Bier und Zigarren – Predigt zu 1. Timotheus 3,16 von Frank Nico Jaeger

Bier und Zigarren – Predigt zu 1. Timotheus 3,16 von Frank Nico Jaeger
3,16

Als alles vorbei war setzten sich mein Vater und mein Großvater immer an den runden Tisch im Wohnzimmer. Jeder machte sich eine Flasche Bier auf und, das war das Geheimnis, irgendwann verteilte mein Vater für jeden eine Zigarre.

Der Stress der letzten Tage war weg, der Alltag verblasste und im Regelfall waren alle Beschenkten glücklich. Und als ich alt genug war durfte ich auch an diesen Runden teilnehmen, trank mein Bier und zog an meiner Zigarre.

Jeder hat ja so ein Ding, das es unbedingt braucht damit es Weihnachten werden kann. Bei Tim Mälzer ist es frische Bettwäsche, bei meiner Oma war es der selbstgemachte Kartoffelsalat mit Würstchen und bei meinem Vater, meinem Großvater und mir waren es eben die nächtlichen Zusammenkünfte am Wohnzimmertisch. Gar nicht um viel zu reden. Wir wollten bloß Zeit miteinander verbringen und diesen besonderen Tag ausklingen lassen. Dabei tranken wir meist still unser Bier, rauchten unsere Zigarren und freuten uns darüber, dass es so war, wie es war. Und obwohl meine Mutter am nächsten Morgen deswegen immer ziemlich stinkig war - wenn diese Runde begann war Weihnachten.

Ja! Groß ist das Geheimnis der Weihnacht und genauso groß ist das Geheimnis des Glaubens das uns diese Nacht beschert hat, sagt der Predigttext für diese Nacht und das stimmt.

Wer kann schon erklären, was sich damals und wie genau abgespielt hat? Die Hoffnung des ganzen Erdkreises trifft sich in einem kleinen Kind?

Solch ein Geheiminis ist tatsächlich eine Provokation. Und das in unserer Zeit, in der wir Sonden zum Mars und Menschen erst ins All und dann wieder zurück schicken. Wir können querschnittsgelähmte Menschen wieder aufrecht stehen lassen und das Erbgut von Menschen verändern. Wir gewinnen Öl aus Sand und Strom aus Wind. Schon bald werden die ersten selbstfahrenden Autos auf unseren Straßen völlig normal sein.

Es ist alles erklärt und es ist alles gesagt. Ist in einer Welt in der alles machbar erscheint Platz für eine derartige Herausforderung? Platz für die alte Erzählung von der Geburt eines Königs im Stall?

Ja! Groß ist das Geheimnis des Glaubens.

Und darauf kann man sich einlassen. Das kann man aushalten, denn Weihnachten ist ein Eintritt in eine andere Welt. Ist es das nicht, ist es nicht Weihnachten! Nichts gegen ein warmes Gefühl im Kreise der Lieben nach der Bescherung, aber was für ein Fest wäre Weihnachten, ginge es nur um ein paar wohlige Stunden vor dem Kamin, im Fernsehen läuft „Tatsächlich … Liebe“ und der liebste Mensch von allen holt noch schnell einen warmen Tee aus der Küche.

Ja! Groß ist das Geheimnis des Glaubens.

Weihnachten greift etwas Fremdes nach uns und Sie spüren das auch, denn sonst wären sie nicht hier. Ihr Kommen bedeutet, dass Sie auch nicht damit rechnen, dass alles berechenbar ist und sie anerkennen damit, dass es nicht auf alle Fragen eine Antwort gibt.

Keine Angst, Sie stürzen trotzdem nicht ins bodenlose, denn da ist Trost in dieser Erkenntnis; denn das bedeutet, dass weder der Pfarrer, noch alle Professoren, weder Präsidenten noch sonstige selbsternannte Weltenretter ein allerletzter Maßstab für uns sein können. Denn trotz all ihrer Worte, Zusagen und Berechnungen können diese doch auch nicht verhindern, dass ein Kind weint, eine Frau geschlagen wird und ein Mann verzweifelt. Sie verhindern auch nicht die Kriege unserer Tage und sie lösen auch nicht unsere Probleme von der die Welt auch nach den Tagen des Kaisers Augustus immer noch mehr als genug hat.

Ja! Groß ist das Geheimnis des Glaubens und zahlreich sind die Rituale zum Fest. In einer kalten und unfreundlichen Welt, voller falschem Glanz und voller „Wenn“ und „Aber“ ist es gut sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Also Gott seine Arbeit machen zu lassen und ihm dabei möglichst nicht im Wege zu stehen, wenn er versucht, die Hässlichkeiten dieser Welt zu erhellen.

Zurück ins zugequalmte Weihnachtswohnzimmer: Eigentlich wollten wir unser Geheimnis immer gerne für uns behalten, aber die schweren Rauchschwaden hüllten zuerst uns, dann den Tisch und schließlich den ganzen Raum samt Weihnachtsbaum ein. Am nächsten Morgen stank das Wohnzimmer natürlich erbärmlich nach kaltem Rauch und auch alles Lüften in der Nacht konnte das Schlimmste nicht verhindern, weil der Qualm sich im Raum festgesetzt hatte.

Ja! So groß wie das Geheimnis des Glaubens, so groß ist auch diese Nacht. Aber das ist auch an 364 anderen Tagen im Jahr nicht anders. Denn die Geschichte mit Gott und seinen Menschen passiert jeden Tag, auch wenn die Welt versucht ihn nur einmal im Jahr rein zulassen.

Es bringt nichts, denn Gott hat sich längst festgesetzt, so wie der Rauch in unserem Wohnzimmer.

Frohe Weihnachten.

Perikope

Geheimnisvoll – Predigt zu 1. Timotheus 3,16 von Matthias Loerbroks

Geheimnisvoll – Predigt zu 1. Timotheus 3,16 von Matthias Loerbroks
3,16

Eine geheimnisvolle Zeit – schon wenn Weihnachten herannaht. Bei Kindern ist das deutlich, die angesichts all der Heimlichkeiten vor Neugier platzen, aber auch ihrerseits großen Wert auf Geheimhaltung legen bei ihren Produktionsprozessen und bei ihren Produkten. Doch auch wir Erwachsenen spüren in dieser Zeit so etwas wie eine geheimnisvolle Atmosphäre: irgendetwas liegt in der Luft, bewegt unser Herz, berührt unsere Seele. Es ist zwar nicht so, dass wir in dieser Zeit bessere Menschen werden, aber ein bisschen anders schon – etwas weicher, etwas weniger hartgesotten, empfänglicher, weniger verschlossen, weniger eng als sonst. Und jetzt, da nun richtig Weihnachten ist, nämlich Nacht, spüren wir dies Geheimnisvolle noch stärker.

Auch Menschen, die ganz gut ohne Gott und ohne Jesus, ohne das Evangelium zurechtkommen, beschleicht in dieser Zeit die Ahnung, wenigstens der Anflug einer Ahnung: vielleicht ist doch was dran an der Jesusgeschichte; vielleicht ist unsere Welt doch keine völlig gottverlassene Gegend. Gewiss sind nun nicht alle Menschen angerührt und verzaubert. Weihnachten ist auch die Zeit, in der Einsame ihre Einsamkeit schmerzhafter empfinden; in der aber auch Menschen, die durchaus nicht allein, sondern mit anderen zusammen sind, es irgendwie schaffen, einander besonders kräftig auf die Nerven zu gehen, sich besonders heftig in die Haare zu geraten. Doch auch das zeigt ja: es ist eine besondere Zeit; auch das Vermissen von so etwas wie Licht und Wärme, von Frieden ist ja ein starkes Gefühl, das darauf hindeutet: es ist eine geheimnisvolle Zeit; Weihnachten selbst ist eine Art Geheimnis. Ein Geheimnis ist ja etwas anderes als ein Rätsel, das seinen Reiz verliert, wenn es gelöst ist. Ein Geheimnis hingegen behält seinen Reiz, seinen Zauber auch dann, wenn man ihm nachdenkt und nachspürt, es zu ergründen versucht. Und diesen Reiz, diesen Zauber wollen wir dem Geheimnis gar nicht nehmen, indem wir es in jeder Hinsicht plattmachen.

Nun verrate auch ich sicher nicht meinerseits ein Geheimnis, wenn ich sage, dass auch Theologen und Theologinnen etwas verwundert und erstaunt sind, dass nun gerade Weihnachten diese große Bedeutung, diese geheimnisvolle Wirkung hat. Vielleicht sind manche von ihnen sogar ein bisschen verschnupft darüber, denn z.B. die Osterbotschaft ist doch viel aufregender: der Gekreuzigte wurde auferweckt, der zu Tode Gequälte lebt, der Allerletzte ist zum ersten geworden – das ist doch eine Nachricht, die schier Alles auf den Kopf stellt; die bestehende Welt aus den Angeln hebt. Und schließlich wuchs, blühte und gedieh die Christenheit auch viele Jahre ohne jedes Weihnachtsfest; schließlich kommen zwei unserer vier Evangelien ganz ohne eine Geburtsgeschichte aus. Doch auch die Theologen, jedenfalls wenn es gute Theologen sind, werden nun nicht die verschnupften Nasen rümpfen über die erstaunliche Wirkung der Weihnachtsgeschichte, das lebhafte Echo, das sie Jahr für Jahr hervorruft, sondern sie lassen sich anstecken von dieser geheimnisvollen Atmosphäre, verstehen es zumindest als Wink und Fingerzeig, dass nun gerade Weihnachten, nicht Ostern oder Pfingsten, das Fest ist, an dem besonders viele Menschen vom Evangelium berührt, bewegt und bezaubert werden.

Und geheimnisvoll ist sie auch, die Weihnachtsgeschichte des Lukas, die wir gerade wieder gehört haben: der Kaiser in Rom, der den Beschluss fasst, alle Welt auszunehmen, und die militärischen Mittel hat, ihn durchzusetzen – und demgegenüber eine junge Frau, die schwanger ist, guter Hoffnung, die mehr erwartet als ein Kind: eine neue, eine andere Welt, was auch in uns zaghafte Hoffnungen weckt. Sie finden keinen Raum, keinen Ort – das erinnert uns daran, dass auch wir dazu neigen, Gott und Jesus zu verdrängen, ihrem Einfluss keinen oder nur wenig Raum geben in unserem Leben. Doch die frohe Botschaft ist: Jesus kommt trotzdem, schafft sich Raum, nicht nur in unseren Herzen, auch im Weltgeschehen. Da gibt es Hirten, deren Nacht plötzlich strahlen hell wird – und wir sehnen uns danach, dass das auch mit unseren Finsternissen geschehen möge, denen in uns und denen in der Politik, in der Gesellschaft. Ein Bote des Gottes Israels bringt eine Botschaft, die sich – wie die des Kaisers – an alle richtet, doch er verkündet Freude allem Volk, denn der Heiland, der Befreier, der Messias ist geboren. Und dann stellt sich heraus: auch der Gott Israels, nicht nur der Kaiser, verfügt über Streitkräfte, eine ganze Menge himmlischer Heerscharen. Doch die setzten nun nicht ihrerseits mit militärischen Mitteln das Reich Gottes gegen das Kaiserreich durch, sondern loben und preisen Gott, besingen einen Zusammenhang zwischen der Ehre Gottes im Himmel und dem Frieden auf Erden. Könnte da was dran sein? Sind wir so friedlos in uns selbst und unter uns, weil wir selbst ehrgeizig sind, statt Gott die Ehre zu geben, ihn verdrängen, ihm keinen Raum geben? Das Zeichen, das der Verkündigungsengel den Hirten nennt, deutet deutlich darauf hin, dass Gott nicht auf große Männer setzt: ein neugeborenes Kind, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend, in einer Notunterkunft zur Welt gekommen – das soll der Befreier sein? Gottes Held, der die Welt reißt aus allem Jammer? Ein hilfloses und hilfsbedürftiges Kind, wehrlos; ein Mensch, der später von anderen Menschen verraten, verkauft und umgebracht wird. Das klingt in der Tat geheimnisvoll, das klingt aber auch etwas abenteuerlich. Wir wundern uns, wir staunen, sind aber auch etwas beklommen. Die Hirten aber teilen diese Skepsis nicht, sondern machen sich eilends auf, wollen das, was sie gehört haben, nun auch sehen. Und werden selbst zu Engeln, zu Boten Gottes – verkünden, was sie gehört haben, loben und preisen nun selbst Gott. Und alle staunen. Auch Maria, die doch schon eingeweiht war in dies Geheimnis, ist auf die Botschaft dieser Verkündigungs- und Deute-Engel angewiesen, bewahrt und bewegt ihre Worte in ihrem Herzen. Ich wünsche mir, auch so ein Hirt zu sein, der weitersagt, was er gehört hat, und damit – nicht nur zur Weihnachtszeit, allem Volk große Freude verkündet, Gott in der Höhe die Ehre gibt und Ehre macht und so auch beiträgt zu Frieden auf Erden.

Der Predigttext nimmt dies allgemeine Staunen auf – ein uraltes Lied, das sich im 1. Timotheusbrief findet, kein Weihnachtlied, aber ein Jesus-Lied und damit jedenfalls auch ein Weihnachtslied:

Darin stimmen alle überein: Groß ist das Geheimnis des Glaubens:

Er – Jesus Christus – ist erschienen im Fleisch,

gerecht gesprochen im Geist,

zu sehen gegeben den Engeln,

verkündet unter den Völkern,

geglaubt in der Welt,

hinaufgenommen in die Herrlichkeit.

Groß ist das Geheimnis des Glaubens – das ist Luthers Übersetzung, und der staunende Ausruf „Geheimnis des Glaubens“ ist in manchen Kirchen Teil der Liturgie. Doch diese Übersetzung ist zu massiv – wer wagt schon, vollmundig zu behaupten: ich glaube?; und wer ist so kaltblütig zu sagen: ich glaube das alles nicht? Das Wort, das da steht, ist zarter, schwebender. Geheimnis der Frömmigkeit, könnte man übersetzen und tut das auch hier und da, aber das ist nicht recht hilfreich, weil wir bei fromm und Frömmigkeit an Menschen denken, die ein bisschen eng sind, vielleicht liebenswert, aber doch etwas weltfremd. Das Geheimnis der Anbetung, könnten wir sagen – ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht sattsehen, und weil ich nun nicht weiterkann, bleib ich anbetend stehen. Oder: das Geheimnis der Ehrfurcht, was vielleicht noch deutlicher unser Staunen, das geheimnisvolle Berührtsein ausdrückt. Denn mit Geheimnis ist ja nicht gemeint, dass unser Glaube, unsere Frömmigkeit, unsere Anbetung, unsere Ehrfurcht so geheimnisvoll sind, sondern ihr Gegenstand ist das Geheimnis: Jesus Christus.

Der Lieddichter – oder die Dichterin – versucht nun nicht, dies Geheimnis zu lüften, zu enthüllen, aber doch, es in Worten zu beschreiben und so: zu bewundern, zu bestaunen, auch zu feiern. Und nicht nur die Worte, auch die Form dieses Lieds sollen den Inhalt dieses Geheimnisses ausdrücken, das Stauneswerte der Jesusgeschichte: in drei Doppelzeilen wird jeweils das Obere mit dem Unteren, das Himmlische mit dem Irdischen, das Göttliche mit dem Menschlichen verbunden – wie im Engelgesang die Ehre Gottes in der Höhe mit dem Frieden auf Erden. Wären wir Romantiker, könnten wir vielleicht singen und sagen: in der Weihnacht hat der Himmel die Erde still geküsst. So romantisch ist unser Lied nicht, versucht aber in seiner Weise ein solches Zusammenkommen von Himmel und Erde auszudrücken.

Erschienen im Fleisch: Jesus wird geboren, ein Mensch von Fleisch und Blut, ein Mensch wie wir alle, ein Mitmensch aller Menschen. Und ist doch anders als wir: gerecht gesprochen im Geist – ein Mensch, der so vom Geist Gottes erfüllt und beeinflusst ist, dass er Gott recht ist, Gott selbst in diesem Menschen redet und handelt, in ihm seine Menschlichkeit zeigt.

Während das erste Zeilenpaar vom Irdischen – Fleisch – zum Himmlischen – Geist – ging, ist es beim zweiten umgekehrt: zu sehen gegeben den Engeln, verkündet unter den Völkern. Engel sind ja Boten Gottes. Die bekommen nun zu sehen, dass Menschen selbst zu solchen Boten werden, den Völkern der Welt das Evangelium von Jesus Christus verkünden. Menschen aus allen Völkern sind durch diese Botschaft zu Anhängern des Gottes Israels geworden, aus allerlei inneren und äußeren Zwängen befreit. Das ist ein Bild – nicht für die Götter – die blicken eher grimmig und besorgt auf dies Geschehen –, aber für die Engel, die nicht neidisch und eifersüchtig, sondern voller Freude ihren irdisch-menschlichen Mitmachern zusehen und wohl auch beistehen.

Das dritte Zeilenpaar geht wieder von unten nach oben: geglaubt in der Welt, hinaufgenommen in die Herrlichkeit. Da fällt es nun doch, das große Wort Glauben. Ja, Jesus hat Glauben gefunden, hat Vertrauen erweckt – vielleicht ein zaghaftes, ein brüchiges, ein immer wieder verschüttetes Vertrauen, aber doch in jeder Generation immer wieder neu, mal bei vielen, mal bei nur wenigen Menschen. Und das liegt nicht nur daran, dass seine Worte und Taten so eindrucksvoll waren, zeigt nicht nur die lange Wirkungsgeschichte eines großartigen Menschen. Jesus wurde aufgenommen in Gottes Herrlichkeit, er lebt und kann darum in aller Welt und in allen Zeiten wirken. Und er hat dabei nicht aufgehört, Mensch zu sein; in ihm sind wir alle bei Gott aufgenommen, in ihm haben wir alle bei Gott Sitz und Stimme.

Das kurze Lied macht einen raschen Durchgang durch die Jesusgeschichte, von Weihnachten über Ostern zu Himmelfahrt und Pfingsten, um das Geheimnis dieser Geschichte zu loben und zu preisen: die innige Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und allen Menschen in diesem einen Menschen: Jesus. Gott will nicht nur hoch und erhaben sein, sondern auch niedrig und gering; will nicht ohne uns Gott sein, sondern Gott mit uns. Das alles, diese ganze Geschichte, ist wirklich geheimnisvoll und zum Staunen. So wollen auch wir – wie die Engel, wie die Hirten – Gott loben und preisen, ihm die Ehre geben. Unser Predigttext macht es ja vor: das Wichtigste zu Weihnachten sind die Lieder.

Amen.

Perikope

Christmette 2018 – Predigt zu 1. Timotheus 3,16 von Martina Janßen

Christmette 2018 – Predigt zu 1. Timotheus 3,16 von Martina Janßen
3,16

„Die Geschenke, die ich als Kind an Weihnachten bekam, habe ich alle schon vergessen. Aber Jahr für Jahr stellt sich für mich zur Weihnachtszeit ein besonderes, unverwechselbares Gefühl ein; das verliere ich nie (...) die Weihnachtsgeschichten und -lieder tragen mich jedes Jahr wieder in der Erfahrung des Besonderen.“ Diese Worte des früheren Arbeitsministers Norbert Blüm kann ich nachempfinden. Weihnachten hatte auch für mich als Kind immer etwas Geheimnisvolles an sich; es waren ganz besondere Tage, voller Magie und Staunen: Was verbirgt sich wohl hinter den Türchen im Adventskalender? Wie kann ein „Ros‘ entspringen aus einer Wurzel zart und ein Blümlein bringen mitten im kalten Winter“? Auf welchem Weg schleicht sich das Christkind ins Haus? Auch wenn ich mittlerweile längst das Geheimnis um Christkind und Weihnachtsmann gelüftet habe, bleibt jedes Jahr etwas von diesem Zauber, diesem ganz besonderem Glanz, der auf den Weihnachtstagen liegt, so als sei das Staunen aus meiner Kinderzeit nie ganz vergangen.

Als Kind ist man vielleicht offener für die magischen Momente im Leben; man trägt in sich noch ganz unverstellt die Ahnung, dass in den kleinen Dinges etwas Großes - ein Geheimnis - verborgen ist: Das zerbrechliche Wachsgesicht des alten Weihnachtsengels, der Lamettafaden, der sich wie feingesponnenes Gold um die Tannennadeln wickelt, der Duft von Plätzchenteig an den Händen meiner Mutter - aus solchen Momenten sind jene Sternstunden gewoben, die mit ihrem ganz eigenen Glanz unser Herz streifen und ein Geheimnis in sich zu tragen scheinen.

An einen Abend erinnere ich mich ganz besonders: Ich war ein kleines Kind und es war ein strenger Winter – jener Winter, in dem unsere Heizung über Weihnachten ausgefallen war. In unserer Weihnachtsstube stand ein kleiner Heizlüfter, der aber nicht wirklich gegen die Kälte ankam. Alle hatten ihre festliche Weihnachtsbekleidung gegen warme Pullover eingetauscht. Wir boten eine recht eigenwillige Festtagsgesellschaft: tropfende Nasen, klamme Finger um heiße Kakaobecher geklammert und dicke Pudelmützen über der Festtagsfrisur. Irgendwann machte mein Vater das Licht aus und zauberte ein Kleinfeuerwerk aus der Jackentasche, jene kleinen funkensprühenden stabförmigen Feuerwerkskörper mit dem Draht dran, den man in der Hand halten kann. „Wunderkerzen“, auch „Sternenfeuer“, „Sternenwerfer“ genannt. Ganz einfach und preiswert. Zwei Minuten Brenndauer sind lang genug für ein kleines Wunder: Das Aufflackern von tausend Sternen, das Knistern der Funken, der Schein des Lichts auf unseren lachenden Gesichtern, der Geruch von Feuerwerk, die Rauchfiguren, die sich verteilen und irgendwann im Nichts verlieren, all das bleibt unvergesslich. Ein Hauch von Magie, eine Sternsekunde, und das Wissen um ein Geheimnis tief in uns: Gott ist da - mitten unter uns, bei unseren tropfenden Nasen und klammen Händen. Dieses Wissen hat unsere kalte Stube und unsere lachenden Herzen in „magische Orte des Absoluten und der Transzendenz [verwandelt], wo das Wort ein Gesang, das Gehen ein Tanz ist, den es nicht gibt auf Erden. Aber wir gehen ihm entgegen (Michel Houellebecq).“

Es gibt dieses Besondere, diese offenen Geheimnisse, das weiße Feuer zwischen den schwarzen Zeilen. Manchmal spüre ich in mir die „Gewissheit das Schöne zu finden in allem was lebt“ (Dorothee Sölle). Leben erschöpft sich nicht in dem, was an der Oberfläche und offensichtlich ist. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit“ (Joh 1,14). Seit Gott in die Welt gekommen ist, ist alles durchzogen von seiner Gegenwart. Seitdem leuchtet im Dunkel verborgen das Licht, seitdem ist etwas im Menschen heil allem Unheil zum Trotz. Das Geheimnis von Weihnachten: Leben ist mehr, als es auf den ersten Blick scheint, in der Tiefe jeden Lebens ist Gott, unsichtbar, verborgen vielleicht, aber er ist da. Das verändert alles. „Weil Gott in tiefster Nacht erschien, kann unsere Nacht nicht endlos sein.“ (EG 56) Groß ist dieses Geheimnis des Glaubens und es ist heute geoffenbart, hell und klar! Aber wie oft in unserem Alltag sehen wir es nicht mit unseren verfinsterten, verkrümmten und verstockten Herzen! Wie oft sehen wir nur das Dunkel in uns und um uns herum? Wie oft verschließen wir uns vor der Herrlichkeit des Lebens? Wie oft kreisen wir nur um uns selbst, verlieren uns im Kleinen, ohne nach der leuchtenden Tiefe zu fragen, das unser Leben durchzieht? Ein Rabbi hat einmal gesagt. „Wehe, die Welt ist voll gewaltiger Lichter und Geheimnisse, und der Mensch verstellt sie sich mit seiner kleinen Hand.“

Ich habe in den Wochen des Advents jeden Tag versucht, offen zu sein für die gewaltigen Lichter und kleinen Geheimnisse und wieder wie ein Kind das Staunen einzuüben. Das war in der Hektik nicht immer leicht, zwischen all den großen und kleinen Sorgen, die uns ja alle auf unterschiedliche Weise herausfordern und bisweilen auch niederdrücken. Aber ich habe mir vorgenommen, „nicht müde [zu] werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hin[zu]halten“ (Hilde Domin). In der „Gewissheit das Schöne zu finden in allem was lebt“ bin ich jeden Tag eine halbe Stunde durch meine Wohnung, durch die Stadt oder die Natur gegangen, um einen Moment mit ganz eigenem Zauber aufzuspüren und „leuchtende Wurzeln der Sehnsucht aus der Tiefe [zu] heben“ (Nelly Sachs). 24 Fotos habe ich auf meinem Smartphone festgehalten. 24 Lichter und Geheimnisse. 24 Spuren Sternenstaub: Eine Rosenknospe im grauen Novemberpark. Ein abgeliebter Teddybär auf einer Fensterbank. Zwei Blätter an einem Ast im Spiel mit Licht und Wind. Die Karte mit dem Engel im Bücherregal, die mir vor langer Zeit Trost gespendet hat. Das vertraute Lächeln meines Mannes beim Lesen. Bunte kleine Gummistiefel in der Kita an einem Regentag. Der zartviolette Morgenhimmel. Ein Blumenstrauß, behutsam in die Arme eines Grabengels gelegt. Das warme Leuchten des Herrnhuter Sterns in einer dunklen Gasse. 24 Fotos. 24 x die Ahnung, dass sich das Leben nicht in dem erschöpft, was an der Oberfläche und offensichtlich ist. 24 x die Ahnung, dass in der Tiefe eines jeden Lebens ein Geheimnis leuchtet.

Der Schriftsteller Franz Kafka hat einmal einen wunderschönen Gedanken formuliert. „Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie beim richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie.“ Ein Name ist dieser Tage in aller Munde, heute klingt er hell und klar: Wunder-Rat, Friede-Fürst, Gott-Held, Jesus Christus, „offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit“ (1 Tim 3,16).

Amen

Perikope

„Erntedank bei Hassan – Es kann so einfach sein“ Predigt zu 1. Timotheus 4,4-5 von Wolfgang Grosse

„Erntedank bei Hassan – Es kann so einfach sein“ Predigt zu 1. Timotheus 4,4-5 von Wolfgang Grosse
4,4-5

„Moin Hassan.“
„Salam!“
„Salam aleikum!“ grüße ich zurück.
Eine Windböe drückt mich mit ein paar Herbstblättern in die Imbissstube. Meine Brille beschlägt. Es ist brechend voll. Mittagszeit. Warme Düfte des Orients steigen mir in die Nase.
Draußen tobt der erste Herbststurm. Regen peitscht über den Asphalt. Von meiner Jacke tropft es. Ich versuche mich zu orientieren. Alle Einzeltische sind besetzt. Nur hinten der große Familientisch mit 8 Stühlen ist frei.
„Komm, Imamchen, komm durch. Setz‘ dich hierhin.“ Hassan geleitet mich durch den Raum. Ich muss grinsen. Imamchen, so nennt Hassan mich mit einem Augenzwinkern, seit er vor ein paar Monaten herausgefunden hat, dass ich Pastor bin. Ich hänge meine nasse Jacke an den wackeligen Garderobenständer. Er schiebt mir den Stuhl hin. Ich nehme Platz.

Was für ein Vormittag! Am Morgen war ich im Kindergarten. Herbstfrühstück mit den Eltern. Alle hatten etwas mitgebracht. Zusammen saßen wir auf den kleinen Stühlen. Unbequem aber frohgemut.
Die Tafel war reich gedeckt. Frische Brötchen, sogar Kürbisbrot, Käse und Wurst, selbstgemachte Marmelade, Gemüsesticks in allen Variationen, leuchtende Tomaten und glänzende Gurkenscheiben, duftendes Obst. Die Erzieherinnen hatten als Deko einige Getreidehalme in kleine Vasen gestellt. Erntedank konnte kommen. Alles war gut.
Schließlich gab mir die Leiterin ein Zeichen. Ich wusste schon: Tischgebet! Aber manchmal geht der Schalk mit mir durch. Heute wollte ich es anders machen. „Wer von den Eltern spricht den heute das Tischgebet?“ fragte ich in die Runde. Betretenes Schweigen. Blicke senkten sich zu Boden. Einige Mütter kramten plötzlich hilflos in ihren Handtaschen. Die wenigen Väter schauten mich entsetzt an. Einer fummelte nervös an den nicht vorhandenen Schnürsenkeln unterm Tisch.
Aber ich wusste: wenigstens auf die Kinder ist Verlass. Diesmal war Marie die Schnellste. „Du Pastor Wolfgang, wir singen doch immer!“ und schon begann sie. Alle anderen Kinder stimmten mit ein:
Jedes Tierlein hat sein Essen, jedes Blümlein trinkt von dir,
hast auch unser nicht vergessen, lieber Gott wir danken dir.

Ich sah die Erleichterung in den Augen der Eltern. Nochmal Glück gehabt. Es wurde ein fröhlicher, lebendiger Morgen. Alles war gut.

Danach kam der Tod. Friedhof. Beerdigung. Frau Meyer war letzte Woche gestorben. 87 Jahre alt. Ein kleiner Kreis. Nur die Familie, wenige Nachbarn und 2 alte Freundinnen.
Sie hatte ein reiches Leben gehabt. War in der Landwirtschaft aufgewachsen. Dann die Flucht, schuften auf dem Bauernhof in der Notunterkunft. Schließlich der Neuanfang hier in Bremen. Die große Liebe, die Ehe, die Kinder, irgendwann ein eigenes kleines Häuschen mit Garten. Im Gespräch hatte mir die Tochter davon erzählt. Auch von den langen Reihen der Einmachgläser im Keller, dem nie endenden Duft in Mudderns Küche, selbst als sie schon alt war. Und davon, dass die 3 Enkelkinder bei Oma die Erdbeermarmelade aus dem Glas löffeln durften.
Frau Meyer hatte ihre Ernte eingefahren. Gesegnetes Leben. Wir sangen (EG 325):
Sollt ich meinem Gott nicht singen? Sollt ich ihm nicht dankbar sein?
Denn ich seh in allen Dingen, wie so gut er’s mit mir mein‘.

Erntedank war gekommen. Alles war gut.

Noch in Gedanken versunken klappert es vor mir. „Imamchen, trink erstmal!“ Hassan stellt den dampfenden, dunkel-leuchtenden Çay vor mich. Ich liebe diesen wunderbaren türkischen Tee, der zu jeder Tages- und Nachtzeit getrunken wird. Frühling, Sommer, Herbst und Winter gibt es Çay.
„Wird Herbst!“ sagt Hassan. „Erntezeit. Auch in meiner Heimat.“ Er deutet auf die vergilbten Fotos an der Wand. „Weißt du, Zitronen, Orangen, Granatäpfel. Melonen, so groß.“ Mit seinen kräftigen Armen formt er einen riesigen Kreis und seine Augen leuchten. „Ich bin so dankbar. Allah meint es gut.“

Ich kenne Hassan schon lange. Ursprünglich stammt er aus einer armen Familie in Anatolien. Vor vierzig Jahren waren seine Eltern mit ihm nach Deutschland gekommen. Sein Vater arbeitete viele Jahre auf dem Bau. Hassan aber hatte von seiner Büyükanne, seiner Großmutter, die Leidenschaft der türkischen Küche in die Wiege gelegt bekommen.
Irgendwann hatte er sich selbständig gemacht. Sein kleiner Imbiss Hasat. Hasat heißt Ernte. Über die Jahre war Hassan und sein Hasat, seine Ernte, zu einer kleinen Institution in unserem Stadtteil geworden. Lange bevor es an jeder Straßenecke eine Dönerbude gab.

„Trink! Wird sonst kalt!“ Ich nippe an dem kleinen Glas und verbrenne mir trotzdem fast die Zungenspitze. Der Tee tut sehr gut. „Danke.“
„Hunger?“
„Ja, was hast du denn heute?“
„Ich mach‘ dir was Leckeres.“ Hassan grinst und verschwindet in der Küche.

Die Tür öffnet sich, Yusuf, Hassans Sohn, 16 Jahre alt, kommt von der Schule. Letzter Schultag vor den Ferien. Ich kenne ihn aus unserer Jugendgruppe in der Gemeinde. Er schlendert zu mir, haut mir auf die Schulter und setzt sich. „Salam Pastor!“
„Salam aleikum Yusuf. Alles klar? Herbstferien?“
„Jo, alles klar, aber nichts Ferien.“ Er nickt zur Küche, wo die Töpfe klappern. „Baba. Die nächsten 2 Wochen arbeiten. Schule wär‘ besser. Aber ich will nicht klagen. Ist schon ok.“ Yusuf schaut sich um. Der Laden brummt. „Man muss ja dankbar sein. Ist alles gut. Gepriesen sei Allah.“ Er grinst mich aus dem Augenwinkel an. „Ja ok, weil du es bist, Pastor. Gepriesen sei Gott.“ Wir lachen beide. Yusuf steht auf und holt auch für sich Çay.
„Was gibt’s heute?“ fragt er, als er zurück kommt.
„Keine Ahnung. Dein Baba kocht irgendwas.“
„Lecker. … Ja, wenn ihr uns Türken nicht hättet!“
„Ich dachte ihr seid Deutsche?“
„Sind wir auch. Baba schon seit 25 Jahren. Ich von Geburt an. Aber für euch bleiben wir doch die Türken. Wenn’s hoch kommt die Deutsch-Türken. Da können wir machen was wir wollen.“ Wo er Recht hat hat er Recht. Hassan ist ja irgendwie der Türke geblieben. Im Stadtteil und auch ich fühle mich ein wenig ertappt. Integration hat immer zwei Seiten.

Erneut geht die Tür auf. Yusuf schaut und winkt. „Ey David! Hier!“
David ist im gleichen Alter wie Yusuf. Auch er ist regelmäßig in der Jugendgruppe. Seine Eltern waren Ende der Neunziger aus Kasachstan nach Deutschland gekommen. „Moin David!“ grüße ich ihn als er näher kommt.
„Shalom, Pastor!“
„Shalom!“
„Salam!“ sagt Yusuf, steht auf und holt auch für David Çay.
„Was geht?“ fragt Yusuf.
„Alder, Hunger! Habt ihr schon bestellt?
„Nee, Baba macht schon.“
„Krass. Lecker. Danke.

Yusuf war scheinbar am letzten Gedanken vor Davids Kommen hängen geblieben. „Sag‘ mal, bist du eigentlich Jude oder Deutscher?“ David schaut Yusuf etwas verwundert an. „Na ich mein: Ich bin Moslem aber Deutscher und trotzdem immer noch Türke. Und du?“
„Jo, Alder, achso. Also dann bin ich Jude aber Deutscher aber eigentlich Russe, oder Deutsch-Russe. Oder so. Logisch oder?“ Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen. Verrückte Welt.
„Pastor, was gibt’s da zu lachen? Was bist du denn?“
„Tja, ich bin „nur“ Christ und Deutscher.“
„Echt ey? Nur einfach so? Christ und deutsch? Das geht? Krass.“ Fast klingt es ein wenig mitleidig. Ich könnte zwar jetzt meine Familiengeschichte erzählen. Von meinen Großeltern und deren Migration nach Deutschland. Aber ich lass es. Außerdem tut sich was in der Küche.
Hassan kommt mit drei großen Platten voller Köstlichkeiten. Leuchtendes Gemüse, Fleisch, Falafeln, Oliven und Peperoni, Hummus und Auberginencreme, dazu Fladenbrot. Es duftet wie im Basar. Oder an Erntedank.

Danke Hassan. Das sieht wundervoll aus.“
Dank‘ nicht mir sondern Allah, Imamchen. Und ihr auch! Gott gibt’s.“ Ein bisschen vorwurfsvoll schaut Baba Hassan schon auf die beiden jungen Männer.
„Ja schon ok, Baba! Heute Abend. Freitagsgebet. Oder im Ramadan.“ Yusuf verdreht leicht die Augen. David nickt zustimmend. „Jo, mach‘ ich. Heute Abend. Synagoge. Oder an Sukkot.“ Fast wäre auch mir rausgerutscht: „Ja Sonntag im Gottesdienst. Erntedank.“ … „Nein jetzt!“ entfährt es Hassan leicht erbost. Der Auftrag ist also klar. Baba hat gesprochen. Tischgebet.

Vor uns ist die reich gedeckte Tafel. Daran sitzen Moslem. Jude. Christ. Türke. Russe. Deutscher. Oder irgendwie so. Ich durchschaue das ja selbst nicht. Ist aber auch egal. 3 Menschen jedenfalls. Es hätten noch viel mehr Menschen Platz. Zusammen sitzen wir an einem Tisch und sind plötzlich ratlos bis peinlich berührt. Wie soll das nun gehen mit uns Dreien? Tischgebet. Wir schauen uns verlegen an. Auf einmal ist alles gar nicht mehr gut.

Murat, Yusufs kleiner Neffe, kommt aus der Küche angestürmt. Auch er besucht unseren Kindergarten. „Pastor! …“ seine kindliche Stimme schallt durch die Imbissstube und lässt für einen Moment das Gemurmel an den anderen Tischen verstummen. Dann baut sich Murat mit leuchtenden Augen vor unserem Tisch auf und beginnt zu singen:
Jedes Tierlein hat sein Essen, jedes Blümlein trinkt von dir,
hast auch unser nicht vergessen, lieber Gott wir danken dir.

Murat hat nicht vergessen. Yusuf, David und ich … es scheint für einen Moment, als ob wir alle ein wenig Glänzen in den Augen haben. Und ganz viel Dank.
Yusuf findet als Erster seine Stimme wieder. Er streichelt seinem Neffen über den Kopf. „Das ist gut, Murat. Das ist sehr gut. Gepriesen sei Gott. Salam.“
„Gepriesen sei Gott! Shalom.“ kommt es aus Davids Mund ehrfurchtsvoll. „Gepriesen sei Gott! Friede mit uns.“ erwidere auch ich. Es ist so eigentlich so einfach.

Die Sätze vom Nachbartisch überhören wir geflissentlich. „Immer diese Ausländer. Können die sich nicht benehmen? Wir sind schließlich ein christliches Abendland.“ Stumpfe, leere Augen. Kein Leuchten. Bestimmt kein Tischgebet.
„Guten Appetit!“ ruft Murat fröhlich. Yusuf nimmt das Brot, bricht es, gibt David und mir davon und sagt: „Nehmt. Esst. Greift zu!“ Wir füllen unsere Teller. Es schmeckt köstlich. Eine lange Mittagspause.
Später setzt sich auch noch Hassan dazu. „Alles ist gut, was Gott geschaffen hat.“ sagt er. „Gott sei Dank.“ erwidere ich. In der Imbissstube Hasat.
Ernte. Dank. Menschen. An einem Tisch. Nehmen. Danken. Feiern.
Salam. Shalom. Friede sei mit uns Menschen. Amen.

Perikope

Gewächshaus Vertrauen - Predigt zu 1. Timotheus 1,12-17 von Henning Kiene

Gewächshaus Vertrauen - Predigt zu 1. Timotheus 1,12-17 von Henning Kiene
1,12-17

I. „Wer weiß…“
Sie legt die Zeitung vor sich auf dem Tisch ab. „Wer weiß, was da richtig ist?“, sagt sie mit ruhiger Stimme, zieht den Frühstückskaffee zu sich. Sie hat einen Bericht über Aserbaidschan und über die Menschenrechte dort gelesen. Der Wirtschaftminister ist zu sehen, ein Staatschef war zu Gast. Jetzt liegt die Tageszeitung aufgeschlagen da, der Regionalteil ist zu sehen, es geht um die Flüchtlinge in der nahe gelegenen Kaserne, die Feuerwehr hatte einen Gewitter-Einsatz. Eine Zeitung, aufgeschlagen auf dem Tisch, abgelegt, das wirkt wie ein modernes Stillleben. Sie war zur Arbeit weg. Sie geht immer als Erste.

In diesem „Wer weiß…“ schwingt eine Portion Misstrauen mit, als würde mit der Zeitung möglicherweise etwas nicht stimmen. Sollte man alles, was da berichtet wird, sicherheitshalber noch einmal überprüfen? Ein unspezifisches Misstrauen bleibt zurück. Lässt man das erst mal an sich herankommen oder in sich eindringen, dann frisst es bald das Vertrauen an. Wird jemand skeptisch, ziehen Gefahren auf. Ehen geraten in Gefahr, Partnerschaften bröckeln, wenn da so eine Art „wer weiß?“ -Frage auftaucht.

II. unspezifischer Verdacht
Wem schenke ich ein so wertvolles Gut, wie das Vertrauen es darstellt? Ich kenne die Menschen, denen ich vertrauen kann: Meine Familie, die alten und neuen Freunde, viele Kolleginnen und Kollegen, die zuverlässig sind, auf die kann ich mich verlassen. Auch auf die gute alte Tagesschau verlasse ich mich, meine Zeitung, die ich schon lange lese, weiß ich zu schätzen. Aber bei Facebook, da vertraue eigentlich nur den Freunden, wenn sie etwas posten, bei anderen wird es schon eng. Stimmt das, was ich da lese, eigentlich wirklich, oder sitze ich schon in einer Werbeveranstaltung in der Menschen und Meinungen nicht echt sind?  „Wer weiß…?“ - wenn sich dieser Gedanke einschleicht, beginnen gedruckte Worte und das, was gesagt wird, an Kraft einzubüßen.

Irgendwann erleidet durch dieses „wer weiß…?“ auch der Glaube an das Wort Gottes Schaden. Die Unsicherheit, die beim Zeitunglesen aufkommt, könnte sich auf andere Bereiche übertragen und sich in den Glauben hinein ausbreiten. Aufkeimendes Misstrauen bringt dann am Ende alles durcheinander.Das Wort Gottes, dessen vertrauter Klang meiner Sprache und dem Denken eine Richtung verspricht, gerät in dieses Gewirr mit hinein. So eine Stimmung, in der jemand sagt: „wer weiß, was da wirklich stimmt…?“, schafft eine Atmosphäre, in der ein unspezifischer Verdacht aufkeimt, der sorgt für weitreichendere Folgen, weitreichender als möglicherweise beabsichtigt war.

III. „von ihnen bin ich der erste“
Die Reformation vor 500 Jahren kannte diesen krisenhaften Moment. Sie begann mit ihm. Es herrschte überall solche Unsicherheit. Die Frage nach der Kraft, die Gott einem verleiht, blieb für viele Menschen gefährlich ungestellt. Die Stimme des Apostels war für viele Ohren verklungen. „Christus Jesus ist in die Welt gekommen, um die Sünder zu retten. Von ihnen bin ich der erste“, ging an den Menschen vorbei. Vielleicht war das zu ehrlich, zu einfach, zu dicht dran. Wer gibt das schon zu: Ich habe es nötig, dass mich da einer herausholt ohne, dass ich selber etwas hinzugeben kann. Wer lässt sich - ohne Wiedestand zu leisten - retten?

Die Frauen und Männer, die die Reformation in Bewegung setzten, wussten: Es liegt so viel Angst in der Luft, dass einem der Atem knapp werden kann. Alle fühlen sich von Gottes Gnade eher verlassen und denken nicht daran, sich neu überraschen zu lassen. Von einem Beschenktsein ist schon lange keine Rede mehr. Nur Angst vor dem Heute, dem, was kommt, dem danach. Da war keine Gnade, nur Enge, der Seele geht die Luft aus. Schon das Knacken im Kamin weckte den Verdacht, der Teufel sei im Haus.

So ein kritisches „wer weiß…?“ wird schnell zu einem Gift, wenn es in kleiner Portion ausgeteilt wird, , es betäubt ganz allmählich das Vertrauen in Menschen, Meinungen, Informationen, die Liebe und die Netzwerke, die einen tragen. Es beschädigt kurz über lang den Glauben und die Seele. Denn ohne neues Vertrauen aufbauen zu können, verkümmert das Leben komplett.

IV. Gewächshaus
Was wir heute aus der Bibel hören, öffnet so etwas wie einen Raum, in dem das Vertrauen wachsen kann. Von dem „verlorenen Sohn“ aus dem Gleichnis haben wir gehört. Da ist dieser Vater, der seinen heimkehrenden Sohn mit offenen Armen aufnimmt, und wer diese Arme spürt, wird nicht misstrauisch „wer weiß…?“ fragen wollen. Dieser Vater baut - wider jede Erfahrung - Vertrauen zu seinem Sohn auf und schenkt es ihm, einfach so. Und unwillkürlich frage ich: Wer sollte denn sonst beginnen, den Anfang zu suchen und das Vertrauen wieder herzustellen, wenn nicht der Stärkere? Ich sehe niemanden, der das könnte als nur ihn. Wie sollte jemand neu anfangen, wenn man ihn nicht wieder in das Leben hinein holte? Es braucht diese erste Geste.

Solche Geschichten sind wie ein Gewächshaus, in dem das Vertrauen reift. Da ist der Apostel Paulus: Er, der Lästerer, der die Christinnen und Christen verhöhnt und verfolgt, genau dieser Mann wird von Gott mit Vertrauen überhäuft. Ausgerechnet der Skeptiker erlebt, wie übergroß die Gnade Gottes ist: Größer, als er es sich vorstellen kann. In diese Atmosphäre sind wir hineingeraten.

Das Wort „Vertrauen“ geht mit dem Verb „schenken“ einher. Hier schenkt nicht der Apostel sein Vertrauen. Hier schenkt Jesus Christus.
Nicht der Sohn, der reumütig heimkehrt, schenkt Vertrauen, der Vater bringt es ihm entgegen.
Nicht der Apostel beginnt mit dem Glauben an Jesus Christus, Christus schenkt ihm den Glauben und damit auch das Vertrauen.
Hier wird etwas korrigiert: Mein Vertrauen wächst dadurch, dass man es mir schenkt und ich es nicht besitze. Ich bleibe nicht in meinen kritischen Fragen hängen, diesem skeptischen „wer weiß, ob das wirklich so ist?“ Denn hier entsteht ein Klima, in dem Wachstum möglich ist.

V. Präsidentschaft war glücklich
Mittags liegt die Zeitung noch immer auf dem Tisch, einige Frühstückskrümel noch um sie herum. Jemand hat die Zeitung zugeschlagen. Nun ist sie von vorne zu sehen. Auf dem Titel ein Bild des Bundespräsidenten. „Warum diese Präsidentschaft so glücklich war?“ wird geschrieben: Diesem Mann schenken die Menschen ihr Vertrauen. Er trifft den richtigen Ton, er greift die wichtigen Themen auf, er spricht so, dass ihn alle verstehen können. Er hat ohne viel Aufwand zu betreiben Vertrauen möglich gemacht und es so seinem Volk geschenkt und unser Volk hat es ihm zurückgegeben.

Da nimmt sie die Zeitung wieder zur Hand, betrachtet das Bild des alternden Präsidenten, beginnt wieder in ihrer Zeitung zu lesen. Was sie jetzt liest, klingt so ganz anders als das, , was sie vor der Arbeit gelesen hat. Hier kehrt ihr das Vertrauen zurück. Ein Bürgerpräsident geht, der unbequem, unbestechlich, sachlich und doch emotional sei, liest sie. Sie bleibt sitzen, studiert aufmerksam Wort für Wort und bleibt bei einem Satz hängen. „Ich freue mich auf die kommenden Monate und darauf, das in mich gesetzte Vertrauen weiter zu erfüllen“, sagte er am Montag. Offenbar wusste dieser Präsident sich von einem Vertrauen getragen, dass nicht er selber beschafft hatte, sondern, dass er, der Politiker, von seinen Bürgerinnen und Bürgern geschenkt bekommen hat. Sie lässt die Zeitung wieder liegen, aber schreibt mit großer Schrift für ihren Mann und die Kinder darauf: „Das müsst Ihr alle lesen.“

Perikope
12.06.2016
1,12-17

Ein schwarzes Schaf wird Leithammel - Predigt zu 1. Timotheus 1,12-17 von Michael Nitzke

Ein schwarzes Schaf wird Leithammel - Predigt zu 1. Timotheus 1,12-17 von Michael Nitzke
1,12-17

12 Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat und in das Amt eingesetzt,
13 mich, der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war; aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben.
14 Es ist aber desto reicher geworden die Gnade unseres Herrn samt dem Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus ist.
15 Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin.
16 Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren, dass Christus Jesus an mir als Erstem alle Geduld erweise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben.
17 Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen.

Liebe Gemeinde,
vielleicht sehen wir vor unserem inneren Auge noch ein kleines Schäfchen. Wer die Evangeliumslesung noch im Ohr hat, sieht, wie es auf dem Rücken des Hirten zurück zur Herde getragen wird. Sicher ist seine Wolle zerzaust von dem Gestrüpp, in dem es sich verfangen hat. Es ist froh, dass es wiedergefunden wurde. Dieses eine Schaf wird von seinem Herrn zurück getragen und die neunundneunzig anderen Schafe stehen da erwartungsvoll und voller Sorge zusammen. Keines hat die Gelegenheit genutzt, um selbst auszubüchsen, während der Hirte das Fehlende suchte.
Nun, da der Herr es von den Schultern nimmt und vorsichtig auf die noch zitternden Beine stellt, nehmen es die anderen freudig auf in ihre Mitte.
Ja, es wird Freude sein über das wiedergefundene Schaf. Es wird Freude sein unter den Nachbarn und Freunden des Hirten, wie es im Evangelium steht. Wird aber auch wirklich Freude sein unter den anderen Schafen? Werden sie es wieder integrieren in ihre Herde? Wenn mit den Schafen echte Tiere gemeint sind, dann ist das wirklich kein Problem. Aber wenn diese Herde eine menschliche Gemeinschaft ist, dann sieht das schon anders aus. Unwillkürlich drängt sich das Bild vor Augen, dass das verlorene Schaf auch ein schwarzes Schaf war. Und ein schwarzes Schaf wird in der Herde der 99 weißen Schafe zwar ertragen, aber oft nicht wirklich geliebt.

Gehen wir nun herunter von der Weide und begeben wir uns in die menschliche Sphäre. Verlassen wir die schöne Beispielgeschichte vom verlorenen Schaf und hören wir die erlebte Geschichte eines Mannes, ohne den wir wahrscheinlich kaum etwas vom christlichen Glauben wüssten. Der Apostel Paulus, hat wie kein anderer seine ganz Kraft darein gesetzt, den Glauben über die Grenzen des ursprünglichen Gottesvolkes hinaus zu verbreiten. Er hat Grenzen überschritten - nicht nur geographische. Er ist unermüdlich gereist, hat Menschen zum Glauben an Jesus Christus bewogen, die auch dabei geblieben sind. Er hat Gemeinden gegründet und sie immer wieder begleitet. Hat sie im Glauben bestärkt, hat mit ihnen Konflikte ausgehalten und neue Wege gesucht, ohne diejenigen, die lieber die alten Wege gegangen sind, zurück zu weisen.

Paulus, ein Wegbereiter des Glaubens, und dennoch könnte man ihn als schwarzes Schaf der christlichen Familie bezeichnen. Denn der neue Glaube war ihm nicht geheuer, und nicht nur das: Er hat die junge christliche Gemeinde verfolgt. Hat ihren Mitgliedern nach dem Leben getrachtet. Bis er selbst gespürt hat, was er da für Leid über die Menschen bringt. Auf seiner Reise nach Damaskus konnte er auf einmal nicht mehr die Hand vor Augen sehen. Aber mit seinem Ohr hörte er eine Stimme: »[...] warum verfolgst du mich?« Und er fragte: »Wer bist du, Herr?« Die Stimme sagte: »Ich bin Jesus, den du verfolgst! (aus Apg. 9,4f)
Paulus änderte sein Leben. Diese Begegnung führte ihn zum Glauben, und aus dem schrecklichsten Verfolger der Christen wurde der glühendste Missionar des neuen Glaubens.

Paulus hat seine Herkunft nie vergessen, und dann und wann spricht und schreibt er darüber. So in dem Text, den wir heute gehört haben. Er weiß, was er Schlimmes getan hat. Er beschönigt nichts. Er sagt, dass er Jesus Christus beschimpft, verfolgt und verhöhnt hat.
Aber er hat auch von ihm etwas erfahren. Und zwar Barmherzigkeit. Dass er mit Blindheit geschlagen wurde, das war ein Schuss vor den Bug, ein Warnzeichen. Und er hat das Zeichen richtig verstanden. Der Warnschuss hat ihm die Augen geöffnet. Und als er wieder sah, da sah er sich als Teil der Herde des guten Hirten, der auch sein Leben für die Schafe lässt.
Aber was denken diese Schafe, wenn Jesus auf diese Wiese das verlorene Schaf zurückbringt? Nehmen sie es auf oder betrachten sie es nicht doch mit Misstrauen und Vorbehalt?
Und fragen sie sich nicht noch viel mehr: „Kann denn das verlorene Schaf zum Leithammel werden?"
Hätte Paulus es einfacher gehabt, wenn er in der Herde als ein Schäfchen von vielen unerkannt mit gezogen wäre? Er hat nicht diesen leichten Weg genommen. Er hat seine Gaben und Fähigkeiten, die ihn zum glühendsten Verfolger werden ließen, nicht versteckt. Er hat sie so eingesetzt, dass er zum effektivsten Verkündiger des Glaubens wurde.
Paulus hat sein Licht nicht unter den Scheffel gesetzt. Er hat seine Kraft voll und ganz Gott gewidmet. Er hat von anderen viel verlangt. Und wenn diesen anderen das Tempo zu schnell war, oder wenn ihnen die Richtung nicht passte, dann hat er mit Kritik nicht hinter dem Berg gehalten. Dann hat er auch mal in einer flammenden Rede wie dieser gesagt, dass Gott ihm das Vertrauen gegeben hat. Er hat ihm Barmherzigkeit geschenkt.
Was ist das? Vielleicht Nachsicht, Vergebung, Mitgefühl. Es ist diese Barmherzigkeit, die ihm die Vergangenheit nicht zum Hindernis für die Zukunft werden ließ. Paulus ist dafür von Herzen dankbar. Er nimmt diese Barmherzigkeit nicht als Selbstverständlichkeit. Er ist demütig in der Dankbarkeit. Aber manche halten ihn für hochmütig in dem, was er von anderen verlangt. Denn er erwartet Vertrauen und Verlässlichkeit. Und er verlangt vollen Einsatz, Selbstüberwindung.
Und in der Tat braucht es viel Selbstüberwindung das verlorene Schaf als „Leithammel“ anzuerkennen. Sollte es nicht lieber ruhig und bescheiden bleiben als fordernd und anspruchsvoll.
Paulus hatte sich mit seiner fordernden Art nicht viele Freunde gemacht. Aber er war effektiv. Der Glaube hat Früchte gezeigt, bis heute. Man liest immer noch aus seinen Briefen, die oft nur geschrieben wurden, um Konflikte zu bereinigen. Und die nach seinen Worten handeln sollten, mussten selbst sehr viel Barmherzigkeit aufbringen, um ihm nicht seine alten Fehler vorzuhalten und zu sagen: „Wie kannst du mir Vorschriften machen, der du doch einst die Christen verfolgt hast?"

Paulus sagt:15 Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin.
Ja, er ist nicht bescheiden. Er ist der erste, in allen Bereichen. Erst ist er der, der den Christen am stärksten geschadet hat, und nun ist er der, der sie mit seiner ganzen Kraft zu einer Weltbewegung formen will. Ja, so ein Charakter ist für die Umstehenden nicht leicht zu ertragen.

Aber wie gehen wir heute mit Fehlern um? Können wir uns von jemandem leiten lassen, der alles, was uns vorher heilig war, in den Schmutz gezogen hat? Nehmen wir solch einem Menschen die innere Wandlung ab?
In unserer Gesellschaft kann man sich heute sehr vieles erlauben. Die moralische Geduld ist sehr groß geworden. Ein Mensch in leitender Position muss nicht immer ganz genau den Normen entsprechen, die früher selbstverständlich waren. Aber was man von ihm erwartet ist Ehrlichkeit. Wer in der Öffentlichkeit steht, ist unter genauer Beobachtung. Doch Fehler, die jemand entdeckt, werden verziehen, wenn jemand offen damit umgeht. Wer aber das Falsche für richtig erklärt, der darf kaum Barmherzigkeit erwarten. Wer seine Fehler verdecken und vertuschen will und nicht dazu steht, was er falsch gemacht hat, der wird spüren, wie unbarmherzig eine moderne Öffentlichkeit sein kann.
Wenn Christus so gehandelt hätte, dann hätte aus Paulus nichts Großes mehr werden können. Aber Christus hat Paulus nicht öffentlich demontiert und dann in der Versenkung verschwinden lassen. Nein, er hat ihn aufgebaut, damit er seine Kraft einsetzt für Dinge, die wirklich den Menschen gut tun.
Ein solches Handeln erfordert Geduld. Eine Geduld, die Jesus Christus selbst aufgebracht hat. Paulus selbst ist dankbar für diese Geduld. Aber dennoch scheint es dem Bibelleser so, als sei alles sehr schnell gegangen, vielleicht zu schnell. Doch bei manchem braucht man sicher noch viel mehr Geduld.
Wenn man keine Geduld aufbringt, dann kommt es zu Aussagen wie dieser, die man heute gerne locker daher sagt: „Keiner ist unnütz, er kann immer noch als schlechtes Beispiel dienen!"
Bringt man aber Geduld auf, dann wird ein Mensch, der Schuld auf sich geladen hat, nicht als schlechtes sondern als gutes Beispiel dienen.
Und dann sind wir wieder bei der Frage: „Kann denn das verlorene Schaf zum Leithammel werden?"

Ja, denn es kommt nicht darauf an, dass jemand keine Fehler macht in seinem Leben, es kommt darauf an, wie er mit diesen Fehlern in der Öffentlichkeit umgeht.1 Das gilt für Pfarrer, das gilt für Politiker, das gilt für Geschäftsleute, das gilt für Alte und Junge, Männer und Frauen.
Diese Lebenseinstellung braucht Geduld auf beiden Seiten.  unächst Geduld bei denen, die die Auswirkungen der Fehler zu spüren bekommen. Und dann bei denen, die diese Fehler gemacht haben. Es ist ein langer Weg, eine Fehlerkultur in einer Gemeinschaft zu etablieren. Da geht es nicht um meckern und ausgemeckert werden. Da geht es darum, gemeinsam den besten Weg zu suchen. Es ist eine Binsenweisheit, dass man aus Fehlern lernen soll. Aber man muss diese Weisheit auch verinnerlichen.
Ein falsches Wort ist schnell gesagt. Manchmal reicht aber nicht die einfach Floskel: „Entschuldigung!" Dann erfordert es Einfühlungsvermögen mit dem, den das falsche Wort getroffen hat, um das Vertrauen wieder herzustellen. Und man braucht auch Vertrauen zu sich selbst und seiner eigenen Fähigkeit zur Erneuerung. Denn es wäre ein noch falscheres Verhalten, sich nun zu denken: „Jetzt sage ich eben gar nichts mehr!" - Wer das Gespräch sucht, wird spüren, dass Menschen vergeben und verzeihen, weil sie selbst Fehler machen.
Anders sind Fehler, deren Folgen nicht so einfach wieder gut gemacht werden können. Wenn durch einen Fehler ein schwerer Unfall passiert, dann bringt der vielen Menschen unermessliches Leid. Auch da muss man versuchen,  wieder in Ordnung zu bringen, was in Ordnung gebracht werden kann.
Und am besten ist es, wenn man vorher versucht, gemeinsam Fehler zu verhindern. Dazu gehört auch, dass sich niemand für perfekt hält, oder dass sich jemand selbst die Kompetenz abspricht, die Fehler der anderen zu erkennen und zu benennen.
Dazu gehört Mut und Selbstvertrauen. Denn oft trauen wir uns nicht die Wahrheit zu sagen, weil wir irgendwelche Folgen fürchten.
Ja, ich mache Fehler, auch wenn ich viel längere Erfahrung habe. Sagen Sie es mir rechtzeitig, bevor es zu spät ist."2 Ja, selbst ein guter Pilot wird seinem Copiloten auf diese Weise Mut machen, ihn auf Fehler hinzuweisen, ohne dass dieser Angst um seine Karriere haben muss.
Geduld braucht es dazu auf allen Seiten.
Und Geduld gibt uns dazu Jesus Christus, der am Kreuz das Leiden erduldet hat, um uns zu zeigen, wie viel Geduld er mit uns hat. Auch wenn die Rede des Paulus manchem etwas zu viel nach Eigenlob stinkt, so ist das, was er sagt, doch ein Zeugnis seiner Seele: „Ja, mir ist Barmherzigkeit widerfahren. Ja, Jesus hat Geduld mit mir gehabt. Und das will ich euch zeigen und nicht verschweigen." Wer das von Herzen sagt, der ist nicht überheblich, sondern der bekennt sich zu seinen Fehlern, ist dankbar, dass Gott sie erträgt und vergibt.
Ja, auf diese Weise kann tatsächlich ein schwarzes Schaf zum Leithammel werden. So kann sich sogar ein Ackergaul in ein Zugpferd verwandeln. Und selbst wenn jemand den Bock zum Gärtner machen sollte, muss das Ergebnis nicht chaotisch sein. Es kommt auf die innere Einstellung an, die sich mit Gottes Hilfe verändern lässt. Es kommt auf die Geduld an, die ich mit mir selbst habe, und die Gott mir erweist. So kann ich mit Paulus sprechen: Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat.

Amen.

Liedvorschlag:
EG 355 Mir ist Erbarmung widerfahren

 

____________________________________
1So sinngemäß die Präses der Ev. Kirche von Westfalen, Annette Kurschus, bei ihrem Besuch im Pfarrkonvent Dortmund am 1.6.2016.
2So sinngemäß Lufthansa-Cpt. Robert Schneider bei seinem Vortrag am 30.5.2016 in Dortmund.


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Pfarrer Michael Nitzke
Ev. Philippus-Kirchengemeinde Dortmund
michael.nitzke@philippusdo.de

 

 


 

Perikope
12.06.2016
1,12-17

Geständnisse im Licht der Gnade - Predigt zu 1. Timotheus 1,12-17 von Søren Schwesig

Geständnisse im Licht der Gnade - Predigt zu 1. Timotheus 1,12-17 von Søren Schwesig
1,12-17

12 Ich bin voll Dank gegenüber Jesus Christus, unserem Herrn, der mir für meinen Auftrag die Kraft gegeben hat. Denn er hat mich für vertrauenswürdig erachtet und in seinen Dienst genommen,
13 obwohl ich ihn doch früher beschimpft, verfolgt und verhöhnt habe. Aber er hat mit mir Erbarmen gehabt, weil ich nicht wusste, was ich tat. Ich kannte ihn ja noch nicht.
14 Er, unser Herr, hat mir seine Gnade im Überfluss geschenkt und mit ihr den Glauben und die Liebe, die aus der Verbindung mit ihm erwachsen ist.
15 Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der schlimmste bin.
16 Deshalb hatte er gerade mit mir Erbarmen und wollte an mir als erstem seine ganze Geduld zeigen. Er wollte mit mir ein Beispiel aufstellen, was für Menschen künftig durch den Glauben - das Vertrauen auf ihn - zum ewigen Leben kommen können.
17 Gott, der ewige König, der unsterbliche, unsichtbare und einzige Gott, sei dafür in alle Ewigkeit geehrt und gepriesen! Amen.
(Gute Nachricht Bibel)

 

Liebe Gemeinde,

ein schöner Gottesdienst, schöne Gesänge, eine schöne Atmosphäre. Aber dann dieses Predigtwort. Es trägt uns auf, über Sünde nachzudenken. Ausgerechnet über Sünde! Und das an diesem schönen Tag. Wollen wir uns darauf einlassen? Wollen wir uns aufs Neue diesem Thema stellen?

Das erinnert mich an den alten Kalauer, als der Vater den Sohn nach der Kirche fragt: „Wie war´s in der Kirche?“ - „Gut!“, sagt der. „Worüber hat der Pfarrer gepredigt?“ - „Über die Sünde.“ „Und", der Vater, “was hat er zur Sünde gesagt?“ – Der Sohn: „Er ist dagegen!

Lassen Sie uns aufs Neue über Sünde nachdenken. Was Sünde ist, was sie bewirkt und was wir tun können – auf dass dieses Nachdenken uns neue Impulse für unser Leben schenkt.

Sünde hat etwas mit Geständnis zu tun. Ein Mensch, der ein Geständnis ablegt, stellt sich dem, was er getan hat und bekennt seine Schuld.
Nun leben wir in einer Zeit massenhafter öffentlicher Geständnisse. Die Talkshows der privaten und öffentlich-rechtlichen Sender überfluten uns mit Geständnissen: Da prahlt ein sichtlich angegrauter Mann damit, wie viele Frauen er schon gehabt hat. Ein Jugendlicher plustert sich auf angesichts der Vorstrafen, die er angesammelt hat. Eine dritte rühmt sich der Rücksichtslosigkeit, mit der sie durchs Leben geht und dabei auch die eigenen Kinder nicht verschont.
Geständnisse vom Niveau her oft nicht zu unterbieten. Geständnisse, bei denen der, der gesteht, sich nicht betroffen an die Brust schlägt, sondern lachend auf die Schenkel klopft: „Seht, was ich für ein toller Typ bin!“ Geständnisse nicht im Licht der Gnade, sondern im Licht der Einschaltquote.

Was geschieht bei einem richtigen Geständnis? Bei einem richtigen Geständnis stellt sich ein Mensch dem, was er getan hat – wie der Schreiber unseres Predigtwortes. Er sagt von sich: Christus Jesus ist in die Welt gekommen, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der schlimmste bin.

Nun wollen wir nicht wie in den Talkshows voll plumper Neugier nachfragen, was dieser Mensch wohl angestellt hat, dass er meint, der schlimmste Sünder zu sein. Fragen wir lieber, was der Begriff „Sünde“ meint und wann ein Mensch als Sünder zu gelten hat.

Was ist Sünde? Martin Luther antwortet darauf so: „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“ – und meint: Frage dich, wem du Raum gibst in deinem Leben und auf wen oder was du deine Hoffnung setzt. Frage dich, wem du in deinem Leben letztlich vertraust.

Sünde ist für Luther, wenn ein Mensch in der Überzeugung lebt, er hätte sein Leben im Griff, käme gut allein zurecht und bräuchte keinen Gott. Was aber, wenn etwas Unvorhergesehenes eintritt, was diese scheinbare Sicherheit erschüttert? Der Brief der Firmenleitung mit den Worten: Die momentane wirtschaftliche Situation unserer Firma … der harte Wettbewerb …sie müssen verstehen. Die völlig unerwartete Diagnose des Arztes bei einer Routineuntersuchung. Der plötzliche Tod eines lieben Menschen, mit dem wir doch gerade vor kurzem noch zusammengesessen und gelacht haben. Was dann? Dann begreifen wir, dass wir unser Leben eben nicht jederzeit im Griff haben; dass wir sehr wohl jemanden brauchen, der uns an der Hand nimmt und weiterhilft.
Leben ohne Gott – das ist für Luther Sünde.

Würden wir aber Menschen beim Einkaufsbummel mit der Frage überrumpeln, was für sie Sünde ist, wir würden Antworten bekommen wie: Wenn man zu tief ins Glas schaut. Wenn man zu viel in sich hineinfuttert, obwohl es der schlanken Linie nicht guttut. Sünde ist, wenn man zu schnell mit dem Auto unterwegs ist und dabei auch noch in eine Radarfalle gerät; wenn man dem Staat mit den Steuern erfolgreich ein Schnippchen schlägt.

Alle diese Antworten sind nur eine Aneinanderreihung menschlichen Fehlverhaltens. Sünde aber ist mehr als die Summe unserer Verfehlungen. Sünde geht tiefer. Sünde hat damit zu tun, dass Menschen ihre Bestimmung verloren haben und heimatlos geworden sind. Sünde hat damit zu tun, dass Menschen vom Weg abgekommen und in eine Sackgasse geraten sind. Menschen, die von sich sagen:

  • Ich bin mit mir selber unzufrieden. Ich kann mich manchmal selber nicht leiden. Ich weiß gar nicht wirklich, wer ich bin.
  • Oder: Was hat mein Leben für einen Sinn? Ich hänge an der Flasche. Dabei bin ich doch eigentlich nur süchtig nach Leben.
  • Oder: Ich will die Ekstase am Wochenende. Aber wenn ich nach dem Wochenende aufwache, ist wieder diese große Leere in mir.
  • Oder: Ich bin irgendwie immer traurig. Ich habe Angst - vor dem Altwerden, vor der Einsamkeit, vor einem einsamen Tod in irgendeinem Heim. 

Menschen, die ihre Bestimmung verloren haben und heimatlos geworden sind. Menschen, die vom Weg abgekommen und in eine Sackgasse geraten sind.

So hat Gott uns aber nicht geschaffen. Er hat uns geschaffen als freie Wesen. Als Menschen, die um ihre Heimat wissen. Menschen, die sagen können: „Was immer auch geschieht, ich bin auf einem guten Weg, denn Gott geht mit mir.“ Dass Menschen mit dieser Überzeugung leben können, ist sein Geschenk an uns. Mehr noch: Es ist unsere Bestimmung.

Warum hat der Mensch dieses Geschenk aus der Hand gelegt? Warum hat er seine Bestimmung verloren? Die Bibel antwortet darauf mit der Geschichte von Adam und Eva. Eine Geschichte von Freiheit und von Gottes Gebot, das den Menschen schützen soll. Aber der Mensch will seine Freiheit in die eigenen Hände nehmen und nach eigenen Regeln leben. Er empfindet Gottes Gebot nicht als Hilfe für ein gelingendes Leben, sondern als Einengung, Beschränkung, Zwang. Und so dreht er Gott den Rücken zu und lebt abgewandt von ihm.

Dieses von Gott abgewandt leben ist Sünde. Zu leben im Glauben: „Ich habe mein Leben im Griff. Ich komme gut allein zurecht. Ich brauche keinen Gott!“ – das ist Sünde. Und diese Sünde bringt den Tod. Nicht erst den biologischen Tod. Den Tod schon jetzt, mitten im Leben. Denn der von Gott abgewandte Mensch weiß nicht mehr um den Grund seines Lebens. Er weiß nicht mehr, was sein Ursprung ist und was sein Ziel. Weiß nicht mehr, woher er gekommen ist und wohin er geht. Der von Gott abgewandte Mensch ist vom Weg des Lebens abgekommen. Abseits dieses Weges lauert der Tod. Der Tod schon jetzt, mitten im Leben.

Wer zeigt uns wieder, wo unsere Heimat ist? Wer hilft uns zurück auf den Weg des Lebens?

Christus Jesus ist in die Welt gekommen, um die Sünder selig zu machen. Das ist die Antwort unseres Predigtwortes. Jesus zeigt, wo unsere Heimat ist. Darum hat Gott seinen Sohn gesandt, dass Menschen wieder zurückfinden auf den Weg des Lebens. Und Jesus hat Menschen diesen Weg gezeigt, indem er die Verlorenen um sich sammelte und ihnen Geschichten erzählte. Geschichten, die zu Herzen gingen: Vom verlorenen Schaf, vom wiedergefundenen Sohn. Jesus riss Menschen aus ihrer Verlorenheit, indem er mit Sündern tafelte und Feste feierte. Den Halsabschneider Zachäus wollte er bei sich haben, auch die Dirnen, auch die Zwielichtigen, auch die Abgebrühten. In seiner Nähe atmeten die Menschen auf, konnten sie selbst sein. In seiner Nähe lernten sie Liebe. Echte Liebe, keine verordnete Liebe, sondern Liebe, die von Herzen kommt. Darum ist Christus Jesus in die Welt gekommen - um die Sünder selig zu machen.

Sein Werk ist noch nicht zu Ende. Jesus will auch uns bei sich haben. Die Ausgeflippten und die Normalen, die Prahlenden und die Suchenden, die Starken und die Ermüdeten, die Selbstsicheren und die Orientierungslosen. Alle will er bei sich haben, damit wir nicht verloren gehen und um unsere Heimat wissen.

Jesus will auch uns bei sich haben. Nehmt das mit, wenn ihr diesen Gottesdienst verlasst mit seinen Gesängen und seiner Atmosphäre. Nehmt das mit in euren Alltag, damit ihr euch an den haltet, der euch auf dem Weg des Lebens haben will.

Amen.

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Stadtdekan Søren Schwesig
Büchsenstraße 33
70174 Stuttgart
soeren.schwesig@elkw.de


 

 

 

Perikope
12.06.2016
1,12-17

Gemeinde, Gebet, Gesetzgeber und Gott – wie hängen sie zusammen? - Predigt zu 1. Timotheus 2,1-6a von Dieter Splinter

Gemeinde, Gebet, Gesetzgeber und Gott – wie hängen sie zusammen? - Predigt zu 1. Timotheus 2,1-6a von Dieter Splinter
2,1-6

Gemeinde, Gebet, Gesetzgeber und Gott – wie hängen sie zusammen?

1 So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, 2 für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. 3 Dies ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserm Heiland, 4 welcher will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. 5 Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus,  6 der sich selbst gegeben hat für alle zur Erlösung.

I.

Liebe Gemeinde!

Gemeinde, Gebet, Gesetzgeber und Gott – wie hängen sie zusammen? Die Antwort auf diese Frage entwickelt der Apostel Paulus (oder einer seiner Schüler) in drei Schritten.

II.

Der erste Schritt beginnt mit einer Ermahnung: „So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen...“. Viele haben die mahnenden Worte des Apostels befolgt. Jede Kirche zeugt davon. Wer eine Kirche betritt, betritt einen Gebetsraum. In jeder Kirche wurde gebetet. In jeder Kirche wird gebetet – und so lange eine Kirche steht, wird darin gebetet werden.

Das ist gut so. Die Welt braucht Gebete. Wichtig sind sie zunächst für den, der betet. Eine kleine Geschichte macht es deutlich: „Dem Missionar einer Buschkirche in Neuguinea fiel ein Mann auf, der immer nach dem Gottesdienst noch lange Zeit in der Kapelle sitzenblieb. Dieser Mann schaute dann immer mit auf der Brust verschränkten Armen zum Altar, der jetzt abgeräumt und leer war. Einmal nahm sich der Missionar ein Herz und fragte den Mann, was er denn da die ganze Zeit bete. Der antwortete nur lächelnd: 'Ich halte meine Seele in die Sonne.'“

Wer betet, spürt etwas von der Wärme Gottes. Wer betet, bekommt neue Energie. Wer betet, taucht ein in ein Licht, das er nicht selber gemacht hat. Wer betet, weiß: Ich bin nicht allein. Gott ist da für mich. Er hält mich. Er trägt mich. Denn ja, es ist so: „Der Herr ist mein Hirte - mir wird nichts mangeln!“ Jedes Gebet ist ein Sonnenbad für die Seele.

Wenn Christen und Christinnen zusammenkommen, dann beten sie aber nicht bloß jeweils für sich selber. Es ist uns aufgetragen „für alle Menschen“ zu beten. Ein christlicher Gottesdienst ist darum immer auch ein öffentlicher Gebetsdienst. Wir tun es vor allem im Fürbittengebet. Darin nehmen wir die Welt ins Gebet. Wir beten für jene, die mühselig und beladen sind. Wir beten für jene, die krank sind und von Krieg heimgesucht werden. Wir beten für jene, die fliehen müssen und nicht mehr ein noch aus wissen. Ihre Not legen wir Gott ans Herz und bitten ihn um Beistand. In unserer Ohnmacht nehmen wir Zuflucht zu seiner Allmacht. In unserer Schwäche vertrauen wir auf seine Stärke.

„Für alle Menschen“ zu beten heißt darüber hinaus noch etwas anderes. Der Gebetsdienst der christlichen Gemeinde im Gottesdienst geschieht immer auch für jene, die nicht da sein können oder wollen. „Für alle“ zu beten, ist immer auch ein Akt der Stellvertretung.

Gemeinde, Gebet, Gesetzgeber und Gott – wie hängen sie zusammen? Die Antwort, die im ersten Schritt im 1. Timotheusbrief entwickelt wird, lautet: Im Gebet halten wir gleichsam unsere Seele in die Sonne. Wir tun es aber nicht bloß für uns allein, sondern ebenso für jene, die mühselig und beladen sind – und für jene, die nicht da sind und am Gottesdienst teilnehmen.

III.

Gemeinde, Gebet, Gesetzgeber und Gott – wie hängen sie zusammen? Um diese Frage zu beantworten, kommt der Apostel nun auf den Gesetzgeber zu sprechen; also auf die Regierung. Der Apostel fordert dazu auf, „für alle Menschen“ zu beten. Und das bedeutet eben auch zu beten „für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit.“

Diese Worte wurden in einer Zeit geschrieben, in der Christen immer wieder um Leib und Leben fürchten mussten. „Für die Könige und alle Obrigkeit“ zu beten, war zunächst ein Akt der Stellvertretung. Die so ins Gebet Genommenen waren gewiss nicht da. Sie beteiligten sich nicht am Gottesdienst. Vielmehr war damit zu rechnen, dass die Regierenden Christen drangsalierten. Wer dann dennoch für die Regierenden betete, wollte an seiner Staatstreue keinen Zweifel aufkommen lassen.

Man mag das als Duckmäusertum verunglimpfen. Doch ist das Ansinnen, den christlichen Glauben in Freiheit und Menschenwürde zu leben, selbst heute noch nicht  überall in die Tat umgesetzt. Im Gegenteil. Die Christenverfolgungen nehmen zu. Papst Franziskus beschreibt die Situation zu Recht darum so:

“Es ist nicht erforderlich, in die Katakomben oder ins Kolosseum zu gehen, um die Märtyrer zu finden: die Märtyrer leben jetzt, in zahlreichen Ländern. Die Christen werden ihres Glaubens wegen verfolgt. In einigen Ländern ist es ihnen untersagt, ein Kreuz zu tragen: sie werden bestraft, wenn sie es doch tun. Heute, im 21. Jahrhundert, ist unsere Kirche eine Kirche der Märtyrer.”

„... ein ruhiges und stilles Leben führen (zu) können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit“ - das wird vielen Christen heutzutage in dieser Welt immer noch verwehrt. Religionsfreiheit ist vielerorts nicht selbstverständlich. Das mag hierzulande anders sein. Doch gilt es auch bei uns  wachsam zu sein. So tun wir etwa gut daran darauf zu achten, dass der Sonntagschutz nicht ausgehöhlt wird.

Gemeinde, Gebet, Gesetzgeber und Gott – wie hängen sie zusammen? Im zweiten Schritt seiner Antwort fordert der Apostel dazu auf für die Regierenden zu beten. Und wenn der christliche Glaube unterdrückt wird, gilt es erst recht die dafür Verantwortlichen ins Gebet zu nehmen.

IV.

Gemeinde, Gebet, Gesetzgeber und Gott – wie hängen sie zusammen? Um diese Frage zu beantworten, geht der Apostel nun einen dritten und letzten Schritt. Die Gemeinde soll „für alle Menschen“  und „für die Könige und alle Obrigkeit“ beten. Wenn sie es tun, so ist dies „gut und wohlgefällig vor Gott, unserm Heiland, welcher will, das allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“

Wer für die Mühseligen und Beladenem betet, legt sie Gott ans Herz. Wer stellvertretend für die betet, die nicht da sind – und seien es jene, die ihm das Leben von Staats wegen schwer machen – macht deutlich: Gott will, „dass allen Menschen geholfen werde...“. Die Gebete der Gemeinde sind für Außenstehende die Einladung, an Gott zu glauben. Auch wenn sie nicht dabei sein können oder wollen, wenn für sie gebetet wird, so wissen sie doch, dass es geschieht. So nimmt es nicht Wunder, dass selbst jene, die am Gottesdienst nicht teilnehmen, sich hierzulande dafür einsetzen, dass Kirchen gebaut und erhalten werden.

Doch geht es dem Apostel noch um mehr. Die Gebete der Gemeinde sollen deshalb eine Einladung zum Glauben sein, damit alle „zur Erkenntnis der Wahrheit“ kommen. Die Wahrheit, die es zu erkennen gilt, beschreibt der Apostel so: „Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat für alle zur Erlösung.“

Ein Gott ? Ein Mittler? Viele sind misstrauisch geworden gegenüber dem absoluten Anspruch, der hier formuliert wird. Sie haben Grund dazu. In dunklen Zeiten unserer Geschichte hieß es: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ Das war eine gängige Parole der Nationalsozialisten. Steigbügelhalter waren für sie unter anderen die Deutschen Christen. Bei ihnen klang der Absolutheitsanspruch so: „Ein Volk, ein Gott, ein Führer!“

Aus der Religionsgeschichte wissen wir, dass der Ruf „Es gibt nur einen Gott!“ zum Schlachtruf werden kann. Er dient dann dazu, sich gegenüber anderen Religionen zu behaupten und sich gegen sie durchzusetzen.  Heutzutage haben sich extreme Islamisten diesen Schlachtruf auf die Fahnen geschrieben.

Ein Gott ? Ein Mittler? Das ist in Wahrheit kein Schlachtruf. Doch geht es trotzdem um einen Anspruch. Wahrheit erhebt immer einen Anspruch. Sie will eben wahr sein und darum gelten. Misstrauen gegenüber einseitigen Parolen ist geboten. Trotzdem gilt es bei der Wahrheit zu bleiben. An ihr halten wir fest. Sonst wären wir keine Christen.

Die Wahrheit für uns ist: Gott begegnet uns in einem Menschen, in Jesus Christus. Der Mittler zu Gott ist ein Mensch wie du und ich. Den Weg zu Gott stellt er uns da. In der Nacht, in der er verraten wird, betet er im Garten Gethsemane, Gott möge den Kelch des Leids an ihm vorübergehen lassen. Doch kommt es anders. Christus wird gekreuzigt. Und es wird deutlich: Erlösung sieht immer anders aus! Selber Beten und anderen Gewalt zufügen – das geht gar nicht!

V.

Gemeinde, Gebet, Gesetzgeber und Gott – sie hängen für den Apostel in der Tat zusammen. Im Gebet wissen wir: Gott ist für uns da. Seine Nähe wärmt uns. Sein Licht erhellt uns. Im Gebet halten wir unsere Seele in die Sonne von Gottes Gegenwart. In der Gemeinde tun wir das besonders im Gottesdienst. Dort tun wir es nie allein, sondern mit anderen. So soll es sein. Unser gemeinsamer Gebetsdienst im Gottesdienst nimmt die Welt ins Gebet. Wir legen so die Mühseligen und Beladenen Gott ans Herz. Zudem beten wir stellvertretend für jene, die nicht das sein können oder wollen. Unser Gebet schließt die Regierenden mit ein – und besonders jene unter ihnen, die Christen andernorts drangsalieren und verfolgen. All das tun wir im Blick auf Jesus Christus. Er hat uns einen Weg gezeigt, der Erlösung verheißt. Wer Jesus Christus auf diesen Weg folgt, der weiß: Gebete und Gewalt, die man anderen zufügt, gehen nicht zusammen.

Und so bewahre der Friede Gottes, welcher höher ist den all unsere Vernunft, unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

 

Perikope
01.05.2016
2,1-6