Geben und Glauben - Predigt zu zu Lukas 16, 1-9 von Dr. Ralph Hochschild
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.
Liebe Gemeinde,
“Stellt Euch vor, was mir passiert ist. Heute Morgen ruft mich mein Herr zu sich. Ihm gehören all diese Ländereien, Felder und Häuser, die ich für ihn verwalte.” Das Drama beginnt. Benjamin streckt die rechte Hand aus und zieht mit dem Finger vor meiner 10. Klasse einen riesigen Halbkreis. “So weit reichen seine Güter. So viel Arbeit für mich. Jahr für Jahr ärgere ich mich mit den Pächtern herum. Jahr für Jahr laufe ich den Schuldnern hinterher. Jahr für Jahr verkaufe ich Öl und Getreide zu einem guten Preis und schaffe Platz für die neue Ernte. Geräte und Gebäude halte ich in Schuss. Und jetzt das!” Benjamin schnaubt hinter seiner Corona-Maske. Die Brille beschlägt sich vor Empörung. “Er ruft mich und sagt: ‚Jemand hat mir zugetragen: Du verschleuderst mein Vermögen. Deshalb muss ich dich entlassen. Bereite Deine Schlussabrechnung vor und geh!‘
Nicht einmal verteidigen durfte ich mich. Nur ein Gerücht und schon gefeuert, auf die Straße geschickt ohne Beweis. Was soll ich jetzt tun? Ich bin nicht stark genug, um auf dem Feld zu arbeiten. Ich schäme mich zu betteln. Was soll ich tun?”
Im Gleichnis vom sogenannten “ungetreuen Verwalter” findet der Verwalter eine verblüffende Lösung für sein Problem. Nachdem uns die Einleitung ins Gleichnis so brillant vorgespielt wurde, lese ich nun die Fortsetzung aus der Bibel. Wir hören Lukas 16, die Verse 4-9. Der Verwalter überlegt und sagt:
Ich weiß, was ich tun will, damit sie mich in ihre Häuser aufnehmen, wenn ich von dem Amt abgesetzt werde. Und er rief zu sich die Schuldner seines Herrn, einen jeden für sich, und sprach zu dem ersten: Wie viel bist du meinem Herrn schuldig? Der sprach: Hundert Fass Öl. Und er sprach zu ihm: Nimm deinen Schuldschein, setz dich hin und schreib flugs fünfzig. Danach sprach er zu dem zweiten: Du aber, wie viel bist du schuldig? Der sprach: Hundert Sack Weizen. Er sprach zu ihm: Nimm deinen Schuldschein und schreib achtzig. Und der Herr lobte den ungerechten Verwalter, weil er klug gehandelt hatte. Denn die Kinder dieser Welt sind unter ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts. Und ich sage euch: Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit, wenn er zu Ende geht, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten.
Liebe Gemeinde,
eigentlich würde ich jetzt gerne hinter Benjamins Corona-Maske schauen. Ob er ganz in seiner Rolle drin ist? Ob er grinsen muss, als er so temperamentvoll den Verwalter dieses Gleichnisses spielt? Keine Chance für mich und keine Chance für seine Mitschüler. Aber jeder im Klassenzimmer erkennt etwas anderes. Vor den Augen ein zu Recht empörter und zu Unrecht beschuldigter Verwalter. Hinter der Fassade eine Figur, die es faustdick hinter den Ohren hat. “Darf man das so machen, wie er es tut?” Ich bitte die Klasse um eine spontane Reaktion. Als Lehrer wecke ich pflichtschuldigst Verständnis für den Verwalter. Keine Chance für mich und keine Chance für den Verwalter. Das Urteil steht: “Nein, man darf nicht stehlen.” “Nein, keiner will, dass einer dem anderen das Vermögen wegschenkt.” “Nein, das hat nichts mit dem zu tun, was ein Verwalter von sich erwarten sollte.” “Nein, auch wenn er den Schuldnern Gutes tut - daraus lässt sich kein allgemeines Gesetz machen.” “Nein, die Glückspunkte, die das Schenken bringt, wiegen nicht das Unglück des betrogenen Mannes auf.”
“Und der Herr lobte den ungerechten Verwalter, weil er klug gehandelt hatte. Denn die Kinder des Lichts sind unter ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts.”
Verlassen wir das Klassenzimmer, noch bevor die spielenden Schüler sich zum Gleichnis äußern dürfen und schließen leise die Tür hinter uns. Lassen wir dort das Urteil über den Verwalter zusammen mit unserem eigenen moralischen Widerwillen zurück. Lassen Sie uns stattdessen fragen: Warum ist er klug? Was können wir von ihm lernen. Drei Dinge fallen mir ein.
Zuerst: Er jammert nicht lange über seine schlechten Aussichten. Er lässt sich nicht einschüchtern. Er nimmt das Unrecht nicht hin. Er sitzt nicht auf die Hände, er tut etwas. Er analysiert. Er weiß, was er kann und was ihn überfordert: Schwere körperliche Arbeit. “Zu betteln schäme ich mich”. Kaum zu glauben. Eigene Werte, die er fokussiert verfolgt, hat er auch, ob sie uns gefallen oder nicht. So handelt er schnell, durchdacht, entschlossen und zielstrebig. Er weiß, was jetzt die Stunde geschlagen hat.
Dann: Er sucht seine Chance mit den Ressourcen, die ihm zur Verfügung stehen, ob sie seine eigenen oder ihm überlassen sind. Ich denke an meine eigenen Kräfte und Ressourcen. Vieles von dem, was mir gelingt, schaffe ich mit Mitteln, die mir andere überlassen und gegeben haben. Ob ich wichtige Dinge von Lehrern, Freunden oder Kollegen an meiner Schule gelernt habe, ob ich Impulse von meinen Schülerinnen und Schülern aus dem Unterricht mitgenommen und an ganz anderer Stelle wieder gewinnbringend eingesetzt habe - ich glaube, nicht nur ich verdanke viel im Leben den Ressourcen, Dingen und Mitteln, die mir andere überlassen haben.
Es ist gewiss kein Fehler, wenn wir uns das am heutigen Volkstrauertag vor Augen halten. Wir treten nachher aus der Kirche und gehen über den Friedhof die wenigen Schritte zu unserem Mahnmal. Mit uns geht die lange Geschichte dieses Tages, an dem das Gedenken und das Trauern so unterschiedliche Formen angenommen hat. Zunächst ist der Volkstrauertag der Gedenktag für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges und wurde dann zum “Heldengedenktag”. 1952 wiederbegründet, entwickelt er sich zu einem Teil unserer besonderen Erinnerungskultur. Sie ist in einem langen und gewiss nicht schmerzfreien Prozess seit den 60er-Jahren gewachsen. Heute spart sie die misslungenen Teile unserer Geschichte und das Unrecht, das unschuldigen Menschen zugefügt wurde, nicht aus. Deshalb gedenken wir heute “der Opfer von Gewalt und Krieg, an Kindern, Frauen und Männer aller Völker” (Bundespräsident Joachim Gauck 2016). Ich bin überzeugt, unser Land hätte diesen guten Weg nicht gehen können ohne die Geduld, ohne den Vertrauensvorschuss, der unserem Land nach 1945 gewährt wurde. Wir hätten diesen Weg nicht gehen können, wenn Überlebende der Schoah und ehemalige Zwangsarbeiter nicht bereit gewesen wären, in unsere Schulen zu kommen und unauslöschliche Eindrücke bei Schülerinnen und Schülern hinterlassen hätten. Durch das, was sie erzählt haben, durch ihre Bereitschaft, neuen Generationen eine neue Chance zu geben. Zeit, Geduld, ein großer Vertrauensvorschuss - sie wurden uns gegeben. Und ich glaube, sie wurden gut genutzt.
Jeder von uns nützt die Ressourcen anderer Menschen. Denn wer könnte ohne die Erfahrung der Verzeihung leben? Nicht jeder Konflikt kann juristisch geklärt, nicht jeder Streit vor Gericht befriedet, nicht jedes Unrecht durch kluge Mediation ausgeglichen werden. Es braucht die Erfahrung der Verzeihung. Das heißt ja nichts anderes, als dass ein verletzter und beschädigter Mitmensch bereit ist, einen Raum zu öffnen, in dem neu Vertrauen wachsen kann, in dem eine misslungene Vergangenheit einer besseren gemeinsamen Zukunft nicht im Wege steht. Auch eine Ressource, die uns andere geben und aus der wir etwas machen können.
Lange bevor einer von uns seinen Eltern seine Liebe bewusst zeigen konnte, wurden wir schon von ihnen geliebt. Haben sie ein Urvertrauen in uns gepflanzt, aus dem heraus wir selbstbewusst, vertrauensvoll zu anderen und offen gegenüber der Welt werden konnten. Wir konnten wachsen und die Menschen werden, die wir heute sind, weil uns diese Ressource geschenkt wurde. Das führt mich zum dritten Punkt.
“Also am Anfang habe ich überhaupt nichts kapiert”. Wir sind einen Moment zurück im Klassenzimmer. Alina sitzt auf dem “heißen Stuhl”. Sie ist der Schuldner, dem seine Schuld erlassen wurde. Sie erzählt, wie sie diesen Moment in ihrer Rolle erlebt hat. “Erst habe ich gedacht, der ist verrückt geworden. Aber als ich verstanden hatte, wie mein Leben dadurch leicht wird, da wurde ich richtig froh.”
Liebe Gemeinde,
das macht unseren Verwalter doch fast wieder sympathisch. Denn wenn ich es mir recht überlege. Er hätte die Sache ganz anders anpacken können. Er hätte einfach etwas unterschlagen können - macht er aber nicht. Er hätte Druck aufbauen können und die Schuldner zur Bezahlung ihrer Schuld zwingen können, um sich etwas abzuzweigen - macht er aber nicht. Er hätte seine vornehme Stellung dazu nützen können, um sie zu seiner Unterstützung zu überreden - macht er aber auch nicht. Sondern: Er gibt, er schenkt, entlastet, macht andere froh - und glaubt.
Er gibt und glaubt. Denn er weiß: so gut er sich das ausgedacht hat, so schlau er das geplant hat, so clever wie er es durchgeführt hat. Ob es am Ende klappt, ob sie ihn am Ende wirklich aufnehmen - dafür hat er keine Garantie. Das muss er glauben. Und so ist die vertrauensunwürdigste Person in der Geschichte zugleich die vertrauensseligste. Für mich ist das das Erstaunlichste und die schönste Wendung in dieser ganzen Geschichte.
Glaube ist eine Geistesgabe. Wir glauben, dass Gottes Geist in uns wirkt. Er hält das Gedächtnis Jesu in uns lebendig. Er ist der Tröster. Gottes Geist ist ein Geist der Liebe. Er macht uns bereit, uns anderen Menschen zuzuwenden. Diese Ressource Gottes nicht weniger ruchlos als der Verwalter das Vermögen seines Herrn nutzen - das will ich aus diesem Gleichnis lernen. Aus dem zu leben und zu geben, was mir zur Verfügung steht. Und glauben, dass mein Gott Gutes daraus erwachsen lässt. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Im Bewusstsein vieler Kirchgänger ist der Vorletzte Sonntag des Kirchenjahres der „Volkstrauer-tag“. Besonders in den ländlich geprägten Teilen und im Stadt-Umland-Bereich unseres Kirchenbe-zirks nehmen viele die Gelegenheit wahr, nach dem Gottesdienst an der der Feier der politischen Gemeinde zum Volkstrauertag teilzunehmen. Gemeinderäte und Bürgermeister nehmen diesen Tag zum Anlass, in den Gottesdienst zu kommen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Seit Jahren spiele, reflektiere und deute ich mit Schülerinnen und Schülern biblische Texte in dramapädagogischen Unterrichtssequenzen. Oft zeigen sich im Spiel Sinnpo-tenziale biblischer Texte, die man so nicht in der der gängigen exegetischen Literatur findet und die trotzdem des Nachdenkens wert sind. In der Predigt eine Summe aus einigen dramapädagogischen Versuchen mit diesem Text nachzuvollziehen und für die Predigt produktiv zu machen, war eine motivierende Aufgabe.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Viele der Interpretationen des Gleichnisses ringen mit der moralischen Qualität des „un-ehrlichen Verwalters“. Davon abzusehen und auf seine Handlungen, ihre Voraussetzun-gen und Wirkungen zu achten, hat mir das Gleichnis neu erschlossen. Immer wieder daran denken, dass wir vieles tun können, weil uns geistige und materielle Ressourcen anderer zur Verfügung stehen. Als „Kinder des Lichts“ von der Klugheit der „Kinder der Welt“ das Richtige lernen. Der Geist Gottes als besondere Ressource unserer Existenz.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Ermutigung zu einer anschaulichen Sprache und eine stärkere Fokussierung auf das Thema „Geben und Glauben“
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12.09.2021 - 15. So. n. Trinitatis
Auf schmalem Grat - Predigt zu Lukas 18,9-14 von Olaf Waßmuth
Liebe Gemeinde,
über manche Leute kann ich nur den Kopf schütteln.
In letzter Zeit besonders. Meine erste Zugfahrt seit Corona: Der ICE ist ordentlich voll und bei vielen hängt der Mund-Nase-Schutz nur locker am Kinn. Sogar bei der Zugbegleiterin! So bringt das wirklich nichts, denke ich. Ich habe meine Maske natürlich ordnungsgemäß aufgesetzt und vor der Reise extra gewaschen. Warum kapieren die andern eigentlich nicht, dass es beim Corona-Schutz auf jeden ankommt? Es regt mich auf.
Über manche Leute kann ich nur den Kopf schütteln.
Da hat wieder einer sein SUV haarscharf neben unsere Garageneinfahrt gestellt. Ich würde mir nie so ein Riesenauto kaufen, das massenhaft CO2 in die Luft bläst. Und unser Nachbar, der meistens alleine unterwegs ist, behauptet, er fühlt sich einfach sicher darin. Klimaschutz geht uns alle an, lieber Nachbar! Das sage ich allerdings nicht, sondern denke es bloß.
Über manche Leute kann ich nur den Kopf schütteln.
Über Donald Trump und alle, die ihn unterstützen, sowieso. Auf Facebook habe vor ein paar Wochen auch ich „Black Lives Matter“ gepostet. Gerne zitiere ich Martin Luther King. Schlimm, wie tief die Diskriminierung der Schwarzen in den USA immer noch verwurzelt ist. „Und wie ist das bei Euch?“ fragt eine amerikanische Kollegin auf Facebook zurück: „Was tut Ihr gegen Rassismus?“ Dazu fällt mir erst mal nichts ein.
Es gibt so einige Punkte, da bin ich überzeugt, ich habe Recht. Bin ich nicht gut informiert? Handle ich nicht so verantwortungsvoll wie möglich?
Ja, vielleicht habe ich Recht. Und doch: wer Recht hat und das Richtige tut, wandelt manchmal auf schmalem Grat.
9 Jesus sagte aber zu einigen, die überzeugt waren, fromm und gerecht zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis: 10 Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. 11 Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. 12 Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. 13 Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!
14 Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.
Liebe Gemeinde,
Jesus erzählt eine Geschichte, der man nicht entkommen kann. Ganz schnell gleichen wir als Hörerinnen und Hörer dem Bibelleser in einem Gedicht von Eugen Roth:
Ein Mensch betrachtete einst näher
die Fabel von dem Pharisäer,
der Gott gedankt voll Heuchelei
dafür, dass er kein Zöllner sei.
Gottlob! rief er in eitlem Sinn,
dass ich kein Pharisäer bin!
Menschen vergleichen sich mit anderen. Ständig. Ganz schnell tappt man in die Falle. Ganz schnell ist gerade der, der starke Überzeugungen hat, vor allem von sich selbst überzeugt.
Um das zu zeigen, wählt Jesus zwei Gruppen, bei denen man zu seiner Zeit zu wissen meinte, wer die Guten und die Bösen sind. Die Pharisäer waren die religiöse Elite. Wir assoziieren mit ihnen heute oft Heuchelei, was auch an dieser Geschichte liegt. Tatsächlich waren Pharisäer, die Mitglieder einer Laienbewegung, aber durchaus ernst meinende und konsequente Menschen. Ihnen lag viel an einer Erneuerung des Judentums durch persönliche Frömmigkeit. Darin waren sie gar nicht so weit von Jesus entfernt. Die anderen, die Zöllner, waren Steuereintreiber, nicht selten korrupt, die sich von der verhassten römischen Besatzungsmacht ein paar Privilegien erkauft hatten. Das muss man nicht sympathisch finden. Jesus aber stellt Gut und Böse auf den Kopf: Der Pharisäer erhebt sich vor Gott über andere Menschen und spricht sich selbst gerecht; der Zöllner ist demütig und erwartet alles von Gott.
Die christliche Leserschaft hat sich, wie im Gedicht von Eugen Roth, gerne mit dem Zöllner identifiziert: Wie gut, dass wir nicht so selbstgerecht sind wie jener Pharisäer; wir wissen es wenigstens noch und stehen dazu, dass wir Sünder sind. Besonders der evangelische Teil der Christenheit neigte zu etwas, was man „Sündenstolz“ nennt: Wir haben Gott nichts zu bieten, aber – ha! – uns ist unser menschliches Elend wenigstens bewusst! – Und schon schnappt die Falle der Geschichte wieder zu…
Heute dürfte es kaum noch möglich sein, sich mit Frömmigkeit und religiöser Praxis zu brüsten. Aber Rechthaberei und Überheblichkeit blühen auch jenseits davon. Je polarisierter eine Gesellschaft ist, desto größer die Gewissheit der einen, den anderen überlegen zu sein. Die anderen, das sind die Idioten, die auf Fake-News, Populismus oder Hetze reinfallen.
Von einer Sache überzeugt zu sein, ohne sich dabei über andere zu erheben – das ist eine Gratwanderung. Der Versuch, demütig zu bleiben, ohne sich dann darauf etwas einzubilden – dabei kann einem schwindelig werden. Letztlich ist dieser Versuch zum Scheitern verurteilt. Darum hat Martin Luther die Christenmenschen als solche beschrieben, die immer „gerecht und Sünder zugleich“ sind. Manche sagen: das ist protestantischer Pessimismus. Ich finde: Das ist der Realismus von Menschen, die sich selbst ganz gut kennen.
Jesus mutet den Menschen, die ihm begegnen, den Moment des Erschreckens über sich selbst zu. Der ist nötig. Aber dabei bleibt es nie. Die Geschichte vom Pharisäer und vom Zöllner zeigt: Man kann, man darf, man soll mit leeren Händen vor Gott stehen. Welche Anforderungen wir selbst und andere auch immer an uns stellen: Vor Gott genügt es, ehrlich und hoffnungsvoll um seine Barmherzigkeit zu bitten.
Mit leeren Händen vor Gott stehen heißt nicht, die Hände in die Hosentaschen stecken. Was wir tun und sagen, wie wir leben, ist damit nicht egal. Nur weil Menschen, die nach ihren Überzeugungen handeln, so schnell von sich selbst überzeugt sind, sollte man nicht aufhören zu tun, was man als richtig erkannt hat. Unsere Geschichte legitimiert nicht den wohlfeilen und hässlichen Spott über sogenannte „Gutmenschen“. Im Gegenteil.
Einem Rassisten, Antisemiten oder Verschwörungstheoretiker muss man widersprechen. Eine Wende in unserem Lebensstil braucht Menschen, die sie vorleben und einfordern. Und unser Glaube bedarf durchaus der Menschen, die seine Traditionen und Rituale praktizieren und weitergeben, wie es die Pharisäer zu ihrer Zeit taten.
Wer versucht, das Richtige zu tun, ohne der Selbstgerechtigkeit zu verfallen, ist auf schmalem Grat unterwegs. Vier Gedanken möchte ich nennen, die mir persönlich helfen, dabei die Balance zu halten:
1. Moralische Entrüstung ist fast immer schädlich, besonders dann, wenn sie an die Stelle moralischen Handelns tritt. Das versuche ich mir immer neu zu sagen, wenn es mich juckt, einen Leserbrief zu schreiben oder einen Facebook-Kommentar abzugeben. Entrüstung schafft, anders als konkrete Kritik, keine Veränderung, sondern bloß negative Stimmung.
2. Das Zentrum der Botschaft Jesu sind nicht „Werte“, sondern Liebe, die erfahren, verkündet und weitergegeben wird. Die gelebte Liebe ist viel weniger in Gefahr, sich zu überheben als ein moralischer Anspruch. Jedes Urteil über andere muss geprüft werden, ob es diesem anderen in Liebe dient – oder ob ich mich damit bloß selbst bestätige.
3. Barmherzigkeit lebt von der Phantasie. Ich versuche mir vorzustellen, ich wäre der, über den ich urteile. Nur wenig hätte in meinem Leben anders laufen müssen, dann stünde ich Pharisäer dort, wo jetzt der Zöllner steht. Gewiss, ich habe mir meine Überzeugungen selbst gebildet – aber die Voraussetzungen dafür lagen meistens nicht in meiner Hand. Mit ganz viel Phantasie kann ich mir sogar vorstellen, dass ich es bin, der sich irrt…
4. Miteinander reden ist immer besser als übereinander. Das hat Jesus vorgelebt. Die Geschichte, die Jesus erzählt, ist eingebettet in sein Leben, in dem er sich immer wieder mit beiden, mit den Pharisäern und den Zöllnern, an einen Tisch gesetzt hat. Den anderen zu kennen, schließt Kritik nicht aus. Aber es beugt der Verachtung vor.
Mir helfen diese Einsichten, wenn ich in unserer Zeit mit denen zu tun habe, über die ich im Stillen – und manchmal auch laut – den Kopf schüttele. Dann denke ich daran, dass ich auf schmalem Grat wandere. Dann kneife ich mich und sage still – und manchmal auch laut –: Gott, sei mir Sünder gnädig! Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
In Corona-Zeiten kommt, zumal in den Sommerferien, vor allem die Kerngemeinde zum Gottesdienst. Die ist bei uns gut bürgerlich, eher älter, aber gesellschaftlich und kirchlich interessiert und oft überdurchschnittlich engagiert. Es sind Menschen, die viel Gutes tun und im eigenen Bewusstsein gewiss „auf der richtigen Seite“ stehen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Geschichte, die Jesus erzählt, erscheint mir überraschend zeitlos. Darum wollte ich nicht zum x-ten Mal Exkurse über Pharisäer und Zöllner halten, sondern die Zuhörer in das Spiegelkabinett führen, in dem man sich immer wieder selbst ertappt. Ja, auch ich vergleiche mich mit anderen – und wäre gerne frei davon. Die Frage „Wie komme ich da raus?“ hat mich beschäftigt. Dabei bin ich immer davon ausgegangen, dass heute moralische Selbstgerechtigkeit an die Stelle der religiösen getreten ist.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das Bild des Balanceaktes zwischen Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit hat im Laufe der Vorbereitung das Bild des Spiegelkabinetts, in das Jesus uns führt, verdrängt. Ich vermute, es gibt keinen „Ausweg“ aus dem Dilemma, sondern nur vorsichtige Schritte „im Dilemma“. Das Gerechte tun und dabei nicht in Selbstgerechtigkeit verfallen, ist eine bleibende Herausforderung. Ein Balanceakt eben.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Rückmeldung der Beraterin hat mich den Eingangsteil neu schreiben lassen, in dem das „Ich“ vorher nicht ausreichend mit meiner Person verbunden schien. Außerdem habe ich etwas Bildungsballast reduziert und versucht, den theologischen Mittelteil weniger steil zu formulieren. Das Bild der Gratwanderung, das ursprünglich nur im letzten Teil vorkam, habe ich nun mehrfach verwendet.
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Geheimnis des Glaubens – Aufbruch ins Neue - Predigt zu Lukas 5, 1-11 von Elisabeth Tobaben
36 000 kleine Glasstücken haben die Schülerinnen und Schüler der Juister Inselschule bunt eingefärbt und daraus mit ihrem Kunsterzieher Herbert Gentzsch den „Fischzug des Petrus“ zusammengesetzt. Über 60 Jahre ist das inzwischen her, heute hängt dieses Bild an der Altarwand der Inselkirche.
Das ganze Bild ist aus sechzig 30 x 30 cm großen Quadraten zusammengefügt, die Glasstückchen mussten über Kopf und seitenverkehrt zusammengebaut werden, eine ganz schön knifflige Aufgabe! So manche Farb- und Linienbrüche sind dadurch entstanden.
Die Jugendlichen wollten sich mit dem Mosaik einen Brennofen finanzieren für ihre Tonarbeiten, doch als das Bild fertig war, interessierte sich niemand dafür, und es lag jahrelang auf dem Boden der Inselschule. Als 1964 die alte Inselkirche abgerissen und erweitert wieder aufgebaut wurde, kam das Mosaik als Geschenk der politischen Gemeinde in die neue Inselkirche.
Die Glasteilchen blinken und blitzen seitdem dort, besonders wenn Sonnenstrahlen darauf fällen. Die hoch erhobene Jesus-Hand scheint bis heute den Segen auf die versammelte Gemeinde zu legen. Und die erschüttert wirkenden Gesichter der Fischer scheinen uns zu fragen: Und ihr? Wärt ihr mitgegangen, damals? Einfach so?
In der Szene, die Jugendlichen sich ausgesucht haben, ist noch alles offen. Das Gedrängel am Seeufer liegt bereits hinter den Fischern, und auch die Predigt Jesu von Simons Boot aus, genauso der verrückte Auftrag: Fahrt noch mal raus!
Noch sitzt Simon in einem Boot mit den drei Fischerkollegen. Alles wie gehabt. Soweit noch: Alltag. Aber etwas ist schon anders als sonst: Jesus sitzt mit im Boot. Segnend hat er die rechte Hand erhoben, sitzt hinter den Vieren – Rückendeckung.
Fünf Männer in einer schmalen Nussschale weit draußen auf dem unruhigen See Genezareth mit all seinen Unberechenbarkeiten, Tiefen und Strömungen, plötzlichen Böen und Stürmen. Bei hellem Tageslicht sollten sie zum Fischen hinausfahren, die Sonne steht hoch am Himmel. Kein erfahrener Fischer würde unter normalen Umständen so etwas tun! Die Sonne wirft den Schatten des Bootes durch das klare Wasser auf den Grund, warnt die Fische, das weiß doch jedes Kind, der erneute Misserfolg scheint vorprogrammiert.
„Auf dein Wort hin...“ sagt Simon „wollen wir die Netze noch einmal auswerfen. Weil du es sagst, wollen wir auch das Unmögliche probieren.“
Auf dein Wort? Diese Aufforderung Jesu, am helllichten Tag zu fischen, musste in den Ohren eines erfahrenen Fischers wie Simon doch ziemlich unkundig und überraschend klingen. Sicher, Simon hätte ihm ohne weiteres einen langen, fachkundigen Vortrag halten können über die geeigneten Methoden des Fischfangs auf dem See Genezareth, damit kannte er sich schließlich aus. Aber offenbar war Simon zutiefst bewegt von den Worten, die er zuvor von Jesus gehört hatte, als er vom Schiff aus zu der Menge sprach. Offenbar war da schon eine Beziehung, ein Vertrauen gewachsen, das auch Zumutungen aushalten konnte. Kurzum, ich denke, es muss irgendetwas gegeben haben, was Simon an diesem Mann so fasziniert hat, dass es ihn jetzt sagen lässt: “Wir probieren es, und wenn es sämtlichen Erfahrungen widerspricht ...“
Dass durch die Begegnung mit Jesus Simons ganzes Leben durcheinander gewirbelt wird, hat trotzdem für mich etwas Geheimnisvolles. Es lässt sich nicht wirklich erklären, was diesen bodenständigen Fischer bewegt hat, aus freien Stücken den Worten Jesu zu folgen: „Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!“ – und er tut es. „Folgt mir nach, ich will euch zu Menschenfischern machen“ – und Simon und seine Gefährten tun es, verlassen die Netze und folgen ihm nach. Mag sein, dass bei Simon und den andern eine Kleinigkeit im Text eine Rolle spielt: Es liegt ein Stück Wasser zwischen Jesus und der Menge am Land, zu der er spricht. Jesus guckt sich ein Boot aus, steigt einfach ein und bittet dann erst Simon, ein paar Meter auf den See hinaus zu fahren. Ich habe bisher immer gedacht: Natürlich, er will vermeiden, dass jemand ins Wasser fällt, oder dass er womöglich selbst reingedrängt wird von der erwartungsvollen Menge. Oder er will einfach, dass man ihn besser hört, oder dass ihn alle gut sehen können.
Das alles sicherlich auch. Aber: dieser Abstand hat für mich –zumindest im Nachhinein- auch einen inhaltlichen Grund. Jesus bedrängt seine fasziniert lauschenden Zuhörerinnen und Zuhörer nicht. Er spricht über diese kurze Distanz hin so, dass das, was er sagt, in Ruhe wirken kann. Er erzählt Geschichten, ohne dass er damit jemandem zu nahe tritt, ihn oder sie überfährt oder mitreißt, ohne dass die Menschen die Freiheit der Entscheidung hätten. Und so kann eine ganz neue Nähe zu den Menschen erwachsen.
In der Momentaufnahme des Juister Mosaikbildes zeichnet sich der Fischsegen bereits ab. Noch sind es gar nicht so viele Fische, und sie sind beinahe alle noch im Leben erhaltenden Wasser. Wenn man nicht zu genau hinguckt, sieht es aus, als würden sie fröhlich spielen, durch das grün-blaue Wasser gleiten, springen und sich wohlfühlen. Und doch zieht sich das Netz um sie herum bereits zu.
Simon kniet auf dem Bild vorn im Boot, versucht, das Netz herauf zu ziehen, er probiert es in einer völlig steifen, unpraktischen Haltung, fast hat man Sorge, er könnte das Übergewicht kriegen und die nächste größere Welle könnte ihn über Bord reißen. Jedenfalls sieht man sofort: so wird das nichts.
Wo sollen sie auch hin mit dem gewaltigen Fischsegen in diesem winzigen Boot?
Das Gesicht des Petrus spricht Bände: Er scheint ganz weit weg zu sein mit den Gedanken, wie in einer anderen Welt. Die beiden Fischerkollegen direkt hinter ihm helfen ziehen, der dritte klammert sich verbissen an das Ruder, das er in der Hand hat und verschließt die Augen vor dem Geschehen.
Was für Gedanken mögen ihnen in diesem Moment durch den Kopf gehen? „Wie kann das angehen, so viele Fische im Netz, mitten am Tag?“ werden sie sich sicher gefragt haben. „Wo wir doch hochprofessionell und ausdauernd die ganze Nacht gearbeitet haben, gänzlich erfolglos, ohne einen einzigen Fisch zu fangen! Vielleicht gehen die Gedanken zurück zum frühen Morgen: Völlig deprimiert hatten sie angelegt im Hafen von Tiberias, voller Sorge um ihre Familien. Womit sollten sie ihre Kinder ernähren, wenn der Ertrag ausbleibt? Was, wenn das jetzt öfter passiert, steht eine Wirtschaftskrise bevor?
Für Rücklagen und Ersparnisse hatte es nie gereicht, schließlich mussten sie regelmäßig investieren, mal ein neues Netz, mal eine Reparatur am Boot.
Und jetzt? Was, wenn das Boot jetzt tatsächlich sinkt? Dann ist trotzdem der ganze schöne Fang wieder hin; Und was wird aus uns? Keiner von uns kann schwimmen. Würden die Kollegen aus dem andern Boot rechtzeitig da sein, um uns zu retten? Wer kümmert sich um unsere Frauen und Kinder, wenn wir jetzt alle ertrinken?“ Angespannte, erschrockene Gesichter haben die Männer im Boot. Das kann nicht sein, was sie da gerade erleben!
Haben sie in diesem Moment vielleicht an das gedacht, was sie vorhin von Jesus gehört hatten? An die Predigt von Simons Boot aus? An die Begeisterung der Menge? Und sie werden sich gefragt haben: „Was ist das bloß für einer, der da mit uns im Boot sitzt?“ Es sieht aus, als wagten sie gar nicht, sich nach ihm umzudrehen, ihn womöglich selbst zu fragen!
Gleich werden sie das andere Boot zu Hilfe rufen, die Kollegen bitten, ihnen ziehen zu helfen, gemeinsam gegen den drohenden Untergang zu kämpfen.
Und zuletzt – man weiß nicht so recht, ob schon wieder an Land - sicheren Boden unter den Füßen – oder noch auf den schwankenden Planken des Bootes -
Da wird sich Simon zu Boden werfen und diesen merkwürdigen und unerwarteten Satz sprechen: „Geh von mir hinaus, Herr, denn ich bin ein sündiger Mensch.“
Er hätte ja auch sagen können: „Wunderbar, tolle Erfahrung, Jesus, vielen Dank für den Tipp und den super Fang, meine Mitarbeiter machen dir noch gleich ein Fischpaket fürs Abendbrot ... und wenn du mal wieder nach Tiberias kommst, guck doch mal rein.“
Genau das tut er aber nicht. Der Schreck sitzt zu tief, und er weiß: Irgend etwas muss sich ändern!
Was bewegt Menschen, die ihr Leben so gründlich ändern? Wie kommt es, dass eine Lebenserfahrung zu einer spirituellen Erfahrung wird? Ohne das Geheimnisvolle daran auflösen zu wollen, interessiert mich diese Frage. Und ich beobachte: Es müssen gar nicht immer die überwältigenden, spektakulären Erlebnisse sein.
Über meinem Schreibtisch hängt ein kleines Aquarellbild, das mich an einen solchen Veränderungsprozess erinnert. Ein Kurgast saß sehr oft schweigend irgendwo ganz hinten in unserer Kirche, und war ganz schnell verschwunden, wenn er sich beobachtet fühlte oder man gar freundlich grüßte. Aber er kam immer wieder, irgendwann fiel er mir auch in einem Gottesdienst auf. Eines Tages schließlich sprach er mich an, um sich zu verabschieden.
Seine Kur sei nun zu Ende sagte er, und er wollte sich schlicht bedanken.
Er ließ mich gar nicht zu Wort kommen und sagte auf meinen überraschten Blick:
Doch , hier in der Kirche sei etwas ganz Besonderes mit ihm passiert. Er habe unter einem enormen Druck gestanden, Anforderungen und Ansprüchen hätten ihn niedergedrückt und kleingekriegt, bis er schließlich krank geworden und zusammengebrochen sei.
"Immer sagten alle nur: „Du musst dich ändern, du musst alles anders machen, so kann es nicht weitergehen" erzählte er. Und natürlich hatten auch alle gute Ratschläge parat, das ging von strikter Tageseinteilung über Umschulung bis zu verschiedenen Therapieverfahren...
"Na ja, und ich, ich wollte es ja auch selbst mit allen Fasern, war ganz unzufrieden mit mir und meinem Leben. Ich strengte mich unheimlich an und bemühte mich immer mehr, anders zu werden, und irgendwann ging dann gar nichts mehr. Ich konnte einfach nicht mehr, und schließlich bin ich hier in der Kurklinik gelandet. Als ich hier in der stillen Kirche saß, da hatte ich eigentlich resigniert," sagte er, "da wollte ich eigentlich gar nichts mehr. Und dann erst ging mir plötzlich auf: Zum ersten mal verlangt ja auch keiner etwas von mir! Ich konnte einfach hier sein, und wie umarmt habe ich mich gefühlt von ihm da vorn“, sagt er und zeigt auf den segnenden Christus.
Und dann schenkte er mir das kleines Landschaftsaquarell. Die Zeit in unserer Kirche hatte ihm geholfen, zum ersten mal nach langen quälenden und bedrückenden Jahren zum Pinsel greifen können. Er konnte das tun, was er sich vorher nie zugetraut hatte. Die Last seines Lebens war nicht einfach verschwunden, aber er hatte Zugang gefunden zu den Segenskräften, die ihm geholfen hatten, neue Schritte zu wagen.
Simon Petrus und seine Gefährten werden alles verlassen, die Boote auf den Strand ziehen, sich einlassen auf eine höchst ungewisse Zukunft. Wie wird es weiter gehen? Sie haben verstanden: Jesus nur zu vereinnahmen, ihn mit ins eigene Boot zu nehmen, das reicht offenbar nicht. Aber: „Menschen fangen?“
Das könnte heißen: Andere mitnehmen auf den Weg des Abenteuers mit Jesus, des neuen Anfangs, den Zuspruch im Rücken: „Fürchte dich nicht!“
Doch mit dem Entschluss, die Boote auf Land zu ziehen und mit Jesus zu gehen, ist für Simon noch längst nicht einfach alles perfekt. Wenig später sehen wir den Simon, wie er im Wasser versinkt, über das er zu seinem Rabbi laufen wollte. Wir hören von ihm, dass er vollmundig sagt, bevor Jesus gefangen genommen wird:
„...und wenn ich mit dir sterben müsste, - niemals würde ich dich im Stich lassen!“ Und dann nicht zuletzt den, der auf die Frage einer Magd ruft: „ich kenne den Menschen nicht!“ und ihn damit verleugnet. Es gibt eine Menge Brüche in seiner Biographie.
So ist es zutiefst nachdenkenswert, dass diese Szene gerade als Mosaik dargestellt ist, auch Jesus selbst, mit seinen weit geöffneten Armen und segnenden Händen.
Auch Zeichen dafür, dass er sich zerbrechen lässt;
Konsequent den Weg geht, der ihn schließlich ans Kreuz bringt.
Aber gerade weil er nicht heil und ganz, strahlend und unverletzbar über allem schwebt, kann ich ihm glauben, dass er den Weg mitgeht, auch durch die Bruchstellen meines Lebens. So kann ich ihm glauben, dass er auch den Bruchstücken meines Lebens eine sinnvolle Deutung geben kann. Dass es in ihm heil und ganz werden kann.
Zuletzt: es ist ein offenes Bild. Der Heiligenschein, der den Kopf Jesu umschließt, ragt nach oben über das Bild hinaus, in den Himmel sozusagen. Und unten ist es das Netz, das ins Wasser hängt, und uns, die Betrachtenden mit hineinzieht in das Boot. Und so kommt durch die Jahrtausende hin Jesu Ruf auch zu uns:
„Komm, und folge mir nach!“
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe die Inselgemeinde auf Juist vor Augen, die in jedem Gottesdienst anders zu-sammengesetzt ist aus Gästen und Insulanerinnen und Insulanern. Die Gemeinde hat das Mosaik, das in der Predigt eine tragende Rolle spielt, an der Altarwand vor sich. Der Kunstlehrer, der das Bild mit Schülerinnen und Schülern erarbeitet hat, wäre in diesem Jahr 111 Jahre alt geworden, und am 12. Juli 1964 wurde in der erst halbfertigen Kirche der erste Gottesdienst gefeiert.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mich hat besonders der Gedanke beschäftigt, dass die Distanz zwischen Boot und Festland nicht nur praktische sondern auch inhaltliche Gründe haben könnte und die daraus resultierende Freiheit in der Begegnung mit Christus.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich möchte weiter über das Geheimnisvolle im Prozess der Entstehung oder Entde-ckung von Glauben nachdenken. Welche Möglichkeiten haben wir als Kirche /Gemeinde, in alles Freiheit Räume, Geschichten, Erfahrungen zur Verfügung zu stel-len, die hilfreich sein können?
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Neben den sehr hilfreichen Beobachtungen des Coaches fand ich es hilfreich, den Text der Predigt wiederholt laut zu lesen. Ich habe dabei etliche sprachliche Dubletten ent-deckt und verändert, aber auch einzelne Worte und Formulierungen immer wieder ausgetauscht, um auszuprobieren, was im Moment für mich stimmiger erscheint.