Inklusion à la Jesus - Predigt zu Mk 7,31-37 von Rudolf Rengstorf
Als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, dass er ihm die Hand auflege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und spuckte aus und berührte seine Zunge und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge wurde gelöst, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s ihnen aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hören und die Sprachlosen reden. (Markus 7,31-37)
Liebe Leserin, lieber Leser!
Heilungsgeschichten wie diese - so erlebe ich es immer wieder – schaffen zunächst einen nahezu unüberbrückbaren Abstand. Weil sie gelesen und gehört werden als Protokolle eines schier unglaublichen Geschehens aus ferner Vergangenheit. Ob das wirklich so gewesen ist, fragt man sich unwillkürlich. Und wenn, was hat das mit uns heute zu tun? Doch weitererzählt und aufgeschrieben worden sind diese Geschichten, weil sie Hörende und Lesende immer von neuem ansprechen und sie mit hineinverwickeln wollen in das Geschehen, das Jesus da in Gang gesetzt hat. Mal sehen, ob das auch mit uns geht.
Jesus befand sich in dieser Geschichte auf heidnischem Gebiet, also bewohnt von Menschen, die vom Gott Israels nur wenig wussten. Man muss also nicht viel mitbringen, wenn man dem Heilbringer begegnen will.
Und sie brachten zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, dass er ihm die Hand auflege.
Wenn sie an religiösem Wissen oder an rechtem Glauben auch nicht viel mitbrachten: Sie brachten den Menschen mit, der zeit seines Lebens ihr Sorgenkind gewesen war. Sie sagten eben nicht: Der arme Teufel kriegt, taub und stumm, wie er ist, ja doch nichts mit. Nein, nein, wenn da einer kommt, von dem so viel Gutes erzählt wird, dann kommt das Sorgenkind natürlich mit. Hören würde er ja nichts, aber die Hand sollte Jesus ihm auflegen. Damit er zu spüren bekam: Ich bin auch gemeint. Ich gehöre dazu und bin miteinbezogen in das, was von diesem Mann ausgeht.
Mit uns war das doch nicht anders, als wir von Eltern und Paten zur Taufe gebracht wurden, auch wenn wir nichts verstehen und nicht sprechen konnten. Wir sollten miteinbezogen werden in das, was von Jesus ausgeht. Bei der Konfirmation hat sich das wiederholt. Auch da war es mit dem Verstehen noch nicht so weit her. Auch von der vielbeschworenen Mündigkeit im Glauben war noch nicht viel da. Und weil es beim Zugang zu Jesus aufs Verstehen und vernünftiges Sprechen nicht ankommt, werden bei der Konfirmation auch die geistig und sprachlich behinderten Jugendlichen ganz selbstverständlich mit einbezogen. Ohne die Geschichten davon, wie Jesus mit Kranken und Behinderten umgegangen ist, wäre das – da bin ich sicher – nicht so selbstverständlich. Der Segen, der von dem Erlebnis ausgeht, vor Gott genauso dazustehen wie die anderen, der kann kaum überschätzt werden.
Eine derartige Konfirmation steht mir besonders vor Augen: Angelika war ein geisitg behindertes Mädchen. Sie ging auf eine Sonderschule und hätte mit ihren Mitschülerinnen konfirmiert werden können. Den Eltern aber lag daran, dass sie in ihrer Heimatgemeinde eingesegnet wurde. Von zwei Nachbarmädchen wurde sie im Konfirmationsgottesdienst in die Mitte genommen. Ich legte den dreien zum Segen die Hände auf und endete mit dem Kreuzeszeichen. Da strahlte Angelika über das ganze Gesicht und sie begann fröhlich in die Hände zu klatschen. Ihre beiden Mitkonfirmandinnen stutzten einen Augenblick und klatschten dann auch. Die Gemeine stutzte ebenfalls und schloss sich dann – zunächst zaghaft, dann immer beherzter – an. Nach jeder weiteren Einsegnung wiederholte sich der Beifall. Die Stimmung war gelöst wie selten. Und am Ende nach dem Auszug bedankten sich viele bei Angelika für die gute Idee.
Und wie sieht das aus, wenn Jesus sich einem Taubstummen zuwandte?
Er nahm ihn aus der Menge beiseite.
Er sah, dass der Mann in der Menge keine Chance hatte, an ihn heranzukommen. Denn da waren viele Menschen, die das Sorgenkind als Zumutung empfanden. Sie schubsten ihn zur Seite. Was will der denn hier? Kriegt doch sowieso nichts mit. Steht doch nur im Wege und stört. Doch sie sind im Wege und stören. Darum holt Jesus den Mann heraus aus der Menge, schirmt ihn ab vor den Menschen, die seine Behinderung nur noch verstärken. Weil sie ihn herumstoßen und ihn völlig durcheinanderbringen. Solange er die Menge um sich hat, ist er vor Angst auch noch gelähmt, verfolgt von Argwohn und Unsicherheit über das, was da um ihn herum geschieht. Doch jetzt ist die Menge ausgeblendet. Und er hat Jesus ganz für sich allein.
Er erlebt damit, was heute für jeden Patienten selbstverständlich ist: dass die Sprechzimmertür sich schließt und man allein ist mit dem Arzt. Da braucht man sich nicht vor anderen in Acht nehmen, es geht nur noch um das, was einem fehlt. Ohne diese Abgeschirmtheit und ohne die ärztliche Schweigepflicht wäre es gar nicht möglich, herauszufinden, was dem einzelnen fehlt und welche Hilfe er braucht.
Und nun, da Jesus den Patienten ganz für sich hat, stellt er sich auch voll auf ihn ein:
Er legte ihm die Finger in die Ohren, und spuckte aus und berührte mit dem Speichel seine Zunge.
Er, der große Prediger, verstummt, teilt sich in einer Sprache mit, die auch ein Taubstummer verstehen kann: Er legt ihm seine Finger in die Ohren, damit er Hände spürt, die nichts als heilen wollen; die Bewegung von Fingern, die einen leisen vorsichtigen Zugang suchen da, wo sonst nichts durchkommt. Dann legt er seinen eigenen Speichel dem Kranken in den stummen Mund. Für den Taubstummen ist es heilsam zu spüren, dass Jesus sich unmittelbar mit dem verbindet, was ihn behindert. Sanftheit und ungeteilte Zuwendung – darum allein geht es hier.
Sanftheit und Zuwendung sind bis heute die Voraussetzung dafür, dass Kranken und Behinderten geholfen wird. Und wo Sanftheit und Zuwendung fehlen, helfen auch keine Medikamente. Grade traf ich eine Bekannte, die nach einer Reha nach Hause kam und klagte, alle Anwendungen hätten nichts gebracht, weil die Ärztin sie von oben herab behandelt habe.
Sanftheit und Zuwendung sind im Übrigen auch die einzige Möglichkeit an Menschen heranzukommen, die hören können, aber nichts aufnehmen, die zwar sprechen können, aber stumm sind für das verbindende und weiterführende Wort. Vorhaltungen und Drohungen verhärten. Allein Sanftheit und Zuwendung vermögen einen aus welchen Gründen auch immer verschlossenen Menschen zu öffnen.
Ich erlebe das immer wieder bei meinen regelmäßigen Begegnungen mit einem an paranoider Schizophrenie erkrankten Mann. Er hängt Verschwörungstheorien an, fühlt sich verfolgt, macht sich immer von neuem schwere Vorwürfe, für die es keinen Grund gibt. Er erwartet, dass ich mich mit seinen Wahnideen auseinandersetze und Stellung nehme. Das führt aber nie zu einem Ergebnis. Beim nächsten Mal sind all seine Wahnideen wieder da, als hätten wir das nie zu klären versucht. Das bringt mich häufig genug auf die Palme. Ich werde laut, falle aus der Rolle und fühle mich hinterher hundeelend. Es gibt nur eines, was hilft: Mich an Jesus zu erinnern und mich zu üben in Behutsamkeit und Sanftheit. Meinem Gegenüber ohne Widerrede zuzuhören und nach freundlichen Worten zu suchen, die ihn beruhigen und ihm Respekt erweisen. Nur so kommt es zu Gesprächsphasen, in denen wir beide Nähe zueinander verspüren. Und die tut beiden gut.
Und Jesus sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hephata! das heißt: Tu dich auf!
Mit dem Blick zum Himmel zeigt Jesus: Ich bin kein Übermensch, kein Alleskönner. Alles hängt daran, dass Gott hilft und schafft, dass es gut wird. Aus eigener Kraft kann er die Behinderung nicht überwinden. Aber er kann für den Mann beten mit einem Wort, das auch der Taube versteht, weil er es vom Munde ablesen kann: Hephata - das ist Lautmalerei: Tu dich auf!
Damals bei Jesus hat diese Bitte sofort geholfen. Bei uns aber bleibt es beim Bitten. Behinderungen und Krankheiten verschwinden nicht. Und doch ist das „Hephata“ unter uns überall lebendig und stark. Was denn sonst treibt Ärzte und Pflegende, Angehörige, Freundinnen und Freunde an, gegen das Leiden anzugehen? Warum tun sie alles in ihren Kräften Stehende, um zu helfen und der Heilung entgegenzuarbeiten? Woher kommt es, dass ein leidender Mensch von denen, die um ihn sind, so gut wie nie aufgegeben wird? In dem allen erkenne ich das „Hephata“, auch wenn von Gott meist nicht die Rede ist. Aber die Leidenden wissen, was es bedeutet: Mein Leben ist wichtig. Ich bin nicht allein. Dieses Hephata wird nicht mit einem Schlag erfüllt. Aber es schiebt voran auf dem Weg, auf dem es gut wird. Darum lässt die Hoffnung Menschen nicht los bis zum letzten Atemzug. Wer hält sie lebendig, diese proaktive Zuversicht, wenn nicht Gott selbst? Denn er ist das Ja zu unserem Leben. Amen. .
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe Menschen vor Augen, die im Internet auf diese Predigt gestoßen sind und sie lesen möchten. Unter ihnen sind vielleicht Kolleginnen und Kollegen, die auf der Suche nach Impulsen für ihre eigene Predigt sind. Wer diese Predigt für den Gottesdienst ganz übernehmen möchte, sollte bedenken, dass sie fürs Lesen geschrieben ist. Für das Hören muss sie noch bearbeitet werden. Vor allem müssten längere Sätze auseinandergenommen werden.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mich in diese Geschichte und die Akteure hineinzuversetzen, mal in die Eltern, dann in die Menge, in den Taubstummen selbst und schließlich in Jesus. Und dann nach Parallelen in meinem Umfeld zu suchen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ganz wichtig ist mir die Entdeckung, dass das therapeutische Handeln Jesu sich heute in Praxen und der Inklusion von behinderten Menschen wiederholt. Das „Wunder“ ist in die Realität eingegangen, ohne in ihr aufzugehen. Dass alles gut wird, steht noch aus und gibt die Richtung an für unser therapeutisches Handeln.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Meinem Predigtcoach habe ich die Anregung zu verdanken, meine Entdeckungen durch Erzählungen zu konkretisieren und das „Hephata“ mit seinen Folgen genauso in die Realität einfließen zu lassen wie den geschützten Raum, Sanftheit und Zuwendung.
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22.08.2021 - 12. So. n. Trinitatis
Behutsamer Erntedank - Predigt zu Markus 8, 1-9
I. Landwirtschaft global
Es ist reif geworden. Weizen und Mais, Raps und Rüben – bei uns habe ich vor allem Mais, Raps und Weizen gesehen. Und Sämereienfelder. Sonnenblumen. Kaum Kartoffeln. Was halt gerade Ertrag bringt und sich wirtschaftlich rechnet. Dank Euch Landwirtinnen und Landwirten für Eure Arbeit. Die ist nicht leicht. Früher war sie körperlich schwer. Heute ist sie es eher wirtschaftlich. Was rechnet sich? Wie kann mein Betrieb überleben? Was für Subventionen gibt es, welche kann ich ausschöpfen, wie fülle ich den berühmt-berüchtigten »Mehrfachantrag« für die EU-Mittel am besten aus? Die Zeiten, wo fünf Landwirte ein Dorf ernährten, sie sind lange vorbei. Heute denken wir global. Ob wir wollen oder nicht. nd ob das gut ist, oder nicht, das lasse ich einmal offen.
II. Danke Euch; und Segen!
Erntedank. Ernte-Dank zuerst Euch: Euch von der Landwirtschaft. Ihr tut, was Ihr könnt. Ihr macht es im Rahmen des Möglichen. Da bin ich mir sicher. Gebe Gott, daß es im Rahmen es gelingt: Daß Betriebe überleben und vielleicht sogar florieren, daß alle genug zu Essen haben, daß Arbeitsplätze gesichert sind.
III. Neue Geschichte
Erntedank. Heute höre ich auch auf Jesus. Auf eine Geschichte von ihm. Ihr wißt ja: Jedes Jahr sind die Predigttexte vorgeschrieben. Das ist auch gut so. Und zu Erntedank, da war immer der »reiche Kornbauer« dran:
»Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen und will darein sammeln all mein Korn und meine Güter und will sagen zu meiner Seele: Habe nun Ruhe, iß, trink und habe guten Mut. … Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr, heute Nacht wird man deine Seele von dir fordern, und wes wird sein, das du bereitet hast?«
Das ist alles richtig.
Aber weil die Predigttexte neu geordnet sind, kommt heute eine Geschichte, die noch nie »dran« war.
Das ist auch ganz gut, in diesem Jahr, wo eigentlich alles ganz anders ist. Und wo wir damit umgehen müssen. Also: Die andere Erntedankgeschichte. Eine Geschichte mit Jesus. Hört mal hin:
IV. Jesusgeschichte
»Zu der Zeit, als wieder eine große Menge da war und sie nichts zu essen hatten, rief Jesus die Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Mich jammert das Volk, denn sie harren nun schon drei Tage bei mir aus und haben nichts zu essen. Und wenn ich sie hungrig heimgehen ließe, würden sie auf dem Wege verschmachten; denn einige sind von ferne gekommen. Seine Jünger antworteten ihm: Woher nehmen wir Brot hier in der Einöde, daß wir sie sättigen? Und er fragte sie: Wie viele Brote habt ihr? Sie sprachen: Sieben. Und er gebot dem Volk, sich auf die Erde zu lagern. Und er nahm die sieben Brote, dankte, brach sie und gab sie seinen Jüngern, daß sie sie austeilten, und sie teilten sie unter das Volk aus. Sie hatten auch einige Fische; und er sprach den Segen darüber und ließ auch diese austeilen. Und sie aßen und wurden satt. Und sie sammelten die übrigen Brocken auf, sieben Körbe voll. Es waren aber etwa viertausend; und er ließ sie gehen.«
Wir kennen die Geschichte sonst ein bißchen anders. »Die Speisung der fünftausend«. So steht sie bei allen Evangelisten und sogar bei Johannes, der ja ganz gern ein wenig andere Wege geht, und bei Markus steht sie auch. Er muß Gründe gehabt haben, das zweimal zu erzählen. Deshalb höre ich heute besonders genau hin:
Heute sind es viertausend, nicht fünftausend. Und nicht fünf Brote und zwei Fische, wie wir das kennen, sondern sieben Brote, und »ein paar Fische«, wieviele wird nicht gesagt.
V. Behutsamer Erntedank
Gut, daß diese Geschichte heute »dran« ist. Gut, daß sie genau so erzählt wird. Gut, daß wir mit dieser Geschichte Erntedank feiern. Denn es ist eine behutsame Geschichte. Behutsamer Erntedank. Ich sehe da einen Jesus, der ist sehr sanft mit seinen Menschen. Da ist Jesus nicht so sehr der Herr, der bestimmt –
das kann und das tut er natürlich auch – aber nicht nur. Und nicht heute. Hier schaut Jesus nicht zuerst auf sich – auf seine Botschaft, auf das, was die anderen tun sollen – hier schaut Jesus zuerst auf die Menschen. Und er macht das sehr behutsam. »… Sie harren nun schon drei Tage bei mir aus und haben nichts zu essen. Und wenn ich sie hungrig heimgehen ließe, würden sie auf dem Wege verschmachten; denn einige sind von ferne gekommen.«
Jesus schaut nach Dir. Er sieht Dich. Er fragt nicht: »Was hast Du vorzuweisen? Bist Du genug? Du mußt aber noch …« Er sieht nur: Du hast Hunger. Lebenshunger. Du könntest sonst verschmachten. Er weiß, was für einen langen Weg Du schon gegangen bist. Er sieht Dich. Und er sieht, was Du brauchst. Und dann gibt er. Einfach so. Sei’s Brot und Fisch oder sei’s ein Wort und eine Kraft. Ein Trost oder ein Segen – oder ein Wink für den nächsten Weg: Jesus wird Dich nicht leer gehen lassen. Niemals.
VI. Und sie aßen alle und wurden satt
»Und er gebot dem Volk, sich auf die Erde zu lagern. Und er nahm die sieben Brote, dankte, brach sie und gab sie seinen Jüngern, daß sie sie austeilten, und sie teilten sie unter das Volk aus. Sie hatten auch einige Fische; und er sprach den Segen darüber und ließ auch diese austeilen. Und sie aßen und wurden satt.«
Und dann teilen sie aus. Jesus hat gesagt: Gebt! Und sie gaben.
Nein, das ist kein Sozialprogramm, das ist nicht die Rettung derer, die nichts mehr haben. Das ist ein: »Gebt jeder und jedem und allen. Es wird genug da sein.« Nicht, weil wir so sozial sind und gut, – das sind wir ja eh – sondern weil wir das machen, was Jesus gemacht hat. Behutsam sein. Schaun, was die anderen brauchen. Und so gut wir möglich für sie da sein. Und geben. »Und sie aßen alle und wurden satt.«
VII. Erntedank anders
Und ja, ich weiß, es sind schwierige Zeiten. Erntedank ganz anders. Coronazeiten und eine ganz andere Bibelgeschichte als sonst. Und es gibt die Protestler, die sowieso alles blöd finden, und noch schlimmer sind die Hasser und Hetzer. Letztere haben garnichts mit Jesus zu tun. Die sehen nur auch ihr Eigenes. Man könnte die Plakate auf ihren Demos mit einem einzigen Wort beschriften: »Ich«. Und »Ich«. Und »Ich«. Die Bedachteren darunter sollten nachdenken, mit wem sie da marschieren.
Jesus schaut die Viertausend an. Und er denkt nicht: »Ich!« Sondern: »Du«. Und »Du«. Und »Du«. Und er gibt ihnen, was sie brauchen.
Behutsam, weil er sie angeschaut hat.
VIII. Frei lassen
»Und sie aßen und wurden satt. Und sie sammelten die übrigen Brocken auf, sieben Körbe voll. Es waren aber etwa viertausend; und er ließ sie gehen.« Am Ende läßt Jesus sie gehen. Auch einfach so.
Er sagt nicht: »Ok, ich hab’ Euch satt gemacht, jetzt macht aber mal, was ich will«. Er läßt sie gehen. Ganz frei. Ganz ins Leben. So macht das Jesus: Schauen, was wir brauchen. Geben. Uns gehen lassen. In die Freiheit. Tut es ihm gleich. Schaut und gebt und laßt fei. Seid behutsam miteinander. Und macht mit eurer Freiheit etwas Gutes.
Amen.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
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„Wenn die Liebe ihren Lauf nimmt“ - Predigt zu Markus 14,1-9 von Michael Greßler
I. Heilige Woche – große Geschichte
Es fängt an. Palmsonntag.
Heute zieht Jesus in Jerusalem ein. „Hosianna dem Sohne Davids!“ Königsweg. Triumphzug. „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel!“ Palmzweige rauschen durch die Luft. Kleider liegen auf dem Weg, wie der rote Teppich. So kommt Jesus in die Heilige Stadt.
Am Donnerstag wird er Abendmahl feiern mit den Seinen. „Nehmt und esst. Trinkt alle daraus. Tut das zu meinem Gedächtnis.“
Donnerstag Nacht: Ein Gebet. „Doch nicht, was ich will, sondern was du willst.“ Judas wird kommen und ihn verraten. Soldaten verhaften Jesus. Nächtlicher Prozess vor dem Hohenpriester. „Ihr habt gehört die Gotteslästerung! – Er ist des Todes schuldig.“
Am nächsten Morgen steht Jesus vor Pilatus. „Kreuzige ihn!“ Geißelhiebe, Spottgesänge. Das Kreuz liegt schwer auf seinen Schultern. Dann Hammerschläge. „Mich dürstet“. „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“
Am Freitag 15.00 Uhr ist Jesus dann tot. „Und neigte das Haupt und verschied.“
Palmsonntag.
Heute fängt es an. Diese Geschichte von Sonntag bis Freitag. Die riesengroße Geschichte von Liebe und Tod.
II. Am Mittwoch kam der Tod
Palmsonntag. Gründonnerstag. Karfreitag. Da wird die Geschichte erzählt. Da geschieht sie. Von Montag und Dienstag wissen wir nichts.
Aber Mittwoch.
„Es waren noch zwei Tage bis zum Passafest und den Tagen der ungesäuerten Brote. Und die Hohenpriester und Schriftgelehrten suchten, wie sie Jesus mit List ergreifen und töten könnten. Denn sie sprachen: Ja nicht bei dem Fest, damit es nicht einen Aufruhr im Volk gebe.“
Am Mittwoch steht fest: Jesus muss sterben. Ein Gremium sitzt beisammen. Graue Herren in Prunkgewändern. Die Macht hat sich versammelt. Die Macht will den Tod. Jesu Tod.
Und da trifft es sich gut, dass es abends leise an der Tür klopft. Judas schleicht herein. Heimlich. „Ich will ihn euch verraten.“
Da werden sie froh. Versprechen ihm Geld. Und der Tod nimmt seinen Lauf.
III. Am Mittwoch kommt die Liebe
Am Mittwoch war aber auch noch etwas anderes. Am Mittwoch kommt die Liebe. „Und als Jesus in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit unverfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt.“
Die Liebe kommt leise zur Tür herein. Ohne ein Wort. Eine Frau in schlichtem Gewand. Sie hat noch nicht mal einen Namen. Sie hat nichts weiter. Nur sich selbst. Und dieses kleine Gefäß. Das ist der Liebe genug.
Weiß und zart ist das Fläschchen. Aus Alabaster. Das hat sie mitgebracht. Und vorher gekauft. Für ungefähr zwanzigtausend Euro nach heutigem Geld. Völlig verrückt eigentlich. Und genau richtig.
Sie geht zu Jesus. Sie bricht das Fläschchen entzwei. Das Öl fließt Jesus in die Haare. Unbeschreiblicher Duft. Sie massiert es ein. Jetzt nimmt die Liebe ihren Lauf.
IV. Liebe verjagen
„Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an.“ Bis eben hatten sie nur zugeschaut. Die Männerrunde: Petrus, Jakobus, Johannes, Bartholomäus und wie sie alle heißen – und, ja, auch Judas. Sie sehen, was da geschieht. Fassungslos. Es fehlen ihnen die Worte. Es war still. Mucksmäuschenstill. Totenstill. Liebesstill.
Dann toben sie los. „So was Unvernünftiges! Völlig verrückt! Vergeudung! Alles verschwendet!“ Sie toben los, wie die Wütenden zu allen Zeiten lostoben. Auch heute und jetzt. „Denkt doch mal an die Rentner in unserm Land, die müssen Flaschen sammeln! Und die schmeißt zwanzigtausend Euro zum Fenster heraus …
was man damit alles Gutes tun könnte für die eigenen Leute …“
Petrus, Jakobus, Johannes – die ganze Runde: Sie „wissen ja, wie es geht“. Denken sie. Sie wissen, „was sich gehört“. Sowas darf nicht sein. Das passt nicht in ihre Welt. Sie wissen, wie es zu sein hat. Und sie murren und raunen, sie tuscheln und am Ende werden sie grob und laut. Sie wollen die Macht über die Liebe. Und sie wollen sie am liebsten verjagen aus der Welt.
„Und sie fuhren sie an.“
V. Lasst die Liebe Liebe sein
„Jesus aber sprach: Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis.“
Ein Machtwort. Ein Liebeswort. Beides auf einmal. Jesu Wort. „Lasst sie!“ Hört auf mit euren Machtspielereien. Lasst der Liebe ihren Lauf! Jesu Stimme klingt hart dabei. Er meint das wirklich so. Das ist jetzt ernst. Todernst. Und liebesernst. Die anderen schweigen. Sie schauen zu Boden. Ein bisschen beschämt.
Und wohl wenig überzeugt. So einfach lässt die Macht nicht von der Liebe ab. So schnell ändern sich Stimmungen und Meinungen nicht, wenn sie einmal festsitzen. Jesus aber bleibt dabei: „Sie hat getan, was sie konnte.“
Liebe tut, was sie kann.
Jetzt. Hier.
VI. Macht der Liebe
Die Liebe kommt am Mittwoch in unsere Geschichte.
Mit dieser Frau und ihrem Fläschchen voll Öl. Mit Jesu Worten: „Lasst sie! Sie tut, was sie kann.“ Nun hat die Macht eine ebenso mächtige Gegenspielerin. Die wird tun, was sie kann. Sie hört nicht auf damit, und sie tut es heute noch: Die „Macht der Liebe“ Sie ist anders. Sie ist nicht grob und laut, sie pöbelt nicht auf der Straße, sie hetzt die Menschen nicht gegeneinander auf, spaltet nicht, „ist nicht mutwillig, sucht nicht das Ihre, bläht sich nicht auf“.
Die „Macht der Liebe“ tut, was sie kann. Sie tut es an den geringsten Geschwistern. Stellt sich gegen böse Mächte, wo es nötig ist. Macht aus der Machtwelt eine Liebeswelt. Soviel sie kann.
Und Jesus sagt: „Lasst sie!“
„Macht brauchst du nur, wenn du etwas Böses vorhast. Für alles andere reicht Liebe, um es zu erledigen.“
Das soll Charlie Chaplin gesagt haben. Er hat unsere Geschichte ganz bestimmt gekannt.
VII. Unvergessen
„Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.“
Die Mächtigen von damals: Nicht mehr so wichtig. Die Hohenpriester Hannas und Kaiphas: Historische Personen aus der Bibel. Pontius Pilatus: Ein Name im Glaubensbekenntnis.
Die Frau aber, – die Frau, die die Liebe in unsere Geschichte gebracht hat: Sie ist unvergessen. Obwohl sie noch nicht mal einen Namen hat. Vielleicht ist ja das einfach ihr Name: Liebe?
„Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.“
Genauso machen wir das heute. Wir vergessen sie nicht. Wir predigen das Evangelium. Dieses Evangelium. Von dieser Frau und ihrer mächtigen Liebe.
Evangelium – es ist, wo die Liebe ihren Lauf nimmt.
VIII. Liebe bis zum Freitag. Und immer.
Palmsonntag. Es hat angefangen. Königsweg. Liebesweg.
Am Mittwoch kommt die Liebe in diese riesengroßen Geschichte. Jesus nimmt sie mit. Das Öl hat bis zu seinem Tod in seinen Haaren geduftet. Die Liebe nimmt ihren Lauf – von heute bis Mittwoch und bis zum Freitag. „Bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz.“ Und vom Freitag dann weiter. In einer Woche ist Ostersonntag.
Denkt daran! Da geht es weiter mit der Liebe. Für immer. Für uns.
„Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
„Meine“ Predigten werden in sehr unterschiedlichen Gemeinden gehalten. Es kann sein, daß z.B. Ostern in Camburg ein Festgottesdienst mit über 100 Personen stattfindet, und der übernächste in Kleingestewitz mit 4 Feiernden. Das ist interessant und reizvoll. Da-bei ändert sich auch oft das gesamte „Setting“ von Predigt und Gottesdienst. Ich halte die Predigten meist ziemlich oft – an einem Wochenende Sa/So kommen u.U. auch ein-mal 9 Gottesdienste zusammen. Da verändern sich auch die Predigten.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich bin in meiner Arbeit stark exegetisch geprägt. Das ist immer der erste Schritt. Und wenn ich – soweit das möglich ist – ‚verstanden’ habe, wie der Text ‚funktioniert’ setzt das die ersten Gedanken, womöglich auch schon eine „Structure“ für die Predigt frei. Übungen des kreativen Schreibens und Wahrnehmungsübungen helfen, Bilder zu fin-den. Dann kommt die Phase des „laut Schreibens“ – jeder Satz, dann größere teile, sage ich schon im Schreibprozeß laut.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Interessant war, sich noch einmal die Chronologie der „Heiligen Woche“ vor Augen zu führen. Da passiert ja zwischen Palmsonntag und Gründonnerstag quasi nichts – au-ßer der Salbung, die (nimmt man die erzählte Geschichte als Chronologie) wohl am Mittwoch „war“. Das macht alles sehr nah und plastisch.
Und die Idee, daß das Salböl noch bei Jesu Tod in seinen Haaren geduftet haben muß, hat mich sehr fasziniert.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich arbeite immer sehr intensiv am „Rohtext“, der, wenn es gut geht, am Mittwoch zuvor spätestens ‚da’ sein sollte. Immer wieder lautes Lesen, Feilen, zuletzt auch das Formatieren des Manuskripts. Fast immer lesen einige Kolleg*innen und Freund*innen mit. Das ist sehr wertvoll.
Für diese Predigt stand eine Coach zur Seite mit einer klaren, genauen und sehr hilfrei-chen Lektorierung.
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25.10.2020 - 20. So. nach Trinitatis
05.04.2020 - Palmsonntag / Palmarum
Konfi-Impuls zu Markus 12, 28-34 von Eva Ulmer
Bei der Beschäftigung mit der Perikope empfiehlt es sich, diese in Nähe zu den 10 Geboten zu betrachten. Die 10 Gebote sind den Konfirmandinnen und Konfirmanden häufig zumindest teilweise bekannt.
Es bieten sich zwei Möglichkeiten an, die Einheit thematisch zu behandeln.
I. Ein gut erklärter Entwurf mit Elementen der Erlebnispädagogik bietet sich in „Sinn gesucht, Gott erfahren“ Bd. 3.1
Hier geht es um die Auseinandersetzung mit Werten im weitesten Sinn und die KonfirmandInnen werden aufgefordert, ausgehend von den 10 Geboten, der Bergpredigt und dem Doppelgebot der Liebe „abstrakte Begriffe zu konkretisieren und sich auf grundlegende Werte zu einigen.“2
II. Alternativ bietet sich die Möglichkeit, in einer Gesprächsrunde ausgehend von einem spielerischen Einstieg über Sinn und Zweck von Regeln und deren Priorisierung im allgemeinen Lebensvollzug, aber auch konkret anhand des Doppelgebots der Liebe auseinanderzusetzen.
Dies kann wie folgt geschehen.
Möglichkeit zum thematischen Einstieg:
Zu Beginn der Stunde wird „Mäxle“ gespielt. (Spielregeln unter: https://ludomax.de/spielregeln/210-wuerfelspiele-spielregeln.html#maexle)
Ohne dabei die Regeln zu erklären. Einige Konfirmandinnen werden die Regeln wohl kennen, andere nicht. Nach 1 bis 2 Runden kurzer Austausch, wie die Konfis diese wahrgenommen haben.
- „Blöd, weil ich nicht wusste, was ich tun soll“
- „Ich habe halt irgendwas gemacht“
- „Es macht keinen Spaß, wenn jeder seine eigenen Regeln aufstellt“
Daraus ergibt sich ein Austausch über die Notwendigkeit von Regeln im Alltag, wobei die Jugendlichen einige selbst benennen können. (Verkehrsregeln, Schulregeln etc.) Meist kommen sie auch auf die 10 Gebote.
Wichtig ist dabei, die Konfirmandinnen und Konfirmanden zu fragen, welches der 10 Gebote am wichtigsten ist.
Ausgehend von einem verbalen oder auch stummen Impuls wird dann die Position Jesu in den Blick genommen.
- „What would Jesus say?“: Was ist wohl seiner Meinung nach das wichtigste Gebot? Warum?
Schließlich wird die Perikope gelesen. Sinnvollerweise zur Ergänzung auch Lev 19,18 (Israelsonntag!).
Nachdem die Konfirmandinnen und Konfirmanden sich zur Person Jesu geäußert haben stellt sich die Frage nach dem Alltagsbezug.
=> Sind die 10 Gebote damit überflüssig geworden?
=> Was bedeutet Gottesliebe und wie kann ich diese konkret leben?
=> Was bedeutet Nächstenliebe und wie kann ich diese konkret leben?
Besonders bei der letzten Frage bietet es sich an, mit den Konfirmandinnen und Konfirmanden zu überlegen, ob und in welcher Form sie ein konkretes Projekt zum Thema Nächstenliebe, evtl. auch Gottesliebe im weitesten Sinn, in der Gemeinde planen und durchführen möchten.
1 I Schwaderer, U.; Wiedmayer, J.; Wöhrbach, S.: Sinn gesucht, Gott erfahren, Bd. 3, Stuttgart 2018, S. 178ff.
2 I Ebd. S. 178.
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Predigt zu Markus 4,35-41 von Tom Mindemann
Schweig! Verstumme! Und der Wind legte sich und es ward eine große Stille. Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?
Eine peinliche Stille legte sich über das Boot und über den ganzen See. Gerade war alles noch ganz anders gewesen. Der Wind brauste über sie hinweg. Die Wellen auch. Und sie paddelten und versuchten an Land zu kommen und schöpften mit hohlen Händen das Wasser aus dem Boot. Jesus schlief. Auf der einzigen noch trockenen Stelle. Auf der Bank hinten im Boot. Sie hatten ihn geweckt, damit er irgendetwas tut. Mitpaddeln. Oder Wasser schöpfen. Im Kreis laufen und mit den Armen rudern. Irgendetwas.
Nicht nur der See wurde rauer. Auch der Ton. „Ey, Meister, interessiert es dich überhaupt nicht, dass wir umkommen?“ Aber Jesus paddelte nicht. Er schöpfte kein Wasser. Er lief nicht im Kreis und ruderte nicht mit den Armen. Jesus stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig! Verstumme!
Eine peinliche Stille legte sich über das Boot und über den ganzen See. In Geschichten ist das immer so einfach. Die Pointe sitzt: Habt ihr noch keinen Glauben? Und auf der nächsten Buchseite beginnt ein neuer Morgen. Aber jetzt saßen sie mit Jesus in einem Boot, kamen nicht weg von ihm, obwohl er ihnen unheimlich war. Petrus dachte kurz darüber nach, einfach zu Fuß ans Ufer zu gehen, verwarf den Gedanken aber wieder.
Andreas traute sich, zuerst etwas zu sagen. Vorsichtig darauf gefasst, das nächste Machtwort zu hören zu bekommen. Wenn sogar Wind und Meer Jesus gehorsam sind, wer weiß? Was hätten wir denn tun sollen? Dich weiter schlafen lassen, bis uns das Wasser wirklich bis zum Halse gestanden hätte? Jesus sagte nichts. Ein anderer, Jakobus, meinte: Vielleicht hätten wir beten sollen. Aber, wandte Johannes ein, wir hatten doch alle Hände voll zu tun mit Wasser schöpfen…
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Constanze ist, wie man sagt: in der rush hour des Lebens. Beruflich geht es aufwärts. Gerade hat sie eine neue Aufgabe im Unternehmen übernommen. Mehr Kompetenzen. Mehr Verantwortung. Mehr Arbeit. Die Kinder sind aus dem Gröbsten raus. Und doch brauchen sie natürlich Ihre Mutter. Und sollen sie auch haben. So wie der Ehemann seine Frau.
Abends, wenn die Kinder schlafen, sitzt sie noch stundenlang am PC. Kämpft sich durch die Email-Flut des Tages und schiebt eine Bugwelle von Aufgaben vor sich her, die immer wieder über sie hereinschwappen. Dieses leise Geräusch im Ohr hat sie lange nicht ernst genommen. Aber manchmal reagiert sie gereizt auf die kleinste Anfrage. Bis eine Freundin ein Machtwort gesprochen hat: Halt! Stopp! Jetzt liegt sie im Krankenhaus, soll absolute Ruhe halten. Die ersten Tage versucht sie noch vom Bett aus mit dem Tablet zu arbeiten. Aber der Internetempfang im Krankenhaus ist zu schlecht. Und alles, was sie braucht, hat sie ohnehin nicht in der Cloud. Constanze ist es, als ob ihr die Dinge wie Wasser durch die Finger fließen.
Nachts legt sich eine Stille über ihr Bett und das ganze Zimmer. Wenn der Kleine zu Hause rufen würde, könnte sie es nicht hören, und auch nichts tun. Erst langsam gewöhnt sie sich an den Gedanken, dass ihr Mann ja zu Hause ist, und hören und tun kann. Und es wird ruhig in ihr.
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Was passiert, wenn nichts passiert? Wenn der Wind den Atem anhält, wenn die Wellen das Weite suchen und die Wogen es nicht mehr wagen, an die Bootswand zu schlagen?
Was passiert, wenn nichts passiert? Wenn die Geschäftigkeit geschafft macht, aber nichts geschafft bekommt? Wenn die Flut aus Emails und Aufgaben in den Ohren flötet und uns vergessen lässt, wer wir sind und warum wir etwas tun? Wenn dann die Hektik innehält und Zeit sich nicht mehr vertreiben lässt?
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Die Stille, zu der sich Constanze verdammt sieht, bewirkt zweierlei: Sie soll helfen, das Pfeifen im Ohr wieder loszuwerden. Und: Constanze kommt zu sich. Sitzt mit sich selbst in einem Boot, kommt nicht weg von sich, auch wenn es ihr unheimlich ist. Wer ist die, zwischen Kind und mehr, zwischen Arbeit und Familie, die so lange nicht auf ihre innere Stimme gehört hat und unter einem Meer von Aufgaben zu ertrinken drohte? Wer bin ich? Und was ist wirklich wichtig?
Als Jesus den Sturm stillte und Wind und Wellen in ihre Schranken verwies, da bewirkte die Stille, die dann folgte, zweierlei. Sie war die Lösung für das Problem, dessen sich die Jünger durchaus bewusst waren: Das Wasser steht uns bis zum Halse! Die Stille verwies aber auch auf ein Problem, dessen sie sich noch nicht bewusst waren: Wir trauen Gott zu wenig zu!
Ich denke, Gott schreit nicht über den Alltagslärm hinweg. Er verschafft sich Gehör, ja. Aber es ist die Stille, in die er hinein spricht, was uns unbedingt angeht: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben? Wer bist du? Und was ist dir wichtig?
Und am Abend desselben Tages sprach Jesus zu den Jüngern: Lasst uns ans andre Ufer fahren. Und sie ließen das Volk gehen und nahmen ihn mit, wie er im Boot war, und es waren noch andere Boote bei ihm. Und es erhob sich ein großer Windwirbel, und die Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde.
Und er war hinten im Boot und schlief auf einem Kissen. Und sie weckten ihn auf und sprachen zu ihm: Meister, fragst du nichts danach, dass wir umkommen? Und er stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig! Verstumme!
Und der Wind legte sich und es ward eine große Stille.Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben? Und sie fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind!
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Herr über die Naturmächte - Predigt zu Markus 4,35-41 von Karsten Matthis
Liebe Gemeinde,
„Und es erhob sich ein großer Windsturm und die Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde“, (V. 37). Der See Genezareth liegt für den Betrachter idyllisch dar, jedoch kann er sich rasch in ein stürmisches Gewässer verwandeln. Unberechenbare Stürme sind nichts Ungewöhnliches am See Genezareth. Das erklärt sich aus seiner besonderen geografischen Lage. Der Wasserspiegel liegt ungewöhnlich tief, 200m unter dem Meeresspiegel. Und die umliegenden Berge liegen ganz nahe am See. Die auslaufenden Wellen finden kaum Platz an den Ufern. Wenn plötzliche Fallwinde von den Bergen stürmen, können sie die Wellen auf dem See gewaltig auftürmen. Blitzschnell kann dies mit einer unheimlichen Wucht geschehen. Bis die Winde dann ebenso plötzlich wieder abflauen und sich der See sich wieder beruhigt.
Liebe Gemeinde, ein mächtiger Sturm kommt auf, diesen Eindruck haben Sie vielleicht in den letzten Monaten bei verschiedenen politischen Ereignissen gewonnen, wenn sie die weltweiten Nachrichten verfolgt haben. Der Austritt Großbritanniens aus der EU rückt immer näher, und ein Masterplan, der nach dem Austritt des Vereinigten Königreiches, dem Brexit, kommen soll, ein schlüssiges Konzept für die Zeit ohne Mitgliedschaft in der EU scheint im Regierungsviertel Londons nicht zu existieren.
Angeführt von Rechtspopulisten sind Länder wie Polen und Ungarn auf einem nationalistischen Weg, sich von der Europäischen Gemeinschaft zu lösen. Schrille fremdenfeindliche Töne finden zu unserer Überraschung in diesen Ländern unerwartet starken Beifall.
Weiterhin sitzen viele Menschen auf gepackten Koffern in großen afrikanischen Flüchtlingscamps und warten auf einen günstigen Moment, um nach Europa zu fliehen. Die Projekte der Entwicklungszusammenarbeit scheinen nicht zu greifen und sind eher wie ein „Tropfen auf einem heißen Stein“ und werden den Exodus an Menschen nicht stoppen.
Auf dem Balkan spitzen sich alte Konflikte wieder zu. Die Zeichen stehen auf Konfrontation: Serben und Kroaten stehen sich feindlich gegenüber. Wie vor 100 Jahren kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs wirkt der Balkan wie ein „Pulverfass“.
Der Konflikt um die Ostukraine ist aus den Schlagzeilen der Medien zwar verschwunden, dennoch schwelt der Bürgerkrieg weiter und wird blutig geführt.
Europa und die Europäische Union waren lange Zeit eine Insel der Glückseligen, nun könnte sich aus Vielzahl der Konflikte etwas Böses zusammen zu brauen. Ein Wirbelwind könnte über Europa hinwegfegen.
Nicht nur in der Weltpolitik gibt es Unwetter, die sich zusammenbrauen. Im Privatleben beschleicht uns bisweilen das untrügliche Gefühl, dass ein heftiger Sturm aufzieht. Die Veränderungen in der Arbeitswelt kommen schneller auf uns zu. Die Digitalisierung und mit ihr eine künstliche Intelligenz in Gestalt von Robotern könnte schon recht bald viele Arbeitsplätze vernichten und nur wenige neue Arbeitsplätze schaffen. Diese rasanten technologischen Veränderungen sorgen für Unruhe in unserem Leben.
Aufgrund einer jahrelangen Lebenserfahrung sind wir sensibel genug, wenn Dinge auf eine schiefe Bahn geraten sind: Im Beruf läuft es nicht mehr richtig gut, da das Kundeninteresse abnimmt und die Umsätze zurückgehen. Wenn in der Familie und im Freundeskreis sich das offene und freundschaftliche Klima abgekühlt hat, und man nicht mehr gut gelitten ist, weil man durch die eigene schlechte Laune, eingetrübt durch berufliche und private Enttäuschungen, Familienfeste und Treffen verdorben hat. Der Einfluss auf die Kinder nimmt ab, weil diese älter geworden sind und eigene Wege gehen möchten. Angst um die persönliche Zukunft beschleicht einen, dass sich viele Dinge über unsere Köpfe zusammenbrauen und wie ein Windwirbel über uns hinwegfegen.
Liebe Gemeinde, in der Geschichte von der Stillung des Sturms erleiden die Jünger Todesängste. Der starke Sturm auf dem See Genezareth hat das kleine Fischerboot schon ergriffen. Die Wellen schaukeln das Schiff heftig hin und her. Die Wellen schlagen bereits meterhoch ins Boot. Die Jünger, einige unter ihnen erfahrene Fischer, haben so ein Unwetter auf ihrem See, dem See Genezareth, noch nicht erlebt. Hilflos sitzen sie in ihrer Nussschale, die mit samt der ganzen Mannschaft von den Fluten in die Tiefe des Sees hinab gerissen zu werden droht.
Bereits vor der Episode auf dem See Genezareth, die uns Markus so lebendig erzählt, haben die Jünger vielleicht unbewusst gefühlt, dass es sich am Horizont etwas zusammenzieht. Der Sturm auf dem See ist Ausdruck dessen, dass Jesus und der Kreis seiner Jünger künftig in einem übertragenden Sinne in schwere See geraten könnten. Jesus hat sich seinen Widersachern entzogen und ist nach Galiläa entwichen. Um der Dauer Konfrontation mit seinen Gegnern, den Pharisäern, zu entgegen, hatte er sich mit seinen Freunden nach Galiläa aufgemacht.
An Jesus scheiden sich die Geister, insbesondere den Hohen Priestern war Jesus von Nazareth „ein Dorn im Auge“. Ihr Zorn und ihre Eifersucht steigen mit jeder Predigt und mit jeder Heilung an. Leicht zu vermuten, dass sie ihm nach dem Leben trachten. Dass ihm ein Leidensweg bevorstehen könnte, der auf Golgatha qualvoll enden musste, dies haben die Jünger sich in ihren schlimmsten Befürchtungen nicht vorstellen können, aber das die unbeschwerte Zeit mit ihrem Meister vorbei sein könnte, dies erahnen sie.
Im immer heftiger schwankenden Boot wächst ihre Furcht zu kentern und zu ertrinken. Panische Todesangst breitet sich unter den Jüngern aus. In ihrer Not wecken sie Jesus und flehen ihn um Hilfe an. Jesus liegt auf einem Kissen, so erzählt Markus, hinten im Boot und schläft fest. Das Tosen der Wellen und das Brausen des Windes wecken ihn nicht auf.
Doch aus dem Schlaf gerissen, erhebt er sich, sieht sich um, bleibt gelassen und spricht zu seinen Jüngern. Und als er zu seinen Freunden redet, legt sich der Sturm. Nur ein Wunder hat den Kreis der Jünger retten können. Jesus hat dieses Naturwunder vollbracht. Seine Gelassenheit und seine innere Ruhe beeindrucken, ja erschrecken die Jünger. „Wer ist der?“ fragen die Jünger erschrocken. „Wind und Meer sind ihm gehorsam.“
Liebe Gemeinde, die Erzählung von der Stillung des Sturms ist eine Epiphanie (Erscheinungs-) Geschichte. Eine Geschichte, in welcher die Herrlichkeit Christi aufleuchtet. Die Jünger spüren seine Macht und die Verbundenheit mit dem Schöpfergott. Hier leuchtet das Licht der Welt auf, wie er sich seinen Jüngern offenbart hatte.
Jesus demonstriert die Gewissheit, wer sich in Gottes Hand begibt, der kann nicht tiefer fallen. Er überlässt sein Schicksal vertrauensvoll seinem Vater. Und seinen Freunden ruft er zu: Sorgt nicht. Vertraut!
Jesus kämpft mit diesen dunklen und entfesselten Mächten und die Jünger haben begriffen, dass Jesus mit seinem Vater Herr über der Schöpfung ist. So gewinnt die Geschichte von der Stillung des Sturms eine symbolische Kraft, welche über die Wundergeschichte von der Stillung des Seesturms hinausweist. In unserer Welt, wo Naturgewalten oft wüten, da erschrecken sie uns. Gewaltige Seebeben mit Flutwellen kommen plötzlich ohne Vorwarnung und vernichten Hab und Gut der Menschen und fordern unzählige Opfer.
Liebe Gemeinde, wir sind hilflos und machtlos vor diesen Naturgewalten. Jesus hingegen ist vertraut mit den Naturgewalten, weil sie aus der Schöpfermacht seines Vaters entstammen. Die Natur ist von Gott geschaffen und von ihm beseelt. So widrig und feindlich sich die Naturgewalten aufführen, diese gehören zu Gottes Schöpfung. So beeindrucken uns letztlich nicht das Naturwunder, was wir Gott ohne weiteres zutrauen, sondern die Gelassenheit Jesu und sein Vertrauen zum Vater.
Die panische Angst unter den Jüngern löst bei ihm Unverständnis aus. Er tadelte sogar ihren Unglauben. „Wie kommt es, dass ihr so furchtsam, und ohne Glauben seid?“ Da verwandelt sich die Furcht der Jünger in den Schrecken über den eigenen Unglauben, über die Verkennung der Wirklichkeit. Die Jünger erschrecken über Jesus, der mit einer bloßen Geste den Sturm zum Schweigen bringt. Voller Erstaunen flüstern sie einander zu, dass es ihr Herr ist, der sogar Wind und Wellen zum Schweigen bringen kann, wenn er es denn will.
Liebe Gemeinde, Angst ist da nicht am Platz, wo Jesus im Schiff mitfährt. Selbst wenn es unterginge, wäre er mit ihnen. Der schlafende Jesus wird so zum Ausdruck jener Gelassenheit, die christliches Dasein auf den stürmischen Fahrten des Lebens auszeichnet, einer Gelassenheit, die nichts mit Lässigkeit und Leichtsinn zu tun hat, aber alles mit der Verheißung zu tun hat: Er wird die nicht verlassen, die sich auf ihn verlassen.
Aber vielleicht mag die eine oder der andere nun fragen, müssen wir Jesus immer wieder wecken, ihn wachrütteln, wenn sich solche Stürme in unserem Leben aufbauen, wenn sich Unheil über unseren Köpfen zusammenzieht. Schlafen Gott und sein Sohn? Müssen wir sogar vermuten, dass wir Menschen der dunklen Macht des Schicksals ausgeliefert sind. Hat Gott in Auschwitz und Buchenwald geschlafen und die Schreie der Opfer überhört? War denn kein Gott da, der da retten konnte?
Schläft Gott, wenn sich augenblicklich im Nahen Osten ein militärischer Flächenbrand aufbaut? Schläft er, wenn ein Diktator aus der Kim-Dynastie in Nordkorea mit Atomwaffen und Allmachtphantasien spielt.
Hier bereitet uns die Geschichte Kopfzerbrechen, müssen wir Jesus immer wecken, damit er uns rettet? Ist dieser verborgene Gott von dem Martin Luther schreibt, der Welt nicht zugewandt, sondern fern von ihr. Wie rätselhaft erscheint uns Gott in einer Welt der Widersprüche und Ungerechtigkeiten, der Zerwürfnisse und Kriege.
„Meister, fragst Du nicht danach, dass wir umkommen“ schreien ihn seine Jünger an. Jesus handelt, leise, mit einer Geste und wenigen Worten bringt er das Meer zum Schweigen. Er lässt seine Schar nicht umkommen. Sie sollen ihre Rettung und Bewahrung aus Gefahr als Zeichen nehmen, dass der Herr bei ihnen ist. Auf dem See Genezareth geschieht ein Zeichen, ein Hinweis auf die neue Welt Gottes, in der die Menschen nicht umkommen. Was seid ihr so furchtsam auf diesem Weg durch die Stürme des Lebens, durch Angst und durch die Krisen in unserem Leben. Gott hört unsere Hilferufe, dass wir nicht verderben. Der Herr ist mit uns auf unseren Lebenswegen, unsere Schicksale sind sein Schicksal; er wird unsere Leben nach seinem Willen lenken; vertraut auf ihn….
Amen.