Aufschreiben als Protest - Predigt zu Mt 27,33-54 von Margot Runge

Aufschreiben als Protest - Predigt zu Mt 27,33-54 von Margot Runge
27,33-54

Wir erinnern uns heute an den gewaltsamen Tod von Jesus. Wir haben einen der Berichte gelesen, was am Gründonnerstag und Karfreitag passiert ist, und haben uns daran gewöhnt, daß sie in der Bibel stehen. Es ist aber keineswegs selbstverständlich, daß die Umstände eines Justizmordes so ausführlich aufgeschrieben und dokumentiert wurden: Wie die Schülerinnen und Schüler mit Jesus zusammen Passa vorbereitet und das Lamm gegessen haben - das letzte Mahl, das zum Abendmahl werden würde. Die Gespräche beim Essen, die sich schon um Verrat und Tod gedreht haben. Wie einige aus der Gruppe die Nacht im Garten verbracht haben. Wie Jesus verhaftet wurde. Die verschiedenen Verhöre. Die Suche nach Belastungszeugen. Die Folter, das stundenlange Sterben, der Tod. Was mit seiner Leiche passiert ist. Wie seine Schüler_innen darum gekämpft haben, daß ihnen der Leichnam ausgeliefert wurde und sie den Toten begraben durften. Ausführlich erfahren wir auch von den Treueschwüren, von den Frauen, die tatsächlich bis zum Schluß nicht von seiner Seite gewichen sind, und von denen, die Jesus im Stich gelassen und verraten haben.

Gewalt liebt verschlossene Türen. Alexander Nawalny wurde in ein russisches Straflager im Polarkreis gesteckt. Kein Mensch sollte sehen, was sie mit ihm machen. Seine Worte sollten verstummen. Als die Behörden im Februar seinen Tod meldeten, machte seine Mutter sich dorthin auf, ihre Bilder gingen im Fernsehen um die Welt. In eisiger Kälte stand sie vor dem Gefängnistor. Das Leichenschauhaus, die Verwaltung - niemand wollte ihr Auskunft geben, wo der Leichnam überhaupt ist und wann sie ihn sehen kann. Um alles musste sie kämpfen, um einen Trauergottesdienst, um einen Friedhof, um eine öffentliche Beerdigung. Wie er wirklich starb, wird sie wohl nie erfahren.
Gewalt liebt verschlossene Türen. Täter haben ein Interesse daran, dass nichts nach außen dringt. Das ist bei häuslicher Gewalt so. Sowohl die alltäglichen Demütigungen als auch die Wut, die sich hinter der Wohnungstür austobt, lassen sich meist schwer aufklären. Überlebenden von sexualisierter Gewalt wird nicht geglaubt.
Mehr noch ist es bei staatlicher Gewalt so. Wie in Polizeistationen und Geheimdienstkellern in aller Welt geschlagen, gefoltert und erpresst wird, soll niemand erfahren. Manchmal verschwinden die Opfer gleich ganz und gar. Notdürftig hergerichtete und zusammengeflickte Gefangene werden vor die Presse geschleppt.
Wenn im Fernsehen trotzdem Blutergüsse zu sehen sind, soll das zur Abschreckung dienen. Oder die Behörden sind so unverfroren und von sich eingenommen, daß es sie nicht kümmert, wenn die Brutalität ihres Systems vor aller Welt gezeigt wird.
Im Allgemeinen versuchen sie aber, das Ausmaß zu verschleiern. Oder sie wenden solche Foltermethoden an, die keine Spuren hinterlassen. Sie präsentieren das Opfer äußerlich unversehrt: Seht, das Geständnis ist aus freien Stücken passiert.
Angehörigen, Anwältinnen und Anwälten oder Menschenrechtsorganisationen ist es meist unmöglich herauszubekommen, was in den Zellen tatsächlich vorging. Sie stoßen buchstäblich auf Mauern und auf den Korpsgeist von Polizei und korrupter Justiz. Auch später soll sich niemand erinnern. Weder an Nawalny noch an sonst jemanden.

Die Umstände der letzten Stunden von Jesus sind hingegen bemerkenswert gut dokumentiert. Das ist ein Akt des Widerstands. Es ist ein Akt des Widerstands, überhaupt in dieser Breite aufzuschreiben, was im Vorfeld jenes Passafestes Anfang der 30-er Jahre in der Hauptstadt einer abgelegenen Provinz des römischen Reiches vorfiel. Es ist ein Akt des Widerstandes, diese Berichte untereinander weiterzugeben und sie zu verbreiten und immer wieder daraus vorzulesen und daran zu erinnern.
Wie viel Mühe werden die Schüler_innen von Jesus gehabt haben, das alles zusammenzutragen? Wie oft werden sie zusammengesessen haben, um aufzuklären, wer was gesagt hat und wie die Abläufe waren?
Geschichtsschreibung erfolgt meist im Auftrag der Mächtigen oder ist Anliegen der Gebildeten, und sie gibt deren Perspektive wieder. Sie ist ein Privileg derer, die überhaupt schreiben und lesen konnten, je weiter zurück wir in die Vergangenheit schauen.
In der Bibel jedoch kommen die Opfer zu Wort. Verhaftung, Verhör, Demütigung, Tod werden klar als Unrecht benannt. Indem sich die Gemeinden davon über die Jahrzehnte immer wieder weitererzählt haben, indem sie es in den Evangelien ausführlich aufgeschrieben, vervielfältigt, vorgelesen haben, machen sie deutlich: Gott steht auf der Seite der Opfer.

Im Übrigen: Wie viel Mut werden sie dazu gebraucht haben? Die Römer waren ja nach wie vor an der Macht. Wie weit konnten sie in den Passionsberichten gehen, deren Beteiligung offenzulegen? Vieles konnten sie nur zwischen den Zeilen ausdrücken. Wenn Pilatus, der oberste Repräsentant der Römer, sagt: „ich wasche meine Hände in Unschuld“, wussten damals alle, was gemeint ist. (Mt 27,24). Er hat Jesus höchstpersönlich zu Tode verurteilt.
Wie zynisch Pilatus in Wirklichkeit war und welche Farce der Prozess, enthüllen sie, wenn Pilatus obendrein behauptet: „ich finde keine Schuld an ihm“ oder wenn er im Johannesevangelium mit dem Angeklagten bei einem Verhör über Wahrheit philosophiert. Wenn die Gemeinden das gelesen haben, werden sie bitter aufgelacht haben, ähnlich wie am 13.11.1989 viele Bespitzelte und Stasi-Opfer bei Erich Mielkes Worten „Ich liebe doch alle, alle Menschen“.

Gott ist bei den Geschlagenen und den Ermordeten. Gott geht mit denen, die nach den Verschwundenen suchen. Gottes Freund_innen lassen nicht locker, dass ihr Schicksal aufgeklärt wird. Gott solidarisiert sich mit gedemütigten Menschen, die hin und her geschubst, ausgetrickst und an den Rand geschoben werden.
Nein, Gott macht keine Opfer und fordert keine Opfer. Gott stellt sich auf die Seite der Opfer. Und Gott gibt ihnen ihre Würde zurück. Gott stellt sie ins Licht. Gott vergisst keinen ihrer Namen.

Paulus schreibt: „Wisst ihr nicht, dass alle, die in Jesus getauft sind, in seinen Tod hinein getauft wurden? Durch die Taufe sind wir mit ihm zusammen in den Bereich des Todes begraben.“ (Römer 6,3.4a) Taufe hat etwas mit diesem Sterben von Jesus zu tun. Der alte Adam, der alte Mensch soll im Wasser ersäuft werden, damit ein neuer ersteht, heißt es oft. Ich glaube stattdessen, Taufe in den Tod bedeutet, dass Jesus uns mitnimmt auf die Seite der Untergetauchten. Er zieht uns auf die Seite der Opfer. Wer getauft ist, soll nie vergessen, wohin Gott gehört und wohin wir gehören.

Die Welt der Reichen und Schönen gaukelt uns Wohlstand und Glück vor. Nur manchmal offenbart sie ihre Kehrseite, ihre brutale Seite. Sie profitiert von der Armut. Sie lebt davon, daß alle anderen ausgeschlossen sind. Alle, die nicht hineinpassen, die es nicht bis nach oben schaffen oder nicht mehr brauchbar sind, werden ausgespuckt. Sie basiert auf dem Ausschluss.

Gottes Welt ist eine inklusive. Bei Gott haben alle einen Platz, auch die im Schatten stehen, die sonst keine Chance haben. Die einfachen Leute, die Behinderten und die Armen. Die, die anderen nicht nach dem Munde reden und vor der Macht zu Kreuze kriechen.
Was Gott bei der Taufe zu Jesus gesagt hat, gilt für alle: Du bist mein geliebtes Kind, an dir habe ich Wohlgefallen. Dafür ist Jesus gestorben. Dafür ist er aufgestanden und hat dem Tod getrotzt. Und wir mögen es mit ihm. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrerin Margot Runge

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt ist im Blick auf eine interessierte Gemeinde in einer Kleinstadt konzipiert, bei der auch Mitarbeitende der Diakonie anwesend sind.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Es berührt mich, mit welcher Mühe und Akribie Menschenrechtsverletzungen von Betroffenen und Engagierten dokumentiert werden, manchmal unter Lebensgefahr.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wie Widerstand, Mut und Solidarität sich hinter den Passionsgeschichten entdecken lassen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der Coach hat mich ermutigt, den ursprünglich sehr kurzen Bezug zu dem Tod von Alexander Nawalny etwas auszubauen.

Perikope
29.03.2024
27,33-54

Alles hängt an der Liebe - Predigt zu Mt 25,31-46 von Andreas Schwarz

Alles hängt an der Liebe - Predigt zu Mt 25,31-46 von Andreas Schwarz
25,31-46

(24,4) Jesus sprach zu seinen Jüngern:
Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.

Liebe Gemeinde;

lautstarker Protest erhob sich im Gespräch bei einer Jugendveranstaltung, als es um die Frage ging, wie denn die Folgen menschlichen Lebens aussehen. Einer verwies dabei auf die Taufverheißung aus Markus 16. Dort sagt Jesus seinen Jüngern: 'Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden!' Jesus stellt also dem menschlichen Leben zwei mögliche Ziele vor Augen: die Seligkeit und die Verdammnis. Der jugendliche Protest verwies auf die Liebe Gottes und darauf, dass Jesus selbst die geistlich Armen seligpreist und ihnen das Himmelreich zusagt. Wie könne man da noch von der Verdammnis reden?
Angenehm ist es sicher nicht, davon zu reden, gerne hört es niemand.
Was Jesus Christus im heutigen Evangelium sagt, stellt uns ganz nüchtern und unverblümt die Zukunft vor Augen: Er legt ausführlich und beispielhaft aus, was wir in kurzen Sätzen im Glaubensbekenntnis sprechen: '... von dort wird er kommen, zu richten, die Lebenden und die Toten'. Und im Nicaenum: '... und wird wiederkommen mit Herrlichkeit zu richten die Lebenden und die Toten'. Seinen unangenehmen Beigeschmack bekommt dieses Bekenntnis, wenn es an Beispielen durchbuchstabiert wird. Und wenn dabei klar gesagt wird, das Richten Jesu an seinem Tag bringe einen doppelten Ausgang. Der im irdischen Leben gemeinsame Weg teile sich am Ende in rechts und links.

Untersuchungen von Predigten bringen ans Tageslicht, dass dieses Thema gern umgangen wird. Vom Gericht, das auch in die Verdammnis führen kann, wird wenig geredet. Wahrscheinlich, weil niemand gern davon redet. Wir hören es auch nicht gern. Es klingt furchteinflößend und legt eine Spannung auf unser Leben, von der wir gern befreit wären.
Schon die Psychologie könnte uns lehren, dass eine Angst, die der Mensch verdrängt, damit nicht gelöst ist. Sie schwelt weiter und breitet sich aus. Im schlimmsten Fall kann sie krankmachen. Ziellose und hoffnungslose Angst ist allemal eine Krankheit. Dazu aber redet Jesus Christus nicht vom kommenden Gericht.
Man hat dieses Gleichnis als Kritik an der Kirche und ihren Gliedern immer sehr gern ins Feld geführt. Man hat den Christen ihr Fehlverhalten schön deutlich machen können: 'Seht, was Jesus von euch fordert und was ihr alles unterlassen habt!' Wir werden kleinlaut und erkennen selbst unsere Schwächen. Es ist ja auch nicht schwer, anderen Menschen ihre Fehler und Versäumnisse vorzuhalten. Bloß: Dies Gleichnis haben wir dazu nicht auf unsere Seite. Es gibt keinem Menschen das Recht, andere zu verurteilen. Es geht hier gerade nicht um das Gericht, das Menschen übereinander fällen. Wenn Jesus vom Gericht redet, dann versammelt der Menschensohn alle Völker, also alle Menschen vor sich. Er sammelt und er scheidet. Wir stehen als Menschen alle vor ihm und erwarten, was er zu sagen hat. Wir haben kein Recht, dies Urteil an anderen bereits vorwegzunehmen; aber es hat auch niemand das Recht, vorweg über uns zu richten. Wir erwarten das gerechte Gericht des Menschensohnes.

Es kommt der Tag, an dem menschliches Leben aufgedeckt wird, offenbar. So, wie es Paulus in dem Wort, das uns als Wochenspruch begleitet, gesagt hat: 'Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Gottes'. Der Tag des Gerichts ist ein Tag, der aufdeckt, der offenbart, was bisher verdeckt und unsichtbar, auch unsicher war. Klarheit wird verschafft und Durchsichtigkeit. Die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden hat auf diesem Hintergrund ihren Sinn, dass es überhaupt ein Gericht gibt. Gäbe es am Ende nur einen Weg, den des ewigen Lebens, müsste von einer Rechtfertigung nicht mehr geredet werden. Das reformatorische Erbe, von der Gnade Gottes in Christus, bekennt auch den richtenden Christus. Es ist der Sohn dessen, von dem Luther in den Gebotserklärungen ständig wiederholt, 'wir sollen ihn fürchten und lieben'. Also ernst nehmen und mit ihm rechnen.
Der Gott, den wir fürchten und lieben sollen, flößt aber keine Angst ein; die ist nicht Antriebsfeder christlichen Lebens. Das Gleichnis macht in seinen Feinheiten viel davon deutlich, worum es Christus geht.
Da fällt zunächst auf, wie die, die gerettet werden, angesprochen werden: 'Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!' Auf ihnen liegt der Segen Gottes, seine Zuwendung geht mit ihnen, ist mit ihnen gegangen; seine Liebe und Treue hat sie umgeben. Sie haben ein Startkapital bekommen und ein großes Ziel vor Augen. Sie sind Kinder Gottes schon von Anfang an gewesen und darum ist ihnen das Erbe schon längst zugesagt. Sie sind keine unbeschriebenen Blätter gewesen, die mit ihrem Leben aus eigenem Antrieb Gutes zu vollbringen gehabt hätten. Die Grundlagen und Möglichkeiten waren gegeben, zur Verfügung gestellt. Sie haben von Beginn an von der Liebe des Vaters gelebt und das hat ihr Leben widergespiegelt. Sie haben gelebt, was sie empfangen haben. Sie haben andere spüren lassen, wovon sie selbst gelebt haben; sie haben weitergegeben, womit sie selbst beschenkt wurden.

Das Gleichnis macht es ganz deutlich: Die Gerechten haben sich nicht deswegen hilfreich den Notleidenden zugewendet, weil sie wussten, darin verbirgt sich der Herr, oder: Wenn ich jetzt helfe, verdiene ich mir den Zugang zum Reich Gottes.
Die Botschaft dieser Predigt kann darum nicht sein: Seid immer hilfsbereit zu den Hilfsbedürftigen, ihr helft damit Christus und entgeht so der ewigen Verdammnis.
Die Gerechten waren ja überrascht darüber, was sie selbst getan hatten, und an eine solch bedeutsame Folge ihres Tuns hatten sie nie gedacht.
Sie haben bloß den Segen und die Liebe Gottes nicht für sich behalten; sie erachteten es für selbstverständlich, sich denen zuzuwenden, denen sie helfen konnten.
Und die Liebe fragt eben nicht nach Lohn.

Wir fragen: Was ist der Maßstab für das Gericht? Antwort: Das Doppelgebot der Liebe: 'Du sollst deinen Herrn lieben von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst.'
Die Liebe, die lebendig ist, die im Menschen lebt und sein Handeln bestimmt, braucht eigentlich keine Beispiele. Die verführen immer zu Ausreden (Das kann ich gar nicht; solche Menschen gibt es hier nicht, ich kenne sie nicht), oder Selbstbestätigungen (das tue ich doch).
Jesus Christus zeigt mit diesem Gleichnis auf sich selbst, auf seine Liebe, die keine Grenzen kannte, die jeden mitnahm, ohne nach Antwort zu fragen. Die Menschen in Not - in welcher auch immer - waren in seinem Blick. Er hat sie geliebt und darum hat er sie auch gesehen.
Keiner muss Menschen in Not suchen; die Liebe zeigt sie ihm schon. Die Gerechten haben auch nicht die Welt verbessert, haben den Hunger nicht beseitigt, die Einsamkeit nicht beendet - einem einzigen Menschen haben sie sich jeweils zugewendet; aber darin hat sich ihre Liebe als lebendig erwiesen, als uneigennützig, als selbstverständlich, als keiner Rede, keines Lobes, keines Lohnes wert.
Ihr Tun hat seine Motivation allein in der Liebe; in der Liebe, die Gott ihnen geschenkt hat. Und diese Liebe Gottes lässt in jedem Menschen das Angesicht Jesu Christi aufleuchten. Er hat sich auf die Seite der Bedürftigen, Armen, Kranken, Verlassenen gestellt. Und da bleibt er, solange diese Erde steht. Sich den Menschen am Rand zuzuwenden ist gelebte Liebe und gelebter Glauben an Jesus Christus.
Dementsprechend gilt dann auch die Formulierung von der negativen Seite: Lieblosigkeit ist ein Zeichen dafür, nicht an Christus zu glauben; wer nicht liebt, leugnet die Liebe Christi, missachtet auch, dass Christus selbst auf der Seite der Leidenden steht.
Wer nicht liebt, will diesen Christus nicht, glaubt nicht an den Christus, den die Heilige Schrift bezeugt und wird darum auch den ewigen Fluch bekommen, die ewige Trennung von ihm, oder, wie das Gleichnis sagt, das ewige Feuer.
Die Liebe - empfangen und gelebt - ist der Maßstab im Jüngsten Gericht. Das ist kein Widerspruch dazu, dass es die Rechtfertigung nur aus Glauben gibt. Denn einen Glauben ohne Liebe kennt die Bibel nicht. An Christus zu glauben, verbindet mit den Menschen; einen christlichen Glauben ganz für sich allein - und darum blind für die Not der Menschen - gibt es nicht.

In ihrem Buch 'Die Egoismus-Falle' zeigt die Psychologin Ursula Nuber, dass es hierzulande schon länger eine neue Hinwendung zur Religion gibt, allerdings nicht zum Christentum. Es sind esoterische Religionen wie Buddhismus, Hinduismus oder Brahman, die wie in einem religiösen Supermarkt für jeden etwas bereithalten, vor allem aber das eine: Selbstverwirklichung. Dagegen schreibt sie: 'Man mag zur Lehre Jesu stehen wie man will, unsozial und ichbezogen ist sie nicht. ... Nicht ... das Selbst steht im Zentrum, sondern das Sich-Ereignen von Beziehung. Jesus predigt die Liebe zum Nächsten, setzt sich für Schwache ... ein und fordert unser aller verantwortliches Handeln den Menschen gegenüber: 'Was ihr getan habt dem geringsten meiner Brüder, das habt ihr mir getan'.
Sie folgert schließlich: Möglicherweise ist die Unbeliebtheit der Lehre Jesu heute unter anderem auch darauf zurückzuführen, dass sie nicht das Ich mit seinen egoistischen Bedürfnissen, sondern den Mitmenschen in den Mittelpunkt stellt.'
Sie hat es offensichtlich zutreffend beobachtet. Es scheitert am Ende der mit seinem Leben vor Gott, der zur Liebe nicht bereit war, der nur sich selbst mit seinen Sorgen und Freuden, Problemen und Hoffnungen, nicht aber den Mitmenschen in Not gesehen hat.

Am Ende gehört zu jedem Leben sein Ziel: Die einen bleiben von Christus getrennt - nun ewig, denn sie haben ihm nicht vertraut, ihn und ihre Mitmenschen nicht geliebt und also seine Nähe nicht gewollt.

Die anderen erben das, was ihnen längst zugesagt war, was ihnen geschenkt wurde, worüber sie sich gefreut, was sie gehofft und was sie auch gelebt haben - im Vertrauen und in der Liebe: die Nähe zu Jesus Christus. Das werden sie nun ewig leben. Unsere Zukunft ist klar und offengelegt; wir sind gesegnet, wir sind erwählt, das Erbe ist uns zugesagt. Die Liebe Gottes, die seinen Sohn leiden und sterben lässt, umschließt unser Leben. Wir sind geliebt, Gerechtigkeit ist uns geschenkt - unser Leben bietet unendlich viele Möglichkeiten, zu lieben. Wir wissen, auf wessen Seite wir stehen: auf der Seite Jesu, und damit auf der Seite der Menschen in Not. Die Liebe verbindet uns - mit Christus und untereinander. Die Liebe stellt uns auf die rechte Seite. Gott sei Dank. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Andreas Schwarz

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Der Sonntag folgt auf die Synode unserer Kirche. Eine große personelle Umbruchsituation steht bevor, dazu auch knapper werdende finanzielle Ressourcen. Das betrifft auch die Gemeinde, die gerade mehrere schöne, festliche und gut besuchte Gottesdienste gefeiert hat. Die Kirchenjahreszeit passt gerade zum Wetter; dazu kommt ein bekanntes und vertrautes und doch irgendwie immer fremd bleibendes Gotteswort. Ja, kenne ich – ist in der durchaus biblisch fundierten Gemeinde eine mögliche Reaktion. Bekannt und doch neu. Herausfordernd, aber nicht zum Verzweifeln. Menschen sind besorgt, was wird. Kann die Predigt stärken und Vertrauen vermitteln?

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Eine bekannte und doch immer wieder neue Beobachtung: Jesus ist anders als erwartet. Kein Schema fängt ihn ein. Es bleibt – auch persönlich – eine Herausforderung. Ich wollte und will mich dem stellen, auch wenn es mich persönlich in Frage stellt. An sich kann ich nur scheitern. Und doch ‚gesegnet‘ und ‚Erbe‘.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren. Wie oft geht es (mir) und theoretische Debatten, Auseinandersetzung, wer Recht hat und wer Anspruch auf Wahrheit erhebt. Wichtiger sind Menschen, die Hilfe und Zuwendung brauchen, die machtlos sind und leicht übersehen werden. Was ist meine Aufgabe und mein Platz?

Perikope
19.11.2023
25,31-46

Auf und Ab des Glaubens - Predigt zu Mt 17,1-9 von Rudolf Rengstorf

Auf und Ab des Glaubens - Predigt zu Mt 17,1-9 von Rudolf Rengstorf
17,1-9

Jesus nahm mit sich Petrus und Jakobus und Johannes, dessen Bruder, und führte sie allein auf einen hohen Berg. 2 Und er wurde verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. 3 Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia; die redeten mit ihm. 4 Petrus aber antwortete und sprach zu Jesus: Herr, hier ist gut sein! Willst du, so will ich hier drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine. 5 Als er noch so redete, siehe, da überschattete sie eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören! 6 Als das die Jünger hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und fürchteten sich sehr. 7 Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht! 8 Als sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein. 9 Und als sie vom Berge hinabgingen, gebot ihnen Jesus und sprach: Ihr sollt von dieser Erscheinung niemandem sagen, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist. (Matthäus 17,1-9)

Liebe Leserin, lieber Leser!

Jesus nahm die drei Jünger, die ihm die Vertrautesten waren, und stieg mit ihnen auf einen hohen Berg. Die Menschen, die ständig was von ihnen wollten, ließen sie zurück. Dafür hatten sie nun den Berg mit seinen Steigungen vor sich. Und je länger das geht, das Bergsteigen, desto anstrengender wird es. Man kommt ins Schwitzen, der Atem geht schneller, die Zunge klebt am Gaumen. Zwangsläufig wird man einsilbig, hängt den eigenen Gedanken nach: Was ist eigentlich an Jesus – so mögen die drei Jünger sich gefragt haben –, dass wir unsere Tage mit ihm verbringen? Gewiss, die Menschen hier in Galiläa laufen ihm nach. Aber er ist doch weit davon entfernt, auch die führenden Kreise von sich zu überzeugen. Und dann erst die Römer! Wie will er die denn aus dem Land bekommen? Von einem, der sich nicht wehrt, der dem Schläger auch noch die andere Wange hinhält, lassen die sich mit Sicherheit nicht beeindrucken! Da musst du schon kämpfen und die Zähne zusammenbeißen, wie jetzt an diesem Berg, wo es gilt, die letzte nicht enden wollende Strecke zum Gipfel zu bewältigen.

Wenn sie es geschafft haben, wenn sie oben sind, werden sie etwas Wunderbares erleben.

Bevor wir uns das näher ansehen, möchte ich festhalten: Vor der Begegnung mit dem Außergewöhnlichen müssen Menschen sich aus ihrer gewohnten Umgebung lösen und Anstrengungen dürfen sie dabei nicht scheuen. Gewiss: Glückserfahrungen im Glauben können nicht durch uns „gemacht“ werden. Sie sind reines Geschenk. Doch die Begegnung mit dem Heiligen überfällt uns nicht in den Banalitäten des Lebens.

Wo die Klarheit des Herrn leuchten soll, müssen Menschen hellwach sein wie die Hirten auf dem Feld. Wo der Auferstandene erkannt werden soll, müssen Menschen sich suchend und fragend auf den Weg gemacht haben wie die Jünger von Emmaus oder Maria Magdalena auf dem Weg zum Grab. Die Nachtwache, der Weg, der Berg - immer geht es um Menschen, die sich aufgemacht, das Leben der anderen hinter sich gelassen haben. Zeit und Aufmerksamkeit gehören schon dazu, wenn ich etwas von Gott mitbekommen will. Die Aktion „Sieben Wochen ohne“ wird wieder dazu anregen, auf liebgewordene Gewohnheiten zu verzichten. Damit wir Kopf und Herz freibekommen für das, was Gott uns sagen will.

Oben angekommen – da, wo sie wieder durchatmen konnten und der Blick nicht mehr verstellt war durch das, was noch vor ihnen lag – da sehen sie, wie Jesus sich in eine himmlische Gestalt verwandelt. Er, der eben noch neben ihnen gekeucht und geschwitzt hat, erscheint in blendendem Licht. Mit einem Schlage gibt es keinen Zweifel mehr: Dieser Mensch ist ganz und gar durchdrungen vom Glanz Gottes. In ihm kommt der Himmel auf die Erde. Und im wahrsten Sinne des Wortes: Alles ist klar. Und das gilt nicht nur für diesen Augenblick und nicht nur für die drei Männer. Das gilt für alle Zeit und die ganze Welt. Das wird deutlich an den beiden anderen Gestalten, die ebenfalls erschienen sind: Mose und Elia.

In der Gestalt des Mose wird die heilige Vergangenheit des Gottesvolkes sichtbar. Mose steht für die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten, für den Zug durchs Rote Meer, für die Bewahrung in der Wüste und für den Bund am Sinai mit der großen Lebens- und Glaubensordnung, in der sich Israel bis heute als Gottes Volk erlebt. Und neben Mose Elia, jener Prophet, der der Abgötterei in Israel ein Ende gemacht hat. Und der deshalb wieder erwartet wird am Ende der Tage, wenn Gott kommt, um nicht nur der Abgötterei, sondern ebenso der Ungerechtigkeit und dem Leiden auf der Welt ein Ende zu machen. Mose und Elia stehen für die großen Heilstaten Gottes, die von alters her dafür stehen, dass am Ende alles gut wird. Sie reden mit dem verklärten Jesus. Er ist mit einbezogen in diese Heilsgeschichte, durchstrahlt sie und bringt die von Gott geprägte Vergangenheit und Zukunft ganz in die Gegenwart.

Hier zeigt sich einer der Momente, die von der Nähe Gottes so erfüllt sind, dass es keinen Zweifel mehr gibt. Woher ich komme, wohin ich gehe, warum und wozu ich da bin: alles ist klar. Weil er da ist voller Licht und Wärme und ich in ihm völlig aufgehe: Alles ist gut, alles stimmt. Momente, von denen unser Glaube ausgeht, durch die er bestätigt und gestärkt wird. Auf der Höhe sein in meinem Glauben, high sein, ganz im Reinen mit Gott und der Welt – Gott sei Dank, das gibt es. Und ich bin sicher, jeder von uns hat von solchen Momenten auch schon etwas gespürt. Bei mir spielt die Musik dabei eine große Rolle. Da kann Freude und Jubel mich überschwemmen. Da fange ich im Inneren mit an zu singen und einzustimmen in das Loben und Danken.

Ein Jammer nur, dass wir solche Momente nicht festhalten und nicht wiederholen können. Wie gut ist da der Petrus zu verstehen mit seinem Vorschlag, Hütten zu bauen für Jesus und Mose und Elia. Damit sie nicht wieder gehen, sondern sich niederlassen und bleiben. 
Denn „alle Lust“ – so heißt es bei Nietzsche – „will tiefe, tiefe Ewigkeit.“

„Doch, als er noch redete, überschattete sie eine lichte Wolke.“ Noch ist sie hell, die Wolke. Das Erleben Gottes wird nicht mit einem Schlag beendet. Doch in dem Augenblick, in dem wir die Gegenwart verlängern möchten, fällt der Schatten der Vergänglichkeit auf sie. Und nun kommt etwas, was die die Jünger im wahrsten Sinne des Wortes umgehauen hat: Die Wolke der Vergänglichkeit, die Wolke, die das unmittelbare Erleben Gottes überschattet und beendet – sie trennt nicht von Gott. Aus ihr ist eine Stimme zu hören, die sagt: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Den sollt ihr hören.“ In dem Augenblick, in dem das religiöse Hochgefühl weicht und Gott uns wieder entschwindet, da ist von seinem Wohlgefallen zu hören. Ihm gefällt es, in den Zeiten seiner Abwesenheit – und die sind ja die Regel – in Jesus den Sohn, den Menschen zu haben, der ihn unter uns vertritt.

Also: Gott will seine Gegenwart verhüllen, will sich der Nachprüfbarkeit, der Beweisbarkeit entziehen, will, dass die Menschen über ihn rätseln bis dahin, dass sie ihn für nichtexistent erklären und nur noch ein mitleidiges Lächeln haben für die, die "noch" an ihn glauben. Gott will das. Daran wird sich vor dem Jüngsten Tage nichts ändern. Das ist in der Tat erschreckend und kann Menschen, die an ihm hängen, die sich verzehren vor Sehnsucht nach ihm, schon zu Boden werfen.

„Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: 'Steht auf und fürchtet euch nicht!'“ Denn Gott will, dass wir einen haben, der uns zu aufrechtem Gang verhilft. Einen, der mit uns hinabsteigt in die Niederungen eines Lebens, in dem von Gott nichts zu spüren ist. Der vom Berg herabsteigt, um sich den Menschen auszusetzen. Menschen, die sein Angesicht, das eben noch leuchtete wie die Sonne, bespucken. Menschen, die ihm die Kleider, die eben noch weiß waren wie das Licht, vom Leibe reißen und darum würfeln.

Von ihm war nichts mehr zu erwarten. Doch wie die Jünger nach Ostern haben wir seine Worte. Und die haben den Tod und all die Zeiten der Gottesferne überdauert.

Gut, dass es die Gipfelstunden des Glaubens gibt. Sie machen uns gewiss: Beim Hören wird es nicht bleiben. Die Zeit wird kommen, wenn Gott selbst seine Hütte unter uns Menschen hat und wir ihn stets vor Augen haben. Bis dahin wird nichts von dem, was wir vor Augen haben, bleiben, wie es ist. Die Worte Jesu aber, Worte des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, Worte des Lebens – sie bleiben bis in Ewigkeit.

Amen

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Superintendent i.R. Rudolf Rengstorf

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe Menschen vor Augen, die im Internet auf diese Predigt gestoßen sind und sie lesen möchten. Unter ihnen sind vielleicht Kolleginnen und Kollegen, die auf der Suche nach Impulsen für ihre eigne Predigt sind.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Tatsache, dass die Jünger erst nach der Verklärung Jesu von seiner Gottessohnschaft zu hören bekommen.
Seine Nähe zu Gott wird dann wichtig, wenn die Gotteserfahrung selbst im Abklingen bzw. gar nicht da ist.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass Jesus den am Boden Liegenden aufhilft und sie anregt, sich furchtlos ihrem Alltag zu stellen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Eine bessere Lesbarkeit, weil komplizierte Sätze aufgelöst wurden und der Gedankengang stringenter hervortritt.

Perikope
29.01.2023
17,1-9

Wer bist du? Drei Tischgespräche - Predigt zu Mt 9,9-13 von Jürgen Kaiser

Wer bist du? Drei Tischgespräche - Predigt zu Mt 9,9-13 von Jürgen Kaiser
9,9-13

Und als Jesus von dort weiterzog, sah er einen Mann, der Matthäus hieß, am Zoll sitzen. Und er sagt zu ihm: Folge mir! Und der stand auf und folgte ihm.

Gerne würde ich euch mehr erzählen über diesen Menschen, aber ich weiß fast nichts über ihn. Ich weiß nur, dass er Matthäus hieß und am Zoll saß und dass er aufstand und mit Jesus mitging. Ich weiß nicht, ob er eine Frau hatte und Kinder, und ob er sie verließ, als er Jesus folgte. Ich kann nicht sagen, ob er nur mal probehalber mitging, ein befristetes Schnupperpraktikum, um zu sehen, ob es was wäre, was fürs Leben oder doch nicht. Ich weiß nicht, ob er reich war und ob er was in die Gemeinschaftskasse der Jünger einzahlen musste. Gern würde ich auch wissen, was für ein Mensch er war, ob ehrlich oder gerissen. Ich soll über ihn predigen und weiß doch fast nichts über diesen Matthäus. Wir wissen so wenig über die Menschen, mit denen wir es zu tun haben. Vielleicht sollte ich mich nicht so zurückhalten. Der Mensch saß immerhin am Zoll. Soll wohl heißen, er war Zöllner. Damit ist doch alles gesagt! Er war ein Kollaborateur und er war korrupt. Zöllner standen im Dienst der römischen Besatzer. Sie pachteten eine Zollstation und konnten gern deutlich mehr einnehmen als das, was sie an Pacht zahlten. Sie wirtschaften in die eigene Tasche – von den Römern geduldete Korruption.
Matthäus also war ein Zöllner. Ich würde trotzdem gern wissen, ob er ein Zöllner war, wie es im Buche steht, oder ein anständiger Zöllner. Gibt es das überhaupt: einen anständigen Zöllner? Ich würde gern wissen, ob er glücklich war mit seiner Berufswahl. Ob er überhaupt eine Wahl hatte? Ob es ihm etwas ausmachte, einen zwar einträglichen, aber keinen angesehenen Beruf auszuüben. Ich würde gern wissen, ob Matthäus ein schlechtes Gewissen hatte und die dadurch verursachten Qualen mit Geld und einem gewissen Luxus betäuben konnte. Oder ob er kein Gewissen hatte und sich sagte: Was die anderen denken, ist mir egal; ich nutze die guten Verdienstmöglichkeiten, die die Römer bieten.

Ich gäbe etwas darum, mit diesem Matthäus sprechen zu können. Ich würde ihn zum Essen einladen. Beim Essen lernst du einen am besten kennen. Das geht schon bei der Auswahl der Speisen los. Isst eine alles, oder ist sie wählerisch? Wie nimmt er Messer und Gabel zur Hand? Redet sie auch oder konzentriert sie sich nur aufs Essen? Nimmt er nur sich selber oder reicht er auch den anderen die Speisen? Beim Essen lernst du einen Menschen gut kennen.

Tischgespräch 1: Jesus und Matthäus

Das wird sich auch Jesus gedacht haben: Beim Essen lernst du einen richtig kennen. Also ging er mit Matthäus, den er gerufen hatte und den er kennenlernen wollte, essen.
Sie kamen ins Gespräch. Sicher wird sich Jesus nach Matthäus erkundigt haben, ob er Familie habe, was er mit seinem Geld mache, welchen Pachtvertrag er mit den Römern habe, ob er glücklich mit seinem Beruf sei. Und dann werden sie ja nochmal besprochen haben, was das heißt, Jesus zu folgen. Man verlässt seine Familie, man verzichtet auf Besitz, man lebt von der Hand in den Mund, man vertraut auf die Gastfreundschaft. Es sei ein freies und ungebundenes Leben; man versuche, sich von allen Bindungen an Irdisches loszusagen. Aber das bedeute nicht, dass jeder machen könne, was er wolle. Es gebe Regeln. Und wenn einer die Regeln breche, werde er von seinem Bruder darauf hingewiesen. (Mt 18,15
Ich weiß nicht, wie dies Gespräch, wenn es überhaupt stattgefunden hat, ausgegangen ist. Ich weiß nicht, ob Matthäus bei Jesus geblieben ist und ein neues Leben angefangen hat oder ob er zu seiner Zollstation und in sein altes Leben zurückgekehrt ist. Ob dieser Matthäus der Matthäus ist, der kurz darauf unter den zwölf Jüngern genannt wird (Mt 10,3), weiß man nicht genau.

Was wir aber wissen, ist, dass außer Matthäus noch weitere Zöllner sowie andere Menschen zweifelhaften Rufes mit ihm aßen und sprachen und dass dann auch ein paar Pharisäer kamen. Nicht, um mit ihm zu essen, sondern um nachzusehen, mit wem sich Jesus da gemein macht.
Und es geschah, als er im Haus bei Tisch saß, dass viele Zöllner und Sünder kamen und mit Jesus und seinen Jüngern bei Tisch saßen. Als die Pharisäer das sahen, sagten sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Er hörte es und sprach: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Geht aber und lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.
Gerne würde ich euch mehr erzählen über diese Pharisäer. Aber ich weiß nicht mal, wie sie hießen. Ich weiß nur, dass sie Pharisäer sind. In den Evangelien lese ich, dass sie oft Streit mit Jesus suchten. Aus anderen Büchern aber erfahren wir, dass sie in vielem ganz ähnlich dachten wie Jesus. Also müssen sie miteinander ins Gespräch gekommen sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Pharisäer nichts auf das erwidert haben, was Jesus ihnen antwortete. Das Gespräch muss weitergegangen sein, obwohl es uns nicht berichtet wird.

Wir sollten daher jetzt unseren Glauben in Anspruch nehmen. Die Geschichten, die Jesus angefangen hat, gehen gut aus, weil sie Geschichten Gottes sind. Der Glaube setzt genug Fantasie frei, um auch die Geschichten über Menschen, die wir kaum kennen, gut ausgehen zu lassen. Der Glaube kann sich gut vorstellen, wie das ausgeht. Etwa so:

Tischgespräch 2: Jesus und die Pharisäer

Die Pharisäer kamen also, hörten sich an, was Jesus auf ihre Nachfrage antwortete und gaben zu verstehen, dass sie das gut verstanden haben. Denn auch ihnen sei Barmherzigkeit nicht fremd und auch ihnen sei es wichtiger, die Sünder zur Umkehr zu rufen und zu heilen, statt sie zu verurteilen.
Was aber sei mit denen, die nicht geheilt werden wollen? Die gäbe es ja auch, warf einer der Pharisäer ein. Ein anderer pflichtete bei: „Es gibt tatsächlich Menschen, die sehen es gar nicht ein und wollen nicht umkehren. Die haben keinerlei Unrechtsbewusstsein.“ – „Und nicht zu vergessen die, die selbst nie barmherzig sind, sondern hart und kalt“, ergänzte ein Kollege. „Können sie Barmherzigkeit von anderen erwarten? Können sie auf Gottes Barmherzigkeit hoffen?“ Und sie fragten Jesus, ob er nicht auch solche frustrierenden Erfahrungen gemacht habe, Erfahrungen mit unheilbaren Sündern?
Auch bei ihm gebe es Regeln, gab Jesus zu, und wer sie nicht einhalte, könne nicht bei ihm bleiben. Aber ihm sei wichtig, zuerst mit denen zu sprechen, über die er sich ärgere, bevor er sie verurteile. Er wolle erst erfahren, warum sie die Regeln nicht einhalten können, ob sie zu schwach seien oder ob andere Prinzipien dagegenstünden.
So kamen Jesus und die Pharisäer ins Gespräch. Ich stelle mir vor, dass es ein dichtes Gespräch über Regeln und Menschen wurde, ein Diskurs über Ethik im besten Sinne des Wortes. Sie sprachen über die Notwendigkeit von Werten und Prinzipien für das gesellschaftliche Zusammenleben. Wenn man aber nur auf diese Werte und Prinzipien schaue, könne es sein, dass man den konkreten Menschen aus dem Blick verliere. Den Pharisäern war dieser Gedanke nicht fremd. Auch über die Frage, ob man unter bestimmten Voraussetzungen Gesetze brechen dürfe, sprachen sie. Etwa, wenn ein höherer moralischer Wert es erfordere. Ob man etwa am Sabbat heilen dürfe (Mt 12,10–13). Und wenn es damals schon die sogenannten „Klimakleber“ gegeben hätte, würden sie sicher auch darüber gesprochen haben; ob deren Gesetzesbrüche, ob die Nötigung im Straßenverkehr ein legitimes Mittel sei, um darauf aufmerksam zu machen, dass dringend mehr gegen den Klimawandel getan werden müsse.
Doch die Pharisäer kamen wieder auf die Zöllner-Frage zurück. Sie erinnerten daran, dass es die Gesellschaft sei, die nach Orientierung verlange und darum nach Werten, Prinzipien und Regeln frage. Wer aber aufgefordert sei, Werte zu formulieren, müsse auch sagen, wo die Grenzen liegen und was eben nicht mehr gehe. Zöllner-Sein sei dann eben mit diesen Werten nicht mehr vereinbar, meinten die Pharisäer. Wer Geld eintreibt, um die Besatzungsmacht zu finanzieren, verlasse den Boden des Gesetzes Gottes.
„Redet mit Matthäus“, sagte Jesus. „Redet mit ihm, er sitzt hier am Tisch. Und wenn ihr ihn kennengelernt habt und immer noch der Meinung seid, er sei ein Sünder, dann sagt es ihm ins Gesicht.“
Und so setzen sich die Pharisäer zu Matthäus und lernen ihn kennen.

Tischgespräch 3: Matthäus und die Pharisäer

Wie mag nun dieses Gespräch ausgegangen sein? Es mag sein, dass er trotzig zu seiner Zollstation zurückkehrte, weil ihm das ganze moralische Geschwätz auf die Nerven ging und sich die Pharisäer daraufhin bestätigt fühlten: Zöllner sind und bleiben unverbesserliche Sünder.
Oder Matthäus ging zu seiner Zollstation zurück, aber nicht trotzig, sondern traurig und mit schlechtem Gewissen, denn er wusste genau, dass er nicht den saubersten Beruf hatte. Doch er konnte nicht aus seiner Haut. Er hatte Verantwortung für andere. Seine Familie, seine Mitarbeiter waren auf seine Einkünfte angewiesen.
Es könnte allerdings auch sein, dass ihn die Argumente der Pharisäer überzeugt hatten: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Deshalb würde er bei den Römern kündigen, seinen Beruf aufgeben und bei Jesus bleiben.

Ich weiß nicht, wie dieses Gespräch zwischen dem Zöllner und den Pharisäern ausgegangen ist, wenn es überhaupt stattgefunden hat. Ich glaube aber, dass das Gespräch allen zu denken gegeben hat. Alle haben über sich nachgedacht, der Zöllner über seinen Beruf und sein Verhalten und die Pharisäer über ihre Werte und Prinzipien. Es war dann auch kein Gespräch zwischen Pharisäern und einem Zöllner, sondern ein Gespräch zwischen Matthäus und Menschen, deren Namen Matthäus kennengelernt hat. Dass Matthäus Zöllner war und die anderen Pharisäer waren, das hat in diesem Gespräch irgendwann kaum mehr eine Rolle gespielt.

Wer bist du, Matthäus? Wer seid ihr, ihr Pharisäer? Wir wissen so wenig über die Menschen, über die wir urteilen.
Bevor du überprüfst, ob sich Menschen an die Werte und Prinzipien halten, die dir wichtig sind, rede mit ihnen, lerne sie kennen, höre ihre Geschichten an, frag nach ihrem Glauben und frag nach ihrem Namen! Und geh mit ihnen essen! Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Bildungsbürgerlich geprägte, kulturell interessierte Großstadtgemeinde, teils mit historischem Migrationshintergrund (Hugenotten) und hohem Akademikeranteil, darunter einige Theolog/inn/en und Ruhestandsgeistliche.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die einfache Einsicht, dass man Menschen, die man nicht persönlich kennt, in Schubladen einordnet und Menschen aus Schulbladen und hinter Vorurteilen hervorkommen, wenn man mit ihnen spricht und sie kennenlernt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Jesus befreit zwar die Zöllner von ihrer Stigmatisierung, aber er bzw. die Evangelien stigmatisieren die Pharisäer. Es ist unsere Aufgabe, auch die Pharisäer aus der Stigmatisierung durch die Evangelien herauszuholen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich wurde auf einige störende Redundanzen aufmerksam gemacht, so dass einige Abschnitte gekürzt und verdichtet werden konnten, andere hingegen waren zu dicht und mussten etwas gelockert und konkretisiert werden.

 

Perikope
05.02.2023
9,9-13

Gottes Familiengeschichten - Predigt zu Mt 1,1-17 von Matthias Rein

Gottes Familiengeschichten - Predigt zu Mt 1,1-17 von Matthias Rein
1,1-17

Liebe Gemeinde,

unsere weihnachtliche Grußliste war lang in diesem Jahr. Darauf die üblichen Namen: Eltern, Geschwister, Neffen und Nichten. Dann der weitere Kreis: Paten, Schwiegereltern der Kinder, alte Familienfreunde. Und natürlich: Freunde, Bekannte, Nachbarn. Zu Weihnachten schauen wir genauer hin: Wo gehöre ich hin? Zu wem gehöre ich? Was erzählen die Geschichten? Was zieht sich durch? Was ändert sich? Wir kramen alte Familiengeschichten hervor: Weißt du noch, unser erstes gemeinsames Weihnachten bei Freunden in einem verschneiten mecklenburgischen Dorf? Weihnachten 1989 mit offenen Grenzen! Unsere Freunde aus der Schweiz kamen spontan. Und Scott mit seinem amerikanischen Pass brauchte einen Stempel von der amerikanischen Botschaft, um zurückzukommen. Als die Kinder die Weihnachtsgeschenke vor der Bescherung fanden. Und die Erinnerungen gehen zurück: das letzte Weihnachten mit der Großmutter, mit der Mutter, Weihnachten in Notzeiten, Weihnachten mit der großen Familie.
Familiengeschichten.
Sie zeigen, woher wir kommen. Sie zeigen, wie sich Lebensumstände ändern. Was trägt und prägt in allem Wandeln. Ich finde bemerkenswert, wie konkret sich ein Jahrhundert mit Krieg, Flucht, Mauerbau, Mauerfall, Leben mit offenen Grenzen in Europa in meiner Familie abgespielt hat.

Liebe Gemeinde, Sie haben ein Blatt Papier in der Hand. Darauf stehen 45 Namen. Diese Namen bilden den Stammbaum Jesu nach der Aufstellung des Evangelisten Matthäus. Der Stammbaum schreitet drei Zeiträume in Israels Geschichte ab. Der erste Abschnitt beginnt mit Abraham und schlägt den Bogen zu David – die Zeit der Väter und der Mütter Israels. Der zweite Abschnitt beginnt mit David und reicht bis Jechonja – die Zeit der Könige Israels. Und der dritte Abschnitt reicht von Schealtiel bis Mattan – die Zeit der Priester am Tempel in Jerusalem. Der Stammbaum zeigt: Mit Abraham gibt es los. Die großen Könige Israels David und Salomo gehören zu Jesu Ahnen. Jesus wird in Bethlehem geboren, der Stadt Davids. Jesus ist der neue, der andere König Israels.

Zu jedem dieser Namen gehören Geschichten, gehören Gotteserfahrungen. Die Geschichten können wir jetzt nicht alle erzählen. Aber drei Namen, liebe Gemeinde, fallen besonders auf. Es sind Namen von Frauen in Jesu Stammbaum.
Zu den Väter Israels, zu Abraham, Isaak und Jakob gehören die großen Frauen Sara, Rebekka und Rahel. Sie werden aber nicht erwähnt. Dafür erscheinen die Namen von Tamar, Rahab und Ruth. Das fällt auf, denn diese drei Frauen sind keine Israelitinnen, sie gehören nicht vom Volk Israel, sie sind Fremde. Welche Geschichten gehören zu ihren Namen? Warum erwähnt sie Matthäus?

Wir tauchen kurz ein in die Geschichten dieser Frauen.
Bei Tamar und Ruth geht es um die Kinder.

Tamar ist Kanaaniterin. Sie wird die Frau Gers, Sohn den Stammvaters Juda. Ihr Mann stirbt, sie bleibt kinderlos. Mit großer List und Verführungsgeschick sorgt sie dafür, dass sie schwanger wird von ihrem Schwiegervater Juda. Als das ans Licht kommt, soll sie wegen Ehebruch sterben. Dann kommt heraus, dass Juda, der fromme Israelit, Vater des Kindes ist. Er sagt einen beeindruckenden Satz über die fremde Frau Tamar: „Sie ist gerecht, ich nicht!“

Ruth, die fremde Frau aus Moab, muss erleben, wie ihr Mann Elimelech stirbt. Auch sie bleibt zunächst kinderlos. Sie folgt ihrer Schwiegermutter Noomi nach Bethlehem. Dort wird sie, die Fremde, Ehefrau des Boas und bringt das ersehnte Kind zur Welt. Die Frauen in Bethlehem preisen Ruth und sagen zu Noomi, ihrer Schweigermutter: „Ruth, deine Schwiegertochter, die Fremde, hat dich geliebt und hat einen Sohn geboren, der dich versorgen wird. Sie ist mehr wert als sieben Söhne.“ Sie ist mehr wert als sieben Söhne. So wird Ruth die Großmutter von König David.

Die Frauen aus der Fremde erweisen sich als Gerechte, als Liebende. Gott setzt mit ihnen Israels Geschichte fort. Sie sind Zukunftsträgerinnen. Israel ehrt sie bis heute mit großer Wertschätzung und Dankbarkeit.

Und dann gibt es da noch die Geschichte von der Prostituierten Rahab aus Jericho. Sie versteckt zwei Kundschafter aus Israel und bewahrt sie vor dem Tod. Dafür wird sie bei der Einnahme der Stadt verschont und lebt fortan geachtet im Volk Israel. So heißt es im Buch Josua: „Rahab aber, die Hure, blieb in Israel wohnen bis auf den heutigen Tag, weil sie die Boten verborgen hatte, die Josua ausgesandt hatte, um Jericho auszukundschaften.“ (Josua 6,25). Rahab entscheidet sich für den Gott Israels. „Durch den Glauben kam sie nicht mit den Ungehorsamen um,“ so deutet der Hebräerbrief, „da sie die Kundschafter in Frieden aufgenommen hatte.“ (Hebr 11,31).

Bewegende Geschichten.

Israel erlebt auf seinem Weg mit Gott große Überraschungen. Auf Gottes Heilsweg finden sich List, sogar Verrat, handeln wildfremde Menschen mutig und unerwartet. Gott wirkt, oft im Verborgenen und doch heilsam und zukunftsschaffend. Gott wirkt durch die Fremden zum Heil für sein Volk und für die Welt.

Familiengeschichten.

Kürzlich saßen wir in unserer Familie zusammen. Meine Mutter erzählte. Ein Bruder der Großmutter verließ um 1930 die westpreußische Provinz und ging nach Kanada. Er wurde Pfarrer der lutherischen Gemeinde in Toronto und leitete die Seemannsmission in New York. 1946 schickte er Hilfspakete für die Verwandten nach Norddeutschland, die ihre Heimat verloren hatten und hungerten. Ein Paket aus Kanada! Eine Sensation. Der ferne Onkel half. Der letzte Kontakt reicht 70 Jahre zurück, aber der Onkel in Kanada hat einen Platz im Familiengedächtnis: Der Mann lebt tausende Kilometer entfernt von uns. Er denkt an uns und hilft.

Wir forschen im Internet und finden den Onkel in Kanada. Geboren 1913 in einem Flecken in Westpreußen, gestorben 1983 in Toronto, drei Söhne, sieben Enkel.

Jesu Familiengeschichte ist spannend. Maria wird schwanger und Josef weiß von nichts. Er will seine Frau verlassen. Dann tritt der Engel auf und erklärt, was geschehen ist. Gott wirkt. Das Prophetenwort erfüllt sich. Gottes Geist hat das Kind entstehen lassen. Es wird das Volk retten und trägt den vielsagenden Namen „Immanuel“, Gott mit uns. Dieser Jesus wird großen Glauben unter den Fremden finden, mehr als bei den Menschen aus dem eigenen Volk. Dieser Jesus wird sagen, dass alle, die an ihn glauben, zu seiner Familie gehören. Er wird die Kinder segnen und den verstoßenen Frauen helfen. Gott mit uns – das beginnt mit Jesu Geburt neu und setzt doch fort, was seit Abraham erfahren wurde. Gott begleitet, rettet und geht voraus.

Viele Weihnachtsgeschichten, liebe Gemeinde.
Nehmen Sie sich die Zeit, diese Geschichten zu erzählen und ihre Bedeutung zu durchdringen.
Wir werden Zeugen der großen Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen.
Und wir entdecken: Wir gehören zur Familie Gottes.
Und dazu gibt es viel zu erzählen.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Dr. Matthias Rein

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Wir feiern einen festlichen Gottesdienst mit Abendmahl am 2.Weihnachtsfeiertag im Kapitelsaal des Ev. Augustinerklosters Erfurt. Gäste des Klosters und Gemeindeglieder werden an dem Gottesdienst teilnehmen, ich rechne mit 70 Besuchern. Landeskirchenmusikdirektor Ehrenwerth wird den Gottesdienst musikalisch einfühlsam gestalten.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Spannend wird es, über eine Liste mit 45 Namen zu predigen, wenn ich den einzelnen Lebensgeschichten nachgehe. Mit Tamar, Ruth und Rahab setzt Matthäus einen starken inhaltlichen Akzent. Auch in der eigenen Familie finden sich Geschichten, die Gottes Wirken in der Welt aufscheinen lassen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Gottes Wirken geht mitunter sehr wundersame Wege (siehe die Geschichte Tamars und Rahabs). Besondere Ereignisse in der Familie bleiben erstaunlich lange im Gedächtnis.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Wichtig war, sich auf exemplarische Geschichten zu konzentrieren und die Pointe dieser Geschichten in Worte zu fassen. Dabei sollten auch die vermeintlich „befremdlichen“ Erzählelemente beibehalten werden (Tamar / Rahab).

Perikope
26.12.2022
1,1-17