Ohne Brot keine Gerechtigkeit, ohne Gerechtigkeit kein Brot - Predigt zu 1Tim 4,4-5 von Anne-Kathrin Kruse

Ohne Brot keine Gerechtigkeit, ohne Gerechtigkeit kein Brot - Predigt zu 1Tim 4,4-5 von Anne-Kathrin Kruse
4,4-5

I. Für Herz und alle Sinne ein Fest

Erntedank - ein Fest fürs Leben.
Sonnenblumen und dicke Kürbisse in leuchtendem Orange.
Die Pflaumen platzen fast vor Süße
und verbreiten einen verführerischen Duft.
Gelbe Butterbirnen und fein säuerlich duftende Cox-Orange
sorgen für Augenweide, Nasenkitzel und Gaumenfreuden.
Paprika, Tomaten, Porree leuchten um die Wette.
Herr, mein Gott, Du bist sehr herrlich!
Du bist schön und prächtig geschmückt.
Licht ist Dein Kleid, das Du anhast.

Trauben und Ähren und ein riesiger frischgebackener Brotlaib
mit einem Kreuz heute auf dem Altar.
Dass Du Brot aus der Erde hervorbringst,
dass der Wein erfreue des Menschen Herz.


Gott schafft und schafft.
Jeden Morgen neu
lässt er das Licht gegen die Finsternis aufscheinen.
Du breitest den Himmel aus wie einen Teppich.
Ringsum spiegelt er sich in den Flüssen und Seen.
Du lässt Gras wachsen für das Vieh
und Saat zu Nutz den Menschen,

Rinder, Schweine, Ziegen, Schafe und Geflügel –
Lebewesen mit eigener Würde,
am selben Tag wie die Menschheit erschaffen und von Gott freundlich angesehen.


Du kommst daher auf den Fittichen des Windes.
Kleingärten mit Kraut, blau, grün und weiß.
Zwiebeln und Kartoffeln in brauner Erde.
Gartenzäune, die die Blumenpracht ordnen.
Ich reibe mir die Augen bei so viel Schönheit.
Herr, wie sind Deine Werke so groß und viel!
Du hast sie alle weise geordnet.

 

Musik dringt ins Ohr.
Kinderlachen geht darin auf.
Menschen aus aller Herren Länder feiern.
Gott, Du hast so unendlich viel Phantasie!
Und Du liebst sie alle.
Ich danke dir, dass ich – wie sie – wunderbar gemacht bin,
wunderbar sind deine Werke.

Dein Herz muss riesig sein.
Gerne würde ich sie alle mit Deinen Augen sehen.
 

Sehen – staunen – sich über diese Pracht Gottes freuen – und dafür danken.
Der Predigttext für heute klingt fast wie eine Gebrauchsanweisung dafür:
Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut,
und nichts ist verwerflich,
was mit Danksagung empfangen wird;
denn es wird geheiligt
durch das Wort Gottes und das Gebet.

 

Der Brief an Timotheus führt uns ganz an den Anfang der Bibel.
Ein Loblied erklingt da auf Gottes Schöpfung
Mit dem Refrain, dass sie gut war, ja sogar sehr gut.
Heilig ist die Schöpfung, weil sie ganz und gar Gott gehört.
Kein übelgelaunter Tyrann,
der seinen Geschöpfen alles verbietet, was Spaß macht.
Gott ist sich nicht zu groß,
um sich für alles auf seiner Erde leidenschaftlich einzusetzen,
dass alle ein gutes Leben haben sollen.
 

II. Ohne Gerechtigkeit kein Brot

Wie begehen wir den Dank für die Ernte 2024?
Im Frühjahr blockierten Zugmaschinen zu Hunderten die Autobahnen
und dröhnten nachts mit Aufblendlicht in die Hauptstadt.
„Ist der Bauer ruiniert, wird dein Essen importiert!“
prangt auf den Kühlern der Traktoren.
Die Landwirte und Landwirtinnen sind wütend,
fühlen sich und ihre Not nicht wahrgenommen.
„Was nützt die größte Leidenschaft, wenn man davon nicht leben kann.“,
klagt eine Winzerin.
Wachse oder weiche!
Mit den Höfen sterben Handwerksbetriebe,
Gastwirtschaften und Lebensmittelläden auf dem Land.
Die Dörfer veröden.
Die Entfremdung zwischen Stadt und Land wächst.


Es ist nicht alles gut. Manches ist verwerflich.
Die schweren Unwetter und Überschwemmungen,
zugleich die Verödung ganzer Landschaften –
die Wissenschaftler werden nicht müde zu warnen:
das alles ist nicht Gottes Werk.
Es ist menschengemacht –
und trifft zuallererst die Unschuldigen.

Von der jüdischen Tradition lässt sich lernen:
„Ohne Brot keine Gerechtigkeit – ohne Gerechtigkeit kein Brot“.
Zum jüdischen Erntefest wird die Gerechtigkeit großgeschrieben:
Weil Gott seinem Volk ein gutes Leben geschenkt hat,
sollen alle an diesen Tagen feiern und fröhlich sein können,
auch die Schwächsten in der Gesellschaft.
Wenn die Landwirte ihre Felder, die Gott ihnen geschenkt hat, abernten,
dann sollen die, die kein eigenes Land besitzen,
einen Anteil an der Ernte bekommen.
Kein Almosen – einen Anspruch haben sie auf Gerechtigkeit.
Denn Hunger ist kein Schicksal, er ist menschengemacht.
 

III. Atemholen

Das große Sehnsuchtslied, mit dem die Bibel eröffnet,
es besingt die große Vision vom Frieden, von Gerechtigkeit, vom Shalom,
von einem gemeinschaftlichen Leben für alle Kreaturen.
„Krone der Schöpfung“ ist nicht die Menschheit.
Für ihre Schöpfung ist nicht einmal ein eigener Tag reserviert.
„Krone der Schöpfung“ ist der Schabbat, der siebte Tag.
An diesem Tag vollendet Gott sein Schöpfungswerk:
Er selbst schöpft Atem.
Er schöpft, er ruht
und er macht dieses Atem-Schöpfen den Menschen zum Geschenk.
Ein Festtag für Leib und Seele,
mit Zeit zum In-die-Sonne-Blinzeln und Nichtstun,
mit endlosem guten Essen, mit Wein und guten Gesprächen.
Alle bringen etwas mit und teilen,
Brot und Wein,
Freude und Schmerz.
Tröstende Worte und heilende Worte –
sie gehen ins Herz und in die Seele.
Da, wo sie gebraucht werden.
Das Herz wird satt.
Und die Seele verdurstet nicht.
Was für ein schöner Tag!
Und das jede Woche –
danke für dieses große Geschenk der Freiheit! 
Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut,
und nichts ist verwerflich,
was mit Danksagung empfangen wird.


Gott segnet das Unterlassen, das Aufhören-können.
Vorbild für ein Leben, das im Machen nicht aufgeht.
Das Glück dieser Erde als Geschenk annehmen und genießen,
eher Gärtnerin und Gärtner sein denn Herrenmenschen.
Dafür sorgen, dass alle etwas davon haben und zu ihrem Recht kommen.

Schabbat – das lerne ich für den Sonntag –
das ist der „Palast in der Zeit“, das eigentliche Heiligtum,
der Ort, wo Gott ganz nahe ist.
Wo alle – Mensch und Tier – Atem holen dürfen
und davon kosten können, was es heißt, frei zu sein.
Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut,
und nichts ist verwerflich,
was mit Danksagung empfangen wird;
denn es wird geheiligt
durch das Wort Gottes und das Gebet.

 

IV. Lebensernte

Wie immer saß der alte Herr in seinem Sessel am Fenster.
Fast ein ganzes Jahrhundert durfte er alt werden.
„Ich habe eben viel Glück gehabt.“ Sagte er immer wieder.
Brot der Güte.
Ein Liebespaar waren er und seine Frau bis zuletzt.
Ein Leib, eine Seele, durch dick und dünn.
Brot der Liebe.
Brot der Tränen, wenn eine Hälfte nach 62 Jahren fehlt.
Brot der Tränen um den Bruder, der 18jährig im Krieg starb.
Ein wacher, kritischer Geist – das war er.
Poltern konnte er, besonders gegen missliebige Politiker und Kirchenleute.
Brot des Zorns.
Und doch lernte er nach Jahrzehnten in politischer Verantwortung
im hohen Alter das Brot des Glücks zu essen.
Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.
Die wundersame Fähigkeit,
sich an den kleinen Dingen zu freuen und dankbar zu sein.
Vielleicht, weil er so gute Augen hatte.
Nicht nur die Vögel am Ende des Parks konnte er sehen.
Auch all die Güte, der er sein Leben zu verdanken hatte.
Brot des Lebens.
Als sei sein ganzes Leben in den Dank für dieses Brot eingeschlossen,
auch da, wo es schwer und kaum zu tragen ist.
 

V. Gute Augen

Noch einmal:
Was mit Danksagung empfangen wird;
denn es wird geheiligt
durch das Wort Gottes und das Gebet.

„Danksagung“ – das ist mehr als ein blasses, sattes „Danke für die Blumen“.
Nicht schön-reden und rosa drübermalen.
Vielmehr meint es „Gutheißen“.
Diese Welt segnen, ja, sie ist gut trotz aller Zerstörung.

Einander segnen, ja auch die Brüller und Hasser,
mit finsterem Blick, voller Wut
und ganz ohne Dankbarkeit.

Aber nicht als Hasser sind sie geboren.
Gut von Gott geschaffen,
Fähig zum Guten.
(Und angesichts des morgigen Jahrestages des Terroranschlages der Hamas
und des darauffolgenden Gaza-Krieges
erscheint diese Vorstellung fast unmenschlich-übermenschlich.)

Diese Welt gutheißen, heißt: um sie zu ringen,
sie zu lieben und zu erhalten.
Dieses Ringen hat Albert Schweitzer gut gekannt:
„Wenn es euch besonders schwer und sorgenvoll ums Herz wird,
dann fangt an, Gott zu danken…
Euer Herz wird fragen: Warum, wofür denn danken?
Es wird gleich mit den Klagen und Sorgen bei der Hand sein.
Lasst es nicht zu Worte kommen…
Fangt beim Gewöhnlichsten und Alleralltäglichsten an…
Dann werdet ihr die Zauberkraft des Dankens erfahren…
Das Herz, welches durch das Danken hindurchgeht,
dem werden die Augen aufgetan
und es erkennt in allem Gottes Fügung, auch im Leid und in der Trübsal…

Danksagen, gutheißen, Segen sprechen über die Welt,
über das Brot, über unser Leben,
über das Glück und die Tränen,
die Liebe und den Zorn,
ja, auch über die Schuld.
Ich will, dass gut wird,
was an Schuld, Trauer und Verderben am Brot haftet.

Ja sogar Gott selbst segnen.
Er weiß schon, was er tut.
Auch mit dem, was niemand verstehen kann.

Dafür braucht es gute Augen.
Mit offenem Blick durch die Welt gehen
und ihre Wunder entdecken.
Sich nicht blenden lassen
von Hass, Gier und Ungerechtigkeit gegen Mensch und Tier.
Die Wohltaten Gottes entdecken,
die Freiheit im Lassen,
nicht rund um die Uhr funktionieren müssen,
miteinander feiern.
Erntedank.

Amen.

[Wertvolle Anregungen verdanke ich den Erntedankpredigten von Michael Greßler.]

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Anne-Kathrin Kruse

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt werde ich im Antrittsgottesdienst zu einer dreimonatigen Vakaturvertretung in einer Großstadtgemeinde halten, die ich noch nicht gut kenne. Die Gottesdienstteilnehmenden sind in i.d.R. gutsituiert, mit akademischem Hintergrund und kommen auch aus anderen Gemeinden zum Gottesdienst.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Bei diesem Kasus sehe ich (zumindest bei mir) die Gefahr des Moralisierens und der Imperative, sei es bezüglich Klimakrise, Umweltschutz, Nachhaltigkeit etc., was die Lust am Danken häufig im Keim erstickt. Statt über den Dank zu reden, wollte ich das Danken selbst stark machen, auch im Sinne eines Dennoch. Dass der Tag nach dem Erntedank auf den Jahrestag des 7. Oktober fällt, macht die Sache nicht einfacher. Beflügelt hat mich der Gedanke des Schabbat als „Palast in der Zeit“ (A. J. Heschel) als Vision einer gerechten Welt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Frieden geht nicht ohne Gerechtigkeit, sei es zwischen Mensch und Schöpfung, sei es zwischen den Völkern. Die Vision vom Schabbat als Sinnbild für Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit spornt mich an, weg vom Funktionieren hin zu Dankbarkeit und zu Empathie zu kommen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Coach hat mich bestärkt, wo ich unsicher war, und mir wertvolle Hinweise gegeben auf unnötige Perspektivwechsel sowie Nebenthemen, die vom roten Faden ablenken. „In Zeitlupe sieht man mehr.“ Herzlichen Dank dafür!
Manche Übergänge habe ich etwas sanfter gestaltet.
Danke auch für die Anregung, die Zitate aus Ps 104 von einer anderen Person, evtl. auch von der Gemeinde sprechen zu lassen.

 

Perikope

Beten. Beten? Beten! - Predigt zu 1 Tim 2,1-6a von Karoline Läger-Reinbold

Beten. Beten? Beten! - Predigt zu 1 Tim 2,1-6a von Karoline Läger-Reinbold
2,1-6a

1. Timotheus 2
1So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, 2für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. 3Dies ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserm Heiland, 4welcher will, dass alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. 5Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, 6der sich selbst gegeben hat als Lösegeld für alle.

Sehnsucht
„Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?“ So heißt ein Buch des Schauspielers Joachim Meyerhoff, in dem er von seiner Kindheit und Jugend erzählt. Inzwischen lief im Kino auch der Film, vielleicht hatten Sie Gelegenheit, ihn zu sehen. Als Sohn des Direktors einer großen Psychiatrie wird der Junge Joachim in den 60er und 70er Jahren auf dem Gelände dieser Anstalt groß. Die Bewohnerinnen und Bewohner mit ihren speziellen Eigenschaften, ihren Ticks und Gewohnheiten gehören zum Alltag, wenn nicht zur Familie.
Sehr humorig und mit viel Liebe wird das alles erzählt; ein bisschen wehmütig und nostalgisch auch. Ich mochte das beim Lesen sehr. Wahrscheinlich liegt es am Alter. Diese Sehnsucht nach der Vergangenheit. Wenn wir genau hinsehen, wenn ich ganz ehrlich bin, war die Vergangenheit nicht annähernd so schön, so gut, so friedlich, wie ich sie betrachte. Da war viel Seltsames und Dunkles auch. In meinem Gedächtnis habe ich mir Einiges verklärt und vergoldet.
Aber – vielleicht geht Ihnen das auch so: Da ist gleichzeitig so ein Anspruch, den ich spüre, ein Anrecht darauf, dass es doch einmal alles besser war. Dass diese Welt, dass unser Leben doch insgesamt noch viel besser sein könnte. Entspannter, glücklicher, sorgloser als ich es heute empfinde.
Und vielleicht reicht dieser Anspruch in Wahrheit gar nicht in meine Vergangenheit, sondern vielmehr in die Zukunft. Ach, könnte es doch einmal wieder friedlicher, freundlicher, leichter sein. So, wie Gott es sich einmal gedacht haben wird. Damals. Am Anfang.
Der Blick in die Vergangenheit weckt in mir große Sehnsucht. Da ist ein tiefes Verlangen nach Frieden, nach Ganzheit, Geborgenheit. Große Worte, doch warum nicht endlich einmal groß denken? Wann wird es wieder so, wie es nie war? Vor Corona. Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Vor der Klimakrise, vor der Wirtschaftskrise und vor all diesen kruden Debatten in den sogenannten „sozialen Medien“?
Das sind Fragen wie ein lautes Seufzen. Wehmütige Wünsche, wie ich sie auch im Brief an Timotheus höre: Ach! Dass wir doch ein ruhiges und stilles Leben führen können. Dass alle Menschen gerettet werden, dass sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Das sind gute und fromme Wünsche und handfeste Anliegen für ein Gebet.

Beten bewegt
Vor einiger Zeit hatte ich das Glück, in Jerusalem zu sein. An einem sonnig-kalten Dienstagmorgen war ich auf dem Tempelberg und stand im Frauenabteil an der Klagemauer. Ich habe den uralten Sandstein berührt, Generationen von Betenden haben ihn ganz glatt gemacht.
Da stehen sie, jeden Tag, Männer und Frauen aus aller Welt, Menschen jüdischen Glaubens und natürlich auch anderer Religionen. Manche stecken kleine Zettel mit ihren Anliegen zwischen die Steine. Andere studieren ihr Gebetbuch und wiegen sich selbstvergessen hin und her. Jede und jeder, der hier betet, spürt die Besonderheit des Ortes und sucht die Verbindung zu Gott. Warum hast du Gott, zugelassen, dass ich oder ein geliebter Mensch an dieser Krankheit leide? Wieso ist da kein Frieden in diesem schönen, heiligen Land? Warum muss ich das hinnehmen, dass es den einen so schlecht, den anderen so unverschämt gut geht?
In den Psalmen haben sie mit Gott gestritten, haben geschrien, geweint und geklagt. Und sie haben getanzt, gelacht und gesungen, weil ihnen Gutes widerfahren ist. Das alles steckt im Gebet. Für mich ist es nichts anderes als ein Reden und Hören, ein Verhandeln und Streiten, ein Loben und Danken in Verbindung mit Gott.
Wer betet, gibt sich nicht zufrieden mit dem, was schon ist. Wer betet, träumt davon, etwas zu bewirken. Wer betet, geht davon aus, dass Gott sich etwas daraus macht, was wir denken, dass er sich vielleicht sogar beeindrucken lässt von unserer Klage, unserem Bitten, unserem Flehen.
Lässt Gott sich bewegen durch unser Gebet? Oder bewegt er vielmehr uns, die Betenden, die wir in Gedanken und Worten vor ihn bringen, was uns auf der Seele liegt? Zu dieser Frage ist viel gestritten und geschrieben worden. Meine Antwort als Theologin ist: Beten ist keine Einbahnstraße. Ich glaube, dass meine Bitte gehört wird und dass mein Gebet etwas ändern wird. Beten aber heißt nicht: „Wünsch-dir-Was“ – oft wird alles ganz anders, als ich es für möglich hielt. Beten bewegt und es macht was mit mir.

Der Blick geht nach oben
Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung – der Brief an Timotheus kennt eine Fülle von Optionen und verschiedenen Wegen. Zeige Gott, was du denkst, er wird dich verstehen.
Und auch für die Mächtigen sollen wir beten, für Könige, Despoten, dass sie zur Vernunft kommen. Für unsere Politikerinnen und Politiker, dass sie mit Weisheit und mit Empathie gesegnet seien. Für alle Mächtigen und die, die sie beraten, dass sie in Krisenzeiten einen klaren Verstand bewahren und das Vertrauen, das wir in sie setzen, hochhalten.
Wir, die wir hier unten sind, schauen in den Himmel, auf Gott, und setzen unsere Hoffnung auf Jesus, der nicht nur im Himmel, sondern auch auf der Erde zuhause ist. Jesus, der Auferstandene, der weiß, wie es sich anfühlt, auf den Tod zu warten. Er hat ihn hinter sich gelassen, er kam zurück in seines Vaters Haus. Jesus, der Menschensohn, der uns gezeigt hat, dass da ein Vater ist im Himmel, mit dem ich reden kann, einfach so.
Heute, am Sonntag Rogate, geht der Blick ganz nach oben. Im Gebet vertrauen wir uns Jesus an: Unsere Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit, unsere Sehnsucht nach Heil und unsere kindliche Nostalgie, die fest daran glaubt, dass es eines Tages gut sein wird. So gut, wie es bei Gott am Anfang war – und am Ende sein wird. Amen.

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastorin Dr. Karoline Läger-Reinbold

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
In vielen Gemeinden werden in diesen Wochen Konfirmationen gefeiert. Gerade in diesem Kontext wird die Frage nach der Praxis des Glaubens immer wieder gestellt. Das Gebet ist für mich das Herzstück unserer Frömmigkeit und Liturgie. Darüber zu sprechen ist nicht nur zu Rogate eine gute Idee. 

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Bei allen Vorbehalten, die ich an die Inhalte der Pastoralbriefe formulieren könnte: Die Fürbitte für alle Menschen, besonders aber auch für die Mächtigen dieser Welt, ist hoch aktuell. Ich höre aus dem Text eine große Sehnsucht, die ich teilen kann – die Sehnsucht nach Rettung und Heil.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass alle Nostalgie, alles Träumen von einer besseren Vergangenheit, im Grunde die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ist. Es gibt eine Reihe von Liedern, die diesen Gedanken vertiefen, z.B.: „Halte deine Träume fest“ (Durch Hohes und Tiefes 308), „Da wohnt ein Sehnen tief in uns“ (Durch Hohes und Tiefes 112). 

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Über die Kraft des Gebets zu sprechen ist eine lohnende Aufgabe, auch unter Kolleg*innen im geistlichen Amt.     

 

Perikope
07.05.2023
2,1-6a

Christnacht - Predigt zu 1. Timotheus 3,16 von Bernd Vogel

Christnacht - Predigt zu 1. Timotheus 3,16 von Bernd Vogel
3,16

Und groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens:

Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.

Johnny Augustus. Mit hochgerecktem Kinn stand Johnny er da und zeigte mit seinem rechten Arm in die fernen Enden seines Reiches. Unter ihm zwei andere Jungen, die je einen Aspekt des Kaisers Octavian, genannt ‚Augustus‘, der Erhabene, verkörperten. Der eine kniete vor Johnny und breitete wie zum Segen seine Arme über den Erdkreis aus. Der andere stand rechts von Johnny und zeigte seine angespannte rechte Faust. Man konnte sich ein römisches Kurzschwert dazu denken. Pax Romana, der ‚römische Friede‘, erzwungen durch die Gewalt der römischen Armeen.

Das in der Reihenfolge erste Standbild im Weihnachtsgottesdienst der 8. und 9. Klassen der Integrierten Gesamtschule Lüneburg. Es folgten weitere: Die Hirten auf dem Felde und die Engel, Maria und Josef und das Kind, die Hirten und Maria, die alle die Worte der Hirten in ihrem Herzen bewegte, ordentlich, aber eher allzu demutsvoll und darum auch etwas ironisch dargestellt von Elias.

Das kommt dabei heraus, wenn wir das Wort von der Heiligen Nacht in unsere tatsächlichen Seelen und Leiber fallen lassen, wenn das ‚Wort Gottes‘, wie es früher selbstverständlich hieß, sich in die Hände und Gesten von 14-Jährigen gibt.

Und wir? Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Junge und Altgewordene? Frauen und Männer und wer auch immer wir sind? Wie ist das bei uns, wenn die alten großen Worte, 2700 Jahre alt, millionenfach gelesen, gehört, verstanden, unverstanden, beherzigt, verworfen, für wahr und für Irrtum und Gewäsch gehalten, voller Tiefsinn oder unsinniger Utopie zu uns kommen durch die Lesung, durch die eigenen Augen und das Gehör, gelesen von einem Anderen für uns?

Wie geht uns das, wenn uns diese Worte erreichen, ereilen, ertappen? Was davon rührt in uns etwas an? Sind es einzelne Worte, Sprachbilder? Werden Erinnerungen wach? Psychologen, Philosophen und Literaturwissenschaftlerinnen wissen schon lange: Im Grunde verstehen wir nur neu, was wir einmal schon verstanden haben. Am besten verstehen wir Bilder. Dann kann es eine uns meistens unbewusste Verbindung geben zwischen den Bildern, die in den Worten stecken, und den Bildern der Seele, die in uns selber verborgen wohnen. Tief in unserem Hirn sind keine abstrakten Sätze abgespeichert wie etwa: „In Jesus ist Gott Mensch geworden“. Stattdessen geht unser uns selbst verborgenes ‚Ich‘, gehen wir dort in den Tiefen des Unbewussten durch einen Bildersaal. In ihm hängen an den Wänden die uns wichtigsten Bilder. Von frühester Zeit an, Forscher*innen und Theolog*innen sagen es mit unterschiedlichem Akzent beide: Schon im ‚Mutterleibe‘ sind wir bebildert, sind wir von Gott ‚gebildet‘ (Ps 139). Was wir sicher wissen können: Es wohnen in uns die Bilder, mit denen wir unser Leben so oder so bestehen. Was wir nicht naturwissenschaftlich beweisen, aber hoffen und glauben können: Indem wir ‚gebildet‘ wurden, hat sich uns der Schöpfer selbst eingebildet: Wir sind alle, jede und jeder auf eigene Art, ‚Ebenbild‘ Gottes. Das ist das entscheidende ‚Bild‘ in uns allen. Das sind wir selbst. Ebenbild Gottes.

Johnny z. B.: Könnte sein, dass er selten so stolz da stand wie jetzt als der erhabene Kaiser ‚Augustus‘. Johnny, auf den der Lehrer ein besonderes Auge haben soll, ihn fordern und vor allem fördern; denn eine IGS ist eine Schule für alle. Manchmal bis zur Erschöpfung muss da differenziert und gefördert und gesondert beurteilt werden. In diesem Moment aber war Johnny kein Förderkind, sondern der Kaiser Augustus; und niemand lachte.

„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot ausging von dem Kaiser Augustus …“ Vielleicht nicht die wichtigsten Worte aus der lukanischen Weihnachtsgeschichte, aber die ersten, die eröffnenden – und für Johnny waren sie, vielleicht nur für Sekunden, aber immerhin, eine Erfahrung, die das Selbstbild in ihm wachrief, er wäre jemand mit Würde und Erhabenheit. So stellte er sich jedenfalls zu ihnen auf mit weit ausgerecktem Arm.

Wenn uns ein Wort eines anderen Menschen zu Herzen geht, dann nicht nur deshalb, weil wir Interesse an diesem Menschen haben, der es uns gesagt hat, weil wir einen Zweck damit verbinden, den er an uns erfüllt. Ein Wort, das uns wirklich unter die Haut geht, ins Herz fährt, in die Tiefen unserer Seele gelangt, dorthin, wo wir bewusst gar nicht sagen können, was da alles an Bildern hängt in jenem Saal … das trifft uns deshalb so tief, weil wir jenseits aller Zwecksetzungen unmittelbar spüren: Der Mensch meint ja MICH! Der hat ja wirklich MICH gesehen und erkannt. Der ist ja tatsächlich ganz MIR zugewandt. Der bestätigt ja gerade MIR, dass ich auf der Welt da bin, mit völligem Recht und so, wie ich bin, mit letztem Grund, weil und insofern ich das EBENBILD nicht irgendeines Menschen, auch nicht von Vater und Mutter, bei allen Ähnlichkeiten, bin, sondern das Ebenbild GOTTES!

Wenn uns das Wort eines anderen Menschen – etwa in einem Liebesbrief, einer Kurz-Nachricht, einem zugesandten Foto und dergleichen – derart erreicht und betrifft, dann sprechen Predigerinnen und Theologen davon, dies sei möglicherweise und möglicherweise ganz bestimmt das WORT GOTTES gewesen, das in uns gefallen ist und das diese Wirkung in uns entfacht hat wie ein auf’s Ende gesehen nie ausgehendes Feuer, dem wir also nur staunend und dann auch dankbar zustimmen können.

Das „Geheimnis des Glaubens“. Spätestens seit Immanuel Kant, seit über 200 Jahren, wissen nicht nur die sogenannten Gebildeten unter uns, sondern weiß es fast instinktiv jedes Schulkind in diesem Lande, dass wir von „Gott“, wenn überhaupt, dann nur in Anführungszeichen unten und oben sprechen können.

Bis zum Abitur habe ich in meinen Religionskursen mit der Schülerfrage zu tun: Was stimmt denn nun: Die Evolutionstheorie oder die Bibel, in der steht, dass Gott die Welt in sechs Tagen (die meisten sagen: 7, aber geschenkt) geschaffen habe. Da hilft es nicht so viel, wenn ich sage: Das eine handelt vom ‚Wie‘, das andere vom ‚Sinn‘ der Welt. Die Naturwissenschaftler erkunden die genauen Abläufe. Sie ahnen am Ende nur den ‚Anfang‘ und können gedanklich nicht vor den Anfang von Zeit und Raum denken. Was war vor dem ‚Urknall‘? Diese Frage kann kein Naturwissenschaftler sinnvoll beantworten. Die Theologen und Theologinnen, die Prediger und Predigerinnen etwa jetzt zu Weihnachten sprechen dagegen vom Sinn des Ganzen: Welchen Sinn hat es vielleicht, als Mensch auf dieser Erde ein paar Jahre zu leben und dann zu sterben, als wäre man nie gewesen? Meine Schüler und Schülerinnen nehmen eine solche Antwort mehr oder weniger respektvoll zur Kenntnis; aber – ich sehe es an ihren Gesichtern – es überzeugt sie kaum.

Es gibt viele Gründe, warum die Skepsis so tief sitzt. Ein fast schon eingefleischter, tagtäglich eintrainierter ‚Glaube‘ ‚an‘ die Künste der Naturwissenschaft und Technik spielt eine Rolle. Zugleich merken auch Jugendliche, die täglich stundenlang mit ihrem Handy beschäftigt sind, wie brüchig das Eis ist, auf dem wir alle stehen mit unserem fast blinden Vertrauen in unser Wissen und Können. Der Jahrhunderte lang gepflegte Hochmut vieler Prediger und Kirchenführer spielt auch eine Rolle. Viele Menschen nehmen den Theologen ihre Worte nicht mehr ab, weil so lange so viel Gerede darin war, so viel ‚fake‘-news, statt Ehrlichkeit und echten Zweifeln und echtem Glauben.

Ich denke aber, die Schwierigkeit zu glauben im 21. Jahrhundert liegt noch tiefer, auch jenseits von gemachten Fehlern seitens der Kirche und Irrglaube auf Seiten der sogenannt modernen Menschen. Es scheint das „Geheimnis des Glaubens“ noch nicht ansatzweise verstanden worden zu sein, so, wie wir versuchen könnten es zu verstehen. Um auch nur einen Hauch davon heute Abend zu verstehen, ist nach all den Gedanken und Worten noch eine letzte Vertiefung nötig, die uns allen einiges abverlangt.

Sehen Sie, seht ihr zu, ob ihr diesen gedanklichen Weg noch mitgehen wollt und könnt. Im Grunde steht alles in unserem Predigttext aus dem 1. Timotheus, den wir eingangs schon hörten:

Und groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens: Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.

Wenn uns das Wort eines anderen Menschen derart erreicht, dass wir bis in die Tiefe unserer Seele berührt und bewegt sind, wenn unsere Sehnsucht erwacht, wenn Tränen fließen, wenn wir am liebsten sofort einen Menschen umarmen möchten oder etwas Dringendes gerade rücken, wenn uns danach ist, dass an dieser oder jener Stelle unser Leben tatsächlich noch einmal neu und anders werden soll, einfach, weil das Leben nicht mehr zu uns passt, so, wie wir wirklich sind als Ebenbild Gottes, dann hat uns möglicherweise Gott mit Gottes Wort erreicht. Dann ist Jesus Christus in uns geboren, wie es in den Weihnachtsliedern heißen kann. „O lass mich doch dein Kripplein sein; komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden“ (Paul Gerhardt).

Das „Geheimnis des Glaubens“ ist „offenbart“ im „Fleisch“. Gemeint ist natürlich, dass Gott in Jesus Mensch geworden ist, dass das Kind in der Krippe GOTT ist … Gemeint ist das ‚natürlich‘ … was heißt denn das? Das kann doch kein Mensch verstehen, der bei gesundem Verstand ist! Ich meine das nicht rhetorisch und irgendwie ‚fromm‘, als hätte ich da eine gedankliche Lösung. Nein, der Gedanke, dass Gott Mensch wird, ob in einem Kaiser oder in einem Krippenkind, was die Angelegenheit vielleicht noch verschärft, ist für Menschen des 21. Jahrhunderts gedanklich nicht nachvollziehbar. Es ist aufgrund unserer Geistes- und Kulturgeschichte einfach nicht plausibel, dass die Geburt Jesu damals in Bethlehem genauso, wie Lukas es erzählt, abgelaufen sein könnte.

Warum z. B. sollte Gott nur damals einmal so wunderbar gehandelt haben, bis hin dazu, dass er den Kaiser Augustus einen Befehl erlassen lässt – ohne dass der weiß, dass er Werkzeug des einen Gottes Himmels und der Erden ist – aufgrund dessen Josef mit Maria aus Nazareth nach Bethlehem zieht, wo dann Jesus geboren wird als der Davidsohn in der Davidstadt? Warum scheint Gott heute nicht mehr so zu handeln, wo doch überall Not ist? Warum befiehlt Gott nicht dem Trump zurückzutreten und anderen Despoten nicht Demut und Vernunft für bessere Politik?

Die Geschichte, die die Hirten von den Engeln hören, ist genauso, wie sie ‚da‘ ‚steht‘, wahrscheinlich nicht geschehen. So denken wir heute einfach vom Ausgang der Kindheit an. Das ist unsere Kultur. Die üben wir jeden Tag auf’s Neue ein. Wir programmieren unsere Gehirne. Damit kann man, wenn man Glück hat, alt werden und, solange man auf der wohlhabenden Seite der Erde geboren ist, einigermaßen satt und manchmal auch glücklich leben, bis man eines Tages stirbt wie vor einem selbst die anderen, die es nicht so gut getroffen haben. Warum auch immer.

Das „Geheimnis des Glaubens“ ist nun in dieser Lage für uns im 21. Jahrhundert in Deutschland vielleicht das, dass wir durch diese dunklen Erkenntnisse hindurch müssen, um es Weihnachten werden zu lassen. Es ist uns verwehrt, das alles nicht zu wissen, was wir wissen. Wir sind herausgefallen aus der der Kindheit ungetrübter Hoffnungen und Träume. Wir wissen von der Geschichte und von uns selbst darin. Daraus erlöst uns direkt kein Gott und kein Götze. Man kann sich betrügen, einnebeln, abnabeln von der Welt. Man kann sich religiöse oder sonstige kleine Fluchten suchen und abtauchen in Scheinwelten, in Bilderfluten alltäglich. Das alles rettet uns nicht unsere Seele.

Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist. Im ‚Fleisch‘ unseres wirklichen Lebens IST offenbart der Sohn Gottes. In den ganzen Gefühlen und Gedanken IST Gott Mensch in uns. Das erkennen wir nicht anders als durch den und im GEIST. Das bedeutet hier „gerechtfertigt“ im Geist. Gottes Geist ist die einzige Macht, die uns unseren Glauben, unsere Hoffnung, unsere Liebe erweckt, erneuert und bewahrt, d. h. recht fertigt. Auf uns selbst gestellt, sind Zweifel, Stimmungen, Depressionen viel zu stark. Wir können unseren Glauben nicht begründen, weder intellektuell, noch psychisch.

Es geht hinunter in jenen Bildersaal der Seele. Dorthin können wir uns zumindest willentlich auf den Weg machen. Nichts erzwingen. Nichts sich selber einbilden. Nur die Sehnsucht wird uns leiten. Und dann halten wir Ausschau. Und hören.

erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.

Den Engeln ist Jesus als der Sohn Gottes, als der Sinn unseres Lebens, als unsere Hoffnung auf Erfüllung unserer Sehnsucht bereits „erschienen“. Das lässt sich nicht beweisen. Davon lässt sich erzählen. So wie Lukas von den Engeln auf den Feldern von Bethlehem erzählt, die wiederum den Hirten erzählen, was es mit dem Kinde auf sich hat, die wiederum Maria und Josef erzählen …, deren Nachfahren es den ‚Heiden‘, d. i. den Völkern der Welt ‚predigen‘. So wird Gott „geglaubt in der Welt“ und ist Jesus schon „aufgenommen in die Herrlichkeit“ Gottes, von woher seine Herrlichkeit, sein unendlicher Lichtglanz unsere finstreren Herzen und dumpfen Geister erhellt und erleuchtet.

Der Schweizer Theologe Karl Barth, dessen 50. Todestag wir dieses Jahr begehen, hat am Abend vor seinem Tod seinem Freund Eduard Thurneysen ins Telefon gesagt:

„Ja, die Welt ist dunkel. Aber nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, sondern es wird regiert, und zwar hier auf Erden, aber ganz von oben, vom Himmel her! Gott sitzt im Regimente! Darum fürchte ich mich nicht. Bleiben wir doch zuversichtlich auch in den dunkelsten Augenblicken! Lassen wir die Hoffnung nicht sinken, die Hoffnung für alle Menschen, für die ganze Völkerwelt! Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns und uns alle miteinander nicht! – Es wird regiert.“1 

 

1 I Zitiert nach K. Kupisch, Karl Barth in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Stuttgart 1977, 135.

Perikope

Bier und Zigarren – Predigt zu 1. Timotheus 3,16 von Frank Nico Jaeger

Bier und Zigarren – Predigt zu 1. Timotheus 3,16 von Frank Nico Jaeger
3,16

Als alles vorbei war setzten sich mein Vater und mein Großvater immer an den runden Tisch im Wohnzimmer. Jeder machte sich eine Flasche Bier auf und, das war das Geheimnis, irgendwann verteilte mein Vater für jeden eine Zigarre.

Der Stress der letzten Tage war weg, der Alltag verblasste und im Regelfall waren alle Beschenkten glücklich. Und als ich alt genug war durfte ich auch an diesen Runden teilnehmen, trank mein Bier und zog an meiner Zigarre.

Jeder hat ja so ein Ding, das es unbedingt braucht damit es Weihnachten werden kann. Bei Tim Mälzer ist es frische Bettwäsche, bei meiner Oma war es der selbstgemachte Kartoffelsalat mit Würstchen und bei meinem Vater, meinem Großvater und mir waren es eben die nächtlichen Zusammenkünfte am Wohnzimmertisch. Gar nicht um viel zu reden. Wir wollten bloß Zeit miteinander verbringen und diesen besonderen Tag ausklingen lassen. Dabei tranken wir meist still unser Bier, rauchten unsere Zigarren und freuten uns darüber, dass es so war, wie es war. Und obwohl meine Mutter am nächsten Morgen deswegen immer ziemlich stinkig war - wenn diese Runde begann war Weihnachten.

Ja! Groß ist das Geheimnis der Weihnacht und genauso groß ist das Geheimnis des Glaubens das uns diese Nacht beschert hat, sagt der Predigttext für diese Nacht und das stimmt.

Wer kann schon erklären, was sich damals und wie genau abgespielt hat? Die Hoffnung des ganzen Erdkreises trifft sich in einem kleinen Kind?

Solch ein Geheiminis ist tatsächlich eine Provokation. Und das in unserer Zeit, in der wir Sonden zum Mars und Menschen erst ins All und dann wieder zurück schicken. Wir können querschnittsgelähmte Menschen wieder aufrecht stehen lassen und das Erbgut von Menschen verändern. Wir gewinnen Öl aus Sand und Strom aus Wind. Schon bald werden die ersten selbstfahrenden Autos auf unseren Straßen völlig normal sein.

Es ist alles erklärt und es ist alles gesagt. Ist in einer Welt in der alles machbar erscheint Platz für eine derartige Herausforderung? Platz für die alte Erzählung von der Geburt eines Königs im Stall?

Ja! Groß ist das Geheimnis des Glaubens.

Und darauf kann man sich einlassen. Das kann man aushalten, denn Weihnachten ist ein Eintritt in eine andere Welt. Ist es das nicht, ist es nicht Weihnachten! Nichts gegen ein warmes Gefühl im Kreise der Lieben nach der Bescherung, aber was für ein Fest wäre Weihnachten, ginge es nur um ein paar wohlige Stunden vor dem Kamin, im Fernsehen läuft „Tatsächlich … Liebe“ und der liebste Mensch von allen holt noch schnell einen warmen Tee aus der Küche.

Ja! Groß ist das Geheimnis des Glaubens.

Weihnachten greift etwas Fremdes nach uns und Sie spüren das auch, denn sonst wären sie nicht hier. Ihr Kommen bedeutet, dass Sie auch nicht damit rechnen, dass alles berechenbar ist und sie anerkennen damit, dass es nicht auf alle Fragen eine Antwort gibt.

Keine Angst, Sie stürzen trotzdem nicht ins bodenlose, denn da ist Trost in dieser Erkenntnis; denn das bedeutet, dass weder der Pfarrer, noch alle Professoren, weder Präsidenten noch sonstige selbsternannte Weltenretter ein allerletzter Maßstab für uns sein können. Denn trotz all ihrer Worte, Zusagen und Berechnungen können diese doch auch nicht verhindern, dass ein Kind weint, eine Frau geschlagen wird und ein Mann verzweifelt. Sie verhindern auch nicht die Kriege unserer Tage und sie lösen auch nicht unsere Probleme von der die Welt auch nach den Tagen des Kaisers Augustus immer noch mehr als genug hat.

Ja! Groß ist das Geheimnis des Glaubens und zahlreich sind die Rituale zum Fest. In einer kalten und unfreundlichen Welt, voller falschem Glanz und voller „Wenn“ und „Aber“ ist es gut sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Also Gott seine Arbeit machen zu lassen und ihm dabei möglichst nicht im Wege zu stehen, wenn er versucht, die Hässlichkeiten dieser Welt zu erhellen.

Zurück ins zugequalmte Weihnachtswohnzimmer: Eigentlich wollten wir unser Geheimnis immer gerne für uns behalten, aber die schweren Rauchschwaden hüllten zuerst uns, dann den Tisch und schließlich den ganzen Raum samt Weihnachtsbaum ein. Am nächsten Morgen stank das Wohnzimmer natürlich erbärmlich nach kaltem Rauch und auch alles Lüften in der Nacht konnte das Schlimmste nicht verhindern, weil der Qualm sich im Raum festgesetzt hatte.

Ja! So groß wie das Geheimnis des Glaubens, so groß ist auch diese Nacht. Aber das ist auch an 364 anderen Tagen im Jahr nicht anders. Denn die Geschichte mit Gott und seinen Menschen passiert jeden Tag, auch wenn die Welt versucht ihn nur einmal im Jahr rein zulassen.

Es bringt nichts, denn Gott hat sich längst festgesetzt, so wie der Rauch in unserem Wohnzimmer.

Frohe Weihnachten.

Perikope

Geheimnisvoll – Predigt zu 1. Timotheus 3,16 von Matthias Loerbroks

Geheimnisvoll – Predigt zu 1. Timotheus 3,16 von Matthias Loerbroks
3,16

Eine geheimnisvolle Zeit – schon wenn Weihnachten herannaht. Bei Kindern ist das deutlich, die angesichts all der Heimlichkeiten vor Neugier platzen, aber auch ihrerseits großen Wert auf Geheimhaltung legen bei ihren Produktionsprozessen und bei ihren Produkten. Doch auch wir Erwachsenen spüren in dieser Zeit so etwas wie eine geheimnisvolle Atmosphäre: irgendetwas liegt in der Luft, bewegt unser Herz, berührt unsere Seele. Es ist zwar nicht so, dass wir in dieser Zeit bessere Menschen werden, aber ein bisschen anders schon – etwas weicher, etwas weniger hartgesotten, empfänglicher, weniger verschlossen, weniger eng als sonst. Und jetzt, da nun richtig Weihnachten ist, nämlich Nacht, spüren wir dies Geheimnisvolle noch stärker.

Auch Menschen, die ganz gut ohne Gott und ohne Jesus, ohne das Evangelium zurechtkommen, beschleicht in dieser Zeit die Ahnung, wenigstens der Anflug einer Ahnung: vielleicht ist doch was dran an der Jesusgeschichte; vielleicht ist unsere Welt doch keine völlig gottverlassene Gegend. Gewiss sind nun nicht alle Menschen angerührt und verzaubert. Weihnachten ist auch die Zeit, in der Einsame ihre Einsamkeit schmerzhafter empfinden; in der aber auch Menschen, die durchaus nicht allein, sondern mit anderen zusammen sind, es irgendwie schaffen, einander besonders kräftig auf die Nerven zu gehen, sich besonders heftig in die Haare zu geraten. Doch auch das zeigt ja: es ist eine besondere Zeit; auch das Vermissen von so etwas wie Licht und Wärme, von Frieden ist ja ein starkes Gefühl, das darauf hindeutet: es ist eine geheimnisvolle Zeit; Weihnachten selbst ist eine Art Geheimnis. Ein Geheimnis ist ja etwas anderes als ein Rätsel, das seinen Reiz verliert, wenn es gelöst ist. Ein Geheimnis hingegen behält seinen Reiz, seinen Zauber auch dann, wenn man ihm nachdenkt und nachspürt, es zu ergründen versucht. Und diesen Reiz, diesen Zauber wollen wir dem Geheimnis gar nicht nehmen, indem wir es in jeder Hinsicht plattmachen.

Nun verrate auch ich sicher nicht meinerseits ein Geheimnis, wenn ich sage, dass auch Theologen und Theologinnen etwas verwundert und erstaunt sind, dass nun gerade Weihnachten diese große Bedeutung, diese geheimnisvolle Wirkung hat. Vielleicht sind manche von ihnen sogar ein bisschen verschnupft darüber, denn z.B. die Osterbotschaft ist doch viel aufregender: der Gekreuzigte wurde auferweckt, der zu Tode Gequälte lebt, der Allerletzte ist zum ersten geworden – das ist doch eine Nachricht, die schier Alles auf den Kopf stellt; die bestehende Welt aus den Angeln hebt. Und schließlich wuchs, blühte und gedieh die Christenheit auch viele Jahre ohne jedes Weihnachtsfest; schließlich kommen zwei unserer vier Evangelien ganz ohne eine Geburtsgeschichte aus. Doch auch die Theologen, jedenfalls wenn es gute Theologen sind, werden nun nicht die verschnupften Nasen rümpfen über die erstaunliche Wirkung der Weihnachtsgeschichte, das lebhafte Echo, das sie Jahr für Jahr hervorruft, sondern sie lassen sich anstecken von dieser geheimnisvollen Atmosphäre, verstehen es zumindest als Wink und Fingerzeig, dass nun gerade Weihnachten, nicht Ostern oder Pfingsten, das Fest ist, an dem besonders viele Menschen vom Evangelium berührt, bewegt und bezaubert werden.

Und geheimnisvoll ist sie auch, die Weihnachtsgeschichte des Lukas, die wir gerade wieder gehört haben: der Kaiser in Rom, der den Beschluss fasst, alle Welt auszunehmen, und die militärischen Mittel hat, ihn durchzusetzen – und demgegenüber eine junge Frau, die schwanger ist, guter Hoffnung, die mehr erwartet als ein Kind: eine neue, eine andere Welt, was auch in uns zaghafte Hoffnungen weckt. Sie finden keinen Raum, keinen Ort – das erinnert uns daran, dass auch wir dazu neigen, Gott und Jesus zu verdrängen, ihrem Einfluss keinen oder nur wenig Raum geben in unserem Leben. Doch die frohe Botschaft ist: Jesus kommt trotzdem, schafft sich Raum, nicht nur in unseren Herzen, auch im Weltgeschehen. Da gibt es Hirten, deren Nacht plötzlich strahlen hell wird – und wir sehnen uns danach, dass das auch mit unseren Finsternissen geschehen möge, denen in uns und denen in der Politik, in der Gesellschaft. Ein Bote des Gottes Israels bringt eine Botschaft, die sich – wie die des Kaisers – an alle richtet, doch er verkündet Freude allem Volk, denn der Heiland, der Befreier, der Messias ist geboren. Und dann stellt sich heraus: auch der Gott Israels, nicht nur der Kaiser, verfügt über Streitkräfte, eine ganze Menge himmlischer Heerscharen. Doch die setzten nun nicht ihrerseits mit militärischen Mitteln das Reich Gottes gegen das Kaiserreich durch, sondern loben und preisen Gott, besingen einen Zusammenhang zwischen der Ehre Gottes im Himmel und dem Frieden auf Erden. Könnte da was dran sein? Sind wir so friedlos in uns selbst und unter uns, weil wir selbst ehrgeizig sind, statt Gott die Ehre zu geben, ihn verdrängen, ihm keinen Raum geben? Das Zeichen, das der Verkündigungsengel den Hirten nennt, deutet deutlich darauf hin, dass Gott nicht auf große Männer setzt: ein neugeborenes Kind, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend, in einer Notunterkunft zur Welt gekommen – das soll der Befreier sein? Gottes Held, der die Welt reißt aus allem Jammer? Ein hilfloses und hilfsbedürftiges Kind, wehrlos; ein Mensch, der später von anderen Menschen verraten, verkauft und umgebracht wird. Das klingt in der Tat geheimnisvoll, das klingt aber auch etwas abenteuerlich. Wir wundern uns, wir staunen, sind aber auch etwas beklommen. Die Hirten aber teilen diese Skepsis nicht, sondern machen sich eilends auf, wollen das, was sie gehört haben, nun auch sehen. Und werden selbst zu Engeln, zu Boten Gottes – verkünden, was sie gehört haben, loben und preisen nun selbst Gott. Und alle staunen. Auch Maria, die doch schon eingeweiht war in dies Geheimnis, ist auf die Botschaft dieser Verkündigungs- und Deute-Engel angewiesen, bewahrt und bewegt ihre Worte in ihrem Herzen. Ich wünsche mir, auch so ein Hirt zu sein, der weitersagt, was er gehört hat, und damit – nicht nur zur Weihnachtszeit, allem Volk große Freude verkündet, Gott in der Höhe die Ehre gibt und Ehre macht und so auch beiträgt zu Frieden auf Erden.

Der Predigttext nimmt dies allgemeine Staunen auf – ein uraltes Lied, das sich im 1. Timotheusbrief findet, kein Weihnachtlied, aber ein Jesus-Lied und damit jedenfalls auch ein Weihnachtslied:

Darin stimmen alle überein: Groß ist das Geheimnis des Glaubens:

Er – Jesus Christus – ist erschienen im Fleisch,

gerecht gesprochen im Geist,

zu sehen gegeben den Engeln,

verkündet unter den Völkern,

geglaubt in der Welt,

hinaufgenommen in die Herrlichkeit.

Groß ist das Geheimnis des Glaubens – das ist Luthers Übersetzung, und der staunende Ausruf „Geheimnis des Glaubens“ ist in manchen Kirchen Teil der Liturgie. Doch diese Übersetzung ist zu massiv – wer wagt schon, vollmundig zu behaupten: ich glaube?; und wer ist so kaltblütig zu sagen: ich glaube das alles nicht? Das Wort, das da steht, ist zarter, schwebender. Geheimnis der Frömmigkeit, könnte man übersetzen und tut das auch hier und da, aber das ist nicht recht hilfreich, weil wir bei fromm und Frömmigkeit an Menschen denken, die ein bisschen eng sind, vielleicht liebenswert, aber doch etwas weltfremd. Das Geheimnis der Anbetung, könnten wir sagen – ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht sattsehen, und weil ich nun nicht weiterkann, bleib ich anbetend stehen. Oder: das Geheimnis der Ehrfurcht, was vielleicht noch deutlicher unser Staunen, das geheimnisvolle Berührtsein ausdrückt. Denn mit Geheimnis ist ja nicht gemeint, dass unser Glaube, unsere Frömmigkeit, unsere Anbetung, unsere Ehrfurcht so geheimnisvoll sind, sondern ihr Gegenstand ist das Geheimnis: Jesus Christus.

Der Lieddichter – oder die Dichterin – versucht nun nicht, dies Geheimnis zu lüften, zu enthüllen, aber doch, es in Worten zu beschreiben und so: zu bewundern, zu bestaunen, auch zu feiern. Und nicht nur die Worte, auch die Form dieses Lieds sollen den Inhalt dieses Geheimnisses ausdrücken, das Stauneswerte der Jesusgeschichte: in drei Doppelzeilen wird jeweils das Obere mit dem Unteren, das Himmlische mit dem Irdischen, das Göttliche mit dem Menschlichen verbunden – wie im Engelgesang die Ehre Gottes in der Höhe mit dem Frieden auf Erden. Wären wir Romantiker, könnten wir vielleicht singen und sagen: in der Weihnacht hat der Himmel die Erde still geküsst. So romantisch ist unser Lied nicht, versucht aber in seiner Weise ein solches Zusammenkommen von Himmel und Erde auszudrücken.

Erschienen im Fleisch: Jesus wird geboren, ein Mensch von Fleisch und Blut, ein Mensch wie wir alle, ein Mitmensch aller Menschen. Und ist doch anders als wir: gerecht gesprochen im Geist – ein Mensch, der so vom Geist Gottes erfüllt und beeinflusst ist, dass er Gott recht ist, Gott selbst in diesem Menschen redet und handelt, in ihm seine Menschlichkeit zeigt.

Während das erste Zeilenpaar vom Irdischen – Fleisch – zum Himmlischen – Geist – ging, ist es beim zweiten umgekehrt: zu sehen gegeben den Engeln, verkündet unter den Völkern. Engel sind ja Boten Gottes. Die bekommen nun zu sehen, dass Menschen selbst zu solchen Boten werden, den Völkern der Welt das Evangelium von Jesus Christus verkünden. Menschen aus allen Völkern sind durch diese Botschaft zu Anhängern des Gottes Israels geworden, aus allerlei inneren und äußeren Zwängen befreit. Das ist ein Bild – nicht für die Götter – die blicken eher grimmig und besorgt auf dies Geschehen –, aber für die Engel, die nicht neidisch und eifersüchtig, sondern voller Freude ihren irdisch-menschlichen Mitmachern zusehen und wohl auch beistehen.

Das dritte Zeilenpaar geht wieder von unten nach oben: geglaubt in der Welt, hinaufgenommen in die Herrlichkeit. Da fällt es nun doch, das große Wort Glauben. Ja, Jesus hat Glauben gefunden, hat Vertrauen erweckt – vielleicht ein zaghaftes, ein brüchiges, ein immer wieder verschüttetes Vertrauen, aber doch in jeder Generation immer wieder neu, mal bei vielen, mal bei nur wenigen Menschen. Und das liegt nicht nur daran, dass seine Worte und Taten so eindrucksvoll waren, zeigt nicht nur die lange Wirkungsgeschichte eines großartigen Menschen. Jesus wurde aufgenommen in Gottes Herrlichkeit, er lebt und kann darum in aller Welt und in allen Zeiten wirken. Und er hat dabei nicht aufgehört, Mensch zu sein; in ihm sind wir alle bei Gott aufgenommen, in ihm haben wir alle bei Gott Sitz und Stimme.

Das kurze Lied macht einen raschen Durchgang durch die Jesusgeschichte, von Weihnachten über Ostern zu Himmelfahrt und Pfingsten, um das Geheimnis dieser Geschichte zu loben und zu preisen: die innige Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und allen Menschen in diesem einen Menschen: Jesus. Gott will nicht nur hoch und erhaben sein, sondern auch niedrig und gering; will nicht ohne uns Gott sein, sondern Gott mit uns. Das alles, diese ganze Geschichte, ist wirklich geheimnisvoll und zum Staunen. So wollen auch wir – wie die Engel, wie die Hirten – Gott loben und preisen, ihm die Ehre geben. Unser Predigttext macht es ja vor: das Wichtigste zu Weihnachten sind die Lieder.

Amen.

Perikope

Christmette 2018 – Predigt zu 1. Timotheus 3,16 von Martina Janßen

Christmette 2018 – Predigt zu 1. Timotheus 3,16 von Martina Janßen
3,16

„Die Geschenke, die ich als Kind an Weihnachten bekam, habe ich alle schon vergessen. Aber Jahr für Jahr stellt sich für mich zur Weihnachtszeit ein besonderes, unverwechselbares Gefühl ein; das verliere ich nie (...) die Weihnachtsgeschichten und -lieder tragen mich jedes Jahr wieder in der Erfahrung des Besonderen.“ Diese Worte des früheren Arbeitsministers Norbert Blüm kann ich nachempfinden. Weihnachten hatte auch für mich als Kind immer etwas Geheimnisvolles an sich; es waren ganz besondere Tage, voller Magie und Staunen: Was verbirgt sich wohl hinter den Türchen im Adventskalender? Wie kann ein „Ros‘ entspringen aus einer Wurzel zart und ein Blümlein bringen mitten im kalten Winter“? Auf welchem Weg schleicht sich das Christkind ins Haus? Auch wenn ich mittlerweile längst das Geheimnis um Christkind und Weihnachtsmann gelüftet habe, bleibt jedes Jahr etwas von diesem Zauber, diesem ganz besonderem Glanz, der auf den Weihnachtstagen liegt, so als sei das Staunen aus meiner Kinderzeit nie ganz vergangen.

Als Kind ist man vielleicht offener für die magischen Momente im Leben; man trägt in sich noch ganz unverstellt die Ahnung, dass in den kleinen Dinges etwas Großes - ein Geheimnis - verborgen ist: Das zerbrechliche Wachsgesicht des alten Weihnachtsengels, der Lamettafaden, der sich wie feingesponnenes Gold um die Tannennadeln wickelt, der Duft von Plätzchenteig an den Händen meiner Mutter - aus solchen Momenten sind jene Sternstunden gewoben, die mit ihrem ganz eigenen Glanz unser Herz streifen und ein Geheimnis in sich zu tragen scheinen.

An einen Abend erinnere ich mich ganz besonders: Ich war ein kleines Kind und es war ein strenger Winter – jener Winter, in dem unsere Heizung über Weihnachten ausgefallen war. In unserer Weihnachtsstube stand ein kleiner Heizlüfter, der aber nicht wirklich gegen die Kälte ankam. Alle hatten ihre festliche Weihnachtsbekleidung gegen warme Pullover eingetauscht. Wir boten eine recht eigenwillige Festtagsgesellschaft: tropfende Nasen, klamme Finger um heiße Kakaobecher geklammert und dicke Pudelmützen über der Festtagsfrisur. Irgendwann machte mein Vater das Licht aus und zauberte ein Kleinfeuerwerk aus der Jackentasche, jene kleinen funkensprühenden stabförmigen Feuerwerkskörper mit dem Draht dran, den man in der Hand halten kann. „Wunderkerzen“, auch „Sternenfeuer“, „Sternenwerfer“ genannt. Ganz einfach und preiswert. Zwei Minuten Brenndauer sind lang genug für ein kleines Wunder: Das Aufflackern von tausend Sternen, das Knistern der Funken, der Schein des Lichts auf unseren lachenden Gesichtern, der Geruch von Feuerwerk, die Rauchfiguren, die sich verteilen und irgendwann im Nichts verlieren, all das bleibt unvergesslich. Ein Hauch von Magie, eine Sternsekunde, und das Wissen um ein Geheimnis tief in uns: Gott ist da - mitten unter uns, bei unseren tropfenden Nasen und klammen Händen. Dieses Wissen hat unsere kalte Stube und unsere lachenden Herzen in „magische Orte des Absoluten und der Transzendenz [verwandelt], wo das Wort ein Gesang, das Gehen ein Tanz ist, den es nicht gibt auf Erden. Aber wir gehen ihm entgegen (Michel Houellebecq).“

Es gibt dieses Besondere, diese offenen Geheimnisse, das weiße Feuer zwischen den schwarzen Zeilen. Manchmal spüre ich in mir die „Gewissheit das Schöne zu finden in allem was lebt“ (Dorothee Sölle). Leben erschöpft sich nicht in dem, was an der Oberfläche und offensichtlich ist. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit“ (Joh 1,14). Seit Gott in die Welt gekommen ist, ist alles durchzogen von seiner Gegenwart. Seitdem leuchtet im Dunkel verborgen das Licht, seitdem ist etwas im Menschen heil allem Unheil zum Trotz. Das Geheimnis von Weihnachten: Leben ist mehr, als es auf den ersten Blick scheint, in der Tiefe jeden Lebens ist Gott, unsichtbar, verborgen vielleicht, aber er ist da. Das verändert alles. „Weil Gott in tiefster Nacht erschien, kann unsere Nacht nicht endlos sein.“ (EG 56) Groß ist dieses Geheimnis des Glaubens und es ist heute geoffenbart, hell und klar! Aber wie oft in unserem Alltag sehen wir es nicht mit unseren verfinsterten, verkrümmten und verstockten Herzen! Wie oft sehen wir nur das Dunkel in uns und um uns herum? Wie oft verschließen wir uns vor der Herrlichkeit des Lebens? Wie oft kreisen wir nur um uns selbst, verlieren uns im Kleinen, ohne nach der leuchtenden Tiefe zu fragen, das unser Leben durchzieht? Ein Rabbi hat einmal gesagt. „Wehe, die Welt ist voll gewaltiger Lichter und Geheimnisse, und der Mensch verstellt sie sich mit seiner kleinen Hand.“

Ich habe in den Wochen des Advents jeden Tag versucht, offen zu sein für die gewaltigen Lichter und kleinen Geheimnisse und wieder wie ein Kind das Staunen einzuüben. Das war in der Hektik nicht immer leicht, zwischen all den großen und kleinen Sorgen, die uns ja alle auf unterschiedliche Weise herausfordern und bisweilen auch niederdrücken. Aber ich habe mir vorgenommen, „nicht müde [zu] werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hin[zu]halten“ (Hilde Domin). In der „Gewissheit das Schöne zu finden in allem was lebt“ bin ich jeden Tag eine halbe Stunde durch meine Wohnung, durch die Stadt oder die Natur gegangen, um einen Moment mit ganz eigenem Zauber aufzuspüren und „leuchtende Wurzeln der Sehnsucht aus der Tiefe [zu] heben“ (Nelly Sachs). 24 Fotos habe ich auf meinem Smartphone festgehalten. 24 Lichter und Geheimnisse. 24 Spuren Sternenstaub: Eine Rosenknospe im grauen Novemberpark. Ein abgeliebter Teddybär auf einer Fensterbank. Zwei Blätter an einem Ast im Spiel mit Licht und Wind. Die Karte mit dem Engel im Bücherregal, die mir vor langer Zeit Trost gespendet hat. Das vertraute Lächeln meines Mannes beim Lesen. Bunte kleine Gummistiefel in der Kita an einem Regentag. Der zartviolette Morgenhimmel. Ein Blumenstrauß, behutsam in die Arme eines Grabengels gelegt. Das warme Leuchten des Herrnhuter Sterns in einer dunklen Gasse. 24 Fotos. 24 x die Ahnung, dass sich das Leben nicht in dem erschöpft, was an der Oberfläche und offensichtlich ist. 24 x die Ahnung, dass in der Tiefe eines jeden Lebens ein Geheimnis leuchtet.

Der Schriftsteller Franz Kafka hat einmal einen wunderschönen Gedanken formuliert. „Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie beim richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie.“ Ein Name ist dieser Tage in aller Munde, heute klingt er hell und klar: Wunder-Rat, Friede-Fürst, Gott-Held, Jesus Christus, „offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit“ (1 Tim 3,16).

Amen

Perikope