Schöpfung emotional - Predigt zu Gen 1,1-2,4a von Sonja Wiedemann
Skepsis
Liebe Gemeinde,
Gott hat die Welt in sieben Tagen erschaffen. Und die Kinder bringt der Storch. Es sind Menschen, die sich diese Geschichten ausgedacht haben. Mit unterschiedlichen Intentionen: Die Kinder-Storch-Geschichte, um mit Kindern nicht über die menschliche Sexualität sprechen zu müssen. Den ersten Schöpfungsbericht, unseren heutigen Predigttext, um die Ordnung der Welt darzustellen und zu zeigen, dass die gesamte Schöpfung in Gottes Augen gut ist.
Was macht das mit Ihnen, liebe Gemeinde, wenn Sie die beiden Geschichten hören?
Sie könnten wütend werden. Wütend deshalb, weil wir im 21. Jahrhundert solche Märchen nicht mehr nötig haben. Weil wir mit dem Wissen um Urknall, Evolutionstheorie und Sexualität nicht durch eine Erzählung für dumm verkauft werden wollen.
Sie könnten gelangweilt sein. Weil Sie es besser wissen und die Schöpfung in sieben Tagen nun wirklich keine Relevanz mehr für unsere Gesellschaft hat.
Sie könnten amüsiert sein, leise unter Ihrer Maske in sich hineinlächeln, weil Ihnen früher auch die Geschichte vom Storch erzählt wurde und Sie sie geglaubt haben.
Oder Sie sind fasziniert. Sie fragen sich, wie und warum es solche Geschichten geschafft haben, so lange weitererzählt zu werden, wieso es gerade sieben Tage sind und nicht zehn, warum ausgerechnet der Storch die Kinder bringt und nicht das Känguru.
Was macht es mit Ihnen, liebe Gemeinde?
Licht
Zu Beginn hat Gott Himmel und Erde geschaffen. Da war die Erde Chaos und Wüste, Dunkelheit war da angesichts der Urflut, und Gottes Geistkraft bewegte sich angesichts der Wasser. Da sprach Gott: »Licht werde«, und Licht wurde. Gott sah das Licht: Ja, es war gut. Und Gott trennte das Licht von der Finsternis. Gott nannte das Licht ›Tag‹ und nannte die Finsternis ›Nacht‹. Es wurde Abend und wurde Morgen – Tag eins. (BigS Gen 1,1-5)
Ich komme aus dem Club. Der Schweiß und die stickige Luft kleben mir noch immer am Körper. Ich streife meine Jacke über. Leicht benommen von der lauten Musik, vom Tanzen schlendere ich durch die Stadt. In der Ferne sehe ich, wie sich der Himmel rosa färbt. Ich kaufe mir bei der eben öffnenden Bäckerei Kaffee und Croissant – es kommt mir vor wie das beste Frühstück, das ich jemals gegessen habe. Ich setze mich auf den Bordstein und sehe dabei zu, wie das Licht des anbrechenden Tages die Stadt langsam flutet, wie die Sonne sich zwischen den Fassaden der Häuser hindurchkämpft.
Himmel
Da sprach Gott: »Es soll ein Gewölbe mitten in den Wassern sein, so dass es Wasser von Wasser trennt.« Und Gott machte das Gewölbe und es trennte das Wasser unterhalb des Gewölbes von dem Wasser oberhalb des Gewölbes. So geschah es. Gott nannte das Gewölbe ›Himmel‹. Es wurde Abend und wurde Morgen – ein zweiter Tag. (BigS Gen 1,6-8)
Du stehst auf einem Berg, mitten in den Alpen. Unter dir erstreckt sich die Landschaft, du siehst Straßen, Bachläufe, Dörfer. Alles winzig klein. Und dann legst du den Kopf in den Nacken. Du wirst geblendet, trotzdem senkst du den Kopf nicht. Die unendliche Weite des Himmels, dieses satte, intensive Blau zieht dich an. Um dich herum ist nichts. Nur der Himmel und du.
Pflanzen
Da sprach Gott: »Die Erde lasse Grünes aufsprießen: Gewächse, die Samen aussäen, Fruchtbäume, die nach ihrer Art Früchte hervorbringen, in denen ihr Same ist, oberhalb der Erde.« Und so geschah es: Die Erde brachte Grün hervor, Gewächse, die Samen aussäen nach ihrer Art, Bäume, die Früchte hervorbringen, in denen ihr Same ist nach ihrer Art. Und Gott sah: Ja, es war gut. Es wurde Abend und wurde Morgen – ein dritter Tag. (BigS Gen 1,11-13)
Über ihr rascheln die Blätter im Wind. Ein Ast knackt unter ihrem Fuß. Sie erreicht den Rand der Lichtung. Sie zieht Schuhe und Socken aus. Setzt erst den linken, dann den rechten Fuß ins weiche Kühl des Moos‘. Schritt für Schritt läuft sie zu der Stelle, an der ihr die Sonne direkt ins Gesicht scheint. Sie schließt die Augen, fühlt die Wärme auf ihrem Gesicht, hört die Stimmen des Waldes.
(Tiere im) Wasser
Da sprach Gott: »Das Wasser unter dem Himmel soll an einem Ort gesammelt werden, so dass das Trockene sichtbar wird.« So geschah es. Gott nannte das Trockene ›Erde‹ und die Ansammlung des Wassers ›Meer‹. Und Gott sah: Ja, es war gut. […] Da sprach Gott: »Die Wasser sollen nur so wimmeln von lebenden Wesen, und über der Erde sollen Flugtiere fliegen – angesichts des Himmelsgewölbes.« Da schuf Gott die großen Seeungeheuer und jedes sich bewegende Lebewesen, von denen das Wasser wimmelt nach ihren Arten, und alle geflügelten Tiere nach ihren Arten. Und Gott sah: Ja, es war gut. Da segnete Gott sie und sagte: »Seid fruchtbar, vermehrt euch und füllt die Wasser der Meere. Die Flugtiere aber sollen sich auf der Erde vermehren.« Es wurde Abend und wurde Morgen – ein fünfter Tag. (BigS Gen 1,9-10.20-23)
Ich habe die Taucherbrille auf meiner Stirn, der Schnorchel baumelt links neben meinem Gesicht. Über mir kreischen die Möwen. Mein Körper schaukelt mit den Wellen – auf und ab. Ich schwimme zu der Boje, die den Beginn markiert. Ich lasse den Blick schweifen. Schaue zum Strand, zu den bunten Sonnenschirmen. Schaue hinaus, auf die endlose blaue Oberfläche. Ich ziehe die Taucherbrille über Nase und Augen und stecke mir den Schnorchel in den Mund. Ich atme dreimal tief ein und aus, dann tauche ich ab. Wie bunt die Welt dort unten ist: Korallen wiegen sich mit der Bewegung des Wassers hin und her. Zwischen und über ihnen wimmelt es an Fischen. Manche sind so klein wie der Fingernagel meines kleinen Fingers, manche so groß wie meine Handfläche. Sie sind gelb, grün, blau, grau. Gestreift, gefleckt, gepunktet. Manche schimmern im einfallenden Sonnenlicht.
Gewürm
Da sprach Gott: »Die Erde soll lebende Wesen hervorbringen je nach ihrer Art, Vieh, Kriechtiere, das Wild der Erde nach seinen Arten.« Und so geschah es: Gott machte das Wild der Erde nach seinen Arten, das Vieh nach seinen Arten und alle Kriechtiere auf dem Acker nach ihrer Art. Und Gott sah: Ja, es war gut. (BigS Gen 1,24-25)
Ich stehe mit dem Spaten im Garten. Die Sonne gewinnt langsam an Kraft, der Schnee ist schon lange geschmolzen. Endlich setze ich meinen Traum in die Tat um. Ich ramme den Spaten in die Erde, stelle mich mit dem Fuß drauf. Spatenstich für mein Gemüsebeet. Nach und nach lockere ich die Erde, hebe ein Loch aus. Auch dort wimmelt das Leben. Ich bin ein bisschen angeekelt. Würmer, Spinnen, Raupen, Käfer suchen das Weite. Nach dem anfänglichen Ekel erreicht der Gedanke meinen Kopf, dass das Leben im Boden notwendig ist, damit mein Gemüse wachsen kann.
Jubel
Liebe Gemeinde, heute ist Sonntag Jubilate. Jubilate – freut euch und jubelt!
Ja, wir könnten wütend sein über die Systeme und Menschen, denen ihre Umwelt egal ist. Die ihren Lebensraum mutwillig zerstören. Die das Leben ganzer Nationen auslöschen.
Ja, wir könnten gelangweilt sein von der Welt, die uns doch täglich umgibt und uns selten positiv überrascht.
Ja, wir könnten amüsiert sein über die Naivität, die uns die Schönheit der Schöpfung angesichts eines steigenden Meeresspiegels weismachen will.
Aber wir können auch fasziniert sein. Vom Ineinandergreifen des Lebens, von den Naturschauspielen der Jahreszeiten, von der Ordnung der Schöpfung. Davon, dass die Störche auf unseren Schornsteinen immer wieder ihre Nester bauen. Liebe Gemeinde, heute will ich einstimmen in den Jubel über diese Welt. Sie auch?
Und Gott sah alles, was Gott gemacht hatte: Sieh hin, es ist sehr gut. (BigS Gen 1,31)
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Vor Augen steht mir als Predigtort ein kleines Kirchlein auf dem Dorf in Sachsen. Die Gottesdienstbesucher*innen sind altersmäßig bunt gemischt, von Konfirmand*innen bis hin zu sehr alten Menschen ist alles dabei.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich habe mich beim Schreiben immer wieder an verschiedene Situationen erinnert, in denen mir aufgefallen ist, wie schön die Welt ist, in der ich leben darf. Diese Faszination möchte ich mir durch alle Krisen hindurch bewahren.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Schöpfung muss nicht nur gut und schön sein, sondern sie kann auch Ängste und/oder Ekel hervorrufen. All diese Emotionen sind in der Schöpfung mitgegeben und haben ihre Berechtigung. Darüber möchte ich weiterhin nachdenken.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich habe die Zahl der Bilder reduziert, den Anspruch auf Vollständigkeit über Bord geworfen. Dadurch können die vorhandenen Bilder besser wirken. Außerdem wurde der ursprüngliche Einstieg zu einem Rahmen um diese Bilder.
Link zur Online-Bibel
17.07.2022 - 5. Sonntag nach Trinitatis
Abel, steh auf! Es muss neu gespielt werden! - Predigt zu Gen 4,1-16 von Manfred Wussow
41Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mithilfe des Herrn. 2Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. 3Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes. 4Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, 5aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. 6Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? 7Ist’s nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. 8Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. 9Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? 10Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. 11Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. 12Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. 13Kain aber sprach zu dem Herrn: Meine Schuld ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. 14Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir’s gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. 15Aber der Herr sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. 16So ging Kain hinweg von dem Angesicht des Herrn und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.
Ein Kriminalfall – Nr. 1
Es war eine dünne Akte. Nur ein paar Seiten. Schon oft hervorgeholt. Immer wieder weggelegt. Der Fall Nr. 1: Ein Brudermord. Die Lebensläufe von Täter und Opfer haben Lücken. Der eine ist Bauer, der andere Schäfer. Ihre Namen: Kain und Abel. Aber mehr wissen wir nicht. Die Eltern sind aus dem Paradies geflogen. Erst wurde Kain geboren, dann Abel. Es waren raue Zeiten. Adam, so der Name des Vaters, hatte hart zu arbeiten. Er musste sich seine Existenz mühsam aufbauen. Der Boden war widerspenstig, Ernten meist knapp und jeder Tag hart. Eva, die Mutter, wusste oft nicht, wie sie ihre Familie durchbringen sollte. Doch auch die Geschichte der beiden Eltern lässt sich kaum rekonstruieren.
Was hat Kain, was Abel vom Leben kennengelernt? Wie sind sie aufgewachsen? Was hat sie verbunden, was getrennt? Kain trat in die Fußspuren seines Vaters, Abel zog mit einer Herde Schafe von Weide zu Weide. Kain ist sesshaft geworden, Abel ein Nomade. Wie oft sich die beiden gesehen haben? Ich weiß es nicht. Die Ermittlungen kommen an ihre Grenzen. Gab es Konflikte? Sind sie über die Jahre gewachsen? Was gab den letzten Ausschlag – für den Mord an jenem Tag, an dem die Erde zum ersten Mal Blut schlucken musste? Unschuldiges Blut.
Die Erde als Nebenklägerin
Die Erde tritt als Nebenklägerin auf.
Ich blühe, ich wachse, ich gebe Raum, sagt sie. Leidenschaftlich. Gott hat mich für alle Menschen geschaffen. Ich bin ein großer Garten. Heimat für alle. Mit Mord und Totschlag, Krieg und Vertreibung, Flucht und Ausbeutung kann ich nicht leben. Eure Gewalt macht mich kaputt!
Geschwister
Meine Finger spielen mit den Blättern. Ich suche nach mehr. Es ist eine dünne Akte. Nur ein paar Seiten.
Kain hat wohl das Gefühl, zurückgesetzt, gar abgewiesen zu sein. Ist er zu kurz gekommen? Wurde er übervorteilt? Benachteiligt? Von seinen Eltern, von Abel, von Gott? Die Akte gibt nichts her. Blödes Gefühl. Ist Abel, der jüngere Bruder, mehr als er? Kain schweigt. Es ist auch nur von einem einzigen Anlass die Rede – es gibt keine Wiederholung, keine Steigerung, keine Serie.
Kain und Abel bringen Opfer dar, der eine mit Gaben vom Feld, der andere mit einem Lamm. Das Erste und das Erstbeste sollte Gott gehören. Aber Kains Opfer wird nicht angenommen, Abels Opfer wohl. Warum? Einen Hinweis, woran Kain die Ablehnung, Abel die Annahme gemerkt haben, finde ich nicht. Auch nicht, wie sie untereinander damit umgegangen sind. Haben sie darüber geredet? Kam es zum Streit?
Gott haben sie nicht gefragt. Kain nicht, Abel auch nicht.
Warum hat Gott nicht die beiden Opfer annehmen können? Tief ist er jetzt in diese Geschichte verwickelt und verstrickt. Aber er sagt nichts dazu. Für Kain möchte ich jetzt einen Entschuldigungsgrund suchen, mildernde Umstände. Doch bin ich sein Anwalt? Was ist mit Abel? Der liegt erschlagen auf dem Feld. Arglos ist er mit seinem Bruder mitgegangen. Es gibt keine Zweifel, keine Ahnungen. Es wird ein Tag wie jeder andere gewesen sein. Ob die Sonne schien? Von einem Mord haben die beiden auch noch nie etwas gehört. Schrecklich, dass alles, auch so etwas, einmal das erste Mal sein muss. Das Gefühl, zurückgesetzt, gar abgewiesen zu sein, rechtfertigt einen Mord?
Da muss doch eigentlich noch mehr sein. Aber was? Kain handelt auch nicht im Affekt. Kain handelt mit Vorsatz. Komm, Abel!
Fremder Bruder
Es ist eine uralte Geschichte. Eine Urgeschichte. Eine Urgeschichte des Menschlichen – Allzumenschlichen – Unmenschlichen.
Manchmal denke ich an meinen Bruder. Er ist schon lange tot. Irgendwann haben wir uns aus den Augen verloren. Zu unterschiedlich waren die Wege, die Wünsche, die Möglichkeiten. Die Fremdheit wuchs. Worte hatten wir dafür nicht. Es ging alles ganz langsam. Schweigend.
Feindlicher Bruder
In der Klinik erzählt mir eine Patientin, wie sie und ihr Bruder in einem Erbstreit bitterste Feinde wurden. Obwohl sie an einem Ort leben, wechseln sie die Straßenseite, wenn sie sich von weitem sehen. Sie reden schon lange nicht mehr miteinander. Nicht einmal übereinander. Zwei Tote. Aber die Frau leidet darunter. Jetzt, in der Klinik, ist sie mit sich alleine. Ich höre nur zu. Dann bricht es aus ihr heraus. Wenn sie wieder zu Hause ist, will sie bei ihrem Bruder klingeln.
Fremde Welt
Völker sind verschwistert. Alle? Alle! Adam und Eva sind nicht nur die Eltern von Kain und Abel – sie sind die Urururureltern aller Menschen. Eine Familie sind wir.
Doch: Menschen müssen fliehen, sie werden vertrieben, sie werden missbraucht.
Menschen werden umgebracht, irgendwo verscharrt, der Vergessenheit anheimgestellt.
Dann werden Gründe gesucht, sich voneinander abzuheben und Gründe gefunden, Angst voreinander zu haben. Selbst alte Geschichten werden in Waffen verwandelt.
Dann geht man auf’s Feld …
„Abel, lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.“
Gedicht für Abel
Abel steh auf
es muss neu gespielt werden
täglich muss es neu gespielt werden
täglich muss die Antwort noch vor uns sein
die Antwort muss ja sein können
wenn du nicht aufstehst Abel
wie soll die Antwort
diese einzig wichtige Antwort
sich je verändern
Hilde Domin hat Abel dieses Gedicht gewidmet.
Abel!
Steh auf!
Es muss neu gespielt werden!
Was Namen verraten
Kain und Abel sind Brüder. Sie haben ihre Namen bekommen wie ich meinen, Sie Ihren. Wir waren ganz klein. Liebevoll, zärtlich wurden wir gerufen. Liebevoll, zärtlich nennen wir Namen bis heute. Liebevoll, zärtlich sind die Namen, die wir geben. Komm, Kain! Komm, Abel! Kommt rein. Die Sonne geht schon unter.
Kain trägt in seinem Namen einen Speer, etwas Hartes – Abel heißt übersetzt „Hauch“. Hebräisch Hevel. Der Name klingt weich, verletzlich. Wird der „Hauch“ bestehen?
In der Geschichte der beiden Brüder sind alte Konflikte versteckt. Konflikte um Anerkennung, Dominanz und Einfluss, Konflikte, die keine Schwäche vertragen. Aber auch Konflikte um Liebe, um ein offenes Ohr, um Verständnis.
Damals war es auch ein Konflikt um Land. Die Akte deutet es nur an. Menschen, die Land besitzen und bewirtschaften, wehren sich gegen die, die als Nomaden umherziehen und mit ihrem Vieh in das geordnete Kulturland einbrechen. Es gleicht einer Kaskade: Kain wehrt sich gegen Abel. Sesshafte wehren sich gegen Obdachlose. Einheimische wehren sich gegen Flüchtlinge. Arrivierte wehren sich gegen Habenichtse. Menschen wehren sich gegen Menschen, Familien gegen Familien, Völker gegen Völker.
Kain, wo ist dein Bruder Abel?
Was Gott verrät
Die Akte verrät etwas. Ich habe danach auch schon gesucht. Kain wurde gewarnt. Von Gott. „Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist’s nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“
Du aber herrsche über sie – worüber? Über die Sünde? Über die Sünde! Wow! Kein Zweifel – Gott traut es Kain zu. Über die Sünde zu herrschen.
Kain aber redet sich heraus. Es hört sich frech an. Oder ausweichend? Gar ertappt?
Bin – ich – denn – Hüter – meines – Bruders? Ob Kain rot wird? Stottert? Kain, was sagst du da? Eisige Kälte weht aus den Worten.
Abel war Hirte, Hüter! Er hat auf seine Herde geachtet. Er hat sie auf fette Weiden geführt. Er hat sie vor Wölfen geschützt. Kain distanziert sich. Von Abel. Aber auch von der Rolle eines Hüters überhaupt! Hat er sie jemals kennengelernt? Als Ackermann mag ihm diese Rolle nicht auf den Leib geschneidert gewesen sein. Aber auch er weiß, wie die Erde gepflegt, bewahrt und behütet werden muss, um Früchte, Getreide und Gemüse wachsen zu lassen. Kain hat noch keinen Hunger erlebt.
In der Akte ist das Urteil Gottes vermerkt. Nur sein Urteil. Ich suche nach den Plädoyers, den Plädoyers des Anklägers, des Verteidiger. Bis auf die Erde als Nebenklägerin finde ich nichts. Dass Kain nicht zum Tode verurteilt wird, ist in dieser Geschichte schon ein Wunder. Dass er sein Leben neu beginnen soll, überrascht Zeitgenossen und Nachfahren. Was Abel wohl dazu sagt? Widerfährt ihm Gerechtigkeit? Wie könnte diese Gerechtigkeit aussehen? Es ist das erste Mal, dass ein Mord aufzuklären ist. Die Todesstrafe wird nicht eingeführt.
Überdeutlich wird, dass Gott dem Tod nicht das letzte Wort gibt oder lässt. Kain muss aber weggehen – um noch einmal neu anzufangen. Er muss ein Fremder werden – um noch einmal heimisch zu werden. Er wohnt jetzt im Lande Nod. Von Gott gezeichnet. Jenseits von Eden. Behütet. Beschützt. Bewahrt.
Abel, Abel, wo ist dein Bruder Kain?
Jenseits von Eden …. Jenseits von Eden ist Kain. Wo ist jenseits von Eden? Ich suche auf der Karte – nichts. Ich nehme einen historischen Atlas – nichts. Ich recherchiere im Internet – nichts. Jenseits von Eden sind wir alle. Fern vom Paradies – und doch ständig auf der Suche nach ihm.
Gott selbst ist – jenseits von Eden.
Wir sind – jenseits von Eden.
Jenseits von Eden
John Steinbeck hat unter dem Titel „Jenseits von Eden“ 1952 Familiengeschichten mit ihren Abgründen erzählt. Geschichten, die nicht verbergen, Geschichten von Kain und Abel zu sein. Der Roman wurde ein Bestseller, in viele Sprachen übersetzt. Kain und Abel – das ist Weltliteratur. Mit vielen Namen und Konstellationen, Konflikten und Hoffnungen.
Nino de Angelo hat 1983 einen Hit gelandet und für Monate die Charts erobert: „Jenseits von Eden“
Hier zwei Strophen:
Wenn selbst ein Kind nicht mehr lacht wie ein Kind
Dann sind wir jenseits von Eden
Wenn wir nicht fühlen
Die Erde, sie weint
Wie kein andrer Planet
Dann haben wir umsonst gelebt
Wenn unser Glaube nicht mehr siegen kann
Dann sind wir jenseits von Eden
Wenn jede Hoffnung nur ein Horizont ist
Den man niemals erreicht
Dann haben wir umsonst gelebt
Dann haben wir umsonst gelebt
Jenseits von Eden ist:
Wenn selbst ein Kind nicht mehr lacht wie ein Kind …
Wenn unser Glaube nicht mehr siegen kann …
Doch:
Wenn wir nicht fühlen – die Erde, sie weint …
Wenn jede Hoffnung nur ein Horizont ist, den man niemals erreicht …
Dann haben wir umsonst gelebt.
Abel, wo ist dein Bruder Kain?
Abel, Kain sucht dich!
(Diese Geschichte hat sich vor geraumer Zeit zugetragen: Als selbst kleine Bäche und liebliche Flüsse sich in Fluten verwandelten, als Wiesen überliefen, als Häuser brachen und Straßen verschwanden, da kamen von weither Menschen, um anzupacken. Sie organisierten Hilfe, opferten ihren Jahresurlaub oder waren auf einmal einfach nur da. Nationalität, Herkunft, Sprache spielten keine Rolle.)
Meine Brüder, meine Schwestern
Eine dünne Akte. Jetzt sind doch noch einige Seiten hinzugekommen. Mit Anmerkungen, Vermutungen – wohl auch mit Irritationen. Der Fall Nr. 1: Ein Brudermord. Die Lebensläufe von Täter und Opfer haben immer noch Lücken. Der eine ist zum Mörder geworden, der andere zum Opfer. Die Mörder haben so viele Namen, die Opfer auch. Wenn wir denn ihre Namen kennen.
Gott warnt Kain, er fragt nach Abel, er ist auch jenseits von Eden der Gott des Lebens.
Von Anfang an ist er Hüter des Lebens.
Im 121. Psalm heißt es von ihm:
„Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen,
und der dich behütet, schläft nicht.
Siehe, der Hüter Israels
schläft noch schlummert nicht.“
Nachdenklich nehme ich die Akte in meine Hand. Vieles bleibt offen. Vieles muss ich offen lassen. Aber in dem Gesicht Abels sehe ich die vielen Brüder und Schwestern, die ich habe. Ungewollt. Kaum bekannt. Sogar fremd. Schwestern und Brüder sucht man sich nie aus – sie werden uns gegeben. Dann sind sie einfach da.
Die verlogene Frage Kains aber liegt wie ein Schatten über allen Menschen.
Und die Klage der Erde ist laut.
Wo bin ich?
Abel!
Steh auf!
Es muss neu gespielt werden!
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Afghanistan, Haiti, Migration, Klimawandel, Wahlkampf, aber – mit Blick auf die Flutkatastrophe in der Städteregion Aachen bzw. im Kirchenkreis Aachen – auch die sehr große Solidarität. In der Predigt live werde ich das ansprechen. - Das Thema Fremdenfeindlichkeit oder -ängstlichkeit ist mit der Jahreszahl 2015 wieder virulent. Der vorgelegte Entwurf verzichtet aber auf Konkretionen, die jeweils vor Ort zu formulieren wären. Insgesamt reicht der Platz leider nicht aus für die exegetischen und homiletischen Überlegungen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt hat mich, den Text in immer neuen Wendungen zu lesen und unterschiedliche Zugänge auszuprobieren, besonders auch mit der Wirkung des Textes in Literatur, Musik und Film.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Abel, steh auf! Dann die neuen Lebensmöglichkeiten – auch für Kain – „jenseits von Eden“. Schließlich auch das Zutrauen, über die Sünde zu herrschen. Viele Fragen ergeben sich daraus. Auch im Hinblick auf die kirchliche Lehrentwicklung. Neu entdeckt habe ich die alten – auch jüdischen – Genesiskommentare.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der Email-Austausch mit der Predigtbegleiterin war ein Glücksfall. Sie verhalf manchem Gedanken zur Klarheit und zu einer reflektierteren Darstellung. Bei ihr möchte ich mich herzlich bedanken. Die letzte Fassung ist noch einmal geputzt und gestriegelt.
Link zur Online-Bibel
Nicht an Gottes statt - Predigt zu 1. Mose 50,15-21 von Matthias Wolfes
Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte. Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.“
Liebe Gemeinde,
wir befinden uns mit dem heutigen Predigttext am Ende einer langen Erzählung. Es geht, wie Sie wissen, um das Schicksal Josefs, dem von seinen Brüdern übel mitgespielt worden war. Aus vielerlei Gründen waren sie vorzeiten auf die Idee verfallen, sich seiner zu entledigen. In erster Linie hatte sie die angemaßte besondere Stellung erbittert, die Josef ihnen gegenüber für sich behauptet hatte. Im Laufe verwickelter Geschehnisse war dieser Josef dann aber in Ägypten zum obersten Minister und engsten Pharaonenfreund aufgestiegen. Mit vorsorgender Klugheit gelang es ihm, schwere Hungersnot abzuwenden. Letztlich war er so auch zum Retter seiner Brüder geworden, dazu ihrer gesamten Verwandtschaft und vor allem ihres hochbetagten Vaters, des Jakob.
Jetzt, an diesem erzählerischen Endpunkt, steht die Brüderschar dem nach so langer Zeit überraschend Wiedererkannten gegenüber. Josef präsentiert sich ihnen in all seiner Pracht, umgeben von einem wimmelnden Hofstaat und angetan mit den Zeichen der Macht. Es ist verständlich genug, dass sie um ihre eigene Sicherheit fürchten, läge es doch nur allzu nahe, wenn Josef ihnen ihre schweren Vergehen vergelten wollte. Sie versuchen, sich durch ein erfundenes Mahnwort des Vaters ihm gegenüber abzusichern. Und sehen sich dann inmitten einer Situation, wie sie sie nicht erwartet haben und auch nicht erwarten konnten.
osef stellt sich auf einen ganz anderen Standpunkt, indem er zu ihnen sagt: „Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“
Es ist dies die überlegene Sicht des Nachhinein. Josef sieht die Zusammenhänge. Aus ihnen heraus betrachtet er das Einzelne und so auch diejenigen Taten, die ihn zu anderen Zeiten in schwere Not, in innere und äußere Bedrängnis größten Ausmaßes gebracht hatten. Diese Szene, die das Ziel weitreichenden Geschehens bildet, endet selbst mit einem Trostwort: „So fürchtet euch nun nicht.“
I.
Was mich an diesem Abschnitt besonders anspricht, sind jene Worte des Josef, mit denen er den verängstigten Brüdern all ihre Sorge nehmen will: „Stehe ich denn an Gottes statt?“ Josef fragt das seine Brüder. Doch tatsächlich bedeuten seine Worte ja nichts anderes als: „Ich stehe nicht an seiner statt.“
Das ist in meinen Augen der Punkt, um den es in der ganzen Schlussszene geht, die sich hier vor uns abspielt. Bedenken Sie bitte noch einmal, welche Stellung Josef gegenüber den Brüdern zu diesem Zeitpunkt einnahm. Auch in den Augen der Ägypter um ihn herum kam ihm kaum weniger Bedeutung zu als einem gottähnlichen Herrscher.
Doch gerade jetzt, wo es im Bereich des Möglichen läge, angetanes Leid mit Macht zu vergelten, findet nicht nur ein radikaler Verzicht auf solche Vergeltung statt. Sondern es wird auch überhaupt das Vergelten als solches ausgeschlossen. Die Dinge liegen völlig klar: Vergelten würde ein Urteil voraussetzen. Gerade das aber lehnt Josef ab. Er fällt kein Urteil. Es ist deshalb auch nicht so, dass er den Brüdern ihr Tun vergibt. Er lehnt jedes, auch das vergebende Urteil ab, und zwar, weil er sich nicht „an Gottes statt“ sieht.
Das ist das Erstaunliche. Josef verfügt über die innere Stärke, auf eine nachträgliche Aufrechnung zu verzichten. Er vermag das, weil es ihm gelingt, sein eigenes Dasein, diese ganze gewundene, schwere, oftmals bedrohte Existenz aus einer anderen Perspektive zu betrachten als es die eigenen Interessen nahelegen. Was war ihm in der Folge jener haßerfüllten Brudertat, als sie ihn an die Fremde auslieferten und der Todesgefahr preisgaben, nicht alles widerfahren? Um sein Leben hatte er mehr als einmal bangen müssen; ein Sklavendasein war ihm sicher gewesen; auf niemanden hatte er rechnen können. Doch das alles, so gegenwärtig es ihm auch jetzt vor Augen stand, bedrängt ihn nicht mehr. Er ordnet es in einen Zusammenhang ein, der größer ist, den auch er im Moment des Geschehens nicht oder doch allenfalls ahnungsweise zu erkennen vermochte, an dessen Sinnhaftigkeit es für ihn aber keinen Zweifel gibt.
Josef ist in diesem Sinne ein glaubender, das heißt ein auf Gott vertrauender Mensch in geradezu idealtypischer Ausprägung. Das ist es, was uns die ganze Begebenheit über ihre literarische Ebene hinaus bedeutsam macht.
II.
Das Vertrauen auf Gott ist die Voraussetzung dafür, dass man als glaubender Mensch sein Leben besteht. Dabei geht es nicht allein darum, am Ende – nachdem etwas geschehen ist und man auf es zurückblickt –, eine Sicht zu gewinnen, aus der heraus alles dann doch irgendwie „sinnvoll“ erscheint oder wenigstens zu erscheinen vermag. Es geht vielmehr darum, das Geschehen selbst bereits unter der Voraussetzung zu erleben und zu ertragen, dass es seinen Ort in einem wahren Ganzen hat.
Das ist das Eigentümliche des Glaubens und des im Glauben gelebten Lebens. In diesem Vertrauen besteht der feste Grund. Dies ist der Boden, von dem aus alles wachsen und gedeihen kann. Von ihm aus bringt das Leben seine Frucht, von ihm aus kann es gelingen, ein erfülltes Leben zu führen. Auf diesen Grund kommt es an, auf ihn allein.
Über unser Leben, wie wir es führen und wie wir es erleben, auch im Blick zurück, entscheidet, wie fest wir verwurzelt sind in diesem Vertrauen. Sicher stehen zu können und Halt zu finden, kann nur demjenigen gelingen, der festen Boden unter den Füßen verspürt. Für uns glaubende Menschen ist das unsere Beziehung zu Gott.
III.
Mir ist es von großer Bedeutung, dass ich mich von Gott angenommen weiß. Ich weiß es, weil er selbst mich doch in dieses Leben gerufen hat. Gott hat „Ja“ zu mir gesagt. Er hat das getan unabhängig davon, was ich sage oder nicht sage, was ich tue oder nicht tue. Es ist dies eine bedingungslose Beziehung. Sie gibt mir Halt und Sicherheit. Was mich im Gedränge des Tages in Frage stellt, kann mich dann nicht mehr erschüttern. Wie viele Anforderungen werden in der kurzen Spanne von Morgen bis Abend jeden Tag wieder an einen gestellt? Bisweilen muss ich mich dem entziehen, und nicht selten nehme ich auch zu wenig wahr, worum es im Moment eigentlich geht. Auch bin ich durchaus imstande, mich selbst in Frage zu stellen, ja ich halte mich dazu sogar an. All dieser Dinge, dieser immer wiederkehrenden Unzulänglichkeiten bin ich mir bewusst. Aber ein grundsätzliches Fragen kann aus ihnen nicht erwachsen, weil ihm immer jenes noch viel grundsätzlichere „Ja“ entgegensteht.
Das andere ist: Ich lebe aus dieser Beziehung heraus. Man mag an das Bild eines Hauses denken, dann wäre das Haus des Herrn jene eigentliche Heimat, aus der nichts mich vertreiben kann. Aber sofern ich „aus Gott“ lebe, sofern ich aus der Beziehung und der Zugehörigkeit zu Gott lebe, versuche ich auch, diese Beziehung und Zugehörigkeit in mein Leben und meinen Alltag einfließen zu lassen. Ich versuche, mein Leben und meinen Alltag aus dieser Beziehung und Zugehörigkeit heraus zu gestalten.
Natürlich gibt es Momente, wo ich mich verrannt habe, wo ich erschöpft bin und ratlos den Aufgaben gegenüberstehe. Dann kann das Bewusstsein, mit Gott verbunden zu sein, mich aufrichten und stärken. Dann zeigt sich mir doch eigentlich immer auch ein Weg, den ich gehen kann, und ich sehe Räume, in denen sich etwas Neues, neue Möglichkeiten bieten. Für mich ist es dann so, als hätte ich Kraft und Ermutigung aus meiner Beziehung zu Gott gewonnen.
Auch zu jenen „Früchten“ möchte ich noch etwas sagen. Ich fühle mich verwurzelt und spüre den Grund unter den Füßen, so dass ich Schritte tun kann und mich in eine Richtung zu bewegen vermag. Zu diesen Schritten gehört es, anderen Menschen etwas weiterzugeben von dem, was mich trägt und erhält. Das kann ein freundliches Wort sein, eine helfende Tat, etwas geschenkte Zeit, ja sogar bisweilen schlicht auch nur ein Lächeln. „Gute Taten“ sind mir wichtig. Davon, sie abzuwerten, halte ich gar nichts. Ich spreche auch gerne von ihnen und mache mir und vielleicht auch anderen damit Mut, in dieser Richtung weiterzugehen.
In all dem aber nehme ich es nicht auf mich, mich zum Richter zu machen. Ich selbst möchte so handeln, wie ich es für richtig halte und wie ich es verantworten zu können meine. Ich unterstelle, dass diejenigen Menschen, mit denen ich es zu tun haben, von den gleichen Grundsätzen ausgehen, dass auch sie im Prinzip das Gute wollen und nicht das Schlechte. Zu entscheiden, was letztlich an unserem Tun und Lassen dieser oder jener Kategorie zuzuschreiben ist, maße ich mir nicht an.
Für mich ist in dieser Hinsicht genug gesagt, wenn ich mir die Worte des Josef in Erinnerung rufe, die er, in sehr exponierter, sehr handlungsstarker Position, an seine Brüder gerichtet hat: „Ich stehe nicht an Gottes statt.“
Amen
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich bin Prediger in einer Gottesdienstgemeinde, der die Josefsgeschichte in Grundzügen vertraut ist. Deshalb gehe ich auf Einzelheiten nicht weiter ein, sondern konzentriere mich auf das, was ich in den Mittelpunkt stellen möchte: Josef als Glaubensgestalt.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Anspruch, die bekannte alttestamentliche Erzählung als evangelische Botschaft auszulegen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament ist eine „Entdeckung“, die mich seit langem „begleitet“ und das auch weiterhin tun wird.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Anteilnahme des Predigtcoaches. Das rezeptive und auch kritische Gegenüber ist mir wieder sehr wichtig gewesen.
Link zur Online-Bibel
29.08.2021 - 13. So. n. Trinitatis
27.06.2021 - 4. So. n. Trinitatis
Sehnsucht nach dem Paradies - Predigt zu 1. Mose 2, 4b-15 von Berenike Brehm
I Macht nichts, dass der Urlaub dieses Jahr ausgefallen ist, sag ich zu dir. Macht nichts. Wenn wir nur einmal ins Paradies reisen könnten. Du und ich. Nur einmal. Ins Paradies. Doch du schaust mich verständnislos an. Du sagst: Das geht nicht. Das Paradies ist verloren und viel zu weit weg. Es ist nicht hier und wir kommen da auch nicht hin. Hör auf zu träumen, sagst du. Aber ich glaube dir nicht. Nicht, dass das Paradies verloren ist. Und auch nicht, dass der Weg vergessen ist. Denn ich will träumen. Vom Paradies. Mit dir. Ich will träumen und suchen. Nach der Palme und dem Wasserlauf. Den fruchtigen Feigen. Die müssen doch zu finden sein. Ja, ich will ins Paradies mit dir. Nur einmal. Mit dir am kalten Wasser sitzen. Im Schatten unter einer Palme. Ungezwungen und frei mit dir lachen und herumalbern. Will mit dir in saftige Feigen beißen. Dort im Paradies. Am Wasser unter der Palme. Da will ich hin mit dir. Nur einmal.
II 4b Es war zu der Zeit, da Gott der Herr Erde und Himmel machte. 5 Und alle die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen. Denn Gott der Herr hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute; 6 aber ein Strom stieg aus der Erde empor und tränkte das ganze Land. 7 Da machte Gott der Herr den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. 8 Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. 9 Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen.
III Ich habe das Paradies gefunden, rufe ich. Ich renne los. Zu dir rüber. Falle dir um den Hals. Strahle dich an. Zeige auf die Bibel in meiner Hand und sage: Da ist es, das Paradies. Ich habe es gefunden! Nur eine Buchklappe weit entfernt. Die Reise ist nicht abgesagt, der Weg nicht verloren. Denn das Paradies ist da. Für uns beide. In diesen Worten ist es. In diesen Worten kommt es zu uns. In dem Atem Gottes, der in uns fließt. In dem Wasser, das nicht weit von unserem Ort fließt. Im Obst, das die Tante jeden Mittwoch auf dem Markt verkauft. Überall da ist das Paradies. Siehst du es denn nicht?
Erwartungsvoll schaue ich dich an. Doch du blickst nur schief zurück. Du seufzt und sagst: Nein, ich sehe das nicht. Im Gegenteil. Ich sehe Regenwälder, die in Flammen aufgehen. Sehe, wie eine Milliarde Tiere einfach verbrennen. Ich sehe Plastik, das im Meer schwimmt, als sei es dort ein neuer Bewohner. Sehe verhungerte Wale mit einem Bauch voller Müll. Ich sehe, wie tausende Liter Öl ins Meer fließen. Sehe Vögel, die einmal weiß waren, jetzt aber ein schwarzes Ölkleid tragen. Ich sehe riesige Schlachtanlagen, in denen sich unterbezahlte Arbeiter abrackern. Sehe, wie nicht vollständig betäubte Tiere einfach trotzdem geschlachtet und aufgehängt werden. Das sehe ich, wenn ich die Augen aufmache. Aber das Paradies sehe ich nicht. Du schüttelst den Kopf. Nein, sagst du. Das Paradies ist verloren. Es ist unerreichbar fern von uns. Eingesperrt zwischen diesen Buchdeckeln.
IV 15 Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte. […] 18 Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. 19 Und Gott der Herr machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. 22 Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. 23 Da sprach der Mensch: Die ist nun Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch.
V Ja, das Paradies ist fern, sage ich. Du hast Recht. Es rückt sogar ferner. Jedes Mal, wenn wir etwas auf der Erde zerstören, statt es zu bewahren. Jedes Mal, wenn wieder ein Quadratkilometer Regenwald verbrannt ist. Jedes Mal, wenn wir ein Tier ausbeuten, statt es zu schätzen. Immer dann rückt das Paradies ferner. Aber nur weil es fern ist, ist es doch nicht verloren! Deswegen ist es doch nicht unerreichbar. Ja, vielleicht beginnt der Weg zum Paradies direkt hier. Vor unserer Haustür. Wenn wir heraustreten und die Erde spüren. Wenn wir durch den Regen hüpfen und die Regentropfen auf unseren Lippen schmecken. Einfach in der Sonne liegen und spüren wie sie unsere Haut wärmt. Wenn wir mit der Hand in die Erde greifen und fühlen, wie sie kühl durch unsere Finger rinnt. Mit bloßen Füßen durch das Gras laufen und spüren, wie es kitzelt. Wenn wir dem Fuchs im Wald in die Augen sehen, wie er auf einmal auf dem Weg steht. Wenn wir all den Tieren in die Augen sehen. Denen, die wir essen wollen. Denen, die uns im Zirkus belustigen und denen, die wir bei uns zu Hause halten.
VI Wir schweigen. Du blickst an mir vorbei aus dem Fenster. Hinaus in die Welt schaust du. Ich denke und schaue mit dir mit. Dann brichst du die Stille: Vielleicht, sagst du, vielleicht ist das Paradies ja doch nicht fern. Vielleicht ist es sogar ganz nah. Mitten in deiner Sehnsucht nach dem kalten Wasser, im Schatten unter der Palme. Vielleicht ist genau dort das Paradies. Mitten in deiner Sehnsucht.
Ja, sage ich, und vielleicht ist es sogar mitten in deinem Schmerz. Wenn du siehst, wie eben nicht alles ok ist auf der Welt. Wenn ich es dich schmerzt, dass vieles so kaputt ist. Vielleicht ist genau dann das Paradies in dir. Vielleicht ist das Paradies in uns beiden. In meiner Sehnsucht und deinem Schmerz. Mitten in unserem Mitgefühl. Und in den Vögeln. Da ist das Paradies auch. Weil sie jeden Tag singen. Immer. Egal, was auf der Welt gerade los ist. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Gottesdienst am Sonntagmorgen unter freiem Himmel mitten im Ortskern. Daher erwarte ich sehr unterschiedliche Menschen: Von denen, die jeden Morgen kommen, bis zu denen, die der Kirche eher fernstehen. Letztere hatte ich beim Schreiben der Predigt vor allem vor Augen. Nach dem Motto: Kirche kann auch anders.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Hoffnung, Sehnsucht nach dem Paradies zu wecken und Menschen zu ermutigen, das Paradies zu suchen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Keine Angst zu haben, den Predigttext zu kürzen, und mir selbst wieder mehr Raum, für etwas andere Predigtansätze zugestehen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich wurde ermutigt, an dieser Predigt weiterzuarbeiten. Die Anmerkungen haben immer wieder die Hörer*innen eingespielt und damit meinen Blick für sie geschärft. So habe ich mehr Struktur in die Sprache und mehr theologische Tiefe in die Predigt insgesamt bekommen.