Flucht aus dem Garten - Predigt zu 1. Mose 3, 1-19 von Jürgen Kaiser
Flucht aus dem Garten - Thema mit Variationen und Fuge zu 1. Mose 3.
Liebe Gemeinde,
das Leben ist Mühe und Arbeit, schon bei der Geburt eine schmerzliche Angelegenheit und am Ende tödlich. Wir schämen uns, wenn wir nackt sind, und viele halten das Patriarchat immer noch für gottgewollt. Warum ist das so? Eine Geschichte, die Sie kennen, versucht, all das zu erklären, die Erzählung von Adam und Eva und der Schlange und der Vertreibung aus dem Paradies.
Diese Geschichte deutet auch an: Das Leben wäre ein mühelos süßes und selbst die Geburt ein uneingeschränktes Glückserlebnis, wenn nicht an einer Stelle ziemlich am Anfang ein entscheidender Fehler gemacht worden wäre.
Aber ist das tatsächlich so? Gab es wirklich jemals eine Alternative? Lässt sich diese Geschichte auch anders erzählen? Ich versuche es. Ich starte eine Versuchsreihe mit einer bekannten Erzählung aus der Genesis, ändere einzelne Parameter und sehe, was am Ende rauskommt. Oder, weniger wissenschaftlich und mehr musikalisch: Thema mit Variationen und Fuge.
Das Thema:
„Und die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hatte, und sprach zu der Frau: Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten? Da sprach die Frau zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet! Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.
Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.
Und sie hörten Gott den Herrn, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seiner Frau vor dem Angesicht Gottes des Herrn zwischen den Bäumen im Garten. Und Gott der Herr rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du? Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich. Und er sprach: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen? Da sprach Adam: Die Frau, die du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum und ich aß. Da sprach Gott der Herr zur Frau: Warum hast du das getan? Die Frau sprach: Die Schlange betrog mich, sodass ich aß.
Da sprach Gott der Herr zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du verflucht vor allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Staub fressen dein Leben lang. Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Samen und ihrem Samen; er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen. Und zur Frau sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein. Und zum Mann sprach er: Weil du gehorcht hast der Stimme deiner Frau und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen –, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist. Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.
Und Adam nannte seine Frau Eva; denn sie wurde die Mutter aller, die da leben. Und Gott der Herr machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an.
Und Gott der Herr sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand und nehme auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaute, von der er genommen war. Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.“
Erste Variation: Thema nach Art der Versuchung Jesu (Matthäus 4,1-11)
„Und die Schlange … sprach zu der Frau: Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten? Da sprach die Frau zu der Schlange: … von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, …dass ihr nicht sterbet! Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, …“
Da sprach die Frau zur Schlange: Doch, wir werden sterben, denn was Gott sagt, ist gewiss. Es steht geschrieben: „Des Herrn Wort ist wahrhaftig, und was er zusagt, das hält er gewiss.“ (Ps 33,4)
Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet klug werden, wenn ihr davon esst und Gott weiß das. Denn es steht geschrieben: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (Ps 90,12)
Da sprach die Frau zur Schlange: Weg mit dir, Schlange! Denn es steht geschrieben: „Hoffe auf den Herrn und tue Gutes, bleibe im Lande und nähre dich redlich. Habe deine Lust am Herrn; der wird dir geben, was dein Herz wünscht.“ (Ps 37,3-4)
Da zischte die Schlange ab.
Eva und Adam waren fruchtbar und mehrten sich. Ihre Kinder und Kindeskinder, alle ihre vielen Nachkommen aßen von allen Früchten aller Bäume im Garten außer vom Baum des Lebens mitten im Garten und vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen.
Es wurden immer mehr Mensch und irgendwann war der Garten zu klein, um alle Nachkommen Evas und Adams zu ernähren. Sie fingen an zu hungern.
Adam wurde 930 Jahre alt (Genesis 5,5). Er musste noch mitansehen, dass seine Kinder und Kindeskinder den Garten verließen, weil er leergefressen war, und sich auf die Suche nach einem besseren Leben machten. Sie zogen durch die Wüste und sehnte sich nach einem Land, in dem Milch und Honig flössen. Als sie in der Wüste eine Stadt bauten, war Adam bereits tot.
Zweite Variation: Thema in der Umkehrung
Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: ‚Du darfst essen von allen Bäumen im Garten‘ (Gen 2,16). Und vergiss nicht, von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen. Du sollst erkennen, was gut und was böse ist, du sollst ein sittlich reifer Mensch werden und dir selbst ein Urteil bilden. Du sollst erkennen, wann das Leben beginnt, um beurteilen zu können, wann Verhütung und Abtreibungen verboten, erlaubt oder geboten sind. Du sollst erkennen, wann das Leben endet, um beurteilen zu können, wann es verboten, erlaubt oder gar geboten ist, deinem Vater beim Sterben zu helfen oder der Mutter die Instrumente abzuschalten. Du sollst entscheiden, ob dein Herz weiterschlagen soll, wenn du tot bist, damit ein anderer mit deinem Herzen weiterleben kann. Weil du irgendwann all diese Entscheidungen treffen musst, sollst du alle Früchte vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen essen.
Aber Adam und Eva wollten nicht und sprachen: Das überfordert uns. Wir wollen lieber tun, was uns gesagt wird und dir die Verantwortung überlassen. Da sprach Gott: Wozu habe ich euch ein Gehirn und ein Gewissen gegeben? Die sollt ihr gebrauchen. Da vertrieb Gott, der HERR, Adam und Eva aus dem Garten, damit sie lernten, selbständig zu werden. Und so gründeten sie Städte und Universitäten, führten ethische Dispute in Akademien und fanden, dass in der Schule Ethikunterricht viel wichtiger sei als Religionsunterricht. Und immer, wenn sie im Parlament über solche Fragen debattierten, wurden sie ganz ernst und hoben den Fraktionszwang auf. Doch je mehr sie versuchten, herauszufinden, was gut und was böse sei, desto verzweifelter wurden sie und verfluchten ihr Leben.
Dritte Variation: Thema in der Verwechslung
Und die Frau dachte, sie sei noch listiger als die Schlange. Sie sprach zur Schlange: „Von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, …dass ihr nicht sterbet!“ Und zu sich sprach sie: Da stehen zwei Bäume im Garten, der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen (Gen 2,9). Nur an dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen hängt ein Verbotsschild (Gen 2,17). Vom Baum des Lebens könnte ich kosten und ich müsste nicht sterben. Denn sterben ist nicht schön.
Also aß Eva vom Baum des Lebens und lebte sehr lange und dachte nicht ans Sterben. Sie wurde nicht klug in ihrem Leben, obwohl sie sich in jungen Jahren manchmal ganz schön schlau vorkam. Je älter sie wurde, desto einsamer wurde sie. Alle starben vor ihr. Als sie sehr alt war, sagte sie sich immer wieder: Am Ende ist so ein langes Leben doch nicht schön. Da fragte sie sich, ob es nicht besser sei, ihrem Leben selbst ein Ende zu bereiten. Weil sie aber den Unterschied zwischen Gut und Böse nicht erkannten, konnte sie sich weder dazu entschließen, fröhlich zu leben, bis Gott sie ruft, noch dazu, mutig zu sterben, weil das Leben eine Qual geworden war. So lebte Eva ewig – dumm und unglücklich.
Vierte Variation: Thema mit kurzem Finale
„Da sprach die Frau zu der Schlange: … von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, …dass ihr nicht sterbet! Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, … Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und … sie nahm von seiner Frucht und aß und gab ihrem Mann … auch davon und er aß.“
Da starben beide, der Mann und seine Frau.
Das war das Ende der Menschen im Garten. Und die Schlange sprach: Gott hatte recht! Und die Schlange pflanzte sich fort und mehrte sich und der Garten wimmelte von Schlangen aller Art, die lobten Gott für seine Treue und dass er sein Wort hält und geschieht, was er sagt.
Fünfte Variation. Thema ohne Schlange
Er: Sag mal, was ist denn mit dem Baum da mitten im Garten? Der hängt noch voller Früchte?
Sie: Nein, den bitte nicht, der ist tabu.
Er: Wer sagt das?
Sie: ER sagt das.
Er: Wer er?
Sie: Gott.
Er: Was hat Gott damit zu tun?
Sie: Gott ist der Gartendirektor.
Er: Was hat der Direktor denn genau gesagt?
Sie: Dass wir von allen Bäumen essen dürfen, nur von dem in der Mitte nicht.
Er: Hat er auch gesagt, warum?
Sie: Ja, hat er.
Er: Und warum?
Sie: Weil wir sonst sterben.
Er: Wir sterben, wenn wir von den Früchten essen? Glaubst du das?
Sie: Naja, er hat es jedenfalls gesagt.
Er: Ich glaube nur, was ich sehe und was ich selbst ausprobiert habe.
Sie: Und ich soll es jetzt wohl ausprobieren und du schaust zu, ob ich es überlebe?
Er: Nein, ich mach es schon selbst. Da passiert nichts. Du wirst sehen. Dir werden die Augen übergehen, wenn du siehst, wie gut das schmeckt. Du bist manchmal zu autoritätsgläubig. Nur, wenn man es selbst ausprobiert hat, kann man sagen, was gut und was weniger gut ist. So, ich nehm mir jetzt was davon. … Ah, köstlich!
Gott: Wo bist du?
Er: Hier. Ich bin noch nicht angezogen.
Gott: Schämst du dich vor mir? Hast du von dem Baum gegessen, von dem ich dir verboten habe zu essen?
Er: Da sind zwei Bäume mitten im Garten. Welchen meinst du?
Gott: Habe ich mich etwa unklar ausgedrückt?
Er: Ja.
Gott: Ach, jetzt bin ich schuld? Du hättest ja um beide Bäume einen Bogen machen können.
Er: Entschuldige mal, es ist immer dasselbe mit dir: Du willst Direktor aller Gärten von Eden sein und gibst immer unklare Anweisungen. Noch in Jahrtausenden wird ein Heer von Schriftgelehrten erforschen, was du eigentlich willst. Mir reicht’s, ich kündige. Komm Eva, wir gehen woanders hin und machen uns selbstständig.
Fuge
Wir haben die bekannte Erzählung von Adam, Eva und der Schlange auf die Probe gestellt. Wir haben verschiedene Varianten durchgespielt, um zu sehen, ob der Verlust des Paradieses vermeidbar gewesen wäre. Das Ergebnis ist ernüchternd. In allen Varianten verlieren die Menschen den Garten oder gar das Leben. Sie können dort nicht mehr leben oder sie wollen dort nicht mehr leben. Ganz gleich, wie man diese Geschichte dreht und wendet, sie kann gar nicht mit einem anderen Ausgang erzählt werden, denn wir leben nicht im Paradies. Würde man diese Geschichte so erzählen, dass die Menschen im Paradies bleiben, wäre sie nicht mehr unsere Geschichte, sondern ein Märchen oder Science-Fiction.
Manche Musikstücke, die als Variationen über ein Thema gestaltet sind, schließen mit einer Fuge. Das muss auch hier so sein. Fuge kommt von fuga, das heißt Flucht. Am Ende steht immer die Flucht aus dem Garten hinein in die Wüste, in die Mühsal des Lebens, in den Tod.
Was die Bibel im Anschluss und als Folge dieser Geschichte zunächst erzählt, von der Vertreibung aus dem Paradies bis zum Turmbau zu Babel, ist eine Fuge. Kain muss nach dem Mord an seinem Bruder unstet und flüchtig auf Erden sein (Gen 4,14), in der großen Flut treibt Noah in der Arche über das tödliche Wasser, von Gott zum Überleben bestimmt (Gen 7,17), und nach einem letzten Aufbäumen gen Himmel im Turmbau zu Babel zerstreut Gott die Menschen in alle Länder (Gen 11,8). Vertreibung, Flucht und Migration, eine einzige Fuge.
Dann aber beginnt etwas Neues. Gott beruft Abraham, dann Isaak, dann Jakob, später Mose und das Volk Israel. Die Migration hört zwar nicht auf, aber sie ist jetzt keine Flucht mehr. Nun geht Gott mit denen, die er beruft. In Jesus Christus schließlich erwählt Gott alle Menschen, um seine Geschichte mit ihnen, die in der Schöpfung so gut begann und so schnell aus dem Ruder lief, zu einem guten Ende zu führen.
Was die Bibel seit der Berufung Abrahams erzählt, ist wie ein neues Werk. Keine Fuge mehr, sondern eine groß angelegte Symphonie mit der Ode an die Liebe. Diese Symphonie liegt vor, sie ist längst fertig komponiert, man kann sie lesen und studieren. Doch ihre Uraufführung läuft immer noch, das Konzert dauert an. Wer die Komposition studiert hat, weiß: Diese Symphonie wird mit einem herrlichen Finale enden, das alle Themen des Anfangs miteinander versöhnt. In der Offenbarung werden die letzten Takte in Jerusalem spielen, einer Stadt, in der Gott wohnen wird und in der ein Platz sein wird und mitten auf dem Platz werden die Bäume des Lebens stehen. (Offb 22,2). In dieser Stadt werden die Menschen sich nicht mehr vor Gott verstecken. Sie werden nie mehr fliehen. Sie werden zu Hause sein. Und Gott mit ihnen.
Bei diesem Finale sind wir noch nicht. Die Aufführung läuft noch. Aber wenn du weißt, worauf es am Ende hinausläuft, spielst du fröhlicher und mutiger mit. Amen.
Gebet im Anschluss an Psalm 91:
Gott!
Ein Schutz bist du uns, wenn andere uns drängen,
ein Schirm, ein Schild, eine Burg,
wenn Arges naht, wenn Schlimmes kommt, wenn Böses droht.
Du gibst Acht auf uns. Das kann keiner wie du.
Führe uns nur nicht in Versuchung und lass nicht zu, dass andere es tun.
Und dann, wenn wir weitergehen müssen, raus aus der Burg,
wenn wir den Schirm verlassen und aus deinem Schatten treten müssen,
dann werden uns deine Engel tragen, wohin du willst. Amen.
Evangeliumslesung Matthäus 4,1-11
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Bildungsbürgerlich geprägte, kulturell interessierte Gemeinde mit historischem Migrationshintergrund (Hugenotten) und hohem Akademikeranteil, darunter einige Theolog/inn/en und Ruhestandgeistliche. Wir sind zu Gast in der St. Matthäus-Kirche am Berliner Kulturforum zwischen Philharmonie, Staatsbibliothek, Gemäldegalerie und Neuer Nationalgalerie. Die meisten Gottesdienstbesucher kennen all diese Gebäude auch von innen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Idee, mit dieser Geschichte zu spielen, die Dialoge zu variieren oder die „Besetzung“ zu ändern, hat mir viel Spaß gemacht und mich auf Gedanken gebracht. Es schien mir die beste Möglichkeit, mit diesem Text zu arbeiten. Eine Themenpredigt würde der thematischen Vielschichtigkeit des Textes (Versuchung, Lossagung von Gott, freier Wille, moralische Erkenntnisfähigkeit, Verantwortung, Schuld, Scham etc.) und eine Erzählpredigt seiner starken Narrativität kaum gerecht werden können.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass sich das Thema Migration durch die ganze Bibel zieht, ist mir schon länger klar. Aber mir ist jetzt erst aufgefallen, dass die durch die Menschheitskatastrophen in Gen 3-11 ausgelösten Fluchtbewegungen Migrationen ohne Gott sind, während die ab Gen 12 solche sind, in denen Gott mitgeht.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der Schlussteil der Predigt war in der ersten Fassung disparat und gedanklich überfrachtet. Die Häufung kritischer Anmerkungen in diesem Teil durch die kritische Lese-rin haben mich zu einer gründlichen Umarbeitung des Schlussteils veranlasst.
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20.09.2020 - 15. So. nach Trinitatis
Konfi-Impuls zu 1. Mose 28,10-19 von Christina Hirt
„Haus Gottes“ – so nannte Jakob diesen besonderen Ort, an dem er in der Nacht nicht nur den Himmel offen sah, sondern auch eine große Verheißung empfing. Mit den Konfirmandinnen und Konfirmanden spüre ich diesem Begriff vom Haus nach.
Einstieg mit Fragen zum eigenen Zuhause
In Kleingruppen tauschen sich die Jugendlichen aus: Wie viele Personen leben in unserer Wohnung/ in unserem Haus? Welcher Einrichtungsgegenstand aus meinem Zimmer ist mir besonders wichtig? Wo ist mein Lieblingsort? Mein Traumhaus stünde an / in….
In Einzelarbeit kann danach überlegt werden: Zuhause sein bedeutet für mich… Ein Grund, warum Menschen ihr Zuhause verlassen ist, wenn….
Fragen zu Gottes Haus
Die Antworten werden in Kleingruppen notiert. Einige Antwortbeispiele füge ich an:
Gibt es Orte, an welchen sich Gott vielleicht besonders gerne aufhält? Ja. Im Himmel, weil er dort bei seinem Sohn und bei den Engeln ist. In der Kirche, bei Kirchenfesten, bei Gläubigen. Er ist gerne unter Menschen, vor allem bei Leuten, die an ihn denken…
Stellt euch vor, ihr habt den Auftrag, ein Gotteshaus bauen. Wie sieht es aus? Welches Material verwendet ihr? Es ist riesig, mit viel Glas und Gold. Man kann Gott kein Haus bauen, er braucht das ja gar nicht, außerdem ist er überall. Das Haus wäre wie ein großer Wald mit einer Lichtung in der Mitte.
Warum nennt man Kirchen auch Gotteshäuser? Weil die Kirche Gottes zweites Zuhause ist. (Auf die Frage, wo Gottes Erstwohnsitz sei, kam die Antwort: im Himmel).
Himmelspforte auf der Flucht
Die Geschichte von Jakob spricht die Jugendlichen auf verschiedenen Ebenen an. Da ist der Bruder- und Elternkonflikt, der Jakob schließlich aus dem Haus treibt. Da ist die Erfahrung, auf sich alleine gestellt zu sein und in eine ungewisse Zukunft zu gehen. Angedeutet ist ein Abstand zum Gott der Väter (Gott stellt sich erst noch vor V. 13f, Jakob „prüft“ seine Verlässlichkeit V. 20ff). Aber in der Nacht stellt Gott eine Verbindung zu Jakob her.
Sein Versprechen macht deutlich: Gott ist nicht auf bestimmte Orte fixiert, auch wenn Jakob seinen Übernachtungsplatz als Himmelspforte markiert. Er zieht mit! Er hält sich nicht nur unter perfekten Menschen auf, sondern auch bei solchen, die ihren Bruder betrogen haben und auf der Flucht sind. Am Morgen hat sich äußerlich gesehen für Jakob nichts verändert. Aber mit dem Nachtbild im Gedächtnis und mit der Verheißung kann er zuversichtlicher und mutiger weitergehen. Innerlich hat er ein neues Zuhause gefunden.
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03.11.2019 - 20. So. nach Trinitatis
22.09.2019 - 14. So. nach Trinitatis
Zumutung mit offenem Ausgang – Predigt zu 1. Mose 4,1-16 von Christian Bogislav Burandt
Liebe Gemeinde,
Geschichten erzählen ist menschlich. Von Anfang an haben sich die Menschen Geschichten erzählt; nicht nur nette und entspannende wie die vom jungen Mann, der sich in die schöne Prinzessin verliebt, sondern auch tiefsinnige und abgründige. Der jüdische Philosoph Martin Buber [im Vorwort zu „Die Erzählungen der Chassidim“] meint: "Das erzählende Wort ist mehr als Rede; es führt das, was geschehen ist, faktisch in die kommenden Geschlechter hinüber, ja das Erzählte ist selber Geschehen."1
Um so eine Geschichte geht es. Am Anfang steht die Geburt eines Kindes. Und die Mutter ruft begeistert: „Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN.“ Das verspricht eine gute Geschichte zu werden. Die Mutter ist fromm, sie ist Gott dankbar für die Geburt des Sohnes, und der verspricht ein richtiger Mann zu werden. Vielleicht gar ein Held? - Und dann hat die Mutter auch noch das Glück einen zweiten Sohn zur Welt zu bringen. Über ihn sagt sie allerdings nicht. Vielleicht war er sehr schmächtig, eher ein Hänfling. Sein Name „Abel“ könnte dafür sprechen, denn der bedeutet übersetzt „Hauch, Dunst, Nichts“.2
Von Abel werden im Folgenden keine Worte überliefert, er geht mit seinem Bruder aufs Feld und wird von Kain getötet. Nein, es ist keine gute Geschichte sondern eine erschütternde. Gott schaltet sich ein und verhängt über Kain einen Fluch und eine Strafe. Und er machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände.
Die Geschichte von Kain und Abel, liebe Gemeinde, ist eine Zumutung. Eine Zumutung für ein schlicht positives Menschenbild, eine Zumutung für unser Selbstbewusstsein als gute Menschen und eine Zumutung für die Meinung, die Menschen würden immer besser und vollkommener; auch in Hinsicht auf ihr Verhalten. Immerhin verübt die Bluttat ja ausgerechnet der erste von Menschen gezeugte Mensch. Und dann ist im Laufe der Geschichte nur noch von dem Täter die Rede und von seinem Richter; nämlich von Gott. Als Hörer der Geschichte können wir im Zuge des Erzählens da nur neben Kain landen, wir sind schließlich nicht Gott der Schöpfer des Himmels und der Erde. Aber irgendwie in der Nähe von Kain zu landen, das ist doch nun wirklich eine Zumutung!
Immerhin sind wir nicht die ersten, die das so sehen. Es gibt eine kaum zu übersehene Literatur zu unserer Geschichte. Zahlreich sind die Versuche, mit der Zumutung der Geschichte von Kain und Abel zurechtzukommen. Da gibt es etwa Vorschläge von einem Historiker, einem Evolutionsbiologen und einem Kulturphilosophen.
Der Historiker sagt, Kain sei nur Opfer übler Nachrede. Die Israeliten hätten diese Geschichte erzählt, um sich das Verhalten ihrer südlichen Nachbarn zu erklären, der Keniter. Die seien als Nomaden ruhelos im Süden umhergezogen, was ja durch die wüstenähnlichen Verhältnisse auch gar nicht anders möglich gewesen sei. Die Israeliten hätten sich das als Auswirkung eines göttlichen Fluches vorgestellt und Nachbarn könne man ja oft sowieso nicht leiden.
Die Klarheit unseres Kreuzes und die Eindeutigkeit unseres Evangeliums, liebe Gemeinde, sie lassen mich auf Abstand von dem Vorschlag des Historikers gehen. Das ist doch ein durchsichtiger Versuch, auf billige Weise Abstand von der Geschichte zu bekommen und so ihrer Zumutung auszuweichen. Kein Vertun. Die Geschichte von Kain und Abel folgt unmittelbar auf die Paradiesgeschichte und gehört zur Urgeschichte der Menschheit – nicht zur Entstehungsgeschichte des Volkes Israel. Mit schlichten Mitteln der historischen Kritik ist der Geschichte nicht beizukommen!
Der Evolutionsbiologe sagt, die Geschichte von Kain und Abel sei im Zusammenhang der Entwicklung der Menschheitsgeschichte zu betrachten. Der Homo Sapiens hätte eben andere Varianten menschlichen Lebens überflügelt, an den Rand gedrängt oder ausgerottet. „Wir alle sind mit weit größerer Wahrscheinlichkeit Söhne und Töchter von Mördern als von Opfern. Wir sind eher Nachkommen Kains als Abels.“3 Auch die Schriftstellerin Christ Wolf meint, es sei schwer die Hypothese „zu widerlegen, daß der Mensch selbst, durch Kampf gegen seinesgleichen, durch Ausrottung unterlegener Gruppen, das wichtigste Werkzeug der Selektion war...“4
Ob diese Hypothese den neuesten Forschungen entspricht, weiß ich nicht; immerhin ist der Neandertaler in unserem biologischen Erbgut nachweisbar. Aber Tatsache ist doch: Eine Gewalttat im Nachhinein zu feiern, die Brutalität des Tatsächlichen zu preisen, das wäre Verrat an dem, der uns vom barmherzigen Samariter erzählt! Christlich wäre eine solche Flucht in die Biologie nicht!
Der Kulturphilosoph blickt nach vorne: „Kain ist der erste moderne Mensch. Er lehnt sich gegen die willkürliche Verteilung von Lebenschancen auf.“5 Er weist voraus auf das Freiheitsbewusstsein der französischen Revolution. Und er ist ja in der Folgezeit durch seine Rebellion auch konstruktiv geworden! Kain wurde, wie anschließend im 1. Buch Mose erzählt wird, zum Städtebauer. Er wurde zum Ahnherr der Schmiede und der Musiker, somit mit seiner Lebensleistung unverzichtbar für uns heute!
In die Richtung geht auch der Schriftsteller Herrmann Hesse, wenn er meint dass Kain aufgefasst werden könne, „als ein ins Gegenteil entstellter Prometheus, als ein für seinen Vorwitz und seine Kühnheit durch Ächtung bestrafter Vertreter des Geistes und der Freiheit“6.
Tja. Auch das mag ja sein. Aber wegweisende Leistungen machen vorherige Verbrechen nicht ungeschehen! Im Falle von Kain und Abel, das müssen wir doch in aller Härte festhalten, in diesem Fall handelt es sich um glatten Mord und nicht um fahrlässige Tötung oder gar Totschlag im Affekt! Ganz fürsorglich hatte Gott vorher zu Kain geredet: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. Und was macht Kain? Er nimmt seinen Bruder Abel mit raus aufs Feld. Das ist vorsätzlicher Mord!
Die Verteidiger von Kain beklagen zwar das Unrecht, dass Gott sein Opfer nicht gnädig angesehen habe wie das von Abel. Eine Dichterin etwa legt Kain folgende Verse in den Mund: „Sieh wie meines Bruders Gärten blühen, und der meine liegt wie toter Stein. Soll ich wieder ohne Ernte sein nach des langen Jahres harten Mühen?“7 Aber mit Verlaub: Das ist dichterische Phantasie. Im biblischen Text ist von der Erstgeburt des Kain und dem Jubel seiner Mutter Eva über ihn deutlich die Rede, wohingegen über Abel geschwiegen wird!
Ich bin zwar kein Jurist, fürchte aber, dass die irdische Justiz gegenüber Kain die Höchststrafe verhängen würde. Denn es sind weit und breit keine mildernden Umstände zu entdecken. Selbst die Klage des Kain gegenüber Gott Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte bezeugt Angst vor der Strafe und nicht Reue über die Bluttat, die er begangen hat! Und in wie vielen Ländern dieser Erde würde das leider die Todesstrafe bedeuten!
Gottseidank verhält Gott sich nicht so. Er handelt nicht nach den Maßstäben der menschlichen Justiz. Und so bekommt die Geschichte von Kain und Abel zwar kein gutes Ende, aber doch zumindest einen offenen Ausgang: Kain bekommt von Gott trotz der Bestrafung noch eine Chance. Und wie wir weiter aus dem 1. Buch Mose erfahren hat Kain ja auch tatsächlich diese Chance genutzt.
Und wir? Ich schlage vor: Wir weichen der Zumutung dieser Geschichte nicht aus. Wir nehmen sie als Ursage ernst. Und das heißt: Die Sünde, wie die Bibel sie beschreibt, ist lebensgefährlich! Und sie hat nach uns Verlangen wie ein hungriges Raubtier. Neid und Begehren sind in höchstem Maße bedrohlich für das menschliche Zusammenleben. Und wie wir im reichen Deutschland auf Kosten anderer Länder und auf Kosten anderen Lebens leben, das ist keine Bagatelle! Mord verjährt nicht, auch nicht der von Deutschen verübte Völkermord an den Juden. „Unsere Verantwortung endet nie“, sagte im Blick darauf zurecht gerade ein deutscher Politiker [Heiko Maas].
Kain ist unsere Herkunft und eine bleibende gefährliche Möglichkeit, erzählt die Geschichte. Aber Kain muss nicht unsere Zukunft sein! Denn wir glauben an einen Gott, der Sünde und Schuld vergibt! Das Kainszeichen für uns Christen ist das Kreuz. Denn Jesus Christus hat den Fluch, hat Sünde und Schuld von uns auf sich genommen! Das Kreuz ist für uns das Zeichen der Erlösung. Und das schenkt uns Kraft, es immer wieder neu mit der Liebe zu Gott und zum Nächsten zu versuchen, ohne die Geschichte von Kain und Abel zu vergessen.
„Kindern erzählt man Geschichten zum Einschlafen - Erwachsenen, damit sie aufwachen.“8
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsre Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus unserem Herrn.
AMEN
1 I Zitiert aus: http://www.erzaehlen.de/erzaehlen.de/Redaktion_Zitate.html
2 I Rudolf Smend, Altes Testament christlich gepredigt, Göttingen 2000, S.14.
3 I Gerd Theißen, Die offene Tür. Biblische Variationen zu Predigttexten, München 1990, S.13; Gerd Theißen verdanke ich die Grundidee der vorliegenden Predigt.
4 I Herbert Vincon, Spuren des Wortes. Biblische Stoffe in der Literatur. Materialien für Predigt, Religionsunterricht und Erwachsenenbildung, Bd. 3 Altes Testament, Stuttgart 1990, S.207/208.
5 I s. Theißen a.a.O. S.14.
6 I s. Vincon, a.a.O. S.195.
7 I s. Ingeborg von Gustedts Gedicht ‚Kain’ bei Vincon, a.a.O. S.202.
8 I Jorge Bucay zitiert aus: http://www.erzaehlen.de/erzaehlen.de/Redaktion_Zitate.html
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Abel, steh‘ auf, wir müssen neu anfangen - Predigt zu 1. Mose 4, 1-16a und Lukas 10, 25-37 Walter Meyer-Roscher
Zwei Geschichten, in denen von brutaler Gewalt, der ein Mensch zum Opfer fällt, berichtet wird, bestimmen diesen Sonntag im Kirchenjahr. Der Predigttext aus dem AT ist die uralte Erzählung von Abel, den sein Bruder Kain aus Missgunst und Überheblichkeit erschlägt. Im Sonntagsevangelium ist dann die Rede von einem Mann, der zwischen Jerusalem und Jericho unter die Räuber fällt und halbtot am Weg liegen bleibt.
Nur zwei Episoden aus einer unendlichen Geschichte von Hass und Gewalt, Brutalität und Vergeltung – einer Geschichte, die ganze Völker immer wieder in Angst und Schrecken versetzt, die uns alle nicht zur Ruhe kommen lässt? Nein, es sind keine Episoden, die man dann auch getrost vergessen könnte. Es sind vielmehr symbolische Geschichten, die einen großen Bogen vom nicht wieder gutzumachenden Anfang bis zu einer Hoffnung auf Veränderung schlagen wollen.
Am Anfang steht Kain mit seiner Tat und mit seiner scheinheilig-egoistischen Frage: Soll ich meines Bruders Hüter sein?
Abel steh auf, damit es anders anfängt zwischen uns allen – ein Wunsch, der die erste Gewalttat revidieren und unsere Geschichte von Anfang an verändern möchte. Abel steh wieder auf, dann könnten sich doch neue hoffnungsvolle Wege für ein friedliches Miteinander der Menschen auftun. Dann würde auch die alte Frage: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ eine neue Antwort finden können.
Hilde Domin gibt diesem Wunsch und dieser Hoffnung in einem Gedicht Ausdruck:
Abel steh auf, wir müssen neu anfangen.
Täglich müssen wir neu anfangen können.
Täglich muss die Antwort noch vor uns sein
Und die Antwort muss JA sein können.
Wenn du nicht aufstehst, Abel, wie soll die Antwort,
Diese einzige wichtige Antwort sich je verändern?
Wenn du nur aufstehst und sie rückgängig machst,
Die erste falsche Antwort auf die einzige Frage
Auf die es ankommt.
Steh auf, damit Kain sagt, damit er es sagen kann:
JA, ich bin dein Hüter, Bruder,
Wie sollte ich nicht dein Hüter sein?
Abel steh auf, damit es anders anfängt zwischen uns allen.
Ja, wenn die unzähligen Opfer brutaler Gewalt wieder aufstehen könnten, die Opfer von Vorurteilen und Hass. Wenn sie doch wieder aufstehen könnten, die unbarmherziger Egoismus und kalte Liebelosigkeit zu Boden getreten, in einen unverdienten Tod getrieben haben. Dann könnten wir doch mit eigenen Augen sehen, dass es im Zusammenleben von Menschen anders werden kann. Aber dieser verzweifelte Wunsch findet keine Erfüllung.
Die unschuldigen Opfer von Hass und Gewalt stehen nicht wieder auf, wie wir dies manchmal erhoffen. Abel liegt tot am Boden, und er bleibt dort auch liegen. Das ist wie ein Fluch, der unsere Menschheitsgeschichte von Anfang an belastet. Der Wunsch, er könnte wieder aufstehen und damit das Geschehen von Gewalt und Totschlag rückgängig machen, wird nicht erfüllt. Und doch stirbt die Hoffnung nicht, dass es einmal anders und neu zwischen uns allen anfangen könnte, dass Hass und Gewalt unser Zusammenleben nicht endgültig zerstören, dass Egoismus und Lieblosigkeit nicht das letzte Wort haben.
Diese Hoffnung greift Jesus im Sonntagsevangelium auf. Er kleidet sie in eine gleichnishafte Erzählung, die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Seltsamerweise erwähnt Jesus die Gewalttäter nicht weiter. Jesus erzählt nur, dass ein Mann an der öden Wüstenstraße von Jerusalem nach Jericho unter die Räuber fällt. Die schlagen ihn, ziehen ihn aus und lassen ihn halbtot liegen. Dann ist von diesen Tätern nicht mehr die Rede. Unser spontaner und ganz menschlicher Wunsch nach einem Eingreifen von Ordnungskräften, nach Verhaftung und gerechter Strafe, wird in diesem Gleichnis ignoriert. Die Räuber verschwinden in der Anonymität, aus der sie so plötzlich aufgetaucht sind. Offenbar geht es Jesus nicht um die Täter, sondern um die, die auf die Tat und das unschuldige Opfer zukommen.
Der Priester und der Levit, offizielle Vertreter der Religion, rechtschaffene, geachtete und sicher auch fromme Menschen sehen das Opfer und sehen weg. Warum?
Wir wissen es nicht. Jesus sagt es auch nicht. Wir wissen nur: Beide sind „Gottesdiener“, vertraut mit der Ordnung und Liturgie des Gottesdienstes. Beide kennen Gottes Gebote und sind auch mit ihrer Auslegung vertraut. Aber sie sehen weg – aus Angst, dass auch sie an dieser gefährlichen Straße zu Opfern brutaler Gewalt werden könnten? Vielleicht! Aus Gleichgültigkeit, weil sie Anderes und ihrer Meinung nach Wichtigeres zu bedenken haben? Oder weil sie sich nicht zuständig fühlen und die erste Fürsorge lieber denen überlassen, die dafür ausgebildet sind und deren Beruf die professionelle Hilfe ist? Es gibt viele denkbare Gründe und nicht wenige berühren, treffen uns, treffen eine Mentalität, die sich in unserer Gesellschaft breit gemacht hat: Wegsehen, sich nicht angesprochen fühlen, anderen die Verantwortung zuschieben. Soll denn ausgerechnet ich meines Bruders Hüter sein?
Vielleicht ist ja das Wegsehen für Jesus eine besondere Form der Eskalation von Gewalt in unserer Welt. Abel steht nicht wieder auf. Aber der eigentliche Skandal ist, dass immer mehr Menschen sich von den Opfern an der Straße der Gewalt gar nicht mehr angesprochen fühlen, dass sie wegsehen, dass menschliches Mitgefühl verloren geht.
Der Samariter hätte durchaus einen Grund wegzusehen und vorüberzugehen. Der da halbtot an der Straße liegt, ist ein Mann aus dem jüdischen Volk, und er, der Samariter, ist nur ein Fremder, der nicht dazugehört. Seine Volks- und Glaubensgemeinschaft ist nur eine kleine Randgruppe mitten im Gebiet der großen jüdischen Glaubensgemeinschaft, immer wieder ausgegrenzt, diskriminiert, mit Missachtung gestraft.
Ausgerechnet dieser Fremde hat einen wachen Blick für das Leiden anderer und ein offenes Herz, das mitfühlt und mitleidet. Das unschuldige Opfer jammert ihn, so drückt es Jesus aus. Seine Gefühle richten sich unmittelbar auf den, der seine Zuwendung und Hilfe braucht. Da fallen die Schranken, die zwischen Menschen und menschlichen Gemeinschaften gezogen werden und uns dann oft das Leiden anderer gar nicht empfinden lassen: Die gehören nicht zu uns, zu weit weg oder auch selbst schuld – und wie die Ausflüchte auch heißen mögen, um sich das Elend derer, die unter die Gewalttäter gefallen sind, vom Leibe zu halten.
Auf der Straße der Gewalt nicht die Augen verschließen, sondern hinsehen, mitfühlen und da helfen, wo wir die Nächsten sind. Das will Jesus am Beispiel des Samariters verdeutlichen. Nicht am Ausmaß und an der Eskalation der Gewalt verzweifeln, sich nicht in eine egoistische Resignation zurückziehen, sondern da helfen, wo es unmittelbar notwendig ist. Nächstenliebe richtet sich immer auf den, der vor unseren Augen unter Gewalt und Hilflosigkeit leidet. Der Mann, dem der Samariter so fürsorglich hilft, mit Versorgung der Wunden, mit Nahrung und mit finanzieller Hilfe – dieser Mann kann im Gegensatz zu Abel wieder aufstehen, obwohl er schon halbtot am Boden lag. Da konnte sich etwas verändern im Leben eines Gewaltopfers, weil ein anderer hingesehen und erkannt hat: Ich bin ja sein Nächster. Ja, ich bin meines Bruders Hüter und ich frage nicht mehr nach seiner Rasse, seiner Volkszugehörigkeit, seiner Religion.
Hier muss eure Hoffnung ansetzen, sagt Jesus. Ihr selbst könnt sie gestalten durch Hinsehen und Zuwendung, durch Mitfühlen, Mitleiden und Fürsorge. Für die, die immer nur auf das schreckliche Ausmaß der Gewalt in unserer Welt starren und die dabei gleichgültig werden, mag das keine die Verhältnisse umkehrende Veränderung sein. Aber es ist die Möglichkeit, eine Antwort auf die Anfangsfrage des Schriftgelehrten im Sonntagsevangelium zu finden: Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe.
Für euch, sagt Jesus, ist die Nächstenliebe, wie der Samariter sie beispielhaft gestaltet, die beste Möglichkeit, den Weg in erfülltes, sinnvolles mitmenschliches Leben zu finden. Dazu gehört die neue Antwort auf die uralte Kainsfrage „Soll ich meines Bruder Hüter sein?“:
JA, ich bin dein Hüter, wie sollte ich nicht dein Hüter sein?!
Amen
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Jenseits von Eden – Predigt zu 1. Mose 4,1-16 von Martin M. Penzoldt
1. Mose 4, 1 – 16 (V 16 unverstümmelt).
Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain (und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit dem Herren.) Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist es nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. Kain aber sprach zu dem HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.
Liebe Gemeinde,
wenn diese Geschichte eine Farbe hätte, dann wäre sie dunkelgelb. Gelb: Die Farbe des Neids. Diese Geschichte trieft vor Neid.Wir reden kirchens gern von Güte, Gemeinschaft, Liebe und Hoffnung. Doch die Bibel redet gleich am Anfang von Sündenfall und Mord. Sie redet davon, dass der Mensch für den anderen Menschen ein Wolf ist, der ihm alles nehmen möchte - sogar das Leben. Eigentlich wollen wir nicht Teil einer solchen Geschichte sein. Eigentlich wollen wir die Paradiesgeschichte weiterleben. Und das ginge auch, wenn nur, ja wenn nur der Nachbar nicht wäre. Und was wären wir für eine tolle Familie, wenn nicht die Schwiegermutter wäre. Zwistigkeiten, Argwohn, Lügen und Missgunst umgeben uns. Wie könnten wir da souverän, gütig, duldsam und vergebungsbereit sein? Wir müssen uns abgrenzen und unser Paradies retten – und können es nicht. Es ist ja der eigene Bruder, die Schwester, die über uns triumphieren. Es sind ja die eigenen Eltern, die uns unsere Geschwister vorziehen. Ja, und es ist‚ Gott, der uns nicht sieht und keine Gerechtigkeit schafft. Haben wir nicht verdient einmal so richtig Glück zu haben? Haben wir nicht alles getan, um Anerkennung und Erfolg zu erringen? Und doch scheint es so, als ob immer die anderen das große Los ziehen. Was geschah als wir ganz alleine waren und keiner uns ansah? Wie tief reichen solche Kränkungen und bestimmen das Leben! Mancher Erbstreit ist ein spätes Echo auf Neidgefühle in jungen Jahren. Kein Außenstehender kann das je verstehen. Kaum einer kann helfen.
Und wenn wir uns in der Welt umblicken: Was würden wir sehen in dieser Welt? Da sähen wir die aberwitzigsten Kämpfe, die Gräber der Toten, Millionen Hungernde, Hass und Zank, Neid und Missgunst. Dabei: Die Erde gibt allen genug, dass sie davon leben können. Könnten! Warum können wir das - in drei Gottes Namen - nicht sehen?
Kain und Abel, das ist weit mehr, als ein Kriminalfall. Es ist die Fortsetzung des Sündenfalls. Missbrauch der Freiheit, die Gott dem Menschen gegeben hat. Der wendet sich gegen Gott und wendet sich gegen andere Menschen. Die Sünde also im Erbe - so könnte man das in dunklen Farben ausmalen. Aber das ist nicht alleinbestimmend für das Bild vom Menschen: die biblische Überlieferung kennt auch seine Kooperationsbereitschaft, sie rühmt seine Liebesfähigkeit des Menschen in vielen Farben und baut letztlich auf seine im Geist erneuerte Geschwisterlichkeit. Es muss also schon etwas sehr Schlimmes vorfallen, um dieses Bild zu verdunkeln: Neid und Eifersucht! Der Neid unter Menschen ist eine tödliche Kraft. Nichts stillt seine Sucht, denn er will immer genau nur das haben was der andere hat.
Ein Schäfer, ein Ackermann, beide frei in der Natur unter offenem Himmel, der eine mühsam in der Erde grubelnd, der andere immer in Sorge um jedes seiner Tiere. Beide mit geschärftem Blick auf das Wetter und die Raubtiere, dabei auf engem Raum angebunden, urbestimmten Bräuchen verpflichtet. Beide Spießbürger in gutem Sinn. Jeder gibt sein Bestes. Jeder will auch gut dastehen vor all den anderen. Es bleibt ja nichts verborgen, wenn man so eng aufeinander lebt. Aber nicht alles gelingt und einer von beiden fällt immer weiter zurück. Es ist Erntezeit, Zeit der Abrechnung, und einer steht blamiert. Im Augenblick der größten Öffentlichkeit, beim Opfern des Jahresertrages, erfährt sich Kain bloßgestellt: Nimmt Gott nur das Opfer von Abel an? Vielleicht hat Kain das überhaupt nicht vorausgesehen. Vielleicht hat er sich vom Bruder, von allen und von Gott geliebt gefühlt. Und auf einmal wird ihm alle Liebe entzogen. Und Scham ergreift ihn. Früher hat man Menschen öffentlich an den Pranger gestellt, um sie zu bestrafen und sie vor allem spüren zu lassen, wie viele Menschen sie geschädigt und enttäuscht hatten. Kain ist wie von allen guten Geistern verlassen. Warum er? Er weiß es nicht. Gott und seine unerträgliche Willkür einerseits! Andererseits hat Kain die Kraft und die Freiheit, die Situation anzunehmen. Wenn du fromm bist', also wenn du aufrecht bist, so heißt es, kannst du auch mit einer solchen Situation leben. Auch angesichts der größten Ungerechtigkeit - und was könnte größer sein als die Ungerechtigkeit Gottes - kann der Mensch gerecht und gut bleiben. Das Gute wiegt schwer. Und letztlich wird sich auch Gott am Ende aller Zeiten nach dem Guten richten. „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüder, das habt ihr mir getan.“ Mt 25,40 (Wochenspruch. Lesung: Lk 10,25ff.)
Aber Kain kann gute Worte jetzt nicht hören. Er ist außer sich. Kain, der Handwerker und Bauer, er sieht nicht mehr was er hat und kann. Wenn er, der Ältere, nicht auch im Erfolg vorne steht, dann ist alles nichts. Er sieht sich nur noch als den Benachteiligten und Zurückgestellten und bleibt im Teufelskreis seiner gelb-dumpfen Gefühle. Und so wird er, statt sich zu beherrschen, aus Neid zum Mörder am eigenen Bruder,
Gott verhindert die Tat nicht. Aber er vergilt sie auch nicht mit Tötung. Aber von nun an irrt Kain - irrt durch die Lande, wird lange nicht sesshaft, ein Nomade also, wie es von Abram heißt: unser Urvater war ein herumirrender Nomade. Kain fällt vom Bauern (neolithische Revolution) eine Kulturstufe zurück zum Nomaden und ist doch mit einem Mal allen voraus, denn jenseits von Eden (V16) gründet er die allererste Stadt (V17) und damit d e n Inbegriff auch des modernen Nomadentums.
Wenn Gott weder Abel schützt noch Kain entsprechend bestraft, und so die Menschen ganz auf sich gestellt sind und das Ergebnis ist Mord und ewiges Herumirren, haben wir nicht alle von Gott zu viel Freiheit erhalten, mehr als wir aushalten??
Ja, es ist eine Freiheit, die in ihrer Unermesslichkeit fasziniert – und in ihren Folgen blankes Entsetzten auslösen kann. Wir sind nicht Gottes Roboter, die auf der Weltenbühne ferngelenkt durchs Leben geführt werden. Vielmehr schuf Gott den Menschen als sein Abbild. Gott hat sich die Freiheit genommen, sich mit dem Menschen ein freies Gegenüber zu schaffen und keine Marionette. Das schließt ein, dass er Morde geschehen lässt. Gott will keine Marionetten, wohl aber will er Menschen, die verantwortlich leben - auch Kain hatte diese Chance.
Gott ermahnt den Menschen immer wieder mit Worten: "Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie." Das ist die Freiheit, die Gott für uns will, denn wir sind nicht an seinen Fäden aufgehängt. Und es heißt - und das mag bitter sein: Seine Maßstäbe annehmen, auch da, wo ich meine, zu kurz zu kommen. Seine Maßstäbe annehmen, auch wenn ich das Gefühl habe, gerade auch vor Gott zu kurz zu kommen.
Was ist, wenn mir ein neuer Vorgesetzter vor die Nase gesetzt wird, wenn ich doch weiß, ich könnte die Stelle viel besser ausfüllen? Was ist, wenn meine Kollegin die besseren Zeugnisse hat, obwohl ich meine, dass ich kompetenter bin? Die Gedanken drehen sich, es entsteht ein Strudel von Gefühlen und eigenwilligen Aufrechnungen verschaffen sich Raum. Der Eindruck setzt sich fest: Gott und das Leben sind ungerecht. Und dieses Empfinden von Ungerechtigkeit kann uns alle schnell ergreifen. Bekommen solche Gefühle Macht über mich? Oder lasse ich mir von Gott zurufen: "Sünde ist vor der Tür: Herrsche über sie." Ps 4 sagt sehr schön: „ Zürnet ihr, so sündigt nicht,
redet in eurem Herzen auf dem Lager und seid stille.“ Jeder hat die Kraft und die Freiheit böse Gedanken abzuwenden. Es gibt schon genug Tod. Und es genügt nicht den eigenen Neid zu bekämpfen, wir sollen auch nach Abel sehen und unseres Bruders, unserer Schwester Hüter sein. So heißt es seitdem allenthalben. Aber es sollte doch zu denken geben, dass selbst Gott einen Kain s o nicht von seiner Untat abhalten konnte.
Ich weiß, dass auch Jesus dazu Entscheidendes gesagt hat. Und jeder der es kann möge seine Worte beherzigen. Vielen geht es vermutlich aber dabei wie Kain, dass sie auf gute Worte nicht mehr zu hören vermögen. Nur durch eine letzte Überbietung dieser heillosen Lage ist Hilfe möglich. Der Aufruf an Kain, sich um diese Schwachen und Leidenden zu kümmern, eine Mitleidsethik also, greift hier entschieden zu kurz. Zu sehr sind viele selbst angefressen, verletzt, empört und beschämt. Ich sehe vor mir die trauernden Erben, die sich feindlich gegenüber sitzen, ich sehe die Tochter, die den Vater pflegte, der nur von seinem Sohn sprach, ich sehe das Schattenkind, das neben dem schwerkranken Bruder nichts galt, die Wut des Antragsstellers vor einer gewollt undurchschaubaren Bürokratie, die Ohnmacht der Verletzten deren Aggressor nach Recht und Gesetz frei sind.
Was also sollen wir tun? Wir deuten auf das Kreuz. Genauso wie Gott Kain bezeichnet hat zu seinem Schutz. Wir deuten auf das Bild des alle Leiden durchmessenden Gottessohnes. Hierin liegt der christliche Trost und die Gemeinschaft des Leides, die ermutigt wieder Kraft zu gewinnen und Mut zu fassen. Wer durch die Solidarität der Sterbenden das Bild des Lebendigen in sich trägt, der kann die Enge, die Angst in sich verlieren und wieder leben.
Wir sind die Kinder Adams und Evas aus dem Paradies. Wir sind aber auch die Kinder Kains aus dem Land Nod, jenseits von Eden - in Elend und Unrast. Bauern und Großstadtnomaden. Die Geschichten von Adam und Eva, von Kain und Abel erzählen wir weiter, weil sie die Option der Veränderung für unser Leben enthält. Es sind Geschichten aus erdenschwerer Zeit mit einem Keim der Hoffnung. Einer Hoffnung, die sich auf Gottes Gewähren gründet: Kain darf leben.
Die Gottesgeschichte von Kain und Abel handelt von einem Leben, das getötet wird und einem anderen Leben, das bis an den Tod gerät, bevor es von göttlichem Zeichen beschützt zu neuem Leben aufbrechen kann. Die biblischen Geschichten haben von Beginn eine Kreuzestiefe, die nicht durch Aufforderungen zu guten Werken überspielt werden darf. Die Konzentration liegt auf diesem Kreuzeszeichen +. Amen
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Kainsgefühle – Predigt zu 1. Mose 4,1-16a von Werner Grimm
Liebe Gemeinde!
„Lasset uns singen, dem Schöpfer bringen Güter und Gaben, was wir nur haben, alles sei Gotte zum Opfer gesetzt.“ Genau das haben Kain und Abel, beide, getan. Aber was dann passierte – nun, wir möchten es am liebsten gleich beiseitelegen, was schert uns dieser Vorfall aus grauer Vorzeit. Aber halt: Kain und Abel, das ist ja nicht eine singuläre Mordsgeschichte aus längst vergangener Zeit, sondern: Wir haben es mit einem Menschheitstext von Urmenschlichem zu tun: Kain und Abel schlummern bis zum heutigen Tage als gefährliche Möglichkeit in unser aller Brust. Wir sind also mit gemeint bei allem, was da erzählt wird.
Erst einmal: An der fehlenden Nestwärme liegt es nicht unbedingt, wenn einer den Weg Kains geht. Kain gehört nicht zu den unerwünschten Kindern. Kain ist, wie es in der biblischen Zeit selbstverständlich war, ein herzlich willkommen geheißener Knabe. Eva, die Mutter, habe ihm – im Rahmen eines kleinen Festakts, darf man sich vorstellen – mit einem Jauchzen seinen Namen gegeben. Kain, ruft Eva aus, zu Deutsch „Schmied“ – „Schmied“ soll ihr Erstgeborener heißen, soll also ein starker Mann werden, fähig, Pläne zu „schmieden“ und sozusagen seines Glückes Schmied zu werden. Abel dagegen bedeutet „Hauch“, „Nichtigkeit“, „ein Lüftchen“. Ahnen die Eltern, dass er der Schwächere sein wird, ein Sorgenkind, um das man sich kümmern muss, leicht wegzublasen?
In der uralten Zeit, in der die zeitlos gültige Geschichte spielt, gab es für die Menschen im Vorderen Orient zwei Berufe. Man wurde Schaf- und Ziegenhirt und lebte von Milch, Käse, Fleisch und Wolle, und alles hing davon ab, dass man fürs Vieh immer wieder Weideplätze fand zum Abgrasen. Oder man wurde ein ortsansässiger Bauer, bearbeitete den Ackerboden und lebte von den Früchten des Landes. Arbeitsteilung und Austausch der Erträge gibt es in der Menschheit seit Urzeiten, so sieht es die Bibel. Ob die Arbeitsteilung bei allen Chancen, die in ihr liegen, auch dazu beiträgt, dass Menschen sich einander fremd werden, weil sie in verschiedenen Milieus leben? Wir kennen doch solche Gedanken: „Zwölf Wochen Urlaub hat die Lehrerin – die möchte ich mal haben!“ Und wir sehen nur diese eine Seite. Die Lokführer – haben die’s gut. Tagaus, tagein, durch die Technik entlastet, durch schöne Landschaften rauschen – und dann erlauben sie sich’s noch, mit einem Streik den ganzen Verkehr lahmzulegen. Und wir sehen nur diese eine Seite. Ob Sozialneid solcher Art eine Rolle spielt für das, was Kain nachher tun wird – wer weiß.
Dunkle Wolken jedenfalls ziehen auf, als sich Kain ungeliebt und zurückgesetzt fühlt. Beide wollen sie dasselbe, wollen, wozu die Opfergabe da ist: Gott danke sagen und Ihm eine Freude machen; und sie hoffen, dass er dann seinerseits auch ihnen wieder freundlich gesinnt ist. Das ist der Kreislauf des Segens. Und nun unterbricht nicht Kain diesen, sondern Gott! Verstörend, rätselhaft: Abels Gabe nimmt er an, die von Kain würdigt er keines Blickes. Das erkennt Kain übrigens nicht daran, dass bei seiner Opfergabe der Rauch nicht aufsteigt, sondern er merkt das in seiner ganzen Existenz: daran, dass die mühselige Arbeit auf dem Acker heuer erfolglos bleibt: eine totale Missernte gab’s nach ausgebliebenem Regen. Kaum reicht’s für den Lebensunterhalt, während Abels Herde in diesem Jahr besonders gut warf. Dass es dem Schwächlichen jetzt besser geht als dem, der seines Glückes Schmied sein wollte – unfassbar für einen Kain. Ein beängstigendes Gefühl beschleicht Kain: Mein Leben misslingt. Nicht denkt er daran, dass sich im nächsten Jahr die Verhältnisse schon wieder ganz anders darstellen können. Vor Augen hat er nur immer seinen jetzt reichen Bruder. Dessen Leben glückt. Der glänzt vor Freude. Es ist unbegreiflich und fast nicht auszuhalten.
An dieser dunklen Stelle versuchen fast alle Ausleger, Gott zu erklären und zu entlasten. Kain habe wohl nicht richtig oder er habe in niedriger Gesinnung geopfert. Er wäre eben von Anfang an der Böse (Sagt im Neuen Testament sogar ein Apostel!).
Auf nichts aber von alledem lenkt die ursprüngliche Erzählung vorläufig unser Augenmerk. Sie sagt lapidar nur: So ist es, so geschieht es auf dieser Welt, so ungleich verteilen sich Glück und Gelingen auf die Menschenkinder. Das ist die Wirklichkeit von Uranfang an.
Und diese Botschaft stimmt mit der Lebenserfahrung überein. So fragt doch mancher: Warum konzentriert sich alles Pech auf mich? Ich habe einen Menschen wirklich geliebt – er ist mir versagt geblieben. Es gab kein Geld mehr, dass ich den Beruf meines Lebens hätte lernen können – für meinen Bruder war es da. Warum musste ich mein ganzes Leben immer nur Menschen hergeben? Der Nachbar, wenn ich sein Geld hätte und seine Gesundheit – was würde ich daraus machen! Sie hören richtig: Immer ist das Ich betont in solchen Sätzen. Aber es ist die Ichbezogenheit des vielleicht wirklich zu kurz gekommenen Menschen. Am meisten greift „mich“ nun allerdings nicht der materielle Besitz an, den der andere mehr hat – mehr noch nagt an „mir“ etwas Elementareres: das, was der andere in sich selber ist und aus sich selber ist, was er nicht wie die Habe verlieren kann: sein Sein; seine von innen kommende Schönheit, seine Intelligenz, sein Ruhen in sich selbst, seine Festigkeit, seine Liebesfähigkeit, sein Gottvertrauen. Es ist wie eine Bedrohung, eine Verurteilung meines Lebens.
Ich denke, wenn wir nur einen Teil dieser Empfindungen von uns selber kennen, dann sind wir jetzt dagegen gefeit, einen Kain hier schon zu verdammen. Wer einem Kain moralisch kommt, hat’s wohl nie erleiden müssen – unsere Erzählung beschreibt‘ s mit einem tiefen-psychologischen Blick, bei wörtlicher Übersetzung des hebräischen Textes: „Und es wurde Kain sehr heiß vor Wut und sein Angesicht fiel herunter.“ Das macht er nicht, das überfällt ihn und überwältigt ihn. Psychosomatisch. Über die Seele erfasst es den Körper. Bald brennt der Neid und macht den Körper heiß und aufs höchste geladen und will sich entladen, will die Gerechtigkeit mit Gewalt wiederherstellen. Bald lässt tiefe Depression das Angesicht niedergeschlagen sein. Das ist ein Ausdruck für Liebesverlust: mit dem niedergeschlagenen Angesicht ist der Kontakt zu den Mitmenschen abgebrochen. Denn für ein sich austauschendes, liebe-volles Leben braucht es das erhobene, offene Angesicht: in Augen sehen, die einen liebevoll anblicken, eine beruhigende Stimme hören, einen Menschen riechen können – alles ist versammelt im Angesicht; wir leben von Angesicht zu Angesicht. Und das ewige Leben soll bekanntlich darin bestehen, dass wir Gott von Angesicht zu Angesicht schauen.
Kains Verbrechen beginnt erst da, wo er sein Leiden an Gott und der ungerechten Situation eigenmächtig und mit Gewalt beenden will. Statt seine maßlose Enttäuschung und Wut „sich von der Seele zu schreien“ – vielleicht hätte solches „Dampf ablassen“ ja schon entspannt – aber kein noch so quälendes Leiden berechtigt dazu, sich am Leib eines Menschen zu vergreifen. Jedes Menschenleben ist Geschöpf Gottes und damit unter seinen „Naturschutz“ gestellt: es ist heilig. Kain aber plant die Tötung; sehr bewusst, bei vollem Verstand, plant er das Verbrechen so, dass es nachher unentdeckt bleibt; darum lockt er Abel aufs Feld hinaus weitab von jeder Menschensiedlung. Mag sein, dass es noch einen kurzen Wortwechsel zwischen den beiden gab. Kain: „Hau ab; das ist mein Ackerboden.“ Abel: „Gut, und du – zieh deine Kleider aus. Denn die Wolle stammt von meinen Schafen!“ Und dann erschlägt Kain seinen Bruder – dort, wo das Opfer keine Chance hat, mit seinem „Hilfe!“ jemanden zu erreichen, erschlägt er ihn. (Nachher wird sich freilich herausstellen, dass es das perfekte Verbrechen nicht gibt; In der Symbolsprache der Erzählung: Abels Blut tritt für den stumm gemachten Mund des Getöteten ein, und seinen Schrei hört Gott. Und Gott ahndet das Verbrechen und sei es „nur“ durch die Ruhelosigkeit einer gehetzten Existenz, welcher der unentdeckt gebliebene Mörder zeitlebens nicht entkommt.)
Die Kainsgeschichte – nicht so müssen wir es uns merken, dass der Erste, der seinen Bruder tötete, ein gewisser Kain und Ackerbauer in einem Land des Nahen Ostens war. Sondern so: Wer immer einem Menschen das Leben nimmt oder es schwer verletzt, aus welchen Gründen auch immer – denn Kain hatte „Beweggründe“ – , der begeht Mord an einem Bruder, an einer Schwester. Ist doch die Menschheit nach Gottes Willen seine Familie.
Jesus hat das ausdrücklich auf die seelischen Verwundungen ausgedehnt und sucht damit sozusagen den Anfängen einer Gewaltgeschichte zu wehren: Brudermord begeht, wer das gemeine Wort „raka“, es ist so böse, dass ich es auf Deutsch in einer Kirche nicht ausspreche – Brudermord begeht, wer das kränkende oder gar tötende Wort auf den Nächsten schießt. Und Jesus sagt: Was man einem seiner geringsten Brüder oder Schwestern antäte, das täte man ihm an. Jesus hat sich aber auch an „Abel“ gewandt. Auch er habe manchmal die Chance, etwas zu tun für einen besseren Ausgang der Geschichte. Wenn ein „Abel“ spürt, dass der Bruder etwas gegen ihn hat, dass etwas zwischen ihnen ist, dann soll er zu ihm hin, notfalls sogar mitten auf dem Weg zum Gotteshaus umdrehen, die „Opfergabe“ liegen lassen und rasch hin zum Bruder! (Mt 5,21-24)
Nun ist es gerade diese Neuauflage der Kain-Abel-Geschichte durch Jesus, die uns alle herausfordert: Könnte man sie nicht besser zu Ende schreiben? Schon der alte Erzähler ließ Gott an einem kritischen Punkt Kain folgendermaßen fürsorglich, fast seelsorgerlich ins Gewissen sprechen: „Ist es nicht so? Wenn du dich konsequent, sozusagen vorwärts blickend, auf das Gute ausrichtest und jedenfalls stur bei der Ehrfurcht vor dem Leben als dem Unantastbaren bleibst, dann kannst du bald wieder frei aufschauen.“ Dann wird ein anderer Tag kommen, dann wird das Vergangene allmählich seine Macht verlieren und du wirst nicht „bitter-böse“ werden müssen bis ins Mark hinein.
Fragt jetzt einer: Aber wie kann ich bleiben bei der Ehrfurcht vor dem Leben dessen, der mich so arg gekränkt hat? Wie die Zurücksetzung und Demütigung aushalten? Da finden wir eine Antwort bei Paulus, dem Apostel Jesu Christi: „Ich ins Elend meiner aggressiven Wut- und Hassgefühle eingesperrter Mensch! Wer wird mich erlösen?“, hat auch er geklagt und gefragt. Und eine beglückende Antwort bekommen, für die er nicht genug danken kann: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn!“ Im folgenden Kapitel seines Briefs an die Römer beschreibt er die Erlösung genauer als eine einzigartige Liebeserfahrung: „Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? ... Wer will uns scheiden von der Liebe Christi ... , von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8,32.35.39) Die in der „Gabe“ Jesus ergangene unüberbietbare Liebeserklärung Gottes an den Menschen befreit ‚Kain‘ von seinen Eifersuchtsdämonien und quälenden Minderwertigkeitsgefühlen. Sie befähigt ihn, in Erwiderung der Liebe buchstäblich das Angesicht zu heben und ‚liebe-voll‘ (wörtlich!) auf seine Schwestern und Brüder zu schauen und Gutes an ihnen zu tun.
Amen.