Guter Hoffnung! - Predigt zu Lk 1,26-38 (39-56) von Anita Christians-Albrecht
Gnade sei mit euch und Friede von Gott und von unserem Heiland und Bruder Jesus Christus. Amen.
Solche Geschichten gibt es immer noch, liebe Gemeinde. Eine Jugendliche hat mir gerade wieder eine erzählt: Die Geschichte von Vanessa Hudgen, dem großen Star von Highschool Musical. Sie hat geschafft, wovon viele träumen. Kommt aus ärmlichen Verhältnissen und ist nun Hollywood-Star. Vanessa Hudgen – Aschenputtel – Julia Roberts als Pretty Woman: In all diesen Geschichten passiert etwas Wunderbares: Das Leben eines Menschen verläuft auf einmal ganz anders, als man es erwartet.
Eine sehr alte Version dieses bekannten Themas steht in der Bibel. Ich meine die Geschichte von Maria. Maria – wer ist das eigentlich? Eine ganz normale junge Frau aus Nazareth, einer kleinen Stadt in Galiläa. Sie kommt aus einfachen Verhältnissen. Und wie das damals so war, hat man sich etwas überlegt: Maria könnte doch gut den Josef heiraten. Der hat Zimmermann gelernt und ist keine schlechte Partie. Maria wird man nicht gefragt haben. Was sie als junge Frau denkt und fühlt und träumt, spielt keine Rolle. Aber dann passieren auf einmal seltsame Dinge: Maria sieht einen Engel. Heutzutage würde sie vielleicht in der Psychiatrie landen. Das bleibt ihr erspart. Aber es bleibt ihr nicht erspart, dass sie schwanger wird. Ohne dass sie verheiratet ist. Das Ansehen verspielt, die Achtung von vielen verloren. Ein Skandal! So war das damals. Und es kommt noch schlimmer: Was erzählt diese Maria da? Ein Kind von Gott, ganz ohne Mann? Wer’s glaubt, wird selig! Ja, Maria hat eine Begegnung mit einem Engel. Der spricht sie an, wie sie noch nie jemand angesprochen hat: Sei gegrüßt, Maria, der Herr ist mit dir; er hat dich zu Großem ausersehen! Was für eine Begrüßung!
Ich denke, so ein Gruß bedeutet eine ganze Menge. Wenn ich freundlich und herzlich begrüßt werde, wenn ich merke, dass sich jemand wirklich freut, mich zu sehen, dann hat das meistens eine sehr positive Wirkung auf mich. Und genauso kann es niederschmetternd und deprimierend sein, wenn man mich gar nicht grüßt oder mit einem unfreundlichen Tag! abspeist. Ein freundlicher Gruß kann sogar Leben retten. Davon erzählt die Literaturprofessorin Yaffa Eliah: von einem Danziger Rabbiner, der bei seinen täglichen Spaziergängen regelmäßig den deutschen Arbeiter Herrn Müller trifft und ihn immer mit Guten Morgen, Herr Müller! grüßt. Jahre später wird der Rabbiner nach Auschwitz deportiert und steht auf der Selektionsrampe. Er hört die Stimme, die einteilt, schon von weitem: Rechts, links, rechts, links, links … – Vorne angekommen, sieht er dem Mann mit den weißen Handschuhen ins Gesicht. Guten Morgen, Herr Müller! hört er sich sagen – und den anderen antworten: Guten Morgen, Herr Rabbiner! Was machen Sie denn hier? – Und die weißen Handschuhe zeigen nach rechts – zum Leben. Das war die Macht des Guten-Morgen-Grußes! hat der Rabbiner später immer wieder gesagt.
Sei gegrüßt, du Begnadete! Das bedeutet so viel wie: Gut, dass du da bist! Gut, dass es dich gibt! Ich stelle mir vor, dass Maria so etwas noch nicht erlebt hat: Solch einen Gruß, eine so herzliche Botschaft. Und dass sie auf einmal Zuversicht spürt und Energie, Vertrauen und Selbstvertrauen. Da sagte Maria: Ich gehöre dem Herrn, ich bin bereit. Es soll an mir geschehen, was du gesagt hast. Enorm, was der Zuspruch des Engels erreicht. Aber es geht noch weiter: Maria besucht ihre Cousine Elisabeth. Auch sie erwartet ein Kind. Auch sie hat schlimme Zeiten hinter sich. Sie wurde und wurde nicht schwanger. Das war eine Schande im damaligen Israel und wurde entsprechend kommentiert und betuschelt.
Auch von ihr wird Maria auf eine ganz besondere Art und Weise begrüßt: Gesegnet bist du von Gott, ruft Elisabeth ihr zu, auserwählt unter allen Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes! Ave Maria! Auch hier Zuspruch und Ermutigung. Elisabeth freut sich mit Maria über ihr besonderes Kind. Sie verstärkt das, was der Engel gesagt hat. Und auf einmal kann Maria annehmen, was mit ihr passiert. Auf einmal weiß sie: Gott ist bei mir. Er gibt mir Kraft. Er macht aus mir, einer kleinen mutlosen Frau, auf die die Leute mit Fingern zeigen, einen starken und wichtigen Menschen, der eine Aufgabe hat: Zu sagen, wie Gott sich diese Welt vorstellt.
Die Worte, die Maria dann sagt, sind bekannt und berühmt. Ganz oft hat man sie vertont: Mein Herz preist den Herrn, alles in mir jubelt vor Freude über Gott, meinen Retter! Er stürzt die Mächtigen vom Thron und richtet die Unterdrückten auf. Den Hungernden gibt er reichlich zu essen und schickt die Reichen mit leeren Händen fort. Das Magnificat. Der Engel war wichtig. Keine Frage. Aber auch Elisabeth. Ihre Nähe, ihre Worte lösen Maria aus ihrer Starre. Ihre Anerkennung setzt in Maria Kräfte frei. Wenn ich Sie jetzt fragen würde, würden Sie es mir bestätigen? Dass es auch in Ihrem Leben solche Begegnungen gab. Begegnungen, die Sie und Ihr Leben verändert, Sie zu dem gemacht haben, was Sie heute sind. Begegnungen, die vielleicht auch dazu führten, dass Sie sich engagieren, gegen Unrecht und Gewalt Ihre Stimme erheben?
Maria und Elisabeth sind schwanger. Beide sind ‚guter Hoffnung‘! Ein wunderbarer Ausdruck für eine Schwangerschaft – für die Vorfreude, den Blick nach vorne, die Aussicht, dass sich etwas ändert. Das ist eigentlich Advent, oder? Guter Hoffnung sein. Schwanger gehen – auch die Männer – mit einer großen Erwartung. Mit der Erwartung, dass sich etwas ändert. Auch über unseren persönlichen Horizont hinaus. Ich denke, diese tiefe Sehnsucht nach Veränderung spüren viele in diesen Tagen. Sie führt dazu, dass wir uns mit Weihnachten so viel Mühe machen. Wenigstens an diesen wenigen Tagen soll es anders sein, friedlicher, harmonischer, Sinn-voller.
Maria ist überzeugt, dass es irgendwann anders sein wird. Sie spürt es schon in ihrem Bauch. Auch wenn es noch verborgen ist. Und sie erlebt, was viele erleben, die ‚guter Hoffnung‘ sind: Dass die Welt sich schon jetzt verändert, weil sie in Zukunft eine andere sein wird. Der Lobgesang der Maria enthält den Sprengstoff der Hoffnung. Deshalb klebten die Menschen übrigens Marienbilder an die großen Tore der Werft in Danzig. Damals, 1980, als die freie Gewerkschaft Solidarnosc im Widerstand gegen das kommunistische Regime gegründet wurde.
Und heute?
Ich stelle mir vor, dass Lisa von Maria hört. Ihr graut vor Weihnachten. Im September ist ihre Enkeltochter gestorben. An ihrem dritten Geburtstag. Plötzlicher Kindstod. Ohne Erklärung. Der Heilige Abend ohne die Kleine. Wie sollen sie das schaffen? Nein, sie wird wohl keinen Tannenbaum aufstellen.
Ich stelle mir vor, dass Amira von Maria hört. Ihr Sohn ist 2015 nach Deutschland gekommen. Aus Syrien, wo er nicht mehr sicher war. Sie freut sich. Er hat die Sprache gelernt, studiert inzwischen, ist glücklich mit seiner Freundin. Sie skypen und whatsappen – natürlich. Aber manchmal zerreißt die Sehnsucht nach ihrem Kind ihr fast das Herz. Sechs Jahre ist es her seit ihrer letzten Umarmung. 10 Jahre Krieg und Unterdrückung in Syrien. Wie lange soll das noch dauern?
Ich stelle mir vor, dass Lea von Maria hört: Wird sich wirklich etwas ändern? Seit drei Jahren engagiert sie sich für Fridays for Future. Es muss sich doch was ändern, wenn die Welt nicht untergehen soll! Warum begreifen die Menschen das nicht? Und nun Glasgow? Das ist doch alles weit entfernt von dem, was nötig ist.
Maria, der Engel und Elisabeth – was richten sie aus im Dezember 2021?
Auch unsere Wirklichkeit wird manchmal angerührt. Von einem Wunder, von einem Traum, von Ermutigung – durch Gott und andere Menschen. Das hat Maria erlebt. Ihre Begegnung mit der himmlischen Macht und der Zuspruch durch Elisabeth haben ihr Kraft gegeben, haben ihr Mut gemacht.
Lisa, ich weiß, wie dir zumute ist, würde sie deshalb vielleicht sagen. Aber du bist nicht allein. Gott schickt dir Menschen, die dir zuhören. Die mit dir gemeinsam weinen und irgendwann wieder lachen.
Und ihr, Amira und Lea: Ja, noch ist es nicht so. Noch lassen Gerechtigkeit und Frieden auf sich warten. Aber die neue Welt Gottes kommt! Gebt die Hoffnung nicht auf. Und während ihr wartet, könnt ihr schon helfen, dass sie spürbar wird.
Gott kommt in unsere Welt. Für Maria ist das konkret. Sie ist schwanger. Gott wird Mensch. Die Liebe wird zur Welt kommen. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Vor Augen habe ich Menschen, die durch die gegenwärtige (Corona-)Situation sehr verunsichert sind und ihre Gefühlslage als ‚mütend‘ (eine Mischung aus Erschöpfung und Wut) empfinden. Die Botschaft von der Hoffnung zu vermitteln, erscheint mir in diesem Jahr nicht leicht. Marias Geschichte bietet sich deshalb nach meiner Einschätzung an, um mitzugehen, zu erleben und (vielleicht neu) zu hoffen. Dazu möchte ich einladen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
‚Guter Hoffnung sein‘ – einmal mehr erlebe ich diesen Ausdruck als eine wunderbare Beschreibung für den Advent und die Veränderung von Menschen (und Welt) durch die Hoffnung auf eine andere Zukunft. Die Welt verändert sich schon jetzt, weil sie in Zukunft eine andere sein wird (und weil Gott und andere Menschen mir das zusagen) - das ist der homiletische Schlüsselsatz meiner Predigt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
An dem Zusammenspiel von ‚himmlischer' und ‚irdischer' Ermutigung werde ich sicher noch weiterdenken. Lk. 1, 26ff. hat mir noch einmal deutlich gemacht, dass der Zuspruch und die Akzeptanz durch den Engel und die Anerkennung und Ermutigung durch Elisabeth einander ergänzen und befruchten. Beide Begegnungen zusammen schenken Maria Kraft für das, was kommt, so dass sie am Ende sogar das Magnificat singen kann.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die sorgfältige und ausführliche Redaktion durch meinen Predigtcoach war mir eine große Hilfe. Zunächst war mir die Anregung wichtig, insgesamt noch ein wenig zu konzentrieren und zu kürzen. Und wieder einmal hat sich gezeigt: Konzentration tut einer Predigt immer gut. Sehr gewinnbringend fand ich die genaue Beschäftigung mit Begriffen: Was ist Hoffnung? Was ist Sehnsucht? Bei der Hoffnung liegt der Fokus auf der Erfüllung; bei der Sehnsucht auf der Diskrepanz zur Realität. Maria trägt die Hoffnung schon in sich; die Hoffnung hat Aussicht, zur Welt zu kommen.
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13.11.2022 - Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres
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Wenn ihr Glauben hättet... Predigt zu Lk 17,5-6 von Susanne Ehrhardt-Rein
Predigt zu Lk 17, 5-6 mit EG 369
Wenn ihr Glauben hättet …
I. Verschieden glauben
„Mir fehlt nichts.“ – sagt Paul. „Mit dem kirchlichen Glauben kann ich nichts anfangen, von Gott habe ich keine Vorstellung, Religion interessiert mich nicht.“ Schon vor Jahrzehnten war er konsequent und ist aus der Kirche ausgetreten. Obwohl ich ihn schon lange kenne, weiß ich nicht einmal, aus welcher. Glauben: Kein Thema. Aber nach dem Tod seiner Mutter hat er doch die evangelische Pfarrerin aus dem Pflegeheim um die Trauerfeier gebeten. Bibelworte, Gebet, Segen. Glauben: kein Thema?
„Mein Glauben ist damals ganz schön ins Wanken geraten.“ – erzählt ein Pfarrer über sein Theologiestudium. „Plötzlich sollte das alles, was ich aus den biblischen Geschichten kannte, nicht mehr wirklich so gewesen sein. Was war nun richtig? Woran sollte ich mich halten? Aber später verstand ich: Mein Kinderglaube war nicht ungültig. Ich konnte Verstehen und Gottvertrauen neu zusammenbringen.“ Glauben – ein Lebensthema.
„Ich habe keine feste Vorstellung von Gott, der irgendwo im Himmel ist.“ – sagt ein 19jähriger Abiturient. Er fragt sich, wie er als Christ Naturwissenschaften studieren kann und wie er denen begegnet, die in der Bibel einen historischen und zweifelsfreien Tatsachenbericht sehen. Die Sorge um die Erde treibt ihn um, die Klimakatastrophe, der Plastikmüll. Er will nicht einfach zusehen, sondern etwas tun. Er glaubt, dass das nicht umsonst ist. Glauben – ein Grund zum Nachdenken und zum Handeln.
„Ich glaube, dass mich Gott in allem, was ich erlebt habe, nicht verlassen hat.“ – erzählt eine alte Frau. „Manchmal habe ich mit ihm gehadert, zweitweise habe ich ihn vergessen und wollte nichts von ihm wissen. Aber ich glaube doch, dass er mich nicht vergessen hat. Und so wird es bleiben.“ Glauben – im Blick zurück und nach vorn.
So verschieden die Lebenserfahrungen sind – so verschieden sind die Glaubenserfahrungen. Wer will da urteilen und einteilen? Wo ist mehr Glaube, und wo weniger? Welcher Glaube ist größer, welcher zu klein?
Auf die Frage nach dem Ranking – zu klein, zu wenig, zu schwach – lässt Jesus sich gar nicht erst ein. „Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn …“ Ein Senfkorn genügt. Ein Senfkorn würde genügen. Alles ist in einem Körnchen Glauben angelegt. Aber wo finde ich ein Körnchen dieses Glaubens?
II. Wer nur den lieben Gott lässt walten
Mit 19 Jahren machte sich Georg Neumark auf eine weite Reise. Er wurde 1621 in Langensalza bei Gotha als Sohn eines Tuchmachers geboren und wuchs in Mühlhausen auf. Neumark hatte in Gotha das herzogliche Gymnasium besucht und nun, 1640, die Berechtigung, an der Universität zu studieren. In der Tasche: sein Stammbuch, in dem ihm Bildung und Abschluss testiert wurden. Von Leipzig aus macht er sich auf den Weg. Er will nach Königsberg, um dort Jura zu studieren und den berühmten Poesie-Gelehrten Simon Dach zu erleben. Der sicherste Weg nach Königsberg führt von Lübeck aus per Schiff über die Ostsee. Aber eine sichere Reise ist die ganze Unternehmung nicht in diesen Jahren, mitten im 30jährigen Krieg.
Er findet Platz bei Kaufleuten in einer Kutsche. Es geht nach Magdeburg und von dort weiter nach Norden, durch die Altmark. 40 km hat man hinter sich, kurz hinter Gardelegen wird es auf einmal laut, die Kutsche hält. Die Reisegesellschaft wird überfallen und vollständig ausgeplündert. Georg Neumark verliert alles: Kleider, Bücher, Reisegeld. Allerdings kann er sein Stammbuch verbergen, den Ausweis seiner Bildung, seinen wichtigsten Schatz. Er schlägt sich zu Fuß durch, zunächst zurück nach Magdeburg. Er klopft in Gelehrten-Häusern an, weist sich aus und bittet um Unterkunft und Anstellung. Man nimmt ihn auf, aber er findet keine Stelle. Es geht weiter nach Lüneburg, Winsen, Hamburg und endlich bis nach Kiel. Er kommt in das Haus von Amtmann Christoph Hennigs. Der sucht einen Erzieher für seine Kinder und stellt ihn kurzerhand ein. Drei Jahre wird Georg Neumark in Kiel bleiben und erst dann nach Königsberg zum Studium ziehen.
40 Jahre später schreibt er in seiner Biografie rückblickend: „Noch des ersten Tages im Haus des Kieler Amtmannes dichtete ich meinem lieben Gott zu Ehren dieses Lied.“
1. Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn allezeit,
den wird er wunderbar erhalten in aller Not und Traurigkeit.
Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut, der hat auf keinen Sand gebaut.
2. Was helfen uns die schweren Sorgen, was hilft uns unser Weh und Ach?
Was hilft es, dass wir alle Morgen beseufzen unser Ungemach?
Wir machen unser Kreuz und Leid nur größer durch die Traurigkeit.
Georg Neumark hat seine Sorgen, seine Mutlosigkeit, seine Traurigkeit nicht überspielt. Er hat sie benannt und vor Gott gebracht.
III. Sorgen und Gottvertrauen
Grund zur Sorge gibt es genug. Wie schaffe ich den Tag morgen? Werden die Eltern gesund bleiben? Kommen die Kinder zurecht? Wie soll ich die Arbeit bewältigen? Und richte ich nicht gleichzeitig so viel Schaden an durch meinen Konsum, das Autofahren, den dauernden Verbrauch von Dingen und Energie? Nachts kommen die Zweifel am Sinn dieses ganzen Betriebs. Und die Angst vor Zerstörung und Untergang wird ganz real. Manchmal schlagen die Sorgen über mir zusammen wie eine Flutwelle.
„Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn …“, sagt Jesus. Gerade dann.
Der 19jährige Georg Neumark machte eine doppelte Erfahrung: Alle Pläne wurden zunichte. Er konnte froh sein, dass er überlebt hat. Und dann: Menschen sind da, unverhofft, nehmen ihn auf, sorgen für ihn. Lassen ihn wieder gehen, als es Zeit ist. So konnte er Vertrauen fassen, klein wie ein Senfkorn. Und sein Vertrauen wuchs und wurde zum Lied:
3. Man halte nur ein wenig stille und sei doch in sich selbst vergnügt,
wie unsers Gittes Gnadenwille, wie sein Allwissenheit es fügt;
Gott, der sich uns hat auserwählt, der weiß auch sehr wohl, was uns fehlt.
4. Er kennt die rechten Freudenstunden er weiß wohl, wann es nützlich sei;
wenn er uns nur hat treu erfunden und merket keine Heuchelei,
so kommt Gott, eh wir’s uns versehn, und lässet uns viel Guts geschehn.
5. Denk nicht in deiner Drangsalshitze, dass du von Gott verlassen seist
und daß ihm der im Schoße sitze, der sich mit stetem Glücke speist.
Die Folgezeit verändert viel und setzet jeglichem sein Ziel.
„Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn …“, sagt Jesus: Dann kann sich vieles ändern, dann kann sich alles ändern. Menschen in Not wird geholfen. Reiche geben ab. Bäume werden gepflanzt. Die Welt wird auf den Kopf gestellt. Glauben wird lebendig, ohne Heuchelei.
6. Es sind ja Gott sehr leichte Sachen und ist dem Höchsten alles gleich:
den Reichen klein und arm zu machen, den Armen aber groß und reich.
Gott ist der rechte Wundermann, der bald erhöhn, bald stürzen kann.
7. Sing, bet und geh auf Gottes Wegen, verricht das Deine nur getreu
und trau des Himmels reichem Segen, so wird er bei dir werden neu.
Denn welcher seine Zuversicht auf Gott setzt den verläßt er nicht.
Und der Frieden Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Am 12.9.21 werde ich mit einer Kursgruppe im Kirchlichen Fernunterricht Gottesdienst feiern – zum ersten Mal wieder vor Ort und leibhaftig nach einem Jahr pandemiebedingter Online-Begegnungen. Die Freude wird groß sein – aber auch die Befürchtungen im Blick auf die bevorstehenden Monate. Prägend für die Arbeit im Kurs ist der lebendige Austausch, gerade weil hier Menschen zusammenkommen, die sehr verschiedene Lebens- und Glaubenserfahrungen mitbringen. Diese Verschiedenheit, die im Gottesdienst eine gemeinsame geistliche Basis findet, möchte ich in der Predigt aufgreifen und würdigen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Lied (EG 369) beschreibt eindringlich die Erfahrung von Glaubenszweifel und Gottvertrauen – beides soll zur Sprache kommen. Die Verschiedenheit der Glaubenserfahrungen erlebe ich als Schatz, als Bereicherung.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Jesus entzieht sich dem „Ranking“ der Glaubensbeurteilung – das ist für mich eine ermutigende Erkenntnis, gerade im Blick auf Glaubenszweifel und offene Fragen. Diese Fragen brauchen Raum und Sprache, auch in der Predigt. In dieser Offenheit kann Gottvertrauen wachsen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Erst nach der Rückmeldung durch den Predigt-Coach habe ich mich entschlossen, das Lied im Ganzen zur Sprache zu bringen und davon auch die Struktur im dritten Teil der Predigt bestimmen zu lassen.
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Was Gott unter uns verloren hat - Predigt zu Lukas 15,1-10 von Rudolf Rengstorf
Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. 2 Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.
3 Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: 4 Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? 5 Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. 6 Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. 7 Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.
8 Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? 9 Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. 10 So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.
Liebe Leserin, lieber Leser!
Der Hirte, der ein verlorenes Schaf sucht, die Frau, die einen ihrer Silbergroschen wiederfindet – das sind ja leicht eingängige Bilder. Aber für eine Predigt vielleicht doch ein bisschen harmlos – und dazu auch noch wohl etwas unter unserer Würde: Wer möchte sich schon gern mit einem Schaf vergleichen lassen? Und so ein in die Fußbodenritze gefallenes Geldstück möchte ich auch nicht gerade sein! Das geht mir übrigens mit den Menschen, die da um Jesus auftreten, nicht viel besser: Auf der einen Seite die Schriftgelehrten und Pharisäer, die wie üblich sauertöpfisch dreinblicken, weil Jesus sich mal wieder mit einem gottlosen Völkchen abgibt. Und auf der anderen Seite die als gottlos geltenden Zöllner und Sünder, habgierige Betrüger, schwere Jungen und leichte Mädchen – nein, das wäre nicht mein Platz. Wäre ja auch noch schöner für einen Superintendenten in Ruhe!
Am ehesten erkenne ich mich schon wieder in den beiden Personen, von denen so viel Bewegung ausgeht, weil sie rastlos auf der Suche sind: Also in dem Hirten, der sein Schaf, und in der Frau, die ihren Silbergroschen sucht. Ich weiß ja nicht, wie Ihnen das geht. Aber wenn ich etwas verloren habe, was zu mir gehört und was ich dringend brauche, meine Brille etwa oder meinen Kalender, dann bin ich völlig von der Rolle, genau wie die beiden da in den kleinen Gleichnissen. Da bricht der gewohnte Tagesrhythmus plötzlich ab, da lasse ich alles andere stehen und liegen, denke zunächst noch: Ganz ruhig bleiben, es gibt doch nur diese zwei, drei Stellen, wo es sein muss. Doch dann gerate ich zunehmend in Panik, laufe – wie meine Frau sagt – wie ein Huhn ohne Kopf durchs Haus, suche drei, vier Mal an derselben Stelle, kriege einen fürchterlichen Zorn, weil mir die Zeit nutzlos davonläuft, und falle im nächsten Augenblick in tiefe Resignation: Was soll werden, wenn die Brille, ohne die du nicht lesen und auch nicht amtieren kannst, verschwunden bleibt! Also wieder zum Augenarzt und zum Optiker, die Warterei und das viele Geld! Oder wenn der Kalender nicht wieder auftaucht – nicht auszudenken, was du da zwangsläufig an Terminen verschwitzen wirst!
Die Suche des Hirten und der Frau, von denen Jesus erzählt, verlief wohl noch dramatischer. Schließlich spielte sie sich nicht in Norddeutschland, sondern im Orient ab. Und da regen Mann und Frau sich schneller und heftiger auf als unsereins, zumal es für beide um viel geht. Wenn einem Hirten eines der ihm anvertrauten Schafe verloren geht, gerät er in Existenznot, und mögen da noch so viele andere Schafe sein. Die Besitzer erwarten von ihm, dass er jedes der Schafe kennt, es im Auge behält und sicher zurückbringt. Ohne das verlorene Schaf muss er damit rechnen, gefeuert zu werden. Also, da gibt’s nur eins: Die anderen beim Hund lassen und sich schleunigst auf die Suche machen und sich erst wieder zu beruhigen, wenn er‘s gefunden und sicher zurückgebracht hat. Und der Silbergroschen ist für die Frau, die im Haus das Unterste zuoberst kehrt, ein wertvolles Schmuckstück, das zu ihrer Brautkrone gehört, und die steht für ihre Würde, ihren Stolz, ihr Liebling- und Schatzsein. Wenn die nicht intakt ist, was für eine Schande! Spätestens beim nächsten Fest wird das auffallen und sie ins Gerede bringen.
Und jedem, der Jesus damals zuhörte, war sofort klar: Wie der Hirte und die Frau würde ich es auch machen. Alltags- und Jedermannsgeschichten waren das, die er da erzählte. Und dennoch waren sie ganz und gar unerhört und eine unerträgliche Provokation auch für die liberalsten unter den Pharisäern. Und das deshalb, weil Jesus es wagte, in dem verzweifelt suchenden Hirten und der außer sich geratenden Frau ganz unverhohlen Gott zu zeigen. Ihn, den allein Heiligen, den Unantastbaren, den Unnennbaren, den fromme Juden bis heute mit letztem Ernst auf Abstand halten gegenüber allen Vorstellungen und Wünschen, die Menschen so von ihm haben können. Er – der Allmächtige, gelobt sei sein Name – vergleichbar mit einem Menschen, mit einem Mann und – ja tatsächlich! – einer Frau, denen etwas fehlt und die fast verrückt werden vor Aufregung, bis sie gefunden haben, was sie suchen und sich dann vor Freude nicht mehr einkriegen, so menschlich, so alltäglich. So hochemotional, in aller Öffentlichkeit so ungeschützt und naiv und theologisch völlig undiskutabel von Gott zu reden – das war einmalig zur Zeit Jesu, und es ist anstößig geblieben bis heute.
Denn wenn bei uns von Gott die Rede ist, gehen die Gedanken – so erlebe ich das jedenfalls – unwillkürlich über diese Welt hinaus. Steht er mit seiner Allgegenwart, mit seiner Zeitlosigkeit, seiner Unsichtbarkeit und seiner Allmacht doch außerhalb all dessen, was wir hier erleben. Und weil der Gedanke an Gott aus dieser Welt herauszieht, ist hier, wo er nicht zu fassen ist, auch so wenig die Rede von ihm. Zwar ist das Wort Gott in Redewendungen wie „O Gott, o Gott!“ oder auch „Gott sei Dank!“ in der Alltagssprache noch vorhanden. Aber dass Menschen im Alltag ernsthaft üb Gott reden, erlebe ich so gut wie nie.
Also während Gott bei uns im Denken wie im Sprechen im Nebulösen einer jenseitigen Welt zu verschwinden droht, sieht es bei Jesus ganz anders aus. Der konnte gar nicht anschaulich und konkret genug von Gott reden und ging damit vor allem unter die Leute, die sich Gott gegenüber auf verlorenem Posten sahen und sich entsprechend eingerichtet hatten. Ihnen sagte er unumwunden: Gott hätte seinen Beruf verfehlt, wenn er euch auf verlorenem Posten ließe, und Gott wäre ärmer, wenn er euch nicht hätte und sich nicht mit jedem einzelnen von euch schmücken könnte. Darum werden hier auch keine Moralpredigten gehalten; das Schaf bekommt weder Prügel noch Schelte, sondern erleichterte Freude und Jubel beherrschen die Szene und es wird fröhlich gefeiert.
Und zu uns, die wir uns in unserem Christsein oft genug verloren und armselig vorkommen, sagt Jesus ebenso wie damals zu denen, die sich schon aufgegeben hatten: Gott wird nicht ruhen noch rasten, bevor er dich gefunden und nach Hause gebracht hat. Und er wird mit dem Suchen nicht aufhören, bevor er dich nicht aus der dunklen Ritze hervorgeholt hat. Und wie er sich freuen wird, wenn du im Licht der Sonne an zu strahlen fängst und jedermann sehen kann, was du wert und was für ein Schatz du bist.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mit stehen Leserinnen und Leser vor Augen, die zum Sonntag eine Predigt lesen wollen, zumal die Teilnahme an einem Gottesdienst in der Kirche nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist.
Ich denke aber auch an Kolleginnen und Kollegen, die noch auf der Suche nach Ideen für ihre Sonntagspredigt sind.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Anschaulichkeit, mit der Jesus von Gott zu reden wagt. In einem Umfeld, aus dem Gott längst verschwunden zu sein scheint.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass Gott von Jesus redet, als sei er ein Mensch auf der rastlosen Suche nach Verlorenem und erleichterter Freude beim Finden. Und das ausgerechnet beim Suchen und Finden von Leuten, bei denen sonst niemand etwas sucht oder vermisst.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Einige Straffungen und Klarheit darüber, wie die Transzendenz Gott zum Verschwinden bringt.