ kann einem schon vergehen bei so viel Schroffheit, mit der Jesus hier ausgerechnet die Menschen abfertigt, die sich im doch anschließen wollen. Und nirgendwo sonst wird so deutlich, wie krass der Unterschied zwischen Jesus und uns ist. Er lebte ohne festen Wohnsitz, war ständig unterwegs und der Hitze des Tages, der Kälte der Nacht und den Nachstellungen der Menschen schutzlos ausgeliefert. Da ist niemand unter uns, der auch nur annähernd so lebt oder zu leben gedenkt. Die Beerdigung von Angehörigen – er kümmerte sich nicht drum. Ihm ging des um das Leben, was scherten ihn da die Toten? Wir dagegen kennen kein Leben, das nicht mitgeprägt wäre von der Erinnerung an gestorbene Bezugspersonen und der Wahrung ihres Gedächtnisses. Er schaute nicht zurück. Was kümmerte ihn die Vergangenheit - die Zukunft war sein Land. Für uns aber ist es lebenswichtig, aus der Rückschau auf die Vergangenheit zu lernen und sehr wohl auf das zu achten, was uns mit anderen Menschen verbindet.
Obdach- und bedürfnislos, pietät- und rücksichtslos – diesen Weg gehen wir nicht mit. Und mag er f noch so sehr in den Himmel führen. Wir müssen hier auf Erden zurechtkommen.
Freilich wusste Jesus sehr genau, dass Nachfolge in diesem radikalen Sinne nur sehr wenigen Menschen vorbehalten ist. Klein war die Schar von Männern und wohl auch von Frauen, die alles stehen und liegen ließen und mit ihm durchs Land zogen. Und dann waren da die vielen anderen, die etwas von ihm wollten. Sie brachten ihm ihre Kinder, kamen mit ihren Kranken und Behinderten, wollten ihm zuhören. Gingen dann aber wieder nachhause und in ihren Alltag zurück. Und wurden dafür nicht von ihm gescholten. Und der kleine Tross von Jüngern lebte ja davon, dass die sesshaft bleibenden Sympathisanten sie einluden und mit dem versorgten, was sie zum Leben brauchten.
Und so ist es geblieben. Kirche lebt davon, dass Ausnahmepersönlichkeiten aus dem gewohnten Leben aussteigen, um ganz für Gott und Jesus da sein zu können. Und sie lebt ebenso davon, dass die anderen - sozusagen die Gewohnheitschristen – auf diese Nachfolgerinnen und Nachfolger achten und deren Impulse in ihren Alltag aufnehmen.
Ohne die Nachfolger im eigentlichen Sinne hörte Kirche auf, Kirche zu sein. Sie ginge auf in dem, was alle anderen auch tun und sagen. Und ohne die große Menge der Sympathisanten im Volk wäre Kirche eine winzige Schar von in der Luft hängenden Exoten – ohne Nachhall und Auswirkung auf der Erde.
Das lässt sich gut demonstrieren an der Geschichte der Hildesheimer Blindenmission.
Sie nahm ihren Anfang mit einer ganz außergewöhnlichen Frau. Luise Cooper wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Pastorentochter geboren. Im Alten Land wuchs sie auf. Das war eine Zeit, in der die Anfänge von Demokratie und Frauenemanzipation von 1848 zunichtegemacht wurden, weil überall die Restauration sich durchgesetzt hatte. Und das Alte Land gehörte nicht gerade zu den Landstrichen, in denen Warmherzigkeit und die Sorge um den fernen Nächsten gediehen. Also denkbar ungünstige Voraussetzungen für die Entwicklung einer wegweisenden Christin. Hinzu kommt, dass Luise von äußerst schwacher Konstitution war. Ein Schulbesuch war dem zarten Geschöpf nicht zuzumuten, es wurde von seinem Vater zuhause unterrichtet. Dabei aber lernte sie den Herrn Jesus so intensiv kennen und lieben, dass es ihr dringendster Wunsch war, sein Evangelium auch dorthin zu bringen, wo man es noch nicht kannte. An den Beruf einer Missionarin war damals aber überhaupt nicht zu denken. Das gab es in Hermannsburg, dem Missionswerk ihrer Heimatkirche natürlich nur für Männer. Und der Vater achtete schon sehr darauf, dass seine Tochter sich körperlich nicht übernahm. Doch da sie darauf drang, ihr Leben dem Herrn Jesus zu widmen, wurde sie im Henriettenstift in Hannover zur Diakonisse ausgebildet. Nach dem Tod des Vaters streckte sie ihre Fühler aus, ob nicht doch eine Aussendung nach Übersee möglich war. Und tatsächlich, in der Berliner Mission ging das. Die hatten bei ihren missionarischen Bemühungen in China nämlich erlebt, dass männliche Missionare von den Männern überhaupt nicht in die Häuser gelassen wurden. Deshalb hatte man dort mit der Ausbildung und Aussendung von Missionarinnen begonnen. Im Jahr 1884 wurde Luise Cooper im Alter von 35 Jahren von Berlin aus als Missionsschwester nach Hongkong gesandt. Sie begann dort in einem Waisenhaus zu arbeiten. Eine sichere Basis, von der aus sie, Land und Leute und die schwierige Sprache kennenlernen sollte. Nach knapp zwei Jahren aber war sie gesundheitlich am Ende. Als für das tropische Klima auf Dauer untauglich wurde sie nach Deutschland zurückgeschickt.
Mutter und Schwestern hatten in der Zwischenzeit von betuchter Verwandtschaft wohl gut geerbt, waren nach Hildesheim gezogen und hatten hier eines der ansehnlichen Bürgerhäuser erworben. Dazu kam jetzt auch Luise, körperlich schwer angeschlagen mit einem gescheiterten Lebenstraum. Und dennoch versank sie nicht in Passivität und Selbstmitleid. Im Gegenteil, sie blieb, was sie immer sein wollte: Missionarin. Jetzt in ihrer neuen Umgebung galt für sie um Christi willen der Auftrag weiterzugeben, was sich ihr an menschlichem Leid in Hongkong auf die Seele gelegt hatte und wo unbedingt geholfen werden musste.
Das war vor allem die Not blinder Mädchen. Weil man mit ihnen nichts anzufangen wusste, sie als Strafe der Götter galten, wurden sie von den Eltern aus Scham entweder getötet oder auf der Straße ausgesetzt. Wo sie blieben und vor sich hinvegetierten, weil selbst christliche Waisenhäuser sie nicht aufnahmen, galten sie doch als unbeschulbar. Wer die Kindheit auf der Straße überlebt hatte oder erst später erblindete, wurde in die Sklaverei verkauft oder als Prostituierte gehandelt. Für Luise Cooper war sonnenklar: Das können Christen, für die Behinderte und Kranke nicht von Gott Gestrafte sind, sondern Brüder und Schwestern, denen es beizuspringen gilt – das können Christen doch nicht einfach hinnehmen! Da müssen sie aktiv werden. So startete sie eine publizistische Dauerkampagne: Sie hielt Vorträge, schrieb Artikel und sogar ein Buch, das sich gut verkaufte. Trotz körperlicher Schwäche schaffte sie es, mit unglaublicher Willensstärke und Überzeugungskraft, dass bald ein Netzwerk von hilfsbereiten Frauen in und um Hildesheim und darüber hinaus entstand. Ein Netzwerk, das mit dem Verkauf von Handarbeiten und dem Gewinnen von Sponsoren binnen weniger Jahre so viel Geld gesammelt hatte, dass die von Luise Cooper gegründete Hildesheimer Blindenmission genug Mittel hatte, eine tatkräftige und sowohl pädagogisch wie auch organisatorisch hochbegabte junge Diakonisse namens Martha Postler nach Hongkong auszusenden und sie so auszustatten, dass sie in der Lage war, ein Heim für blinde Mädchen zu errichten.
Dieses Heim hat sich im Laufe der Zeit zu der leistungsfähigsten Blindenschule in ganz Südostasien entwickelt. Von modernster Diagnostik und Therapie für Kleinkinder über Kindergarten und Blindenschule mit Internat, die die Kinder soweit fördert, dass sie in das öffentliche Schulystem übernommen werden können, bis hin zur Fördereinrichtung für mehrfach behinderte Kinder, die dauernd auf Betreuung angewiesen bleiben und doch vorankommen dabei, sich selbst und ihre Umwelt wahrzunehmen. Längst hat die Weltstadt Hongkong die Besoldung des Personals übernommen, und für modernste Ausstattung sorgt der renommierte Jockeyclub.
Von Hongkong strahlte das Werk aus – zunächst nach Taiwan, wo die Hildesheimer bei der Entstehung einer großen Schule mit Internat und Ausbildungsstätten für Kinder und Jugendliche halfen. Auch dort gibt es inzwischen so viel öffentliche und private Unterstützer, dass Hilfe aus Deutschland nicht mehr benötigt wird. Und so ging es der Vorgabe Luise Coopers entsprechend weiter zu den Ärmsten der Armen im südostasiatischen Raum – nach Medan und Surabaya in Indonesien, nach Davao auf die Philippinen, nach Meiktila in Myanmar, dem früheren Burma, und selbst in den ärmsten Provinzen der Volksrepublik China ist die Hildesheimer Bkindenmission in Blindenhilfsprojekten gemeinsam mit der evangelischen Kirche in China tätig.
Ich breche hier ab. Luise Cooper ist ein Beispiel dafür, was außerordentliche Menschen, die konsequent dem Ruf Jesu folgen, in Gang setzen können, wenn da Sympathisanten sind, die sich zwar nicht aus ihrem gewohnten Leben lösen, aber sich bewegen lassen von dem, was die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu als Aufgabe entdecken.
Noch eine Beobachtung zum Schluss: Bei der konsequenten Nachfolge vollzieht sich heute ein Wandel. Die Entscheidung für einen lebenslangen Ausstieg aus gewohnten Bindungen ist seltener geworden als früher. So gibt es kaum noch Diakonissen, und der Priestermangel ist dramatisch. Stattdessen aber gibt es viele Menschen, die einen Ausstieg auf Zeit auf sich nehmen. So profitiert die Hildesheimer Blindenmission davon, dass sie inzwischen junge Freiwillige an die von ihr geförderten Schulen schicken können, die bereit sind, auf alle Annehmlichkeiten hier zu verzichten und ein Jahr ihres Lebens dafür zu geben, mit blinden Kindern unter einfachsten Verhältnissen zu leben und zu lernen. Was sie hier weitergeben, beflügelt alle in dem, was sie hier an ehrenamtlicher Arbeit oder als Spender und Paten leisten.
Den Weg Jesu gehen wir so, wie er das von sich und seiner Jüngerschar verlangt, selber nicht mit. Aber wir sind nicht außen vor, sondern bleiben durch sie in unserem Alltag als Christen in Bewegung und erkennbar. Gott sei Dank! Amen.
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Glauben und Verstehen - Predigt zu Lukas 18, 31-34 von Matthias Wolfes
„Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden; und er wird verspottet und geschmähet und verspeiet werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er wieder auferstehen. Sie aber verstanden der [Worte] keines, und die Rede war ihnen verborgen, und wußten nicht, was das Gesagte war.“ (Jubiläumsbibel 1912)
Liebe Gemeinde,
wir befinden uns unmittelbar vor dem Beginn der Passionszeit. Die Geschichte von Leiden und Sterben Jesu werden uns in den kommenden Wochen beschäftigen. Darauf stellen wir uns heute ein, und wir tun das, indem wir uns, unserem Text aus dem Lukas-Evangelium folgend, den sogenannten „Leidensankündigungen“ Jesu zuwenden.
Nun ist es eine der Rätselfragen der Passionszeit, weshalb in den Schilderungen der Evangelien dem Leiden Jesu diese Ankündigungen vorangestellt werden. Welche Bedeutung haben sie? Sie müssen doch etwas bestimmtes aussagen wollen. Manche Ausleger meinen, dass es zum Leiden Jesu hinzugehört, wenn ihm die Vorhersage vorangeht – und vielleicht ist ja an dieser Auffassung auch wirklich etwas dran. Oder aber es ließe sich an einen Heilsplan denken, der dem allen irgendwie zugrunde liegt, dem alles anschließende Geschehen folgt und auf den mit den Ankündigungen verwiesen werden soll. Das Geschehen, also Leiden und Tod Jesu, wären dann ihrerseits eine Art Erfüllung von etwas, was bereits von Beginn an vorgesehen worden wäre.
Man kann versuchen, jene „Rätselfrage“ auf diese oder eine ähnliche Weise anzugehen und aufzulösen. Es ist ja auch in der langen Geschichte des christlichen Glaubens und des Nachdenkens über ihn immer wieder so gemacht worden. Und dennoch: Ich kann mich mit Auslegungen dieser Art nicht zufrieden geben. Mein Einwand lautet: Wenn es so wäre, wenn alles so kommen musste, weil es von vornherein schon – von Gott – so geordnet worden ist, dann kommt es auf Jesu Ankündigung selbst an. Anschließend wird er dann tatsächlich verspottet, geschmäht, gegeißelt – aber das hat nur noch die Funktion, zu bestätigen, wovon er zuvor bereits gesprochen hat. Die Ereignisse, die ihnen als ihre Erfüllung folgen, wären nur noch dazu da, das Angekündigte zu bestätigen.
Noch ein zweites möchte ich bemerken: Es würde, wollte ich dieser Sichtweise folgen, auf eine vollständige Umkehrung all meiner Vorstellungen von der Verwirklichung des göttlichen Heilsplanes in der Welt hinauslaufen. Soll ich im Leiden und Tod Jesu eine Art „Heil“ oder „Heilstatsache“ erkennen? Vielmehr ist doch das Geschehen der Passion ein schreckliches Unheil und nichts anderes. Überhaupt dürfen wir uns doch wohl fragen: Was soll das ganze Thema „Die Leiden Jesu“ eigentlich? Man kann doch auch ganz gut klarkommen, wenn man schlicht und einfach alles Vertrauen auf Gott setzt; damit hat man ja schon genug zu tun. Das Nachdenken über die Bedeutung der Passion und mehr noch über diese Ankündigungen der Passion überlässt man dann ruhigen Herzens anderen.
So könnten wir es uns denn heute recht einfach machen. Aber das Einfach-Machen hat auch seine Kehrseite. Es gibt eben nun einmal Vorhandenes aus der Geschichte unseres Glaubens oder dann auch Sachverhalte, die in den biblischen Texten eine wichtige Rolle spielen. Sie sind dort offenkundig von erheblicher Bedeutung; das lässt sich nicht einfach ausblenden, und deshalb kann man sie auch nicht einfach übergehen. Und man kann es auch nicht für unerheblich erklären, dass diese Dinge oftmals zu angestrengtem Nachdenken und engagierten Erläuterungen geführt haben. Besonders letzteres sehen wir am Beispiel dieser Leidensankündigungen sehr deutlich.
Der Reformator Johannes Calvin etwa hat sich ihnen mit großer Sorgfalt gewidmet. Er war der Ansicht: In ihnen komme die besondere und einzigartige messianische Würde Jesu auf besondere und einzigartige zum Ausdruck. Jesus sei mit der unbesiegbaren Kraft des Heiligen Geistes ausgestattet gewesen, um sich im Wissen um sein gewaltvolles Schicksal nach Jerusalem zu begeben. Er tat dies, gerade „damit er von ihnen angespuckt, gelästert, beschimpft, ausgepeitscht und schließlich vor die Folter des Kreuzes gezogen wird“. Weil nun aber seine Jünger erschraken, hat Jesus, Calvin zufolge, die Ankündigung des Leidens mit Recht mehrmals wiederholt. Damit ermutigte er sie, und zwar auf zweierlei Weise: Zum einen gab er ihnen mit seinem Vorauswissen ein Zeichen seiner Göttlichkeit; zum anderen bot er ihnen Kraft und Sicherheit, indem er erklärte, „am dritten Tage wird er wieder auferstehen“. Dass Jesus nun aber seine Mitteilungen auf den Kreis der zwölf Jünger begrenzte, hat laut Calvin nicht die Bedeutung, sie vor allen anderen herauszuheben, sondern es geschieht, um sie als zukünftige Zeugen einzusetzen.1
Wie dem nun auch sei. Ich führe diesen Reformator an, weil seine Überlegungen zeigen, wie man auch jenseits aller Ideen von „Heilsplan“ und „Erfüllung“ den Leidensankündigungen einen Sinn abgewinnen kann. Ich selber allerdings muss einen anderen Weg gehen. Meiner Ansicht nach haben bei Calvin die Schlussworte unseres Abschnittes nicht das erforderliche Gewicht. Dort heißt es ja nun einmal in aller Unmissverständlichkeit: „Sie aber verstanden der Worte keines, und die Rede war ihnen verborgen, und wußten nicht, was das Gesagte war.“
Diese Verständnislosigkeit der Jünger macht unsere Frage um so dringlicher: Weshalb gibt es diese Leidensankündigungen? So schwer es nun scheint, darauf eine klare und einleuchtende Antwort zu geben, so entschieden möchte ich doch betonen, dass es diese Aussagen nun einmal gibt. Sie stehen der Passionsschilderung voran, und das sogar in dreifacher Ausführung. Sie bilden offensichtlich einen zugehörigen Bestandteil der Passionsgeschichte.
Worum es meiner Ansicht nach nicht geht, das ist ein Vorauswissen Jesu, das man dann als Jünger oder Glaubender einfach so hinnehmen müsste. Vielmehr verhält es sich so: Indem Jesus das ihm bevorstehende Leiden ankündigt, gibt er zu erkennen, dass er entschlossen ist, es auf sich zu nehmen. Er nimmt auf sich, was ihm bevorsteht, und er tut es aus freiem Willen. Dieser Wille ist, wenn man denn schon so sprechen möchte, der eigentliche heilvolle Sachverhalt, die „Heilstatsache“. Im Willen Jesu verwirklicht sich Gottes gütiges Wollen (Eph 1,11; Hbr 6,17). Mehr möchte ich zu dieser Sache heute nicht sagen.
Worum es mir geht, das sind nun eben die Worte am Ende unseres Textes, jene stark betonte Mitteilung des Evangelisten, dass die Jünger nichts verstanden haben, buchstäblich kein Wort, dass ihnen der Sinn der Rede „verborgen“ war und sie nicht „wußten, was das Gesagte war“. Die Jünger konnten nicht auffassen, was Jesus ihnen sagte; der Sinn seiner Rede blieb ihnen verschlossen; und es blieb ihnen verborgen, was er ihnen mitteilen wollte, weil seine Rede sie nicht erreichte. Sie werden vom Klang her gehört haben, was er sagte, doch war es ihnen unmöglich zu erfassen, welche Bedeutung seine Worte hatten.
Es geht hier offensichtlich um ein ganz grundsätzliches Nichtbegreifen. Die Jünger haben keinen Zugang zu den Worten Jesu, und zwar deshalb nicht, weil sie sie „von außen“ hören. Dieser Zugang „von außen“ ist derjenige des Verstehens. Sie können nicht verstehen, und werden es auch in Zukunft nicht können, weil es auf diese Weise, auf die Weise des verständigen Begreifens, keinen Zugang gibt. Verurteilen werden wir sie deshalb nicht, wissen wir doch, dass es schließlich erst die Auferstehung Jesu und die Gabe des Heiligen Geistes waren, die die Herzen der Jünger aufgeschlossen und verändert haben (Luk 24, 32). Es ist eine elementare Blindheit, mit der diejenigen geschlagen sind, die Jesu Worte von dem bevorstehenden Leiden „verstehen“ wollen.
Die Jünger verstehen angesichts der Leidensankündigungen auch nicht irgend etwas anderes. Sie missverstehen Jesus also nicht etwa, sondern sie fassen überhaupt gar nicht auf, was er sagt. Und so ist es auch heute, wie überhaupt zu allen Zeiten. Das Tun Jesu, das sich hier anbahnt und im Wort schon vorweggenommen wird, entzieht sich dem Ordnungsmuster, mit dem wir die Dinge der Welt wahrnehmen und uns zuhanden machen. Dieses Nichtverstehen wird erst am Ende der Zeit aufgehoben werden; es gehört vielmehr in die Ordnung der Welt hinein, bildet ihr Gefüge ab und lässt sich aus ihr selbst heraus nicht überwinden.
Der Glaube spricht eine andere Sprache. Zu seinem Glauben gekommen ist man, wenn man von ihm sprechen kann. Das setzt voraus, dass man sich in ihm einwohnt. Sich „einzuwohnen“ ist ein Vorgang, der dauern kann. Man bildet sich selbst hinein in die Dinge des Glaubens, seine Formen, sein Vokabular und seine Inhalte. Dies bedeutet aber, dass man sie sich zueignet. Gefühle und Ahnungen, Vorstellungen, Geschichten und Bilder sind hier am wichtigsten. Wir könnten geradezu sagen: Man bildet sich seinen Glauben ein, in dem Sinne, dass man das, was man vorfindet – was an einen „überliefert“ wird –, sich zueignet. Einwohnung heißt, der Glaube wird zu einem heimischen, guten Ort, und anders kann es gar nicht sein, wenn der Glaube wirklich aus dem Innersten meiner selbst erwächst. In diesen Bildern und Geschichten lebt der Glaube. In ihnen lebe ich mit meinem Glauben.
Zu solchen Inhalten des Glaubens gehört auch der ganze Komplex des Leidens und Sterbens Jesu. Hier gilt nun ganz besonders, was für alle Glaubensvorstellungen und Glaubensformen gilt: Was sich herstellen muss, ist die Kraft, aus eigener Überzeugung heraus zu sprechen. Und das ist nur möglich, wenn man nicht mehr unselbständig ist. Wenn einer weiß, weshalb er das Zeugnis gibt, und es in diesem Bewusstsein auch geben will, dann erst ist es sein Glaube.
Mit anderen Worten: Die Passionszeit, vor der wir nun wieder stehen, handelt von Dingen, die den Kern unseres Glaubens betreffen. Inwiefern diese Dinge uns umtreiben und welche Einstellung wir zu ihnen einnehmen, welche Gefühle und Vorstellungen sie bei uns auslösen, all das gibt Auskunft über die Gestalt unseres Glaubens. Inwiefern sie das tun, wie wir selbst sie für uns auffassen und uns also zum Heil werden lassen, das eben ist genau das, worum es im Glauben geht. Und zwar im Glauben schlechthin und in jeder seiner Bestimmungen.
Zu einer wirklichen Teilhabe an der Wirklichkeit des Glaubens kommt erst, wer damit beginnt, eigene Schritte zu tun. Wir lassen an uns heran und setzen uns dem aus, was hier als Geschehen berichtet wird. Vor allem geht es darum, eine eigene Haltung dazu einzunehmen. Das kann auf die verschiedenste Weise geschehen; jeder wird dabei seinen eigenen Weg finden, sei es mehr im Nachempfinden, im schlichten Hören, im Mitfühlen und Dabeisein oder auch im Nachdenken und Überlegen. Dieser Weg, wie immer er im einzelnen aussieht, ist der Weg des Glaubens, und ihn zu beschreiten bleiben wir, wie auch die Jünger in jener Situation, bis zum Ende unserer Tage aufgefordert.
Amen.
1 I Nach François Bovon: Das Evangelium nach Lukas. Dritter Teilband (Evangelisch-Katholischer Kommentar. Band III/3), Düsseldorf und Zürich / Neukirchen-Vluyn 2001, S. 252 (dort auch das Zitat).
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt ist in einen „normalen“ Sonntagsgottesdienst mit traditionellem liturgischem Ablauf und kirchenjahreszeitlicher Besonderung eingebettet, zu dem sechzig bis achtzig Teilnehmer (darunter auch Konfirmanden) erwartet werden.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
„Beflügelt“ (zu einem konsequent eigenen Gedankengang ermutigt) hat mich, dass mir von Anfang an klar war: Es geht nicht um einer Erklärung der „Heilsbedeutung“ von Leben und Sterben Jesu.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
In ihren Unzulänglichkeiten, ihren Sorgen, Nöten und Ausflüchten fühle ich mich den Jüngern nahe. Diese „Entdeckung“ ist zwar schon älter, aber jetzt noch mal bestätigt worden.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die diversen Hinweise waren hilfreich und sind von mir nahezu sämtlich akzeptiert worden. Die Predigt wurde dadurch länger, aber im ganzen wohl auch zugänglicher.