Predigt über Jeremia 29, 1.4-7.10-14 von Margot Käßmann
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Predigt über Jeremia 29, 1.4-7.10-14 von Margot Käßmann

Prof. Dr. Dr. h.c. Margot Käßmann
 
Predigt über Jeremia 29,1.4-7.10-14
Christuskirche Stuttgart, 28.10.2012
 
Liebe Gemeinde,
wer von Ihnen schreibt noch Briefe? Das ist ja ein sehr bedeutsamer Vorgang. Du musst dich hinsetzen. Denkst an die andere Person, ihre Situation. Und du versuchst, zu raten, zu trösten, vielleicht auch herauszufordern. Vor einiger Zeit habe ich einen Karton geöffnete, der schon seit drei Umzügen ungeöffnet mitgeschleppt wurde. Darin habe ich Briefe meines Vaters gefunden, die er mir vor fast 40 Jahren schrieb, als ich mit 16 in den USA war und Heimweh mich ziemlich plagte. Mein Vater verstarb bald darauf, aber diese Briefe klingen tröstlich über die Jahrzehnte hinweg, ja sie sind anrührend und wie ein kleiner Schatzfund für mich. Leider geht die Briefkultur verloren in unserem Lande. Wir mailen und smsen und skypen und telefonieren – aber was davon wird bleiben, frage ich mich manchmal? Meine Kinder werden keine Kiste mit Briefen finden…
 
In der Bibel sind besondere Briefe erhalten, die Christinnen und Christen seit zweitausend, dreitausend Jahren beschäftigen. Einer ist heute Predigttext. Um diesen Brief wirklich wahrzunehmen, müssen wir kurz zurück blicken auf die Situation, in der er geschrieben wurde: Im Jahr 597 vor Christus eroberte der große babylonische Herrscher Nebukadnezar Jerusalem. Die Stadt wird geplündert und zerstört – wir alle können uns vorstellen, welches Entsetzen, wie viel Gewalt, Vergewaltigung, menschliches Leid das bedeutet. Denken wir nur an die Städte, die unter kriegerischer Eroberung leiden in unserer Zeit von Kabul in Afghanistan bis Aleppo in Syrien, von Tripoli in Libyen bis Timbuktu in Mali und schon haben wir Bilder vor Augen. Der Kampf um eine Stadt, die Eroberung einer Stadt durch feindliche Truppen bringt entsetzliches Leid für die Zivilbevölkerung mit sich.
 
Nebukadnezar war ein kluger Mann. Nach der Eroberung zwang er das gesamte Königshaus, die Oberschicht, Gelehrte Handwerker und Fachleute, nach Babylon zu gehen. Der Plan ist klar: Sind sie weit weg, werden sich die Stadt Jerusalem und der Staat Juda so schnell nicht erholen, der Wiederaufbau wird schwer, so bald entsteht da keine neue bedrohliche Macht. In Babylon sitzen sie nun fest, die Weggeführten, während der Prophet Jeremia mit einem kleinen Rest im zerstörten Jerusalem verbleibt. Die nach Babylon Verbannten sind trostlos, wie gelähmt, traumatisiert. Sie wissen nicht weiter und können ihr Entsetzen kaum bewältigen. Schreckliches haben sie erlebt. Eine Perspektive für ihr Leben sehen sie nicht. Getrieben sind sie von Entsetzen über das Erlebte, Klage über ihr Schicksal und der Sehnsucht zurück nach Hause.
 
Da schreibt ihnen Jeremia: „...Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären;.... Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's auch euch wohl. .... Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe das Ende, des ihr wartet. ... denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden.... und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen."
Nun könnten wir sagen: Was geht uns das an? 2600 Jahre ist das her, du liebe Güte! Was hat das mit uns zu tun? Es ist ein Trostbrief! Ach und Trost ist ja auch heute manches Mal notwendig, selbst in Stuttgart, wo die einen, die vor einer Woche die Wahl verloren haben Trost brauchen, die Gewinner vielleicht aber durchaus ebenso, weil nach den Höhen des Sieges, die Mühen der Ebene auf sie warten. Mich jedenfalls rührt dieser Brief an und ich denke, wie Jeremia tröstet, können wir durchaus auf uns heute, auch auf unseren Glauben beziehen. Das möchte ich an drei Punkten zeigen.
 
1.Gott ist ja bei euch!
Natürlich haben sich die Verbannten gefragt: Wie konnte Gott das zulassen? Warum wir? Wo war denn Gott, als das passierte? Es ist die große Frage des Glaubens. Wo war Gott? Für uns heute ist schwer zu verstehen, dass die Verbannten meinten, Gott sei nur in Jerusalem zu finden. Jeremia weitet ihr Gottesbild und sagt: Gott ist doch da, bei euch in Babylon, in dieser vermeintlich so gottlosen Stadt. Es ist ein mitgehender Gott. Das Volk Israel hat das immer wieder durchbuchstabiert. Erst meinte es, Gott in der Lade bei sich zu haben auf dem Weg durch die Wüste. Später war es wichtig, Gott im Tempel in Jerusalem zu verehren. Jetzt musste es lernen, dass Gott da ist, auch in der Verbannung an jedem Ort der Erde, wo immer das Volk hin verstreut sein mag. Dieser Gedanke wurde für Israel überlebenswichtig. Im Jahr 70 nach Christus wurde am Ende das ganze Volk in alle Welt vertrieben. Dass Gott mitgeht, nach Argentinien und Kenia, nach Deutschland und Indien, das war entscheidend für den Glauben des Judentums. Und es ist entscheidend für das Christentum. Gott kannst du an jedem Ort finden. Ja, besonders da, wo du Kranke besuchst oder Gefangene, Obdachlose beheimatest und Hungrige speist, das findest du Gott, sagt das Matthäusevangelium.
 
Wo war Gott in der Katastrophe? Auch die Christinnen und Christen hat das immer wieder umgetrieben. Für Europa war das Erdbeben von Lissabon 1755 ein zentraler Punkt für diese Frage. Lissabon wurde zu nahezu 85 Prozent zerstört, zudem überrollte ein 15 bis 20 Meter hoher Tsunami die Stadt. Die meisten der über 60.000 Toten ertranken in den Fluten. Viele Gebäude, die von der Katastrophe verschont blieben, fielen der darauf folgenden, fast eine Woche andauernden Feuersbrunst zum Opfer. Die Katastrophe hatte zwei große Folgen. Eine praktische, die bis heute gilt, nämlich die Maßgabe für ein schnelles und geplantes Handeln. Als der König seinen Staatssekretär Sebastían José Carvalho de Melo fragte, was zu tun sei, sagte der: „Die Toten begraben, für die Lebenden sorgen!“ Das war der Grundstein für modernes Katastrophenmanagement. Neben dieser praktischen Frage gab es auch eine geistige, ja geistliche Erschütterung. Wie kann Gott das zulassen? Diese so genannte Theodizeefrage treibt Menschen immer wieder um, auch jüngst angesichts von Erdbeben, Tsunami und Reaktorkatastrophe in Japan: Wo sind Gottes Engel in solchen Katastrophen, wo ist Gott? Wie kann Gott das zulassen?
 
Ich bin zutiefst überzeugt, die Antwort auf diese Frage lautet: Gott will nicht Leid, Gott straft nicht durch Katastrophen, sondern Gott begleitet Menschen, die Katastrophen erleiden müssen in einer Welt, die, wie wir sagen, „unerlöst“ ist. Erst in Gottes Zukunft, so sagt das Buch der Offenbarung, werden alle Tränen abgewischt sein und Not, Leid und Geschrei ein Ende haben. Diese Welt kennt Naturkatastrophen und menschengemachte Katastrophen, aber in ihnen kennt sie die Spur der Liebe und Begleitung Gottes. Das ist ein erster Trost: Gott lässt sich finden mitten in Leid und Not.
 
2. Beheimatet euch und lasst euch nicht beirren durch falsche Propheten
Jeremia tröstet die Verbannten auch ganz praktisch. Er sagt: nun findet euch da ein, wo ihr seid! Pflanzt Bäume, baut Häuser, gründet Familien. Wahrscheinlich war das nicht ganz der Trost, den die Verbannten hören wollten. Schon wieder nervt dieser Prophet. Und o ja, er könnte sage: ich hab es doch gesagt! Er hatte immer wieder dazu gedrängt, zu kapitulieren, um die Menschen, die in Jerusalem lebten, vor dem Schlimmsten zu schützen. Aber die militärische Führung setzte auf Sieg und das führte in die Katastrophe. Aber Jeremia ist nicht rechthaberisch in seinem Brief, er schaut nicht zurück, sondern blickt auf die Gegenwart. Und für die ermutigt er erst einmal. Das schafft ihr schon! Auch wenn es euch schlecht geht, verzagt nicht! Macht halt das, was gerade möglich ist. Lasst euch nicht einflüstern, wir schlimm alles ist, sondern seid pragmatisch. Oja, auch Pragmatismus kann manchmal Trost sein! Auch da, wo du versagt und Schuld auf dich geladen hast, bleibt dein Leben sinnvoll vor Gott. Und: es gibt Wege in die Zukunft. Hab Gottvertrauen im Leben und im Sterben. Gewiss, wir verstehen Gott nicht immer, es bleibt der „deus absconditus“, der verborgene Gott, wie Luther sagt. Wie anders könnte es auch sein, sonst wären wir ja die Gottversteher, die alles über Gott wissen. Gott wäre unsere Marionette.
 
In der Ermutigung, der Stadt Bestes zu suchen aber, liebe Gemeinde, ist der Brief natürlich auch politisch. Beheimatet euch. Suchet der Stadt Bestes und betet für sie! Ich lebe in Berlin. Viele, die aus anderen Ländern gekommen sind, sehnen sich inzwischen nach der Heimat, wollen zurück, irgendwohin an einen Ort, wo sie sich nicht dafür rechtfertigen müssen, dass sie da sind. Bleibt hier! Gründet Familien, baut Häuser, pflanzt Bäume – das ist ja auch ein Programm zur Integration! Es ist eine Ermutigung zum Zusammenleben in einer Stadt, auch in einer Stadt wie Stuttgart. Beheimatet euch, die ihr hergekommen seid. Und die ihr von hier stammt, heißt sie willkommen, die Fremden, ja heiratet sie, ermutigt sie, Häuser zu bauen und Familien zu gründen. Das ist ein zweiter Trost: auch wenn du alles verlierst, kannst du dich neu beheimaten an fremdem Ort. Viele Flüchtlinge in aller Welt sehnen sich danach. Und viele haben es erfahren, auch viele deutsche Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg.
 
3. Hoffnung auf Zukunft
Jeremia bleibt aber nicht stehen beim Beharren auf dem Status quo. Zum einen ermutigt er zum kritischen Denken: Lasst euch nicht verführen! Nicht durch Ideologien und nicht durch Heilspropheten. Auch das kann ich gut nachvollziehen. Die Sehnsucht zurück, sie wird doch allzu gern genutzt. Zu Revanchismus etwa: „Wir wollen unseren Besitz zurück“. Oder zu Abgrenzung: „Hier sind WIR und da sind DIE“. Oder für Ideologie: „Hier sind die wahren Helden, die Rechtgläubigen, die Ausgezeichneten“. Trost kann also auch Ermahnung sein, sich nicht hinreißen zu lassen von solchen Einflüsterungen. Und er macht Hoffnung, dass auch alles ganz wieder anders werden kann, dieser Prophet. Seid offen dafür. Am Ende des Briefes sagt Jeremia: Gott wird ja doch nicht auf Dauer zornig bleiben! Gott hat gute Gedanken für euch. Da ist ein Hoffnungsschimmer, es kann anders werden, ja es wird anders werden, habt Geduld.
 
Martin Luther wird oft als massiver und heftiger Redner gesehen. Er konnte aber auch Seelsorger sein, das finde ich anrührend zu entdecken. Als er hört, dass ein Bekannter des Lebens überdrüssig ist und Selbstmordgedanken hegt, schreibt er: „O mein lieber Freund, hier ist´s hohe Zeit, dass Ihr Euren Gedanken ja nicht traut noch folgt … sprecht zu ihnen: ‚Wohlan Teufel, lass mich unbehelligt, ich kann mich jetzt nicht um deine Gedanken kümmern .. Ich muss jetzt fröhlich sein, komm Morgen wieder…“. Darum geht es, denke ich: auch in den dunklen Stunden die Zuversicht behalten, dass Gott bei uns ist, dass es Wege in die Zukunft gibt. Nein, das bedeutet nicht: Vertrösten im Sinne von: Glauben als „Opium des Volkes“, das meint ja wohl, Menschen betäuben sich, weil sie Angst im Leben und noch mehr Angst vorm Sterben haben. Gottvertrauen ist entscheidend! Ein dritter Trost ist also: Nichts muss bleiben, wie es ist, es gibt immer wieder Veränderungen im Leben, die uns durchaus überraschen können.
 
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Es zeigt sich also: der tröstende Ton dieses Briefes bleibt über die 2600 Jahre hinweg erhalten. Gott ist ja da, sagt Jeremia. Auch wenn du im Moment nicht weiter weißt: lass dich nicht irre machen in deinem Glauben. Dein Gottvertrauen wird dir helfen, die Herausforderungen deines Lebens zu bewältigen. Das ist Trost, den wir uns gegenseitig zuzusagen haben. Getröstet werden heißt ja: jetzt so sein zu können, meinen Kummer, mein Leid sagen zu dürfen und nicht gleich zu hören: „Reiss dich zusammen!“ Oder abgebügelt zu werden mit einem banalen: „Wird schon wieder“. Und trösten können ist eine wunderbare Chance. Meine besten Momente als Mutter hatte ich, wenn ich trösten konnte, beim aufgeschlagenen Knie oder auch beim ersten Liebeskummer. Trost ist ein sehr persönliches Geschehen, eine wunderbare Beziehungserfahrung. Es ist gut, wenn wir „bei Trost“ sind und das füreinander möglichmachen.
 
Als Christinnen und Christen glauben wir an den Auferstandenen, nicht an einen Toten. Nein, keine Vertröstung. Aber eine Ermutigung zur radikalen Einmischung in die Welt! Die muss übrigens keinesfalls griesgrämig daher kommen. Schon Martin Luther sagte, das Evangelium kann nur mit Humor gepredigt werden. Glaubensheiterkeit ist angesagt!
 
Der Gott Israels ist der Gott, zu dem Jesus Christus, an den wir glauben, sagte: Abba, lieber Vater. Deshalb können wir wagen, die Geschichten Israels zu teilen, den Trostbrief des Propheten auch als Trost für uns zu lesen. O nein. Wir verstehen nicht alles. Wir sind manchmal lebenswund von all dem Leid und der Erfahrung von Unrecht. Aber wir dürfen uns trösten lassen. Ja, beim Propheten Jesaja sagt Gott sogar: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Gott selbst also tröstet. Und das ist nicht Ver-Tröstung, sondern Ermutigung zum Leben mit all seinen Brüchen.
 
Es ist also immer wieder Gottes Trost, den wir weiter geben. Nein, nicht vertröstend! Aber Kraft gebend, damit wir uns einmischen können in eine oft trostlose Welt und etwas weitersagen davon, dass sie getröstet sein soll! Wir können ertragen, wie es ist, aber nichts muss bleiben, wie es ist. Wir können hinschauen auf all das Leid und doch ermutigt bleiben, dass sich etwas ändern kann, ja dass wir etwas ändern können und Gott diese Welt verändern will bis eines Tages in Gottes Zukunft endlich alle Tränen abgewischt sind und Not, Leid, Geschrei und der Tod ein Ende haben. Trostreich! Aber keine Vertröstung!
Amen.