Nur sich selber oder die anvertraute Herde weiden – Predigt zu Hesekiel 34,1-2.(3-9).10-16.31 von Mira Stare
Liebe Schwestern und Brüder,
die heutige Schriftlesung aus dem Buch Hesekiel setzt sich mit dem Hirtenbild auseinander. Hirte ist in der Bibel einer der wichtigsten Alltagsberufe. Die wesentliche Aufgabe des Hirten ist die zuverlässige Sorge für die einzelnen Tiere wie auch für die gesamte Herde. Das Hirtenbild wird in der Bibel und auch im Buch Hesekiel auf die Menschen übertragen, die in der Gemeinde eine Leitungsfunktion in Bezug auf andere Menschen haben. Schließlich wird das Hirtenbild für Gott und im Neuen Testament auch für Jesus verwendet.
Nicht immer werden in der Bibel die Hirten gelobt. Auch im ersten Teil der heutigen Schriftlesung dominiert die kritische Stimme gegenüber den Hirten Israels. Denn sie haben ihre wesentliche Aufgabe, für die ihnen anvertraute Herde bzw. anvertrauten Menschen zu sorgen, völlig vernachlässigt. So bringt die Hauptproblematik bereits der einführende Wehruf zum Ausdruck:
Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? (Hes 34,2).
Die Hirten, die nur sich selber und nicht die Herde weiden, sind keine Hirten. Sie schauen nur auf ihr eigenes Interesse. Dabei sorgen sie nicht mehr für die ihnen anvertrauten Tiere, sondern nutzen und beuten sie sogar aus und das bis zur Vernichtung. So nehmen diese Hirten von ihren Tieren Milch zum Trinken, die Wolle für die Kleidung und das Fleisch der geschlachteten Tiere zum Essen. Ebenso kümmern sie sich nicht um die verletzten oder verirrten Tiere. Demzufolge werden die schwachen und verlorenen Tiere zur Beute und zum Fraß wilder Tiere.
Im Buch Hesekiel greift Gott selber in dieses Geschehen des Ausbeutens ein und kommt zum Beschluss:
Die Hirten „sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen“ (Hes 34,10).
Gott macht klar, dass diesen Hirten seine eigenen Schafe anvertraut sind. Da die Hirten sie aber nicht behütet, sondern ausgenutzt haben, werden sie ihnen genommen. Gott rettet seine Schafe aus ihren Händen. Er selber wird sich nun um sie kümmern. Er wird sie suchen und auf die gute Weide führen. So spricht er eine seiner schönsten Zusagen:
„Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist“ (Hes 34,15f).
Liebe Schwestern und Brüder, auch wenn die Worte aus dem Buch Hesekiel schon vor vielen Jahrhunderten aufgeschrieben worden sind, sind sie noch immer aktuell. Sie möchten nicht nur die Verantwortungsträger*innen in verschiedenen Kontexten (wie zum Beispiel Gesellschaft, Kultur, Politik, Wirtschaft, Religion) ansprechen. Nein, sie stellen jede und jeden von uns vor die Frage: Weiden wir nur uns selbst oder die uns anvertraute Herde? Bemühen wir uns, dass es nur uns selber gut geht, oder auch unseren Mitmenschen? Die Mitmenschen, die uns anvertraut sind, finden wir bereits in der eigenen Familie (Partner*in, Kinder, Eltern, Großeltern, Schwiegereltern und die Mitglieder der erweiterten Familie). Auch in den Bereichen, wo wir mit anderen Menschen miteinander arbeiten und leben, haben wir die Hirtensorge inne. Ebenso bei unseren Nachbaren, Freunden, Bekannten. Nach dem Vorbild Gottes, der sich als Hirte vor allem um seine verlorenen und verletzten Schafe kümmert, sind auch wir motiviert, uns vor allem den Menschen, die in ihrem Leben ausgesetzt, schutzlos, verletzt oder verloren sind, fürsorgend zuzuwenden. Wenn wir unsere Augen und Ohren und vor allem unsere Herzen öffnen, dann werden wir jeden Tag die neuen Möglichkeiten entdecken, wo wir als Hirtinnen und Hirten in unserer Zeit zum Einsatz gerufen sind.
Gott selbst wie auch sein Sohn Jesus Christus gehen uns als gute Hirten voraus. Liebe, Achtsamkeit und Barmherzigkeit sind uns Menschen durch sie geschenkt. Wir können jeden Tag unseres Lebens, sowohl in unseren schönsten als auch in unseren dunkelsten Tagen gewiss sein: Wir können nicht zugrunde gehen. Denn Gott und Jesus, unsere guten Hirten, sorgen für uns und schenken uns jeden Tag neu das Leben und die Gemeinschaft mit ihnen und unseren Mitmenschen. Wir bekommen von ihnen die gute und bleibende Weide und sind von ihnen getragen und versorgt. So brauchen wir nicht mehr ängstlich nur um uns selber besorgt sein und nur uns selber weiden, sondern können unsere ganze Achtsamkeit der uns anvertrauten Herde widmen. Es sind die Menschen, die uns von Gott geschenkt sind, und wir dürfen als Hirtinnen und Hirten für sie tätig sein. Es sind die Menschen, die letztlich Gott selber gehören. Erweisen wir uns als gute und vertrauenswürdige Hirtinnen und Hirten unserer Mitmenschen. Gott und Jesus zeigen uns den Weg und gehen uns als große Hirten mit Liebe und Barmherzigkeit voran.
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„So sehr Schaf ist niemand, dass er nicht auch Hirte wäre.“ - Predigt zu Hesekiel 34,1-16 von Klaus Pantle
Und des Herrn Wort geschah zu mir: Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut. Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut, und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder sie sucht. Darum hört, ihr Hirten, des Herrn Wort! So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: Weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten, darum, ihr Hirten, hört des Herrn Wort! So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen. Denn so spricht Gott der Herr: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. Ich will sie aus den Völkern herausführen und aus den Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und wo immer sie wohnen im Lande. Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.
1
Ein schmächtiger schwarzer Junge rennt aus dem Schulhof heraus eine abgerissene Straße entlang. Er wird verfolgt von einer Meute stärkerer Jungs. In letzter Not flüchtet er sich in ein leer stehendes Haus. Es gelingt ihm, die Tür von innen zu verbarrikadieren. Bedrohlich treten die Verfolger dagegen. Mit dieser Szene beginnt Barry Jenkins Film „Moonlight“. Dann hält die Kamera direkt auf das Gesicht des geflüchteten Kindes. Dieses blickt direkt in die Kamera und schaut von der Kino-Leinwand herab den Zuschauern unvermittelt in die Augen. Durch das Antlitz des zehnjährigen Jungen und die großen Augen in dem dunklen Gesicht sieht man direkt in sein Innerstes: Man erkennt die Ängstlichkeit, das Hilfsbedürftige und Erduldende, das Unnahbare und Schüchterne. Das Kind verharrt in seinem Versteck auch nachdem die Meute abgezogen ist. Bis es wieder an der Türe rüttelt, von außen ein Fenster herausgerissen wird, ein bulliger schwarzer Typ ins Innere steigt und das verängstigte Kind anlächelt. „Was machst du hier drin, kleiner Mann?“ Und als das Kind nichts sagt: „Sprichst du nicht mit Fremden?“ Alle Versuche des Großen, den Kleinen zum Sprechen zu bringen, scheitern. Schließlich lädt er ihn zum Essen in ein Fastfood-Restaurant ein. Amüsiert beobachtet der Große, wie der Kleine wortlos das Essen in sich hineinschlingt. Dann nimmt er ihn mit nach Hause, wo er mit seiner Freundin lebt. Noch immer ist das Kind hungrig. Es isst und schweigt. Sie lassen ihn über Nacht bei sich schlafen. Am nächsten Morgen erst sagt er, wo er wohnt und der bullige Mann bringt ihn nach Hause zu seiner Mutter.
„Moonlight“ erzählt die Geschichte von Chiron, genannt „Little“, der in Liberty City in Miami groß wird. Das ist ein Viertel voller Armut, kinderreicher Familien, Drogen und Gewalt. Und er erzählt auch von der Rolle, die Juan, der Dealer mit Brillant im Ohr und dickem Auto und dessen Freundin Teresa in seinem Leben spielen. Juan und Teresa gleichen fraglos und mit großer Zärtlichkeit etwas von dem aus, was die cracksüchtige Mutter nicht leistet. Sie schenken dem Kind Sicherheit und Geborgenheit.
Als Juan Tage später nach Hause kommt, sitzt Little in seinem Garten. Juan nimmt ihn mit zum Strand. Mit Mühe gelingt es ihm, den ängstlichen Kleinen, der nicht schwimmen kann, ins Wasser zu locken. Der Große hält den Kleinen so, dass dessen Körper schwerelos im Wasser treibt. „Ich halte dich, das versprech’ ich Dir. Ich lass’ Dich nicht los.“ Und als er es selbst schafft, sich treiben zu lassen: „Ja, du kannst es. Du bist in der Mitte der Welt.“ Juan und das Wasser tragen das Gewicht dieses kleinen Körpers mit all der tragischen Schwere, die mit seiner sozialen und sexuellen Identität einhergehen und ihn zum Mobbing-Opfer machen. Diese Szene zeigt die intime Erfahrung, den eigenen Körper in seiner Schwere zu erfahren, um diese Schwere irgendwann aufzugeben und sich anderen Menschen hingeben zu können. Dabei erinnert die Inszenierung an eine Taufe. Der „Täufer“, spanisch „ Juan“, deutsch „Johannes“, vermittelt dem Kind: „Du kannst mir vertrauen. Du kannst überhaupt vertrauen. Und du bist unendlich wertvoll.“ Zur Stärkung des Selbstwertgefühls verwendet er ein Bild aus der Erinnerung an seine eigene Kindheit auf Kuba: „Im Mondlicht wirken schwarze Jungen blau“, sagt er zu Little. Wer blau schimmert leuchtet von innen heraus.
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Das Bild vom Hirten und der Herde ist bis heute wirkmächtig geblieben, auch wenn den meisten von uns Hirten und Schafherden höchstens noch im Urlaub begegnen. In diesem Bild kommt eine in der menschlichen Seele tief verwurzelte Sehnsucht nach behütetem Leben zum Ausdruck. Es ist das Bedürfnis nach einer Existenz in Geborgenheit, in der ich mich sicher weiß vor Anfechtungen und Gefahren und mich in der Obhut einer Macht befinde, die die Kraft hat, sich durchzusetzen. Es ist eine Macht, die Lebensraum gewährt, wo Quellen sprudeln und ungetrübte Gemeinschaft erlebt werden kann.
Vermutlich gibt es dieses Sehnsuchtsbild seit Kain und Abel. In der altorientalischen Königsideologie, auf die sich der Prophet Hesekiel bezieht, gleicht ein guter König einem Hirten, der sein Volk bewahrt. Die äußeren Feinde wehrt er ab, im Inneren sorgt er für Recht und Gerechtigkeit und sichert die Lebensgrundlagen. Wirkmächtig ist über die Jahrhunderte auch die antike Vorstellung vom Land Arkadien geblieben, von dieser Idylle, wo Schäferinnen und Schäfer in trautem Glück mit ihren Tieren in einer traumhaft schönen Landschaft leben. Noch in der Romantik träumt man von diesem Land, wo die Zitronen blühen.
Allerdings grätschen alttestamentliche Propheten mit brutalem Realitätsbewusstsein in diese Bildwelt hinein und weisen auf ihre dunkle Rückseite hin. Hesekiel zeichnet das Bild von den schlechten Hirten und kritisiert auf allgemeingültige und zeitlose Weise alle, die in der religiös-politisch-sozialen Verantwortung stehen und diese missbrauchen: Im Blick auf das Israel seiner Zeit sind das König, Priester, Propheten, Adlige und Älteste. Sie sind schlechte Hirten, narzisstisch auf das eigene Wohlbefinden bedacht, stets in Sorge für sich selbst statt für die ihnen anvertraute Herde. Für sie „ist die Herde der Befehle empfangende Mensch“ (Sema Kaygusuz), über dessen Körper sie bedingungslose Macht ausüben. Deshalb werden diese schlechten Hirten dem göttlichen Gericht unterworfen. Gott entzieht ihnen das Hirtenamt und macht sie zu Nichten. Denn ein Hirte ist ohne seine Herde nichts.
Die menschliche Grunderfahrung der Orientierungs- und Schutzlosigkeit kennt jeder. Manche suchen darin einfache Antworten und laufen Menschen nach, die einfache Antworten geben. Das gilt im politischen wie im religiösen Bereich. Das scheint erst einmal bequem zu sein, aber das geht selten gut aus. Allzu oft betrügen solche Führer die Herde, die aus einfältiger Sehnsucht nach Sicherheit ihnen alle Macht übertragen hat, und führen sie in den Abgrund. Insofern ist das Bild vom Hirten und der Herde auf Menschen übertragen immer zwiespältig. Ohne Zweifel brauchen wir Menschen, die uns in bestimmten Situationen unseres Lebens helfen, unseren Weg zu finden. Aber solche Hirtinnen und Hirten sind zumeist Menschen, die vielschichtige und durchaus widersprüchliche Persönlichkeiten sind wie zum Beispiel der Dealer Juan aus dem Ghetto. Sie lassen sich nicht einem eindeutigen Muster „schwarz-weiß“ oder „gut-böse“ zuordnen.
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Hesekiel bringt in seiner Gerichtsansage über die schlechten Hirten Gott ins Spiel. Nur er ist in der Lage, die Situation zu klären, Rettung herbeizuführen und Heil zu schaffen. Gott selbst setzt heilsame Seelsorge an seinen Menschen ins Werk. Nicht um das Ausnützen von Menschen geht es, sondern dem einzelnen Menschen zu jener Würde zu verhelfen, die ihm aufgrund seiner Erwählung von Anfang an zukommt. Hirtensorge richtig verstanden ist das aufrichtige Interesse am Menschen, an seinem Lebensweg und an seiner Lebensgeschichte, ohne Hintergedanken und Nebenabsichten. Gott selbst führt seine Menschen hinein in einen Lebensraum, in dem Lebensfülle möglich ist.
Das Klischeebild vom Hirten, der voran geht und dem die Herde nachfolgt, geht sowieso an der Realität vorbei. Ein guter Hirte geht nicht vor der Herde her, sondern hinter ihr. Er hält seine Tiere im Blick. Und weil er alle im Blick hat, merkt er, wenn ein Schaf verloren geht. Auch die Schafe sind nicht so dumm, dass sie ohne Hirten völlig hilflos wären. Es gibt Beispiele, wo Hirten im Gebirge in dichtem Nebel von ihrer Herde über Abgründe zum Ziel geführt wurden. Und es gibt erfahrene Mutterschafe, die versprengte Herdenteile durch gefährliche Landschaften hindurch auf sichere Weidegründe führen. Die Hirten- und Herdenwirklichkeit ist komplexer als man denkt.
Jesus hat das vielleicht besser begriffen als jeder andere. Jesus ist Hirte und Lamm zugleich. Sein Hirtenamt übt er aus, indem er sich in die Herde einreiht. Er wird Lamm, um aus Lämmern und Schafen Hirtinnen und Hirten zu machen. Insofern sind wir als Glaubende Schafe, aber auch Hirten. „So sehr Schaf ist niemand, dass er nicht auch Hirte wäre“ (Karl Friedrich Ulrichs). Jesus lebt uns die richtige Hirten-Haltung vor: die „Misericordia Domini“. „Misericordia“ heißt „Trauerherzigkeit“. Das ist die Fähigkeit, Schwache und ihre Schwäche wahrzunehmen, berührt zu sein vom Elend und von der Verletzlichkeit ihres Körpers und ihrer Seele. Und es ist die Bereitschaft, mit ihnen zu trauern und ihnen zu helfen, sich aufzurichten. Am Beispiel des auferstandenen Gekreuzigten und seiner Trauerherzigkeit wird deutlich, wie Gott in unsere komplexe Welt hineinwirkt und Menschen aufrichtet: „Die Ehre Gottes ist der aufrechte Mensch“ (Irenäus). Das gilt ausnahmslos für alle seine Geschöpfe, aber ganz besonders für die Schwächsten unter ihnen: die Kinder. Wenn nicht in einem Ghetto in Miami, sondern in einer reichen Stadt wie München morgens 3000 hungernde Kinder in die Grundschule kommen, dann ist das ein Zeichen dafür, dass bei uns etwas nicht stimmt. Es ist gut, wenn Ehrenamtliche „Trauerherzigkeit“ zeigen und für solche Kinder Frühstück organisieren. Kein hungerndes Kind ist in der Lage zu lernen. Aber da bräuchte es schon grundlegende sozialpolitische und bildungspolitische Entscheidungen, um diesen Kindern gerecht zu werden. Hirtinnen und Hirten, die hier Verantwortung übernähmen, müssten sich auf die göttliche Perspektive auf diese Kinder einlassen. Gelänge ihnen das, dann würden möglicherweise auch ihnen ganz neue Erfahrungen zuteil. Vielleicht könnten auch sie dann sagen: „Ich hörte das Lachen eines Kindes und sah in der Landschaft einen Bogen“ (Peter Handke).
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Grundsätzlich geht es für uns heute in all dem Getümmel in unserer komplex gewordenen Welt nicht darum, einen perfekten Hirten zu finden oder perfekte Hirtin oder ideales Schaf zu sein. Es geht darum, in dynamischem Wechsel, je nach Situation, beide Eigenschaften zu leben.
Der Film „Moonlight“ zeigt die Entwicklung des kleinen „Little“ zum muskelbepackten Dealer, der sich „Black“ nennt, mit Brillant im Ohr und edlem Retromobil. Am Ende des Films sitzt er mit seinem Kindheits- und Jugendfreud Kevin am Tisch eines schäbigen amerikanischen Diners. Kevin war der einzige, der ihm in der Schule half. Und er war der einzige Mensch, mit dem er jemals eine Liebesszene hatte, als Jugendlicher am Strand. Aber Kevin hat ihn danach an den Schul-Mob verraten. In der letzten Dialogszene des Filmes finden nach langer Zeit zwei Menschen wieder zusammen, die noch etwas vom jeweils anderen brauchen und die dem jeweils anderen noch etwas geben können. Und so öffnet sich für beide überraschend ein neuer Lebensraum.
Das ist vielleicht das Berührendste an dieser Geschichte: wechselseitiges Geben und Nehmen ist selbst durch Scheitern hindurch und darüber hinaus möglich. Man kann einander Hirtin und Hirte sein in fragmentarischem Gelingen. Selbst durch Misslingen hindurch kann man lernen, sich hinzugeben. Selbst unter unmöglichen Umständen sind Wärme und Zuneigung möglich. Vertrauen kann erfüllt werden. Jesu Geist setzt sich durch und gewinnt Gestalt in Menschen. Ein Raum öffnet sich. Sicherheit und Geborgenheit sind spürbar. Sogar Liebe wird Wirklichkeit. Leben in Fülle ist möglich.
Hinweise:
„Moonlight“, Regie: Barry Jenkins, USA 2016, nach dem Theaterstück: „In Moonlight Black Boys Look Blue“ von Tarell Alvin McCraney
Sema Kaygusuz, Der Wahn des Drachen, Süddeutsche Zeitung 22./23.03.2017, S. 18
Karl Friedrich Ulrichs, Göttinger Predigtmeditationen 71/2017, S. 238
https://www.brotzeitfuerkinder.com/
Peter Handke, Die Geschichte des Bleistifts, Frankfurt/M. 1985, S. 202
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Ein neues Herz
Gnade sei mit Euch und Frieden von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder!
Was wäre ein Neujahrsmorgen ohne gute Worte, ohne eine herzliche Umarmung oder einen liebevollen Kuss? Was wäre der erste Tag ohne unsere guten Wünsche für das neue Jahr? Sie gehören unbedingt dazu. Wir spüren es: Sie kommen von Herzen. Neujahrswünsche sind Herzenssache. Sie verraten etwas davon, was mir am Herzen liegt. Wonach ich mich sehne.
Neujahrswünsche können deshalb ganz verschieden sein. War es bei den ersten Wünschen heute Nacht nicht auch so? Die Einen wünschen sich, dass es im neuen Jahr endlich friedlicher wird. Und dafür muss sich viel ändern. Es kann einfach nicht so bleiben, wie es ist. Andere wiederum verdrehen dabei die Augen und sagen: Bitte nicht noch mehr Veränderungen. Ich komme so schon nicht mehr mit. Das geht mir alles viel zu schnell.
So oder so – wir gehen mit sehr unterschiedlichen Erwartungen in das neue Jahr.
Ich persönlich empfinde eine große Ungewissheit. Und ich bin damit nicht allein. Es kann einem bange werden beim Blick auf das neue Jahr.
Nicht allein angesichts der angespannten weltpolitischen Situation. Auch im Alltag ist vieles nicht mehr wie gewohnt. Die Angst sitzt uns im Nacken. Wir wägen ab, was wir tun oder lassen. Und so manches Gespräch mit Bekannten oder Nachbarn ist längst nicht mehr so herzlich wie in früheren Zeiten. Unsere Worte sind unbarmherziger geworden. Aus vielen Herzen ist das Vertrauen gewichen.
Da könnte ein Neujahrswunsch lauten: Fassen wir uns doch ein Herz und gehen wir es beherzt an: mit mehr Vertrauen, mit etwas mehr Mut.
Aber machen wir uns damit nicht etwas vor? Ist das nicht ein frommer Wunsch? Wie die guten Vorsätze, die nach 2-3 Tagen bereits wieder vergessen sind.
Ich bin etwas skeptisch, ob wir mit ein paar guten Ratschlägen unser Herz wirklich verändern können. Denn ich fürchte, unsere Herzen haben ihre eigene Logik. Martin Luther wusste etwas davon, als er es einmal so beschrieb:
Ein menschliches Herz ist wie ein Schiff auf einem wilden Meere, welches die Sturmwinde von allen vier Himmelsrichtungen hin und her treiben: von hierher stößt Furcht und Sorge vor zukünftigem Unglück; von dorther fährt Gram und Traurigkeit über gegenwärtiges Übel; von da weht Hoffnung und Vermessenheit im Blick auf zukünftiges Glück; von dort bläst Sicherheit und Freude über gegenwärtigen Gütern.
Schmeichelhaft ist das nicht gerade. Luther vergleicht unser Herz, also das Innerste eines Menschen, mit einem Schiff, bei dem wir selbst nur sehr begrenzt die Richtung bestimmen. Das vielmehr wie eine Nussschale von den verschiedenen Winden des Lebens hin- und hergeworfen ist.
Manchmal ist alles gut: Da gelingt dir etwas, du wirst gelobt, die Sonne scheint – dann ist das Herz hell und froh. Doch dann braucht es nur wenig, nur ein kleines Übel, und schon sieht alles anders aus. Da wird einem das Herz bang, oder traurig oder wütend. Dann liegt uns etwas auf dem Herzen.
Es ist gut, wenn das Herz noch berührbar ist. Wenn man bei den Bildern aus Berlin oder Aleppo nicht einfach zur Tagesordnung übergeht. Es ist gut, wenn ich ein Herz habe, wenn Sie ein Herz haben, das noch nicht stumpf geworden ist, das noch bluten kann, angesichts des Leids anderer Menschen, der Zerstörung von Kulturgütern, Werten und der vielen menschlichen Ruinen heute.
Es gibt ja auch die andere Erfahrung. Das Herz wird trotzig und stur, zeigt überhaupt keine Regung. Ist wie aus Stein, eiskalt. Einfach nicht mehr zu erwärmen. In Krisenzeiten verengt sich so manches Herz, zieht sich auf seine eigene Position zurück. Herzlos empfinden wir das. Es ist unbarmherzig, wenn es heißt: Was geht mich denn das an? Es ist arm, wenn jemand nur noch sich selbst sieht.
Immer wieder höre ich Sätze, die zielen auf unsere Herzen. Richtige, gute Ratschläge – etwa: es ist Zeit, dass wir unsere Lebenseinstellungen ändern. Oder: wir müssen das und das jetzt unbedingt beherzigen!
Aber wer will das schon hören? Noch dazu am Anfang eines neuen Jahres?
Ganz anders klingt da die Jahreslosung: Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.
Da ist kein: „Du musst…“, kein Imperativ, sondern eine Zusage: Ich schenke euch ein neues Herz. Ich schenke euch das Herz, das vertrauen und – wenn nötig – auch mutig sein kann.
Ist das ein Schlüssel für unseren Weg in das neue Jahr? Dass Gott mir so zu Herzen geht, dass ich mich traue, mir Gott so zu Herzen zu nehmen, dass sich wirklich etwas ändert?
Gott zu vertrauen. Gott zuzutrauen, dass ich nicht so bleibe, wie ich bin. Gott zuzutrauen, dass nichts in unserer Welt so bleiben muss, wie wir es gegenwärtig erleben.
Nichts, woran wir unser Herz scheinbar verloren haben. Aber auch nicht unsere Sorge, nicht der Umstand, dass ich so ängstlich bin, oder dass ich Wut im Bauch habe.
Wie Gott Menschenherzen erreicht, das sehe ich an Jesus. Jesus hat von den Menschen in seiner Umgebung eine achtsame und liebevolle Haltung auch nicht einfach gefordert, er hat sie vorgelebt und vor allem hat er sie hervorgeliebt; aus den Menschen herausgeliebt. Dass Menschen in der Nähe Jesu anders wurden, das hat etwas mit dem Blick zu tun, mit dem Jesus die Menschen ansieht: Es ist ein liebender Blick, der im andern immer schon ein Stück mehr sieht. Die Ungeliebten, die sieht er auf dem Weg sich zu ändern. Die im Innern ausgebrannt sind, die sieht er ihr Herz öffnen für neue Energie, neuen Sinn im Leben.
Die Gebeugten sieht er sich aufrichten, frei werden in ihre wahre Größe und Schönheit. Die Prinzipienreiter sieht er heraustreten aus ihrer ängstlichen Enge. Und die Gewaltsamen, die ihre Sachen oft so brutal durchziehen, die sieht er auf dem Weg in die Schule des Friedens.
Jesus sieht Menschen mit seinem Blick nicht nur äußerlich, sondern innerlich an. Es ist ein Blick in die Tiefe des Herzens. Dort, wo er hinter den Nöten die Sehnsucht der Menschen erkennt. Er sieht nicht nur Probleme, sondern Potentiale. Jesus sieht schon kommen, wie sich die Herzen verwandeln, erneuern.
Ein neues Herz ist ein erneuertes Herz. Ein Herz, das ich bereit bin zu zeigen. So, wie die Vielen, die seit bald zwei Jahren hier in Dresden ganz offenherzig der Aufforderung folgen: Zeig Herz statt Hetze! Herz statt Hass!
„Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seine Einladung, sich ihm anzuverwandeln, ausschlägt“, schreibt die Publizistin Carolin Emcke.
Dem Hass begegnen lässt sich, indem ich die Einladung annehme, mir mein Herz verwandeln zu lassen.
Dann muss ich niemanden aufgeben. Alle haben die Chance, zu einem neuen Herz und einer neue Geisteshaltung zu kommen. Das ist nicht unser Verdienst. Es ist uns von Gott geschenkt. Martin Luther wusste das.
Und was ist mit den hoffnungslosen Fällen? Es gibt Menschen, die werden sich nicht ändern. Wir haben Konflikte, die lassen sich momentan nicht lösen, die bleiben, auch 2017.
Aber das von Gott berührte Herz, ein neues Herz ist ein kraftvolles und starkes Herz. Es kann Spannungen aushalten und dennoch friedfertig bleiben.
Es hat keine Angst vor Veränderungen und kann dennoch gelassen und unverzagt sein.
Gott sagt uns am Beginn des neuen Jahres zu, dass er uns verwandeln will. Mit unserem Leben, mit unserem Zweifel, mit den Fehlern, mit unserem Versagen. und dass er uns zu einer neuen Haltung finden lässt.
Menschen können sich ändern. Amen.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen! und Sinne in Christus Jesus.
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Was mich nicht umbringt - Predigt zu Ezechiel 36,26 von Katrin Berger
„Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“, sagt Nietzsche.1
„Was mich nicht umbringt, macht mich härter“, sage ich.
Härter vor den anderen. Härter zu den anderen.
Umgebracht haben sie mich nicht, aber mir den Atem genommen, sie sind mir an die Nieren gegangen, haben mein Herz gebrochen.
Umgebracht haben sie mich nicht, noch nicht. Aber das Blut gefriert in meinen Adern und alles in mir schreit: „Nie wieder!“
Und ich ziehe einen Zaun. Mit Schild: „Bis hierher und nicht weiter.“
Und zehn guten Pfeilern: „Du sollst nicht: Morden, Ehe brechen, stehlen, falsche Aussagen machen. Und so.“
Ich soll außerdem nicht: Abhängig, schwach, arm oder dick sein.
Jede Menge Stacheldraht habe ich zwischen die zehn guten Pfeiler gezogen.
Aber ob das reicht?
Umgebracht haben sie mich nicht, noch nicht.
Und dann hat der Zaun ein Loch, groß genug für ein Killerkaninchen.
Also baue ich eine Mauer, erst niedrig, nur gegen die Kaninchen.
Dann gegen die Kinder, die Kollegen, meine Freundin Karolin, immer höher, immer dicker.
Du sollst nicht: Zu großzügig, zu hilfsbereit, zu verständnisvoll und interessiert sein.
Ich soll nicht: Zu vertrauensvoll, zu hoffnungsvoll, zu leichtgläubig und zu liebevoll sein.
Dazu zwinge ich dich, dazu zwinge ich mich. So werde ich leben, sicherlich.
Ich zwänge mich ein, grenze mich aus, mauere mich weg.
Immer kleiner wird mein Raum, mein Herz, immer enger.
Immer weiter weg bist du, die anderen.
Nichts kommt mehr rüber, nichts erreicht mich, nichts fließt mehr. Der Blutkreislauf unterbrochen, völlig ausgeblutet. Mein Herz hart wie Stein.
Aber umgebracht haben sie mich nicht, noch nicht.
Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.
Oder härter, enger, kleiner, bis nichts mehr geht.
Und Gott den Notarzt ruft.
Und der kommt und hat neues Blut vom Roten Kreuz.
Und das Blut von jemand anderem fließt durch meine Venen.
Gibt mir neues Leben, und damit mein neues Herz.
Ein Herz, das mich nicht umbringt.
Sondern pulsiert, schlägt, die Mauern aus Stein wegsprengt.
Ein Herz, das wächst, sich weitet auch mal bis zum Zaun. Mit den zehn guten Pfeilern.
Und sich traut, durch den Stacheldraht zu gucken. Nach Kaninchen, Kindern, Kollegen und Karolin.
Mein Herz, das überfließt, mich zu ihnen zieht.
Mein Herz, das nichts weiß über das Sollen, sondern nur das Wollen.
Ich will leben.
Das Kaninchen, die Kinder, meine Kollegen und Karolin auch.
„Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben,“ sagt Gott.
1 Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung, Sprüche und Pfeile, 8
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Kriegskinder - Predigt zur Goldenen und Diamantenen Konfirmation zu Ezechiel 18,1-5.7-9.18-19.31-32 von Margot Runge
Kriegskinder. Predigt zur Goldenen und Diamantenen Konfirmation
Zehn Jahre Unterschied trennen Sie, aber im Grunde gehören Sie zwei Generationen an. Die einen sind die Kriegskinder, die anderen die Nachkriegskinder. Die Diamantenen Konfirmand_innen sind um 1941, 1942 geboren. Als kleine Kinder, also in den prägenden ersten Lebensjahren, kannten sie nichts anderes als den Krieg. Abends wird verdunkelt. Wenn die Sirenen heulen, geht es schnell in den Keller. Viele wuchsen ohne Väter auf. Sie stützten ihre Mütter in der Nachkriegszeit und trugen Verantwortung für die kleineren Geschwister.
Die Goldenen Konfirmand_innen gehören zur ersten Generation, die im Frieden aufgewachsen ist. Als Sie 1950, 1951 geboren wurden, waren die schlimmsten Hungerwinter vorbei. Die Lebensmittelkarten wurden langsam abgeschafft. Fliegeralarm kennen sie nur aus Erzählungen. Es wurde aufgebaut und nicht zurückgeschaut.
Noch etwas unterscheidet Sie: die Mauer. 1966, als Sie konfirmiert wurden, stand sie schon ein paar Jahre. Die Diamantenen hätten noch nach der Lehre, nach dem Abitur in den Westen gehen können. Manche haben es auch getan. Jedenfalls hätten sie sich entscheiden können. Für die Goldenen gab es diese Möglichkeit nicht mehr. Sie mußten hierbleiben, ob sie wollten oder nicht.
Die Generation der Kriegskinder ist in den letzten Jahren in den Blickpunkt gerückt. "Als der 2. Weltkrieg zu Ende war, da war der großen Mehrzahl dieser Kinder nicht anzumerken, was ihnen für ihren Start ins Leben als Gepäck auf die Seelen geladen worden war. Im Gegenteil. Sie gingen auf in ihren Berufen, waren zuverlässig, nicht wenige erfolgreich. Sie machten ihren Weg. Klaglos funktionierten sie auch im privaten Leben. Sie hatten ihre Marotten: Sie achteten darauf, dass die Teller immer leer gegessen wurden. Sie konnten nichts weg werfen. Sie kauften mehr ein als für den Tag nötig. Und nachts, da konnten sie nicht durchschlafen. Sie taten viel für ein harmonisches Zusammenleben. Aber es gelang nicht immer. Sie engagierten sich nahezu selbstlos für die Familie, für die Freunde und für die Kollegen. Der Krieg tobt in den Seelen weiter. Ins Rentenalter gekommen holt der Krieg diese Kriegskinder wieder ein. ... Dunkle Schatten aus der Kindheit legen sich über ihre Tage." (www.kriegskinder-verein.de > Kriegskinder).
Die Goldenen Konfirmand_innen haben all das nicht selbst erlebt. Aber vieles von dem gilt auch für sie. Verletzungen werden oft unausgesprochen an die Nachgeborenen weitergegeben. Wir wissen das aus der Behandlung von Nachkommen von Holocaust-Opfern. Die Nachkriegskinder tragen ihre ganz eigene Last. Ihre Mütter und Väter haben ihre Ängste mitgegeben, auch wenn sie nie darüber geredet haben. Die Traumata wirken weiter.
"Die Eltern haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden", heißt es zur Zeit des Propheten Ezechiel im alten Israel.
Geht es so auch den Kriegskindern, den Nachkriegskindern? Ihre Eltern haben Hitler gewählt oder zugelassen, waren bei der Hitlerjugend oder beim BDM. Sie haben am Straßenrand gestanden und gewinkt, gerufen, gejubelt. Sind in den Krieg gezogen, haben unendliches Leid angerichtet (und viele sind selbst daran zugrunde gegangen). Die Last tragen die Kinder und Enkel weiter. Wie tief sich die Wunden in den Seelen eingraben, wird erst jetzt, über 70 Jahre später, deutlich. "Die Eltern haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden".
Ezechiel hat selbst die Heimat verloren und wurde verschleppt. Für die meisten gab es damals nur ein Gesprächsthema: die Heimat. Zurück in die Heimat. Wenigstens die Kinder, die mit unseren Fehlern nichts zu tun haben.
Gesprächsthema war interessanterweise auch die eigene Mitschuld. Anders als bei uns haben die Leute damals darüber reflektiert, was ihr Anteil daran ist, daß sie deportiert wurden: Ungerechtigkeit, Mißachtung der Regeln für ein gutes Miteinander, die Gott gegeben hat.
Daß die Verletzungen sich über Generationen fortpflanzen, kann ein Ende haben, wenn sie selbst anders miteinander umgehen, sagt Ezechiel, und wird ziemlich konkret (Ez 18,7+8): "Eine gerechte Person beutet niemanden aus. Das Pfand gibt sie denjenigen zurück, die ihr etwas schulden. Sie reißt nichts an sich, was ihr nicht gehört. Vom eigenen Brot gibt sie den Hungrigen. Nackte bekleidet sie. Sie verleiht nicht gegen Zins und nimmt keine Wucherpreise. Von Unrecht hält sie sich fern." Kehrt um und lebt.
Die Schuld der Eltern wird den Kindern nicht zum Verhängnis, wenn sie deren Unrecht nicht fortsetzen. Indem sie es nicht verharmlosen, sondern für sich neu beginnen, verantwortlich, solidarisch, in Gerechtigkeit und engagiert für Arme, Abhängige, Ausgebeutete. So kann die Geschichte anders weitergehen. "Warum wird das Kind nicht für die Schuld der Eltern verantwortlich gemacht", fragen die Heimatvertriebenen von damals: "Weil Sohn oder Tochter Recht und Gerechtigkeit verwirklicht haben."
Sie sitzen heute hier als die letzte Kriegs- und die erste Friedensgeneration. Sie sind zugleich die Generation der 68-er, die ihre Eltern kritisch nach ihrer Verantwortung befragt haben. Die aufmüpfigen 68-er haben im Westen dafür gesorgt, daß das Schweigen gebrochen wurde und Geschichte aufgearbeitet wurde. Karrieren konnten nicht mehr ungebrochen fortgesetzt werden.
Eine ganze Generation ist gegen Verdrängung und Verlogenheit und Doppelmoral auf die Straße gegangen, hat die geltenden Werte auf den Prüfstand gestellt und neue entwickelt: Reformpädagogik, Widerstand gegen den Vietnamkrieg, Eine-Welt-Bewegung, Sexualmoral. Die 68-er haben die großen Fragen angepackt und haben einen Wandel der Gesellschaft in Gang gesetzt, der tiefer reicht als in zwei oder fünf Jahrhunderten vorher.
In der DDR gab es kein 68. Der Prager Frühling wurde mit Panzern beendet, aber wir haben davon profitiert, was im Westen vorgedacht und ausprobiert wurde.
So sind Sie als eine Generation herangewachsen, die vieles anders gemacht hat als die Vorhergehenden. Und aber diese Generation hat auch ihre eigenen Verstrickungen, die in das System der DDR. Sie hat mitgemacht, die Augen zugemacht, hat sich angepasst und vom Nichtwissenwollen profitiert.
Recht und Gerechtigkeit als Voraussetzung dafür, daß es wirklich anders weitergeht – gilt das auch für uns? Da gibt es viel zu tun. Recht und Gerechtigkeit meint in der Bibel immer Gerechtigkeit für die Schwachen, für die Unterdrückten und Hilflosen.
Welche Welt unsere Kinder von uns erben, liegt in unserer Hand. Daß wir ihnen Verletzungen, Schulden und ungelöste Probleme hinterlassen, ist kein Naturgesetz. Daß den Kindern die Zähne stumpf werden, weil die Eltern saure Trauben gegessen haben, soll nach Gottes Willen ein Ende haben, sagt Ezechiel, und Veränderung ist möglich. Wir können uns immer wieder dafür entscheiden, daß wir in Offenheit und Wahrheit leben. Es lohnt sich, wenn wir Gutes um uns verbreiten, in jedem Alter. Jesus lädt uns ein, daß wir solidarisch leben, Junge und Alte, Familie und Fremde, bei uns und weltweit.
Ezechiel 18 i.A.
1 Gottes Wort erreichte mich: Was habt ihr unter euch im Land Israel für ein Sprichwort:
»Die Eltern haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«?
3 So wahr ich lebe, spricht Gott, dieses Sprichwort soll bei euch in Israel nicht mehr in den Mund genommen werden!
4 Denn siehe, jedes Menschenleben gehört mir, das Leben der Eltern wie das Leben der Kinder – mir gehört es.
Jeder, der sich verfehlt, wird sterben.
5 Ein gerechter Mensch ist, wer Recht und Gerechtigkeit verwirklicht:
7 Eine gerechte Person beutet niemanden aus. Das Pfand gibt sie denjenigen zurück, die ihr etwas schulden. Sie reißt nichts an sich, was ihr nicht gehört. Vom eigenen Brot gibt sie den Hungrigen. Nackte bekleidet sie.
8 Sie verleiht nicht gegen Zins und nimmt keine Wucherpreise. Vom Unrecht hält sie sich fern. Zuverlässig schafft sie Recht zwischen den Menschen.
18 Aber sein Vater, der Gewalt und Unrecht geübt habt, wird sterben um seiner Schuld willen.
19 Ihr fragt: »Warum wird das Kind nicht für die Schuld der Eltern verantwortlich gemacht?«
Weil Sohn oder Tochter Recht und Gerechtigkeit verwirklicht haben! Sie haben alle meine Bestimmungen bewahrt und ihnen entsprechend gehandelt. Sie werden lebendig bleiben.
31 Werft alle Rechtsbrüche von euch, die ihr begangen habt habt, und schafft euch ein neues Herz und neue Geistkraft! Warum wollt ihr zugrunde gehen, Haus Israel?
32 Ich habe kein Gefallen am Tod derer, die dem Tod verfallen sind. Kehrt um und lebt!
Hesekiel 18,1-5.7-9.18-19.31-32: Übersetzung in Anlehnung an die Bibel in gerechter Sprache
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Lebens-wandel - Predigt zu Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32 von Christoph Maier
Lebens-wandel
„Du kannst doch jetzt nicht einfach weitermachen, als wäre nichts gewesen? Dein Körper läuft Sturm gegen deinen Lebenswandel, merkst du das denn gar nicht? Du schläfst zu wenig, du isst nicht regelmäßig, du arbeitest viel zu viel und bewegst dich zu wenig. Wenn Du jetzt einfach so weiter machst und dein Leben nicht änderst, dann landest Du eines Tages noch wirklich mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus.“
Sie hatte ja recht - wie meistens. Nur zugeben konnte er das nicht – wie meistens. Schließlich hatte der Arzt rein gar nichts gefunden, kein Befund, keine Diagnose, nichts. Mehr Bewegung weniger Stress, ausgewogene Ernährung - das übliche Programm, wenn die Ärzte nicht mehr weiter wissen. Allerdings, dass es ihm nicht gut geht, das ist eine Tatsache. Sein Großvater war an Krebs verstorben, sein Vater hatte kurz nach Eintritt in den Ruhestand einen Herzinfarkt. War das auch ihm vorherbestimmt? Irgendwie liegt es doch an den Genen.
Die Angst davor hatte die letzten Wochen bestimmt. Fast hätte er sich gewünscht, dass sie beim Screening irgendetwas finden würden. Dann wäre klar, woher die Beschwerden kommen. Eine Operation, ein paar Medikamente und alles würde wieder gut. Auf der anderen Seite ist es auch entlastend, zu wissen, dass rein organisch alles im grünen Bereich ist. Aber dann wird er jetzt wohl tatsächlich sein Leben ändern müssen, wenn er die Warnsignale seines Körpers nicht völlig ignorieren wollte. Aber sein Leben zu ändern, sich einen neuen Lebenswandel anzugewöhnen, das ist alles andere als einfach.
Für den Moment scheint es also so, als habe er es wieder selbst in der Hand. Er müsste nur endlich Anfangen sein Leben zu ändern.
Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«?
So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben. Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat.
Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?
Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die er getan hat, soll er sterben.
Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott der HERR. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt.
Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel? Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott der HERR. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.
Lebens-wandel, ein neues Herz und einen neuen Geist. Neues Denken, neues Tun. Der Ruf zur Umkehr zieht sich durch die biblischen Schriften, wie ein roter Faden. Die Geschichte vom Verlorenen Sohn, die wir als Evangelium heute gehört haben, ist dafür eines der bekanntesten Beispiele.
Lauft nicht ins Verderben, kehrt um, kehrt zurück zu einem Lebenswandel, der das Leben als ein Geschenk Gottes betrachtet. Gott hält es kaum aus, wenn es uns dreckig geht, wenn wir vor die Hunde gehen, wenn eine Gesellschaft von Ungerechtigkeit und Gier bestimmt wird, statt von der Freiheit der Kinder Gottes, das zu tun, was richtig ist.
Was gut und richtig wäre, ist oft noch einfach zu erkennen. Aber danach zu handeln, wirklich sein Leben zu wandeln und umzukehren, das ist schwer. An Ausflüchten, warum die längst als richtig erkannte Umkehr nicht vollzogen wird, hat es schon zu Zeiten Ezechiels nicht gefehlt. Ein bekanntes Sprichwort der damaligen Zeit greift der Prophet auf: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“ Es ist die Schuld meiner Eltern, dass ich kaum Chancen habe. Meine Sozialisation, meine Gene, meine Veranlagung sind schuld. Ich kann eben nicht aus meiner Haut.
Ja, wir stehen in einem unlösbaren Zusammenhang mit unserer Familiengeschichte. Das ist wohl wahr. Aber wahr ist auch, dass jeder für sich, jeder und jede Einzelne, in einem unlösbaren Zusammenhang mit Gott steht.
Gericht und Sünde sind die Vokabeln, die diesen unlösbaren Zusammenhang in biblischer Sprache deutlich machen. Mit anderen Worten der biblischen Tradition können wir auch sagen, der Zusammenhang zwischen Gott und Mensch wird durch die Worte: „Glaubensgerechtigkeit“ und „Verantwortung“ gekennzeichnet.
Unser Predigttext spricht davon, dass wir am Leben bleiben, wenn wir uns an unserer Gottesbindung, an sein Recht und seine Gerechtigkeit halten. Gerade dort, wo uns unsere irdischen Bindungen nicht so recht ins Leben kommen lassen, ist es wichtig, sich diese andere Option, die Option der Gottesverbindung, wach und bewusst zu halten. Gerade dort, wo wir an den Hypotheken unserer Herkunft und Lebensgeschichte tragen, ist es eine Option der Freiheit, dass vor Gott nur mein Leben zählt. Mein Leben und der Mut trotz der Verstrickung in meine Vergangenheit immer wieder umzukehren, einen neuen Lebenswandel zu wagen. Am Leben bleiben, nicht nur irgendwie, sondern so wie sich Gott unser Leben gedacht hat: in enger Verbindung mit IHM und in Verantwortung für Recht und Gerechtigkeit auf unserer Welt.
Was das konkret bedeutet, beschreibt Ezechiel so:
Ist jemand gerecht, so handelt er nach Recht und Gerechtigkeit. Er hält auf den Bergen keine Opfermahlzeiten ab. Er blickt nicht zu den Götzen des Hauses Israel auf. Er schändet nicht die Frau seines Nächsten. Einer Frau tritt er nicht nahe während ihrer Blutung. Er unterdrückt niemand. Er gibt dem Schuldner das Pfand zurück. Er begeht keinen Raub. Dem Hungrigen gibt er von seinem Brot und den Nackten bekleidet er. Er leiht nicht gegen Zins und treibt keinen Wucher. Er hält seine Hand vom Unrecht fern. Zwischen Streitenden fällt er ein gerechtes Urteil. Er lebt nach meinen Gesetzen, er achtet auf meine Rechtsvorschriften und befolgt sie treu. Er ist gerecht und deshalb wird er am Leben bleiben (Ezechiel 18,5-9 Einheitsübersetzung).
Ich finde diese Konkretionen einer verantwortungsvollen Lebensführung vor Gott aus einer Gesellschaftsordnung des 6. Jahrhunderts vor Christus auch heute noch spannend zu lesen. Sexualität und sexuelle Gewalt, wirtschaftliche Möglichkeiten und soziale Not, globale Verantwortung und Verstrickung in historische Unrechtsstrukturen, das sind doch auch heute noch die Bewährungsfelder für mein Leben. Ein Leben, das einerseits eingespannt ist in die eigene Familien- und Zeitgeschichte und auf der anderen Seite und in Gottes Geschichte.
Umkehr, Lebenswende, ein neuer Lebenswandel bedeutet, aus Gottes Geschichte heraus einen klaren Blick auf die eigene Zeit- und Lebensgeschichte zu bekommen. Gottes Geschichte mit uns befreit aus Verwobenheit und Verstrickung, befreit uns zum verantwortlichen tun.
Sie kann sich noch gut erinnern. Es war an einem Neujahrsmorgen vor 5 Jahren, an dem sie beschlossen hatte, Ernst zu machen. Sie wollte sich nicht mehr von Ihrer Vergangenheit bestimmen lassen. Stellenweise kam sie sich trotz ihres Alters immer noch vor wie ein Kind, das endlich erwachsen werden muss. Ihr Entschluss stand fest: Damit sollte jetzt Schluss sein.
Es war ein langer Weg bis zu dem Punkt, an dem sie heute steht und sie wusste damals schon, dass es nicht einfach werden würde, dass es Rückschläge geben wird und dass sie es nicht allein schaffen würde. Sie suchte und fand in der Pfarrerin der nahen Kirchgemeinde einen Menschen, dem sie vertrauen konnte. Die Pfarrerin machte ihr Mut und begleitete sie in einer Reihe von Gesprächen. Es gab ihr Kraft und tröstete sie, dass sie wusste: Die Pfarrerin betet für mich. In dieser Zeit wuchs in ihr der Wunsch sich taufen zu lassen, den neuen Lebenswandel, den sie suchte, auch mit ihrem Bekenntnis nach außen sichtbar zu machen. Im Gottesdienst, indem Sie getauft wurde, wurde aus dem 2. Korintherbrief vorgelesen. Sie konnte sich nicht alles merken. Aber das Wort, das ihr die Pfarrerin dann auch in der Taufe als Taufspruch zusagte, das klingt noch heute in ihren Ohren: „Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ (2. Kor 5,17) Erst langsam hat sie begriffen, dass, obwohl sie an vielen Stellen immer noch die Alte war, mit Gott eine ganz neue Dimension in ihr Leben gekommen war. Wie schnell fiel sie wieder zurück in die alten Lebensmuster, wie schnell waren alle guten Vorsätze vergessen und das Leben lief wieder in den eingefahrenen Gleisen. Dann konnte sie sich an ihren Taufspruch klammern. Dann gelang es ihr mit einem inneren Lächeln gnädig zu sein mit ihren eigenen Schwächen und trotzdem wieder neu anzufangen.
Sie traf in der Gemeinde Menschen, die genau wie sie auf der Suche waren nach einem anderen Lebenswandel. Stück für Stück lernte sie zu beten, ihre Beziehung zu Gott wurde stärker. Sie begann sich für die Welt der Bibel zu interessieren und alles, was damit zu tun hatte. Noch heute hat sie so ihre Fragen. Manche Begrifflichkeiten und Rituale ihrer Kirche blieben ihr fremd. Als verlorenes Schäflein oder verlorene Tochter würde sie sich nicht bezeichnen lassen. Aber sie hatte viel gefunden: ein neues Herz und einen neuen Geist. Ihre Gottesbeziehung hat sie verändert und sie kann leben.
Amen
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Transformation - Predigt zu Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32 von Jens Junginger
Transformation
„Hätte hätte Fahrradkette.“
Liebe Gemeinde,
Vielleicht erinnern Sie sich an diesen Ausspruch von Peer Steinbrück beim letzten Bundestagswahlkampf. Dieses, „was hätte man alles anders machen sollen“ wollte er nicht mehr hören. Für ihn galt es nach vorne zu schauen, darauf was er ändern, anders machen, neu gestalten wollte. Eine Kehrtwende kündigte er jedoch nicht an.
Anders der Prophet Ezechiel. Er bedenkt, was anders hätte gemacht werden müssen, damit die schlimme, vernichtende Katastrophe hätte verhindert werden können. Umso entschiedener und engagierter mahnt er mit drastischen Worten und mit großem Enthusiasmus:
Kehrt um, damit ihr am Leben bleibt. Kehrt um zum Leben!
Hören wir was Ezechiel beobachtet, wie er begangenes Fehlverhalten und seine Folgen beurteilt, wie er vor neuen Fehlern warnt und was für ihn Umkehr zum Leben bedeutet:
Hesekiel schreibt:
Das Wort des HERRN erging an mich, er sagte:
2»Was habt ihr da für ein Sprichwort im Land Israel?
Ihr sagt:
'Die Väter essen unreife Trauben und die Kinder bekommen davon stumpfe Zähne.'
3So gewiss ich, der HERR, lebe:
Niemand von euch, niemand in Israel wird dieses Wort noch einmal wiederholen!
4Ich habe das Leben jedes Einzelnen in der Hand,
das Leben des Kindes so gut wie das Leben des Vaters.
Alle beide sind mein Eigentum.
Nur wer sich schuldig macht, muss sterben.
21Wenn aber der Verbrecher umkehrt und das Böse lässt, das er getan hat,
wenn er alle meine Gebote befolgt und das Rechte tut,
bleibt auch er am Leben und muss nicht sterben.
22All das Böse, das er früher getan hat, wird ihm nicht angerechnet.
Weil er danach das Rechte getan hat, bleibt er am Leben.
23Meint ihr, ich hätte Freude daran,
wenn ein Mensch wegen seiner Vergehen sterben muss?«, sagt Gott, der HERR.
»Nein, ich freue mich, wenn er von seinem falschen Weg umkehrt und am Leben bleibt!
24Wenn aber der Rechtschaffene sich vom rechten Weg abwendet
und Böses zu tun beginnt, dieselben Abscheulichkeiten wie der Verbrecher,
soll er dann am Leben bleiben?
Nein!
All das Gute, das er früher getan hat, wird ihm nicht angerechnet.
Weil er mir untreu geworden ist und Böses getan hat, muss er sterben.«
30Jeder Einzelne von euch bekommt das Urteil, das er mit seinen Taten verdient hat.
Das sage ich, der HERR, der mächtige Gott!
Kehrt also um und macht Schluss mit allem Unrecht!
Sonst verstrickt ihr euch immer tiefer in Schuld.
31Trennt euch von allen Verfehlungen!
Schafft euch ein neues Herz und eine neue Gesinnung!
Warum wollt ihr unbedingt sterben, ihr Leute von Israel?
32Ich habe keine Freude daran,
wenn ein Mensch wegen seiner Vergehen sterben muss.
Das sage ich, der HERR, der mächtige Gott.
Also kehrt um, damit ihr am Leben bleibt!«
Es ist keine leichte Kost, die dem Ruf zur Umkehr vorausgeht.
Ezechiel gebraucht deftige Formulierungen und hat befremdliche Vorstellungen:
Jeder Einzelne von euch bekommt das Urteil, das er mit seinen Taten verdient hat.
Weil er mir untreu geworden ist und Böses getan hat, muss er sterben.«
Derartiges hört man heute aus fundamentalistischen religiösen Strömungen.
Auch bei christlichen Sekten und Sektierern, die ihre Kinder z.B. nicht in öffentliche Schulen schicken, sondern selbst aufs heftigste züchtigen.
Offenbar stecken dem Prophet die traumatische Erfahrungen der Zerstörung Jerusalems ziemlichen in den Knochen. Er wirkt traumatisiert angesichts dessen, was passiert war.
Der Tempel wurde zerstört, unzählige Menschen sind umgekommen.
Andere wurden ins Exil deportiert.
Eine menschliche, eine nationale und eine zutiefst theologische Katastrophe hatte sich zugetragen.
Das Unheil, vor dem andere Propheten wiederholt und heftigst gewarnt hatten, war Realität geworden.
Ezechiel spricht von Bösem, von Untreue, von Unrecht und Vergehen, das begangen wurde, mit dem sich Menschen schuldig gemacht haben, gegenüber Gott und Mitmenschen.
So hat die Bevölkerung mit den Machthabern die tödliche Katastrophe selbst mit verursacht. Sie haben sich dabei von Gott und dem Einhalten der Gebote, von den grundlegenden Maßgaben für ihre Glaubenspraxis und für ein gutes Zusammenleben abgewandt.
Ein ganzes Volk und seine Machthaber hatten sich total in politische und militärische Großmachtbestrebungen verrannt und dies als eine göttliche Mission verstanden.
Ein Vorgang, der uns – in Deutschland - mit unserer Geschichte wahrlich nicht fremd ist, 100 Jahre nach dem Ausbruch des 1.Weltkriegs, nach dem Hitlerfaschismus, der Shoa und dem 2.Weltkrieg mit seinen Folgen.
Daher wissen wir auch: Eine Aufarbeitung solcher Katastrophen, in denen Menschen schuldhaft verwickelt waren dauert sehr sehr lange.
Und das ist bei den Folgen nationaler, kriegerischer, terroristischer oder ökologischer Katastrophen nicht anders wie bei Familien- und Beziehungskatastrophen:
'Die Väter essen unreife Trauben und die Söhne bekommen davon stumpfe Zähne.'
Die Kinder, die nachkommenden Generationen müssen zwangsläufig ausbaden, was die Eltern oder gar Großeltern einem eingebrockt oder mitgegeben haben:
geistig, ideell, materiell, sozial, emotional, politisch und psychologisch.
Sie tragen in sich und mit sich, was ihnen einerseits an Werten und Wertmaßstäben, an Weltanschauungen, an Zuwendung aber auch an Vernachlässigung , an Zumutungen, an Traumata, also an Liebe und an Fehlverhalten mitgegeben und überlassen wurde.
Wir hinterlassen unseren Kindern – ob wir wollen oder nicht - eine Erblast.
Da gibt es richtig nette Dinge
Der Gang und die Körperhaltung deines Sohnes gleicht ganz und gar dem deinen, sagen mir Leute. Man erkennt sofort, dass ihr zusammen gehört, von hinten und von vorne.
Oder: Wie er dieser kleine Junge mit seinen Händen und Finger den Sand formte und Teig knetete. Das war dieselbe Bewegung und Haltung der Hände und Finger wie die seines Großvaters, der Bäcker war, den er aber nie kennengelernt hatte.
Nette Vererbungen sind das. Süße Trauben.
Es gibt aber auch die weniger netten Dinge, die sauren Trauben eben:
Unsere Versäumnisse, unsere Störungen, eigene unverarbeitete Traumata und Verblendungen, unseren Lebensstil, unsere materialistische Orientierung und so manche andere Marotten.
Auch die vermachen wir unseren Kindern und Kindeskindern.
Die weben sich in ihr Leben ein und prägen das ihre.
Und manchmal wollen sie sich irgendwann davon frei machen.
So wie sich die 68er Generation von der Erblast ihrer Eltern- NS- und Kriegsgeneration befreien musste.
Als Eltern ist man herausgefordert es hinzubekommen Kinder gerade in ihrem Total-anders-sein-wollen anzunehmen und zu begleiten.
Auch wenn sie sich lossagen von dem, was wir ihnen unbedingt mit auf den Weg geben wollten
Die sauren Trauben machen stumpfe Zähne.
Deshalb analysiert Ezechiel was falsch gelaufen ist fragt, was es daraus zu lernen gilt:
Wenn aber der Verbrecher umkehrt und das Böse lässt, das er getan hat,
wenn er alle meine Gebote befolgt und das Rechte tut,
bleibt auch er am Leben und muss nicht sterben.
Umkehren – um der Zukunft willen. D.h. für den Propheten:
Das Böse lassen, die Gebote befolgen und das Rechte tun.
Und er fordert:
Schafft euch ein neues Herz und eine neue Gesinnung!
Liebe Gemeinde
das erinnert mich an eine historisch entscheidende Erklärung, für dieses Land, für die Christenheit in diesem Land und für die Weltgemeinschaft:
[Es] soll … ein neuer Anfang gemacht werden. Gegründet auf die Heilige Schrift, mit ganzem Ernst ausgerichtet auf den alleinigen Herrn der Kirche gehen sie [die Kirchen]daran, sich von glaubensfremden Einflüssen zu reinigen und sich selber zu ordnen.
Ein neuer Anfang, ein neues Herz, eine neue Gesinnung, von dem diese kirchliche Erklärung aus dem Jahr 1945 spricht, war und ist jedoch nur möglich, wenn zuvor ein Eingeständnis erfolgt: Und so heißt es in der sog. Stuttgarter Schulderklärung:
Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden…. wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.
Liebe Gemeinde
begangene Fehler, Schuld erkennen, Umkehren, neu Anfangen, das schaffen wir nicht allein aus uns selbst heraus, weder politisch noch ökologisch.
Das schaffen wir auch innerhalb unserer familiären Beziehungen, unserer Eltern-Kind, unserer sozialen, gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen nicht aus uns selbst heraus.
Komm heiliger Geist! Mit dieser Bitte endet das Stuttgarter Schuldbekenntnis.
Das erinnert uns: ohne jene Kraft von außen, ohne Rückenwind und Ermutigung, ohne Gottes Entlastung, ohne Gottes gnädigen Zuspruch sind wir nicht imstande wirklich grundlegend umzukehren und neu anzufangen.
Nein - ein neues Herz, das schaffen wir nicht selbst.
Hier will ich Ezechiels Gedanken etwas abwandeln:
Mit Gottes Hilfe und Vergebung können wir uns auf den Weg machen.
Da sollen und müssen wir dann aber auch Verantwortung übernehmen.
Und ganz in diesem Sinn ist der Aufruf des Propheten Ezechiel „Umkehr zum Leben“[1], die Losung einer Bewegung, die daran erinnert, dass die sauren Trauben, die die Eltern und Großelterngeneration von heute gegessen haben, das Überleben ihrer Kinder und tatsächlich Kindeskindern gefährdet.
Denn die sauren Trauben sind angereichert mit:
Steigerung des CO 2 Ausstoßes
Klimaerwärmung
grenzenlosem Wachstum
massenhaftem Ressourcenverbrauch
Überproduktion
Umkehr zum Leben, das heißt für die Zukunft unsere Kinder und Kindeskinder, dass sie sich von liebgewonnenen Verfehlungen, dem Versagen und dem Unrecht ihrer Vorfahren trennen und wieder lernen müssen einfacher und mit weniger zu leben. Da müssen sich Konsum und Lebensstile verändern, so dass die globalen Treibhausgase in den kommenden Jahrzehnten auf ein absolutes Minimum sinken. Die Art wie wir produzieren und wirtschaften bedarf einer grundlegenden Transformation.[2]
Umkehr, Neubeginn, Neuanfang, dafür ist es nie zu spät. Kraft der Taufe ist es für uns Christenmenschen immer wieder neu möglich. Das veranschaulicht das Bild des Labyrinths,[3] das z.B. in der Kathedrale von Chartres seinen Platz gefunden hat.
34 Kehren beinhaltet es, Kehrtwenden, Neubeginne und Neuanfänge. Auf einem 265 m langen Weg. Ein Weg, der unseren verschlungenen und umkehrreichen Lebensweg abbildet, als Eltern, Kinder und als Gesellschaft. Und im Zentrum steht eine Kehre um 180 Grad.
Sie steht für Transformation durch uns und mit Gottes Hilfe, für ein gutes Leben, für ein Leben im Einklang mit der Zukunft dieser Schöpfung und der kommenden Generationen[4].
Also kehrt um!
Amen
[2] www.epd.de/landesdienst. Abgerufen am 29.6.2014
[3] Den Hinweis auf das Labyrinth von Chartre verdanke ich Matthias Freudenbergs Predigtmeditation zum 3. Sonntag nach Trinitatis in den Göttinger Predigtmeditationen, S.333-339
[4] Vgl dazu : Menschen Klima Zukunft? Wege zu einer gerechten Welt, Jahrbuch Gerechtigkeit V, 2012
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Saure Trauben - Predigt zu Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32 von Michael Nitzke
Saure Trauben
Liebe Gemeinde,
"Morgenstund hat Gold im Mund." Ja, die meisten von Ihnen können sich bei diesen Worten jetzt bequem in der Kirchenbank zurücklehnen. Sie sind früh aufgestanden, haben am Sonntag, die richtige Entscheidung getroffen und sind zur Kirche gegangen, um den Gottesdienst zu erleben.
Für viele Leute ist ja der Sonntag, der einzige Tag, an dem sie meinen, mal richtig ausschlafen zu können, aber denen halten wir entgegen: "Der frühe Vogel fängt den Wurm."
Vielleicht haben sich auch manche wieder die Decke über den Kopf gezogen, während Sie das Haus Richtung Kirche verlassen haben. Das sind diejenigen, für die der frühe Vogel nur jemand ist, der ihnen mit seinem Gezwitscher am frühen Morgen den Schlaf raubt. "Lass ihn reden!", denken Sie, "Jeder Vogel zwitschert so, wie ihm der Schnabel gewachsen ist."
Manch einer denkt nun vielleicht in seiner Kirchenbank: "Was ist der Pastor denn heute für ein komischer Vogel. Er predigt in Sprichwörtern! Mit dem ist bestimmt heute nicht gut Kirschen essen. Er sollte mal lieber das machen was, sich auf der Kanzel gehört, und aus der Bibel predigen. Also: Schuster, bleib bei deinem Leisten. Aber die Kirschen aus Nachbars Garten schmecken ihm wohl heute besser."
In Ordnung! Ich gelobe Besserung!
Der heutige Predigttext steht beim Propheten Hesekiel im 18. Kapitel:
1 Und des HERRN Wort geschah zu mir: 2 Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«? 3 So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel....
Entschuldigen Sie bitte, dass ich unterbreche, also das Sprichwort steht da wirklich drin, das war ich jetzt nicht. Aber Gott hat von diesem Sprichwort wohl auch genug. Und er macht es auch mit starken Worten deutlich: 3 (GNB) So gewiss ich, der HERR, lebe: Niemand von euch, niemand in Israel wird dieses Wort noch einmal wiederholen!
Das hat gesessen, da gab es wohl einen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Niemand soll dieses Sprichwort noch mal sagen! Wie hieß es noch gleich? »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«?
Ich würde ja auch lieber süße Trauben essen, doch die hängen ja bekanntlich meistens zu hoch.
Ja, mit Sprichwörtern wurde auch damals schon mache Rede gewürzt. Aber warum ist gerade dieses damals verboten worden? Und stimmt das überhaupt? Bekommt man von sauren Trauben stumpfe Zähne? Das Stumpfsein ist sicher nur so ein Gefühl. Wahrscheinlich hat man so einen komischen Geschmack von der Säure im Mund, dass sich die Zähne pelzig anfühlen. Aber, dass das über Generationen hinweg funktioniert? Dieser Geschmack im Mund ist doch nicht erblich, so dass die Kinder immer noch ein komisches Gefühl im Mund haben.
Nun, das ist gerade das Problem, denn die Sache, die hier vom Propheten Hesekiel verhandelt wird hat einen schalen Geschmack, und zwar mehr, als das berühmte "Geschmäckle", von dem heute so gerne geredet wird.
Anders gesagt, das mit den sauren Trauben und den stumpfen Zähnen bedeutete eigentlich, dass die Kinder die Suppe auslöffeln mussten, die die Eltern ihnen eingebrockt haben. Ja, und das geht ja eigentlich nicht. Damit soll Schluss sein. Es muss doch wohl jeder einsehen, dass jeder vor seiner eigenen Türe kehren muss. Die Strafe folgt doch normalerweise auf den Fuß! Warum muss das Kind das ausbaden, was der Vater falsch gemacht hat?
Genau damit soll ja auch Schluss sein, jeder muss für seine eigenen Fehler einstehen.
Nachdem wir das geklärt haben, könnte es nun weitergehen im Text. Also:
3 So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. 4 Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben....
Oh, jetzt wird es schwierig. Gerade dachten wir noch: 'Gut, dass man sich nicht zum Sklaven von Sprichwörtern machen muss!', und jetzt ist hier von Sterben die Rede, und wieder werden Väter und Söhne in einen Topf geworfen.
Ja, es ist nicht einfach, Texte, die 2.500 Jahre alt sind, heute einfach so zu verlesen. Manche Reizwörter, verlocken uns zum inneren Abschalten. Wieso sterben? Heute muss keiner mehr sterben, nur weil er mal was falsch macht.
Gut, jeder muss für seine eigenen Fehler gerade stehen, und das verantworten, was er tut und lässt. Und dann muss er im Extremfall auch eine Strafe auf sich nehmen.
Ja, und genau das will Hesekiel hier seinen Hören sagen: Gott will keine Sippenhaft. Niemand soll für die Sünden der Väter büßen. Jeder muss aus seinen eigenen Fehlern klug werden. Genau das sollen diese Worten ausdrücken, die sich so schlimm anhören. Heute muss bei uns jedenfalls keiner mehr für seine Vergehen sterben, wenn es nach Recht und Gesetz geht. Er muss aus seinen Fehlern lernen, und wieder in die Spur kommen, wenn er auf die schiefe Bahn geraten ist. Diese Erkenntnis lesen wir ja öfter in der Bibel, allerdings nicht an dieser Stelle. Aber spätestens bei der Geschichte vom verlorenen Sohn, die heute in der Evangeliumslesung dran war, merken wir ja, dass keiner mehr für seine Dummheiten sterben muss, und jeder die Chance hat zurückzukommen. - Also weiter im Text:
21 Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. 22 Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat....
Na also, es geht doch. So hören wir die Worte des Propheten gerne: 22(GNB) All das Böse, das er früher getan hat, wird ihm nicht angerechnet. Weil er danach das Rechte getan hat, bleibt er am Leben. Und es geht auch noch so versöhnlich weiter:
23 Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? ...
Ja, unser Gott ist ein Gott der Lebenden. Der, der das Leben geschaffen hat, freut sich nicht an dem Tod. Er möchte wirklich seine Kinder lebendig sehen. Deswegen will er nicht, dass die Kinder für die Sünden ihrer Väter büßen müssen. Deshalb will er, dass jeder für sich verantwortlich lebt, und dabei sein Tun und dessen Folgen bedenkt.
Hören wir, wie es weiter geht:
24 Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die er getan hat, soll er sterben.
Da ist es wieder dieses unschöne Wort. Droht uns Gott doch mit dem Tod? Ist die schwarze Pädagogik früherer Zeiten, denn immer noch nicht aus den Predigttexten verschwunden? Ja, auch wenn wir sagen, "Gott meint das nicht so! Er sagt es nur so, damit die Menschen auf den richtigen Weg kommen.", auch dann fragt man sich, ob das heute noch der richtige Weg ist, so mit dem Thema umzugehen. Aber man muss hier einfach noch mal an die zweitausendfünfhundert Jahre denken, die zwischen diesem Text und uns liegen. Früher war auch die Erwartungshaltung des Zuhörers eine andere. Man war ja damals bereit, die Kinder für die Sündern der Eltern verantwortlich zu machen, denken wir an die sauren Trauben der Väter und die stumpfen Zähne der Kinder. Und man wollte auch harte Strafen sehen. Vielleicht lag das auch daran, dass die Wirklichkeit oft eine andere war. Auch das spiegeln Texte aus dieser Zeit vor 2.500 Jahren wieder. In einem Psalm heißt es:
Siehe, das sind die Gottlosen; die sind glücklich in der Welt und werden reich. Soll es denn umsonst sein, dass ich mein Herz rein hielt und meine Hände in Unschuld wasche? (Ps 73, 12-13)
Es ist nicht einfach der Neid der Besitzlosen, der ein hartes Handeln an den Begüterten fordert. Es ist das Gefühl, dass es sich nicht lohnt, ein guter Mensch zu sein, wenn es den Bösen doch so gut geht. Wer sich diese Stellen über die Gottlosen in den Psalmen einmal näher anschaut, der sieht, dass Gott geradezu bedrängt wird, mit diesen Menschen ein Ende zu machen. Und auch heute gibt es viele Menschen, die sagen: "Warum bemühe ich mich ein guter Mensch zu sein, wenn es den Skrupellosen, doch so viel besser geht?" Und wir erwischen uns manchmal selbst bei solchen Gedanken. Aber es hilft nicht, heimlich zu denken: "Rübe runter!" Ich muss sehen, dass ich auch selbst ständig in Gefahr bin, den Weg der Tugendhaften zu verlassen. Und das kann schon dann geschehen, wenn ich einem Böses an den Leib wünsche, auch wenn ich selbst gar nichts Böses tue.
"Selbsterkenntnis ist der erste Schritt auf dem Weg zur Besserung.", sagt der Volksmund. Deshalb muss ich auch wirklich bei mir selbst beginnen. Und da hilft mir der sprichwörtliche Ausdruck unseres Herrn Jesus Christus schon sehr. Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst. (Mt 7,5) Ich kann nicht immer nur die Schuld bei anderen suchen. Ich will nicht für die Schuld meiner Vorväter büßen müssen, aber ich will auch nicht deren Fehler selbst wiederholen. Darum schaue ich auf mich, und versuche mein Verhältnis zu Gott in Ordnung zu bringen. Und die anderen Menschen, die kann ich getrost der Obhut Gottes überlassen, der da sagt: 23 Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?
Wir sollten versuchen, auf Gottes Güte zu vertrauen, und aufhören, ihm Vorschriften zu machen. Er findet einen Weg, seine Geschöpfe auf den rechten Weg zu leiten. Er findet einen Weg ganz gewiss, denn Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden. (Mt 22,32)
Und jetzt versuche ich mit der Lesung des Predigttextes einmal zu Ende zu kommen:
30 Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott der HERR. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt. 31 Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel? 32 Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott der HERR. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.
Ja, Gott will uns nicht alle über einen Kamm scheren. Er sieht jeden einzelnen an. Und jeder hat eine Chance, und nicht nur eine. 31 Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Fangt neu an, Gott gibt euch die Möglichkeit dazu. Und wenn ihr selbst der Überzeugung seid, dass ihr gar nicht neu anzufangen braucht, weil ihr mit frohem Herzen auf dem richtigen Weg seid, dann reicht anderen die Hand. Und ladet sie ein, mit auf diesem Weg zu gehen. Oder helft ihnen, ihren eigenen Weg zu finden.
Erschwert ihnen nicht die Suche nach einem eigenen Weg! Sondern seht auch sie alle als Geschöpfe eures Gottes an, der will, dass sie leben, und zwar glücklich leben! So, wie ihr es auch wollt!
Nun, wer alles dies schon beherzigt, der kann sich nach dem Kirchgang zum Mittagsschlaf auf sein sanftes Ruhekissen legen, und sich an seinem guten Gewissen freuen.
Doch vielleicht wird der Schlaf, dann doch nicht ganz so ruhig, wie erhofft. Denn manches bricht sich auf diesem Kissen trotz guten Gewissens dennoch Bahn. Denn: "Alles, was man vergessen hat, schreit im Traum um Hilfe."1 So schreibt Elias Canetti in unserer Zeit. (Und der heute oft bemühte Volksmund bestätigt es mit den Worten: "Ich will dir's vergeben - aber nicht vergessen."
Hatte nicht Gott selbst, der so manches Sprichwort nie mehr hören will, gesagt, dass er vergessen will? Er sprach doch durch den Propheten: 21 Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, [...] 22 [...] soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden.
An manches Schöne wollten wir immer denken, doch schnell ist es aus den Augen, aus dem Sinn. Und bei manchem gilt, was Francesco Petrarca vor fast 700 Jahren schrieb: "Keine Wunde ist in mir so vernarbt, dass ich sie ganz vergessen könnte."2
Wunden brauchen Zeit zu heilen. Und nach Jahren sieht man manche Wunde kaum noch. Ob die Zeit wirklich alle Wunden heilt, vermag ich nicht zu sagen, aber vielleicht kann man den Heilungsprozess befördern, indem man nicht allzu oft den Finger in die Wunde legt. Eine kleine Geschichte, die ich gefunden habe, mag dabei helfen:
»Zwei Freunde wanderten durch die Wüste. Während der Wanderung kam es zu einem Streit und der eine schlug dem anderen im Affekt ins Gesicht.
Der Geschlagene war gekränkt. Ohne ein Wort zu sagen, kniete er nieder und schrieb folgende Worte in den Sand: "Heute hat mich mein bester Freund ins Gesicht geschlagen."
Sie setzten ihre Wanderung fort und kamen bald darauf zu einer Oase. Dort beschlossen sie beide, ein Bad zu nehmen. Der Freund, der geschlagen worden war, blieb auf einmal im Schlamm stecken und drohte zu ertrinken. Aber sein Freund rettete ihn buchstäblich in letzter Minute.
Nachdem sich der Freund, der fast ertrunken war, wieder erholt hatte, nahm er einen Stein und ritzte folgende Worte hinein: "Heute hat mein bester Freund mir das Leben gerettet."
Der Freund, der den anderen geschlagen und auch gerettet hatte, fragte erstaunt: "Als ich dich gekränkt hatte, hast du deinen Satz nur in den Sand geschrieben, aber nun ritzt du die Worte in einen Stein. Warum?"
Der andere Freund antwortete: "Wenn uns jemand gekränkt oder beleidigt hat, sollten wir es in den Sand schreiben, damit der Wind des Verzeihens es wieder auslöschen kann. Aber wenn jemand etwas tut, was für uns gut ist, dann können wir das in einen Stein gravieren, damit kein Wind es jemals löschen kann."«3
Hoffen wir, dass ein solcher Wind des Verzeihens gemeinsam mit dem Geist Gottes weht, und uns hilft, dass uns nicht selbst jahrelang die Zähne stumpf bleiben, weil wir nicht von den sauren Trauben lassen konnten. Gott will, dass seine Geschöpfe leben. Aber wir unternehmen oft große Anstrengungen, uns das Leben schwer zu machen. Dass der Weg zurück nicht leicht ist, wusste auch schon - erlauben Sie mir ein letztes Zitat - Mahatma Gandhi: „Der Schwache kann nicht verzeihen. Verzeihen ist eine Eigenschaft des Starken.“4 Amen.
Anmerkungen:
1 Elias Canetti, Die Provinz des Menschen: Aufzeichnungen 1942–1972. München: Hanser, 1973, S. 269
2 Francesco Petrarca, Gespräche über die Weltverachtung / Franciscus, zitiert nach (abgerufen am 28.6.2014): http://de.wikiquote.org/wiki/Francesco_Petrarca
3 (Verfasser unbekannt) zitiert nach (abgerufen am 28.6.2014): http://regenbogenklang.gmxhome.de/t3o.htm
4 Mahatma Gandhi zitiert nach (abgerufen am 28.6.2014): http://zitate.net/mahatma%20gandhi.html
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Herztherapie - Predigt zu Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32 von Martin Schmid
Herztherapie
Und des Herrn Wort geschah zu mir: Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden“? So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben.
Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat. Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der Herr, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die er getan hat, soll er sterben.
Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott der Herr. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt. Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott der Herr. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.
Liebe Gemeinde!
Das Leben kann uns Aufgaben stellen, an denen man sich fast die Zähne ausbeißt. Ähnlich kann es uns gehen bei manchen Texten. Auch die Worte des Propheten Hesekiel machen es Lesern und Hörern nicht leicht. Unverkennbar ist aber, dass sie heilen wollen, nicht verurteilen. Menschen sollen dem Tod entrissen und fürs Leben gewonnen werden. Deshalb könnte es ganz im Sinne des Propheten sein zu überlegen, wie seine Worte wohl klingen würden, wenn er nicht wie ein Richter sprechen würde, sondern eher wie ein Arzt. Stellen wir uns also vor, hier würde nicht verhandelt, sondern behandelt.
Die Hauptperson einer solchen Heilungsgeschichte wäre dann ein Verkrümmter. Also ein Mensch, der mit einem ähnlichen Leiden behaftet ist wie jene Frau, die Jesus einmal angesprochen hat, weil sie sich nicht mehr aufrichten konnte. Außer von dem Verkrümmten handelt eine solche Geschichte von dem Propheten Hesekiel. Er übernimmt jetzt also die Aufgabe des Arztes. Seine aufmerksame Zuwendung gilt diesem Krummgewachsenen. Dessen Krankheit, eine Verbiegung des Rückgrats, ist aber ein verbreitetes Übel, Rückenbeschwerden sind eine Volkskrankheit. Insofern kommt auch das Volk in der Geschichte vor. Das Volk, das sind die Mitbetroffenen, die interessiert zuhören. Das Volk, das sind wir.
Dreifach bedrückt steht der Mann da. Auf ihm liegt die alte Last, die durch Fehler und Versäumnisse der Väter entstanden ist: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“ Aber auch eigenes Tun belastet ihn so, dass man ihm nicht vorwerfen darf, er wolle die Schuld nur auf die Früheren abschieben.
Und durch die Aufforderung, das verfehlte Leben abzuwerfen und von innen heraus neu anzufangen, fühlt er sich überfordert.
Wir, das Volk, das ihm zuhört, werden ihm dreimal Recht geben. Denn wer von der Belastung durch fremdes Verfehlen spricht, der hat Recht. Im Fußball gilt zwar, wie man gesehen hat: wer beißt, muss büßen. Im übrigen Leben aber geht’s oft anders: Während die einen beißen, büßen dafür andere. Die Fehler der Väter zum Beispiel belasten die Kinder. Es gibt eben nicht nur die Gnade der späten Geburt, sondern auch die Last der Erben. Den „Nachgeborenen“ versucht Bertolt Brecht zwar zu erklären „ach, wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein“, und er bittet sie deshalb um Nachsicht. Trotzdem wird sich nichts daran ändern, dass nur wächst, was gesät wurde. Wie soll Gutes wachsen, wo Böses gesät wurde? Ach, die vielen Gedenktage dieses Jahres!
Darüber hinaus ist es doch so, dass Gott selber den Menschen durch Mose hat sagen lassen, ihre Verfehlungen würden sich als eine Art Verhängnis auf die kommenden Generationen auswirken „bis ins dritte und vierte Glied“. Man hat nicht den Eindruck, dass Mose da etwas missverstanden hätte.
Und Recht hat der Verkrümmte noch einmal in dem, wo er annimmt, auch das Leben eines einzelnen Menschen werde verbogen durch die falschen Entscheidungen, die wir getroffen, und die Verfehlungen und Irrtümer, die wir schon begangen haben. Was wir getan haben, bleibt nie ohne Folgen. Die legen sich um uns wie eine Zwangsjacke, die das Leben beengt.
Recht hätte aber auch jeder, werden wir sagen, der sich niedergedrückt fühlt durch das Prophetengebot „mach dir ein neues Herz“. Wir verstehen den Sinn. Die Hilfe für den Patienten soll von innen heraus kommen. Aber wie soll das möglich sein? Die Frage jenes frommen Gesprächspartners Jesu „kann denn ein Mensch von neuem geboren werden?“ war nicht unberechtigt. So legt sich auch für uns die skeptische Frage nahe, ob denn einer in der Lage sei, sich ein neues Herz zu machen. Wer hier „nein“ sagt, hat doch Recht.
Ist Hesekiel dann ein Arzt ohne Verständnis? Nimmt er den Gebeugten vor ihm gar nicht ernst? Er widerspricht. Doch mit seinem Widerspruch hat er bereits den Kampf aufgenommen mit der Krankheit. Und sein Glaube an eine Heilung schafft einen Freiraum für den Menschen, der sich an Gott hält. Nicht das Schicksal bestimmt unser Leben und nicht ein verschuldetes oder unverschuldetes Verhängnis, sondern der Leben schenkende und seinen Menschen zugewandte Gott. Ja, es scheint wirklich so, als habe für den Propheten der eine Sonnenstrahl, den Gott zwischen den Wolken herabschickt, eine größere Bedeutung als der ganze verhangene Himmel und alles Reden von dunklem Verhängnis.
Und nach seiner Einschätzung hat die Hoffnung auf ein neues Herz und einen neuen Geist ein größeres Gewicht als die nur allzu bekannte Klage über die Herzlosigkeit der Menschen und die Vereisung der Beziehungen untereinander. Das erklärt seine verblüffende Weisung: „Mach dir ein neues Herz!“
Es könnte sein, dass sogar der Schock, den diese Aufforderung auslöst, etwas Heilsames an sich hat. Erklärt sie doch die Verkrümmung zum Symptom, indem sie beim Herzen ansetzen will und dort den Kern des Leidens sieht. Deshalb der Vorschlag: Stellen wir uns dieser Herausforderung! Und fragen wir den Propheten, den wir nun weiterhin als einen Arzt verstehen, wie das denn möglich sein könnte. Hesekiel, sag uns, wie kriege ich ein neues Herz?
Die Antwort des Propheten läuft hinaus auf eine Art Herztherapie. Wobei das Herz nun nicht verstanden ist als Organ, sondern als Mitte der Person. Unser Herz könnte sich ändern. Seine Erneuerung beginnt bei dem, wie es sich bindet, wie es wägt und wie es sich zu erkennen gibt.
1. Wir sind nicht nur biologisch gebunden, es gibt auch eine Bindung des Herzens. Und wenn der Prophet bestreitet, dass das Verhalten der Väter zum Schicksal der Kinder wird, dann ergibt sich daraus ein Rat. Er könnte lauten: Such dir selbst einen Vater oder eine Mutter!
Niemand kann sich seine leiblichen Eltern aussuchen. Aber möglich wäre, unter denen, die uns vorausgegangen sind, jemand als Vater oder Mutter zu adoptieren. Adoptierte Eltern freuen sich, wenn sie beerbt werden. Sie geben gerne von dem, was ihnen wichtig war, an ihre Nachkommen ab. – Da wäre also zuerst zu überlegen: Von wem möchte ich mir helfen lassen? Von wem nehme ich gerne etwas an? Wem möchte ich ähnlich werden?
Der nächste Schritt wäre dann, für eine gewisse Zeit in den Schuhen dessen zu gehen, den wir gewählt haben. Die Welt eine Zeitlang mit seinen Augen zu sehen. Vielleicht: nach dessen Herz zu leben.
2. Unser Herz wägt die Dinge, die eine Last auf unser Leben legen. Aber was wiegt hier schwer und was wiegt leicht? Die Herzwaage ist anders geeicht als die Vernunftwaage. Auch Hesekiel wägt anders als die vernünftige Lebenserfahrung. Dem ist ein zweiter Ratschlag zu entnehmen:
Leg auf die andere Waagschale – das Leichte!
Auf die eine Waagschale des Lebens drückt das, was uns widerfährt. Auch das, was als Erblast auf uns liegt. Und das, was wir selbst an Belastendem in unserem Leben angehäuft haben. – Um nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen, muss man dann wohl auf die andere Schale etwas legen, was genauso schwer, genauso gewichtig, genauso eindrucksvoll ist. Etwas Bedeutendes wenn möglich! Nein, etwas Leichtes: Die Hinkehr zu Gott. Noch leichter: Gott das Gesicht hinhalten. Die Rabbinen haben, ganz im Sinne Hesekiels, gesagt: Um eines Menschen willen, der die Hinkehr zu Gott vollzogen hat, verzeiht Gott der ganzen Welt.
Es will mir scheinen, als seien die Dinge, mit denen wir uns hinwenden zu Gott, zugleich solche, bei denen uns das Herz aufgeht. Leg also, könnte man deshalb sagen, auf die andere Waagschale all das, bei dem dir das Herz aufgeht!
Das Leichteste wiegt am schwersten.
3. Unser Herz macht uns erkennbar. Wo das Herz spricht, ist das Visier hochgeklappt und die Amtsmiene abgesetzt. Nur mit dem Herzen kann man Antwort geben auf die Frage: Wer bist du eigentlich und wo stehst du? Der Prophet ermuntert uns zu antworten, indem er uns einen dritten Ratschlag gibt: Gib deine eigene Antwort und gib sie mit deinem Herzen!
Es ist schon so, dass das Leben uns Aufgaben stellen kann, an denen man sich fast die Zähne ausbeißt. Und es ist gut, sich dabei zeitweilig helfen zu lassen. Etwa durch ein väterliches oder mütterliches Vorbild. Oder durch einen Propheten, der sich aufs Heilen versteht. Aber schließlich muss - und darf! - ich auf die Herausforderungen des Lebens meine eigene Antwort geben, aufrecht, standhaft, selbständig. Sich hinkehren zu Gott bedeutet: Gott antworten. Aber ich muss nicht die Antwort geben können, die Hesekiel gab. Oder die Antwort, die Luther gab oder Dietrich Bonhoeffer oder sonst einer oder eine von den leuchtenden Großgestalten der Glaubensgeschichte. Nicht mehr als die eigene Antwort wird von uns erwartet. Das ist die Antwort, die wir mit dem Herzen geben. Auf die ich mein Herz drücke wie ein Siegel. So setze ich mein Herz aufs Spiel. So werde ich erkennbar. Ich antworte. Das eigene Leben wird zur Antwort darauf, dass Gott selbst uns aus seinem menschenfreundlichen Herzen heraus bejaht. Und das tut dem Herzen gut. Amen.