23.10.2022 - 19. Sonntag nach Trinitatis
07.08.2022 - 8. Sonntag nach Trinitatis
Inklusion à la Jesus - Predigt zu Mk 7,31-37 von Rudolf Rengstorf
Als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, dass er ihm die Hand auflege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und spuckte aus und berührte seine Zunge und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge wurde gelöst, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s ihnen aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hören und die Sprachlosen reden. (Markus 7,31-37)
Liebe Leserin, lieber Leser!
Heilungsgeschichten wie diese - so erlebe ich es immer wieder – schaffen zunächst einen nahezu unüberbrückbaren Abstand. Weil sie gelesen und gehört werden als Protokolle eines schier unglaublichen Geschehens aus ferner Vergangenheit. Ob das wirklich so gewesen ist, fragt man sich unwillkürlich. Und wenn, was hat das mit uns heute zu tun? Doch weitererzählt und aufgeschrieben worden sind diese Geschichten, weil sie Hörende und Lesende immer von neuem ansprechen und sie mit hineinverwickeln wollen in das Geschehen, das Jesus da in Gang gesetzt hat. Mal sehen, ob das auch mit uns geht.
Jesus befand sich in dieser Geschichte auf heidnischem Gebiet, also bewohnt von Menschen, die vom Gott Israels nur wenig wussten. Man muss also nicht viel mitbringen, wenn man dem Heilbringer begegnen will.
Und sie brachten zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, dass er ihm die Hand auflege.
Wenn sie an religiösem Wissen oder an rechtem Glauben auch nicht viel mitbrachten: Sie brachten den Menschen mit, der zeit seines Lebens ihr Sorgenkind gewesen war. Sie sagten eben nicht: Der arme Teufel kriegt, taub und stumm, wie er ist, ja doch nichts mit. Nein, nein, wenn da einer kommt, von dem so viel Gutes erzählt wird, dann kommt das Sorgenkind natürlich mit. Hören würde er ja nichts, aber die Hand sollte Jesus ihm auflegen. Damit er zu spüren bekam: Ich bin auch gemeint. Ich gehöre dazu und bin miteinbezogen in das, was von diesem Mann ausgeht.
Mit uns war das doch nicht anders, als wir von Eltern und Paten zur Taufe gebracht wurden, auch wenn wir nichts verstehen und nicht sprechen konnten. Wir sollten miteinbezogen werden in das, was von Jesus ausgeht. Bei der Konfirmation hat sich das wiederholt. Auch da war es mit dem Verstehen noch nicht so weit her. Auch von der vielbeschworenen Mündigkeit im Glauben war noch nicht viel da. Und weil es beim Zugang zu Jesus aufs Verstehen und vernünftiges Sprechen nicht ankommt, werden bei der Konfirmation auch die geistig und sprachlich behinderten Jugendlichen ganz selbstverständlich mit einbezogen. Ohne die Geschichten davon, wie Jesus mit Kranken und Behinderten umgegangen ist, wäre das – da bin ich sicher – nicht so selbstverständlich. Der Segen, der von dem Erlebnis ausgeht, vor Gott genauso dazustehen wie die anderen, der kann kaum überschätzt werden.
Eine derartige Konfirmation steht mir besonders vor Augen: Angelika war ein geisitg behindertes Mädchen. Sie ging auf eine Sonderschule und hätte mit ihren Mitschülerinnen konfirmiert werden können. Den Eltern aber lag daran, dass sie in ihrer Heimatgemeinde eingesegnet wurde. Von zwei Nachbarmädchen wurde sie im Konfirmationsgottesdienst in die Mitte genommen. Ich legte den dreien zum Segen die Hände auf und endete mit dem Kreuzeszeichen. Da strahlte Angelika über das ganze Gesicht und sie begann fröhlich in die Hände zu klatschen. Ihre beiden Mitkonfirmandinnen stutzten einen Augenblick und klatschten dann auch. Die Gemeine stutzte ebenfalls und schloss sich dann – zunächst zaghaft, dann immer beherzter – an. Nach jeder weiteren Einsegnung wiederholte sich der Beifall. Die Stimmung war gelöst wie selten. Und am Ende nach dem Auszug bedankten sich viele bei Angelika für die gute Idee.
Und wie sieht das aus, wenn Jesus sich einem Taubstummen zuwandte?
Er nahm ihn aus der Menge beiseite.
Er sah, dass der Mann in der Menge keine Chance hatte, an ihn heranzukommen. Denn da waren viele Menschen, die das Sorgenkind als Zumutung empfanden. Sie schubsten ihn zur Seite. Was will der denn hier? Kriegt doch sowieso nichts mit. Steht doch nur im Wege und stört. Doch sie sind im Wege und stören. Darum holt Jesus den Mann heraus aus der Menge, schirmt ihn ab vor den Menschen, die seine Behinderung nur noch verstärken. Weil sie ihn herumstoßen und ihn völlig durcheinanderbringen. Solange er die Menge um sich hat, ist er vor Angst auch noch gelähmt, verfolgt von Argwohn und Unsicherheit über das, was da um ihn herum geschieht. Doch jetzt ist die Menge ausgeblendet. Und er hat Jesus ganz für sich allein.
Er erlebt damit, was heute für jeden Patienten selbstverständlich ist: dass die Sprechzimmertür sich schließt und man allein ist mit dem Arzt. Da braucht man sich nicht vor anderen in Acht nehmen, es geht nur noch um das, was einem fehlt. Ohne diese Abgeschirmtheit und ohne die ärztliche Schweigepflicht wäre es gar nicht möglich, herauszufinden, was dem einzelnen fehlt und welche Hilfe er braucht.
Und nun, da Jesus den Patienten ganz für sich hat, stellt er sich auch voll auf ihn ein:
Er legte ihm die Finger in die Ohren, und spuckte aus und berührte mit dem Speichel seine Zunge.
Er, der große Prediger, verstummt, teilt sich in einer Sprache mit, die auch ein Taubstummer verstehen kann: Er legt ihm seine Finger in die Ohren, damit er Hände spürt, die nichts als heilen wollen; die Bewegung von Fingern, die einen leisen vorsichtigen Zugang suchen da, wo sonst nichts durchkommt. Dann legt er seinen eigenen Speichel dem Kranken in den stummen Mund. Für den Taubstummen ist es heilsam zu spüren, dass Jesus sich unmittelbar mit dem verbindet, was ihn behindert. Sanftheit und ungeteilte Zuwendung – darum allein geht es hier.
Sanftheit und Zuwendung sind bis heute die Voraussetzung dafür, dass Kranken und Behinderten geholfen wird. Und wo Sanftheit und Zuwendung fehlen, helfen auch keine Medikamente. Grade traf ich eine Bekannte, die nach einer Reha nach Hause kam und klagte, alle Anwendungen hätten nichts gebracht, weil die Ärztin sie von oben herab behandelt habe.
Sanftheit und Zuwendung sind im Übrigen auch die einzige Möglichkeit an Menschen heranzukommen, die hören können, aber nichts aufnehmen, die zwar sprechen können, aber stumm sind für das verbindende und weiterführende Wort. Vorhaltungen und Drohungen verhärten. Allein Sanftheit und Zuwendung vermögen einen aus welchen Gründen auch immer verschlossenen Menschen zu öffnen.
Ich erlebe das immer wieder bei meinen regelmäßigen Begegnungen mit einem an paranoider Schizophrenie erkrankten Mann. Er hängt Verschwörungstheorien an, fühlt sich verfolgt, macht sich immer von neuem schwere Vorwürfe, für die es keinen Grund gibt. Er erwartet, dass ich mich mit seinen Wahnideen auseinandersetze und Stellung nehme. Das führt aber nie zu einem Ergebnis. Beim nächsten Mal sind all seine Wahnideen wieder da, als hätten wir das nie zu klären versucht. Das bringt mich häufig genug auf die Palme. Ich werde laut, falle aus der Rolle und fühle mich hinterher hundeelend. Es gibt nur eines, was hilft: Mich an Jesus zu erinnern und mich zu üben in Behutsamkeit und Sanftheit. Meinem Gegenüber ohne Widerrede zuzuhören und nach freundlichen Worten zu suchen, die ihn beruhigen und ihm Respekt erweisen. Nur so kommt es zu Gesprächsphasen, in denen wir beide Nähe zueinander verspüren. Und die tut beiden gut.
Und Jesus sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hephata! das heißt: Tu dich auf!
Mit dem Blick zum Himmel zeigt Jesus: Ich bin kein Übermensch, kein Alleskönner. Alles hängt daran, dass Gott hilft und schafft, dass es gut wird. Aus eigener Kraft kann er die Behinderung nicht überwinden. Aber er kann für den Mann beten mit einem Wort, das auch der Taube versteht, weil er es vom Munde ablesen kann: Hephata - das ist Lautmalerei: Tu dich auf!
Damals bei Jesus hat diese Bitte sofort geholfen. Bei uns aber bleibt es beim Bitten. Behinderungen und Krankheiten verschwinden nicht. Und doch ist das „Hephata“ unter uns überall lebendig und stark. Was denn sonst treibt Ärzte und Pflegende, Angehörige, Freundinnen und Freunde an, gegen das Leiden anzugehen? Warum tun sie alles in ihren Kräften Stehende, um zu helfen und der Heilung entgegenzuarbeiten? Woher kommt es, dass ein leidender Mensch von denen, die um ihn sind, so gut wie nie aufgegeben wird? In dem allen erkenne ich das „Hephata“, auch wenn von Gott meist nicht die Rede ist. Aber die Leidenden wissen, was es bedeutet: Mein Leben ist wichtig. Ich bin nicht allein. Dieses Hephata wird nicht mit einem Schlag erfüllt. Aber es schiebt voran auf dem Weg, auf dem es gut wird. Darum lässt die Hoffnung Menschen nicht los bis zum letzten Atemzug. Wer hält sie lebendig, diese proaktive Zuversicht, wenn nicht Gott selbst? Denn er ist das Ja zu unserem Leben. Amen. .
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe Menschen vor Augen, die im Internet auf diese Predigt gestoßen sind und sie lesen möchten. Unter ihnen sind vielleicht Kolleginnen und Kollegen, die auf der Suche nach Impulsen für ihre eigene Predigt sind. Wer diese Predigt für den Gottesdienst ganz übernehmen möchte, sollte bedenken, dass sie fürs Lesen geschrieben ist. Für das Hören muss sie noch bearbeitet werden. Vor allem müssten längere Sätze auseinandergenommen werden.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mich in diese Geschichte und die Akteure hineinzuversetzen, mal in die Eltern, dann in die Menge, in den Taubstummen selbst und schließlich in Jesus. Und dann nach Parallelen in meinem Umfeld zu suchen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ganz wichtig ist mir die Entdeckung, dass das therapeutische Handeln Jesu sich heute in Praxen und der Inklusion von behinderten Menschen wiederholt. Das „Wunder“ ist in die Realität eingegangen, ohne in ihr aufzugehen. Dass alles gut wird, steht noch aus und gibt die Richtung an für unser therapeutisches Handeln.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Meinem Predigtcoach habe ich die Anregung zu verdanken, meine Entdeckungen durch Erzählungen zu konkretisieren und das „Hephata“ mit seinen Folgen genauso in die Realität einfließen zu lassen wie den geschützten Raum, Sanftheit und Zuwendung.
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22.08.2021 - 12. So. n. Trinitatis
Behutsamer Erntedank - Predigt zu Markus 8, 1-9
I. Landwirtschaft global
Es ist reif geworden. Weizen und Mais, Raps und Rüben – bei uns habe ich vor allem Mais, Raps und Weizen gesehen. Und Sämereienfelder. Sonnenblumen. Kaum Kartoffeln. Was halt gerade Ertrag bringt und sich wirtschaftlich rechnet. Dank Euch Landwirtinnen und Landwirten für Eure Arbeit. Die ist nicht leicht. Früher war sie körperlich schwer. Heute ist sie es eher wirtschaftlich. Was rechnet sich? Wie kann mein Betrieb überleben? Was für Subventionen gibt es, welche kann ich ausschöpfen, wie fülle ich den berühmt-berüchtigten »Mehrfachantrag« für die EU-Mittel am besten aus? Die Zeiten, wo fünf Landwirte ein Dorf ernährten, sie sind lange vorbei. Heute denken wir global. Ob wir wollen oder nicht. nd ob das gut ist, oder nicht, das lasse ich einmal offen.
II. Danke Euch; und Segen!
Erntedank. Ernte-Dank zuerst Euch: Euch von der Landwirtschaft. Ihr tut, was Ihr könnt. Ihr macht es im Rahmen des Möglichen. Da bin ich mir sicher. Gebe Gott, daß es im Rahmen es gelingt: Daß Betriebe überleben und vielleicht sogar florieren, daß alle genug zu Essen haben, daß Arbeitsplätze gesichert sind.
III. Neue Geschichte
Erntedank. Heute höre ich auch auf Jesus. Auf eine Geschichte von ihm. Ihr wißt ja: Jedes Jahr sind die Predigttexte vorgeschrieben. Das ist auch gut so. Und zu Erntedank, da war immer der »reiche Kornbauer« dran:
»Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen und will darein sammeln all mein Korn und meine Güter und will sagen zu meiner Seele: Habe nun Ruhe, iß, trink und habe guten Mut. … Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr, heute Nacht wird man deine Seele von dir fordern, und wes wird sein, das du bereitet hast?«
Das ist alles richtig.
Aber weil die Predigttexte neu geordnet sind, kommt heute eine Geschichte, die noch nie »dran« war.
Das ist auch ganz gut, in diesem Jahr, wo eigentlich alles ganz anders ist. Und wo wir damit umgehen müssen. Also: Die andere Erntedankgeschichte. Eine Geschichte mit Jesus. Hört mal hin:
IV. Jesusgeschichte
»Zu der Zeit, als wieder eine große Menge da war und sie nichts zu essen hatten, rief Jesus die Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Mich jammert das Volk, denn sie harren nun schon drei Tage bei mir aus und haben nichts zu essen. Und wenn ich sie hungrig heimgehen ließe, würden sie auf dem Wege verschmachten; denn einige sind von ferne gekommen. Seine Jünger antworteten ihm: Woher nehmen wir Brot hier in der Einöde, daß wir sie sättigen? Und er fragte sie: Wie viele Brote habt ihr? Sie sprachen: Sieben. Und er gebot dem Volk, sich auf die Erde zu lagern. Und er nahm die sieben Brote, dankte, brach sie und gab sie seinen Jüngern, daß sie sie austeilten, und sie teilten sie unter das Volk aus. Sie hatten auch einige Fische; und er sprach den Segen darüber und ließ auch diese austeilen. Und sie aßen und wurden satt. Und sie sammelten die übrigen Brocken auf, sieben Körbe voll. Es waren aber etwa viertausend; und er ließ sie gehen.«
Wir kennen die Geschichte sonst ein bißchen anders. »Die Speisung der fünftausend«. So steht sie bei allen Evangelisten und sogar bei Johannes, der ja ganz gern ein wenig andere Wege geht, und bei Markus steht sie auch. Er muß Gründe gehabt haben, das zweimal zu erzählen. Deshalb höre ich heute besonders genau hin:
Heute sind es viertausend, nicht fünftausend. Und nicht fünf Brote und zwei Fische, wie wir das kennen, sondern sieben Brote, und »ein paar Fische«, wieviele wird nicht gesagt.
V. Behutsamer Erntedank
Gut, daß diese Geschichte heute »dran« ist. Gut, daß sie genau so erzählt wird. Gut, daß wir mit dieser Geschichte Erntedank feiern. Denn es ist eine behutsame Geschichte. Behutsamer Erntedank. Ich sehe da einen Jesus, der ist sehr sanft mit seinen Menschen. Da ist Jesus nicht so sehr der Herr, der bestimmt –
das kann und das tut er natürlich auch – aber nicht nur. Und nicht heute. Hier schaut Jesus nicht zuerst auf sich – auf seine Botschaft, auf das, was die anderen tun sollen – hier schaut Jesus zuerst auf die Menschen. Und er macht das sehr behutsam. »… Sie harren nun schon drei Tage bei mir aus und haben nichts zu essen. Und wenn ich sie hungrig heimgehen ließe, würden sie auf dem Wege verschmachten; denn einige sind von ferne gekommen.«
Jesus schaut nach Dir. Er sieht Dich. Er fragt nicht: »Was hast Du vorzuweisen? Bist Du genug? Du mußt aber noch …« Er sieht nur: Du hast Hunger. Lebenshunger. Du könntest sonst verschmachten. Er weiß, was für einen langen Weg Du schon gegangen bist. Er sieht Dich. Und er sieht, was Du brauchst. Und dann gibt er. Einfach so. Sei’s Brot und Fisch oder sei’s ein Wort und eine Kraft. Ein Trost oder ein Segen – oder ein Wink für den nächsten Weg: Jesus wird Dich nicht leer gehen lassen. Niemals.
VI. Und sie aßen alle und wurden satt
»Und er gebot dem Volk, sich auf die Erde zu lagern. Und er nahm die sieben Brote, dankte, brach sie und gab sie seinen Jüngern, daß sie sie austeilten, und sie teilten sie unter das Volk aus. Sie hatten auch einige Fische; und er sprach den Segen darüber und ließ auch diese austeilen. Und sie aßen und wurden satt.«
Und dann teilen sie aus. Jesus hat gesagt: Gebt! Und sie gaben.
Nein, das ist kein Sozialprogramm, das ist nicht die Rettung derer, die nichts mehr haben. Das ist ein: »Gebt jeder und jedem und allen. Es wird genug da sein.« Nicht, weil wir so sozial sind und gut, – das sind wir ja eh – sondern weil wir das machen, was Jesus gemacht hat. Behutsam sein. Schaun, was die anderen brauchen. Und so gut wir möglich für sie da sein. Und geben. »Und sie aßen alle und wurden satt.«
VII. Erntedank anders
Und ja, ich weiß, es sind schwierige Zeiten. Erntedank ganz anders. Coronazeiten und eine ganz andere Bibelgeschichte als sonst. Und es gibt die Protestler, die sowieso alles blöd finden, und noch schlimmer sind die Hasser und Hetzer. Letztere haben garnichts mit Jesus zu tun. Die sehen nur auch ihr Eigenes. Man könnte die Plakate auf ihren Demos mit einem einzigen Wort beschriften: »Ich«. Und »Ich«. Und »Ich«. Die Bedachteren darunter sollten nachdenken, mit wem sie da marschieren.
Jesus schaut die Viertausend an. Und er denkt nicht: »Ich!« Sondern: »Du«. Und »Du«. Und »Du«. Und er gibt ihnen, was sie brauchen.
Behutsam, weil er sie angeschaut hat.
VIII. Frei lassen
»Und sie aßen und wurden satt. Und sie sammelten die übrigen Brocken auf, sieben Körbe voll. Es waren aber etwa viertausend; und er ließ sie gehen.« Am Ende läßt Jesus sie gehen. Auch einfach so.
Er sagt nicht: »Ok, ich hab’ Euch satt gemacht, jetzt macht aber mal, was ich will«. Er läßt sie gehen. Ganz frei. Ganz ins Leben. So macht das Jesus: Schauen, was wir brauchen. Geben. Uns gehen lassen. In die Freiheit. Tut es ihm gleich. Schaut und gebt und laßt fei. Seid behutsam miteinander. Und macht mit eurer Freiheit etwas Gutes.
Amen.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
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„Wenn die Liebe ihren Lauf nimmt“ - Predigt zu Markus 14,1-9 von Michael Greßler
I. Heilige Woche – große Geschichte
Es fängt an. Palmsonntag.
Heute zieht Jesus in Jerusalem ein. „Hosianna dem Sohne Davids!“ Königsweg. Triumphzug. „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel!“ Palmzweige rauschen durch die Luft. Kleider liegen auf dem Weg, wie der rote Teppich. So kommt Jesus in die Heilige Stadt.
Am Donnerstag wird er Abendmahl feiern mit den Seinen. „Nehmt und esst. Trinkt alle daraus. Tut das zu meinem Gedächtnis.“
Donnerstag Nacht: Ein Gebet. „Doch nicht, was ich will, sondern was du willst.“ Judas wird kommen und ihn verraten. Soldaten verhaften Jesus. Nächtlicher Prozess vor dem Hohenpriester. „Ihr habt gehört die Gotteslästerung! – Er ist des Todes schuldig.“
Am nächsten Morgen steht Jesus vor Pilatus. „Kreuzige ihn!“ Geißelhiebe, Spottgesänge. Das Kreuz liegt schwer auf seinen Schultern. Dann Hammerschläge. „Mich dürstet“. „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“
Am Freitag 15.00 Uhr ist Jesus dann tot. „Und neigte das Haupt und verschied.“
Palmsonntag.
Heute fängt es an. Diese Geschichte von Sonntag bis Freitag. Die riesengroße Geschichte von Liebe und Tod.
II. Am Mittwoch kam der Tod
Palmsonntag. Gründonnerstag. Karfreitag. Da wird die Geschichte erzählt. Da geschieht sie. Von Montag und Dienstag wissen wir nichts.
Aber Mittwoch.
„Es waren noch zwei Tage bis zum Passafest und den Tagen der ungesäuerten Brote. Und die Hohenpriester und Schriftgelehrten suchten, wie sie Jesus mit List ergreifen und töten könnten. Denn sie sprachen: Ja nicht bei dem Fest, damit es nicht einen Aufruhr im Volk gebe.“
Am Mittwoch steht fest: Jesus muss sterben. Ein Gremium sitzt beisammen. Graue Herren in Prunkgewändern. Die Macht hat sich versammelt. Die Macht will den Tod. Jesu Tod.
Und da trifft es sich gut, dass es abends leise an der Tür klopft. Judas schleicht herein. Heimlich. „Ich will ihn euch verraten.“
Da werden sie froh. Versprechen ihm Geld. Und der Tod nimmt seinen Lauf.
III. Am Mittwoch kommt die Liebe
Am Mittwoch war aber auch noch etwas anderes. Am Mittwoch kommt die Liebe. „Und als Jesus in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit unverfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt.“
Die Liebe kommt leise zur Tür herein. Ohne ein Wort. Eine Frau in schlichtem Gewand. Sie hat noch nicht mal einen Namen. Sie hat nichts weiter. Nur sich selbst. Und dieses kleine Gefäß. Das ist der Liebe genug.
Weiß und zart ist das Fläschchen. Aus Alabaster. Das hat sie mitgebracht. Und vorher gekauft. Für ungefähr zwanzigtausend Euro nach heutigem Geld. Völlig verrückt eigentlich. Und genau richtig.
Sie geht zu Jesus. Sie bricht das Fläschchen entzwei. Das Öl fließt Jesus in die Haare. Unbeschreiblicher Duft. Sie massiert es ein. Jetzt nimmt die Liebe ihren Lauf.
IV. Liebe verjagen
„Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an.“ Bis eben hatten sie nur zugeschaut. Die Männerrunde: Petrus, Jakobus, Johannes, Bartholomäus und wie sie alle heißen – und, ja, auch Judas. Sie sehen, was da geschieht. Fassungslos. Es fehlen ihnen die Worte. Es war still. Mucksmäuschenstill. Totenstill. Liebesstill.
Dann toben sie los. „So was Unvernünftiges! Völlig verrückt! Vergeudung! Alles verschwendet!“ Sie toben los, wie die Wütenden zu allen Zeiten lostoben. Auch heute und jetzt. „Denkt doch mal an die Rentner in unserm Land, die müssen Flaschen sammeln! Und die schmeißt zwanzigtausend Euro zum Fenster heraus …
was man damit alles Gutes tun könnte für die eigenen Leute …“
Petrus, Jakobus, Johannes – die ganze Runde: Sie „wissen ja, wie es geht“. Denken sie. Sie wissen, „was sich gehört“. Sowas darf nicht sein. Das passt nicht in ihre Welt. Sie wissen, wie es zu sein hat. Und sie murren und raunen, sie tuscheln und am Ende werden sie grob und laut. Sie wollen die Macht über die Liebe. Und sie wollen sie am liebsten verjagen aus der Welt.
„Und sie fuhren sie an.“
V. Lasst die Liebe Liebe sein
„Jesus aber sprach: Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis.“
Ein Machtwort. Ein Liebeswort. Beides auf einmal. Jesu Wort. „Lasst sie!“ Hört auf mit euren Machtspielereien. Lasst der Liebe ihren Lauf! Jesu Stimme klingt hart dabei. Er meint das wirklich so. Das ist jetzt ernst. Todernst. Und liebesernst. Die anderen schweigen. Sie schauen zu Boden. Ein bisschen beschämt.
Und wohl wenig überzeugt. So einfach lässt die Macht nicht von der Liebe ab. So schnell ändern sich Stimmungen und Meinungen nicht, wenn sie einmal festsitzen. Jesus aber bleibt dabei: „Sie hat getan, was sie konnte.“
Liebe tut, was sie kann.
Jetzt. Hier.
VI. Macht der Liebe
Die Liebe kommt am Mittwoch in unsere Geschichte.
Mit dieser Frau und ihrem Fläschchen voll Öl. Mit Jesu Worten: „Lasst sie! Sie tut, was sie kann.“ Nun hat die Macht eine ebenso mächtige Gegenspielerin. Die wird tun, was sie kann. Sie hört nicht auf damit, und sie tut es heute noch: Die „Macht der Liebe“ Sie ist anders. Sie ist nicht grob und laut, sie pöbelt nicht auf der Straße, sie hetzt die Menschen nicht gegeneinander auf, spaltet nicht, „ist nicht mutwillig, sucht nicht das Ihre, bläht sich nicht auf“.
Die „Macht der Liebe“ tut, was sie kann. Sie tut es an den geringsten Geschwistern. Stellt sich gegen böse Mächte, wo es nötig ist. Macht aus der Machtwelt eine Liebeswelt. Soviel sie kann.
Und Jesus sagt: „Lasst sie!“
„Macht brauchst du nur, wenn du etwas Böses vorhast. Für alles andere reicht Liebe, um es zu erledigen.“
Das soll Charlie Chaplin gesagt haben. Er hat unsere Geschichte ganz bestimmt gekannt.
VII. Unvergessen
„Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.“
Die Mächtigen von damals: Nicht mehr so wichtig. Die Hohenpriester Hannas und Kaiphas: Historische Personen aus der Bibel. Pontius Pilatus: Ein Name im Glaubensbekenntnis.
Die Frau aber, – die Frau, die die Liebe in unsere Geschichte gebracht hat: Sie ist unvergessen. Obwohl sie noch nicht mal einen Namen hat. Vielleicht ist ja das einfach ihr Name: Liebe?
„Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.“
Genauso machen wir das heute. Wir vergessen sie nicht. Wir predigen das Evangelium. Dieses Evangelium. Von dieser Frau und ihrer mächtigen Liebe.
Evangelium – es ist, wo die Liebe ihren Lauf nimmt.
VIII. Liebe bis zum Freitag. Und immer.
Palmsonntag. Es hat angefangen. Königsweg. Liebesweg.
Am Mittwoch kommt die Liebe in diese riesengroßen Geschichte. Jesus nimmt sie mit. Das Öl hat bis zu seinem Tod in seinen Haaren geduftet. Die Liebe nimmt ihren Lauf – von heute bis Mittwoch und bis zum Freitag. „Bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz.“ Und vom Freitag dann weiter. In einer Woche ist Ostersonntag.
Denkt daran! Da geht es weiter mit der Liebe. Für immer. Für uns.
„Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
„Meine“ Predigten werden in sehr unterschiedlichen Gemeinden gehalten. Es kann sein, daß z.B. Ostern in Camburg ein Festgottesdienst mit über 100 Personen stattfindet, und der übernächste in Kleingestewitz mit 4 Feiernden. Das ist interessant und reizvoll. Da-bei ändert sich auch oft das gesamte „Setting“ von Predigt und Gottesdienst. Ich halte die Predigten meist ziemlich oft – an einem Wochenende Sa/So kommen u.U. auch ein-mal 9 Gottesdienste zusammen. Da verändern sich auch die Predigten.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich bin in meiner Arbeit stark exegetisch geprägt. Das ist immer der erste Schritt. Und wenn ich – soweit das möglich ist – ‚verstanden’ habe, wie der Text ‚funktioniert’ setzt das die ersten Gedanken, womöglich auch schon eine „Structure“ für die Predigt frei. Übungen des kreativen Schreibens und Wahrnehmungsübungen helfen, Bilder zu fin-den. Dann kommt die Phase des „laut Schreibens“ – jeder Satz, dann größere teile, sage ich schon im Schreibprozeß laut.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Interessant war, sich noch einmal die Chronologie der „Heiligen Woche“ vor Augen zu führen. Da passiert ja zwischen Palmsonntag und Gründonnerstag quasi nichts – au-ßer der Salbung, die (nimmt man die erzählte Geschichte als Chronologie) wohl am Mittwoch „war“. Das macht alles sehr nah und plastisch.
Und die Idee, daß das Salböl noch bei Jesu Tod in seinen Haaren geduftet haben muß, hat mich sehr fasziniert.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich arbeite immer sehr intensiv am „Rohtext“, der, wenn es gut geht, am Mittwoch zuvor spätestens ‚da’ sein sollte. Immer wieder lautes Lesen, Feilen, zuletzt auch das Formatieren des Manuskripts. Fast immer lesen einige Kolleg*innen und Freund*innen mit. Das ist sehr wertvoll.
Für diese Predigt stand eine Coach zur Seite mit einer klaren, genauen und sehr hilfrei-chen Lektorierung.