"Trösten und ermutigen - ein Verbundsystem" - Predigt zu 2Kor 1,3-7 von Elke Markmann

"Trösten und ermutigen - ein Verbundsystem" - Predigt zu 2Kor 1,3-7 von Elke Markmann
1,3-7

Kamila Walijewa kommt mit gerade mal 15 Jahren nach Peking. Sie ist Eiskunstläuferin und tanzt, läuft und springt auf dem Eis, dreht Pirouetten - fast schwerelos. Sie gewinnt die Herzen der Menschen und die Goldmedaille.
Aber dann kommt ein Dopingverdacht auf. Sie steht unter enormem Druck. So stürzt sie bei ihrer letzten Kür mehrfach. Völlig verzweifelt geht sie vom Eis. Als sie zu ihrer Trainerin kommt, wird sie aber nicht etwa getröstet, sondern getadelt.
Wenn das Ihre Tochter oder Schwester oder Enkelin gewesen wäre – wie hätten Sie reagiert?

Situationen, in denen etwas nicht funktioniert – mir fallen einige ein: Die eine fällt durch die Führerscheinprüfung. Der andere steht vor dem Scherbenhaufen seiner Ehe. Manchmal ist es nur ein verbrannter Kuchen oder ein zerbrochenes Glas. Manchmal ist es sehr viel schlimmer.
Ich kann mit solchen Situationen besser umgehen, wenn ich nicht allein bin. Ich gehe mit mir selbst ähnlich um wie die Trainerin mit der Eiskunstläuferin: „Was soll denn das jetzt? Du kannst es doch eigentlich!“ Wie damals, als eine Frau an der Tür eine Geschichte erzählte, warum sie unbedingt Geld brauche für eine Fahrkarte. Und die sei teuer. Sie wohne da drüben in dem Haus. Ich könne gerne vorbei kommen, wenn ich ihr nicht glaube. Ich gab ihr das Geld. – Und sah die Frau und das Geld natürlich nie wieder. Und eigentlich wusste ich, dass diese Geschichte erfunden war.
Was mir dann hilft: Ein Mensch, der mich tröstet und ermutigt: „Ist nicht so schlimm! Beim nächsten Mal wird es besser!“ Dann kann ich die Fehler hinter mir lassen und sehen, wie ich weiter damit umgehe.

In unserem heutigen Predigttext ist sehr viel von Trost oder Ermutigung die Rede. Paulus schreibt an die Gemeinde in Korinth. Nach längerer Abwesenheit weiß er nicht mehr so genau, was die Menschen von ihm denken. Darum schreibt er gleich zu Beginn, was ihn trägt und prägt:

3Gesegnet sei Gott, wie Vater und Mutter für Jesus, den Messias und Herrn über uns!
Gesegnet sei Gott, die väterliche Quelle des Erbarmens und aller Tröstung!
4Gott tröstet uns in jeder bedrängten Lage,
so dass wir andere, die auf so viele Weisen bedrängt sind,
trösten können mit dem Trost, mit dem wir selbst von Gott getröstet werden.
5Denn so wie die Leidenserfahrungen des Messias
über die Maßen über uns hereinbrechen,
so werden wir durch den Messias auch über die Maßen getröstet.
6Wenn wir in Gefahr sind, führt das zu Trost und Rettung auch für euch.
Wenn wir getröstet werden, erfahrt auch ihr Trost.
Dieser zeigt seine Macht, wenn ihr dasselbe erleidet, was wir erleiden, ohne daran zu zerbrechen.
7Und unsere Hoffnung steht für euch auf festem Grund,
weil wir wissen: Wie ihr das Leiden teilt, so teilt ihr auch die Tröstung.

(Bibel in gerechter Sprache)

Da ist viel von Trost die Rede. Paulus hat selbst erfahren, wie gut es ist, in schwerer Zeit getröstet zu werden. Er hatte Trost bei Gott gefunden. Wenn er verfolgt wurde oder angefeindet, wenn Menschen ihn verspotteten oder verjagten, fand er immer wieder Trost in seinem Glauben. Gott tröstet ihn. Das erlebt er immer wieder.
Und so macht er weiter. Er erzählt von Jesus Christus. Auch Jesus selbst war immer wieder angegriffen und verfolgt worden. Trotzdem hielt er allen Versuchungen stand. Trotzdem redete er von der Liebe und vom Miteinander. Trotzdem ging er auf Menschen zu, die ausgestoßen oder benachteiligt waren. Jesus Christus war von Gott getröstet und tröstete. Er ermutigte die Menschen, sich und damit ihre Welt zu verändern. Das Wort, das mit „trösten“ übersetzt ist, können wir auch mit „ermutigen“ übersetzen. Das ist die andere Seite des Trostes. Das ist die stärkende Kraft des Trostes.

Trost ist oft wichtig. Wir können die Verhältnisse und Situationen nicht immer so ändern, wie wir es gerne täten. Aber wir können uns trösten. Wir können uns trösten lassen. Wir erfahren es gerade in den Friedensgebeten. Völlig entsetzt sind wir. Wir wollen und können etwas helfen. Und wir brauchen Trost. Wir finden ihn im Gebet. In unseren Friedensgebeten sitzen Menschen in der Kirche und zünden Kerzen an. Wir alle beten um Frieden. Wir legen unsere Sorgen und Ängste vor Gott. Wir sind nicht allein mit unserer Angst. Das ermutigt.

Paulus erzählt von Lebensgefahr, die er erlebt hat. In größter Gefahr wurde er von Gott getröstet. Paulus lobt Gott dafür. Er wurde getröstet und damit ermutigt. Die schlimmste Lebensgefahr überstand er und konnte so weiter von Gott erzählen und Gott loben.
Das lese ich heute und weiß gleichzeitig, dass viele Menschen in der Ukraine nicht überleben. Trotz ihres Gottvertrauens. Nicht alle entkommen der Lebensgefahr. Aber manche schaffen es. Viele sind schon bei uns angekommen, finden in unseren Städten und Dörfern neue Lebensorte. Sie brauchen Trost. Sie brauchen Ermutigung.

Paulus erlebt das Trösten wie einen Kreislauf: Gott tröstet – ich bin getröstet und ermutigt und danke Gott – ich kann andere trösten und lobe Gott – Gott tröstet andere und wird gelobt. Der Trost fließt immer weiter. Luise Schottroff sprach hier von einem „Trost-Verbundsystem“. Wir empfangen Trost und geben Trost weiter. Aber es ist nicht irgendein menschlicher Trost, sondern Trost und Ermutigung, die direkt von Gott kommen.
Diesen Trost empfangen wir und geben ihn weiter. An geflüchtete Ukrainerinnen und ihre Kinder und Enkel. Bei großen und kleinen Katastrophen. Trost und Ermutigung, das Gebet und die Gemeinschaft bilden ein Trost-Verbundsystem, in dem wir uns mit Gott verbinden und gegenseitig trösten.

 

Die Geschwister Scholl sind ein ermutigendes Beispiel für Menschen, die sich in ihrem Handeln von Gott getröstet und getragen wissen. Am 15. Juli 1942 schreibt Sophie Scholl in ihr Tagebuch: „Mein Gott, … Ich bitte Dich von ganzem Herzen, … öffne doch mein kaltes Herz …, nimm Dich meiner an und tue mit mir nach Deinem guten Willen.“ (zitiert nach https://www.ndr.de/kirche/Das-Kirchenlexikon-Sophie-Scholl,sophiescholl108.html)
Nach aktiven Jahren beim Bund deutscher Mädchen ringt sie in Gebeten um einen neuen Weg. Die Begeisterung für den Nationalsozialismus schlägt um in Widerstand. Sie engagiert sich in der Widerstandsgruppe „Die weiße Rose“. Bei allem Mut braucht sie aber auch immer wieder Trost.
Sie bangt um ihren Verlobten an der Front. Sie macht sich Sorgen um ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter im Widerstand. Immer wieder erfährt sie von ihrer Familie und ihren Freundinnen und Freunden Trost und Ermutigung. Sie war eine junge Frau, die ihren Weg ging und sich nicht entmutigen ließ, weil sie andere um sich hatte. Sie hielten zusammen, trösteten und ermutigten sich.
Am 22. Februar 1943 wurden Sophie und Hans Scholl hingerichtet.
Heute sind viele Schulen nach den Geschwistern Scholl benannt. Damit und mit vielen anderen Erinnerungen wird ihr Beispiel zur Ermutigung. Zum Trost.

Es geht weiter. Manchmal nicht sofort und manchmal nicht so, wie von mir gewünscht. Aber es geht für Kamila Wlijewa weiter. Es ging für Paulus weiter und die Gemeinde in Korinth. Es geht für die Ukraine weiter.
Es wird schwierig, wenn wir mutlos werden. Die Zukunft wird trüb, wenn wir uns ver-trösten lassen. Es wird leichter und weniger schwer, wenn wir uns trösten und ermutigen.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrerin Elke Markmann

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Vor Augen habe ich eine gemischte Gemeinde. In der Kirche sitzen vor allem ältere Menschen. Manche von ihnen haben eigene Flucht und Vertreibung hinter sich. Viele von ihnen kommen in die wöchentlichen Friedensgebete (jeweils freitags kommen ca. 40-80 Menschen). Zu einem großen Teil sind es Eltern und Großeltern. Am 27. März habe ich auch eine Tauffamilie im Gottesdienst. Ich habe zwei Gottesdienste hintereinander, erst in einem kleinen Gemeindezentrum, dann ich der großen Stadtkirche.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich habe die Szene der Eiskunstläuferin vor Augen – und eigenes Versagen. Ich kenne mich mit meiner lauten inneren Kritikerin. Beflügelt hat mich das Wort vom Trostverbundsystem von Luise Schottroff, das ich mir vor allem selbst zusprechen möchte.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich weiß es schon längst – und vergesse es immer mal wieder: Es ist oft viel wichtiger zu trösten und da zu sein, statt Rat-Schläge zu geben. Manches kann einfach nur gemeinsam ausgehalten werden. Dabei vertraue ich darauf, dass ich den Trost nicht aus mir selbst heraus schöpfen muss. Trost hat eine tiefere Quelle, einen göttlichen Ursprung. So wächst aus gutem Trost neuer Mut. Ich selbst bin dankbar, dass ich einen Menschen an der Seite habe, der mich immer wieder tröstet und ermutigt.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Anmerkungen des Lektors haben mir geholfen, einerseits die Predigt zu aktualisieren in Bezug auf den Krieg in der Ukraine. Andererseits konnte ich konkreter von mir reden. Das hatte ich erst vermieden, weil ich es möglichst allgemein halten wollte. Ich hoffe, dass Nutzer*innen das für sich personalisieren können.

Perikope

"... und siehe, wir leben" - Predigt zu 2Kor 6,1-10 von Henning Kiene

"... und siehe, wir leben" - Predigt zu 2Kor 6,1-10 von Henning Kiene
6,1-10

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn, Jesus Christus. Amen.

Predigttext: Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr nicht vergeblich die Gnade Gottes empfangt. Denn er spricht (Jes 49,8): »Ich habe dich zur willkommenen Zeit erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit dieser Dienst nicht verlästert werde; sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Bedrängnissen, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhr, in Mühen, im Wachen, im Fasten, in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben. (Luther 2017)

Liebe Gemeinde,

„als wir ihre Wohnung betraten, fanden wir überall die gelben „Post-It“ Zettelchen“, erzählt der Neffe. Er spricht von der Wohnung seiner Tante. Die ist sehr alt geworden und war ohne eigene Kinder geblieben, „aber wir, Neffen und Nichten, sind immer für sie da.“ Die Tante musste jetzt doch noch in das Pflegeheim, „Demenz“. Seine Schwester und er sollen ihre Wohnung auflösen.
„Es war ganz still, sogar die große Standuhr war verstummt“, sagt er. Sie fangen an, die Dinge zu sichten, nach wenigen Minuten lesen sie sich gegenseitig diese gelben Zettelchen vor und geben der alten Tante ihre Stimme zurück. „Telefon“, steht am Telefonhörer, „Waschmaschine“ klebt an der Waschmaschine, „Schlüssel nicht vergessen“ neben der Haustür und „Nachbarn grüßen“. Diese scharfsinnige Frau, die über Jahrzehnte das Gedächtnis der Familie war, vertraute ihr schwindendes Gedächtnis den kleinen Post-Its an. Neben dem Spiegel im Badezimmer steht „lächeln“ und am Radio „Musik“ und „Mitsingen“. „Wichtig“ klebt an den Fotoalben.
Jeder Zettel wirkt wie ein Widerstand gegen schwindende Erinnerung, wie ein Überlebenszeichen im Meer des Vergessen. Die Tante wollte nicht in der Gedankenleere versinken, sondern in ihrem vertrauten Leben bleiben. Der Apostel Paulus ruft trotzig: „In Nöten, in Ängsten, … und siehe, wir leben“. Die Tante behauptete sich ebenso trotzig gegen den Verlust ihrer Geschichten, der Namen und des höflichen Umgangs. Das mühevolle Festhalten an allem, was Alltag und Erinnerung ist, lebt von der Einsicht „und siehe, wir leben“. Wie ein gelbes Post-It, das auf allem, was untergehen könnte, wie ein gelbes Fähnchen flattert: „Und siehe, wir leben“. So der Apostel: „als die Sterbenden, und siehe, wir leben“, und das gleichzeitig in Angst und mit Mut, in Schuld und doch durch Vergebung, zugleich sterben und leben dürfen. Heute müssten solche Zettelchen an jeder Ecke im Wind flattern: Es ist Krieg, es herrscht Gewalt, es zieht Untergang auf, und auch durch unsere Gedanken weht es kühl, aber Paulus heftet ein „in Nöten, in Ängsten, … und siehe, wir leben“ an unseren Tag.

Während die beiden, Nichte und Neffe versuchen, die Dinge zu sortieren, lesen sie sich immer wieder fest. Er im Kochbuch seiner Großmutter. „Kochen im Krieg“ hatte Großmutter in das Kochbuch hineingeschrieben: „Graupensuppe“, „Kaffeeersatz herstellen“, „Steckrübensuppe mit Kümmel“ liest er laut vor. Erinnerungen an das Wenige, aus dem sie etwas machen mussten. Und die Nichte ist bei dem „wichtig“ Post-It, blättert im Fotoalbum. Jemand hatte einen Stapel alter Aufnahmen zwischen die Seiten gelegt, schwarz-weiße Fotos, unsortiert. Sie erkennt Bilder aus dem Krieg, Menschen rennen, hinter ihnen brennen Hütten. „Am Dnjepr“, steht auf einer Rückseite. Tote Pferde im Schnee. Menschen in Lumpen gekleidet, Arme über den Köpfen verschränkt. Krieg. Allein das Wort hatte den Blick der Tante finster werden lassen. Jetzt liegen die Fotos wie ein Kartenspiel auf dem Tisch. Neffe und Nichte erkennen einen Mann, er könnte ihr Großvater sein. Der trägt eine Uniform. Davon war in ihrer Familie nie die Rede gewesen. Ukraine, Dnjepr, Kriegswinter, diese Worte waren nie gefallen. „War Opa dabei?“ „Wichtig“, dieser Post-It hatte diesen Fotos gegolten.
Sie suchen den Dnjepr auf der Karte im Handy, sie landen in der Ukraine. Das Damals und die Bilder von Heute verschwimmen vor ihren Augen. Krieg, ist nicht Tantes Zeit. Krieg heute? Sie hatten ausgeschlossen, dass es das je wieder geben würde. Die Tante hatte den Krieg erlebt. Sie hätte hartnäckiger fragen sollen, mehr reden mit den Alten. Jetzt ist es zu spät.

Was ist, wenn wichtige Erinnerungen in Vergessenheit geraten? Die Tante beschrieb Post-Its, klebte sie überall hin. Sie hatte die Wohnung zum Ort der Erinnerung gemacht. Jetzt besitzen sie diese Erbschaft, die die Erinnerungen an damals aufweckt, an diese Zeit voller Schuld. Sie aber lebte für Frieden und Versöhnung, sie war gegen den „Nato-Doppelbeschluss“, beim ersten Golfkrieg ging sie demonstrieren, am 11. September 2001 ging sie in die Kirche, betete für den Frieden. Jetzt ahnen die beiden, welch schwere Erinnerungen auf ihr lasteten und zugleich steht ihnen diese scharfsinnige und kämpferische Frau vor Augen. Sie lebte in zwei Welten. Wie Paulus es schreibt „und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen“. Das ist wahr, die Tante war ihr Vorbild.

Ab heute ist Passionszeit, die Jahreszeit, in der wir unser Erinnerungsvermögen an Jesu Leben stärken. Sein Leiden und Sterben und gleichzeitig die Vorfreude auf Ostern rücken in den Blick. Jetzt ist vieles gleichzeitig: dieser Krieg, all die Not, die Ängste, die Schläge, die Enge, der Aufruhr, die Mühen, das lange Wachen. Alles lebt gleichzeitig in einem auf: Angst, Entsetzen, Hoffen, Suchen und all die Gebete. Selten sind die Ohren so hellwach und dankbar für das: „Und siehe, wir leben“-Signal.

„Und siehe, wir leben!“ Diese Botschaft klebt auf kleinen, häufig unsichtbaren Post-Its überall. Der Schatten des Krieges legt sich schlagartig über uns und das „Und siehe, wir leben“ bringt Licht in die Finsternis. Der Tag des Heils wirkt von den Nöten und der Bedrängnis vielleicht gebremst, aber er wird nicht ausgebremst. Und mit der Passion kommt die Auferstehung in den Blick. Manchmal wirkt es so, als lebten wir gleichzeitig in unterschiedlichen Zeitzonen, es gibt Krieg, Leid, Geschrei und ein kraftvolles „Und siehe, wir leben“.

Das Wichtigste nehmen die beiden an sich. Auch die schwarz-weiß Fotos mit dem Album, das Kochbuch und bringen es zur Tante. Die nimmt die Fotos zur Hand, fährt mit ihren Fingern liebevoll über das Bild, auf dem der Großvater zu sehen ist. „Nie wieder“, murmelt sie. Dann lacht sie auf und sagt es laut: „Nie wieder Krieg“. Das klingt energisch, als wäre sie Demonstrantin, wie damals.

Wenn der innere Halt sich auflöst und die Zusammenhänge des Lebens auseinanderfallen, dann gewinnt alles, was die Erinnerung aufhellt, an Bedeutung. Jedes Zettelchen entfaltet eine eigene Tragkraft, jede Hoffnung, die ein Mensch wachhält, hilft den anderen.

Und da kleben all diese Post-It-Zettelchen und flattern gelb im Wind: „Dienerin Gottes: in großer Geduld“, „Diener Gottes: in Bedrängnissen“, „Dienerin Gottes: in Nöten“, „Diener Gottes: in Ängsten“, „Dienerin und Diener, und siehe, wir leben“ und die alte Tante würde – wenn sie es noch könnte – ein „Lächeln“, ein „wichtig“, ein „Nachbarn grüßen“ dazu kleben.

Und der Friede Gottes, der höher ist, als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

 

Fürbitte: „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Matthäus 5,9
Mache mich zu deinem Kind, großer Gott, dass ich Frieden stifte und dem Krieg widerstehe, dem Kleinkrieg zuhause, im Hausflur, am Gartenzaun, in der Gemeinde, in mir selbst.
Lass mich Frieden stiften.
Mache uns zu deinen Kindern, großer Gott, dass von unserem Boden Frieden ausgehe, der alle erreicht, die im Schussfeld stehen, Frieden, der alle ermutigt, die sich vor die Panzer stellen, Frieden, der die beflügelt, die den Frieden wieder zum Ernstfall machen.
Lass uns Frieden stiften.
Wir sind deine Kinder, großer Gott, lege Frieden in unser Leben, ermutige die Bedrängten, tröste die Verzweifelten, bringe zurecht, die verwirrten Geistes sind, reiche du den Flüchtenden unsere helfenden Hände, lege Frieden in deine Welt, du großer Gott.
Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastor Henning Kiene

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Kurortgemeinde, erste Sonnenhungrige kommen auf die Insel, Berliner*innen zum Ausspannen und die Gäste der nahen Kurklinik. Die Gemeinde vor Ort rüstet sich für die anlaufende Saison. Wirtschaftlich muss 2022 ein erfolgreiches Jahr werden. Die Nähe zu Polen, die Reaktionen in der Nachbarstadt Swinemünde steigern die Sorgen, die durch den Krieg geweckt sind.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Poesie der Lutherübersetzung und der Text, der sich dem Predigen widersetzt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Idee von René Enzenauer (16. Februar 2018) in der Facebook-Gruppe „Predigtkultur“. Er eröffnet mit folgendem Satz eine kurze, zielführende Diskussion: „Mich erinnert der 2. Kor 6,1-10 irgendwie an Schrödingers Katze. Mit gleichzeitig tot und lebendig und so - bis einer nachmisst.“

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Coachin hat für die nötige Konzentration gesorgt. Danke für die Geduld auch bei der aktuellen Überarbeitung, die aktuelle Situation hat es verlangt.

Perikope
06.03.2022
6,1-10

Stöhnen und sehnen - Predigt zu 2 Kor 5,1-10 von Kirstin Müller

Stöhnen und sehnen - Predigt zu 2 Kor 5,1-10 von Kirstin Müller
5,1-10

1 Wir wissen: Wenn unser irdisches Zelt abgebrochen wird, dann haben wir einen Bau von Gott erbaut, ein nicht von Menschenhand errichtetes ewiges Haus im Himmel.
2 Darum stöhnen wir und sehnen uns danach, mit dem himmlischen Haus überkleidet zu werden.

3 So bekleidet, werden wir nicht nackt erscheinen.
4 Solange wir nämlich in diesem Zelt leben, stöhnen wir unter schwerem Druck, weil wir nicht entkleidet, sondern überkleidet werden möchten, damit das Sterbliche verschlungen werde vom Leben.
5 Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns auch als ersten Anteil den Geist gegeben hat.
6 So sind wir allezeit getrost und wissen, dass wir fern vom Herrn in der Fremde leben, solange wir in diesem Leib zu Hause sind;
7 denn wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen.
8 Wir sind aber getrost und begehren sehr, aus dem Leib auszuwandern und daheim beim Herrn zu sein.
9 Darum suchen wir unsere Ehre darin, ihm zu gefallen, ob wir daheim oder in der Fremde sind.
10 Denn wir alle müssen offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat. (2. Kor. 5, 1-10. Einheitsübersetzung und Luther 2017)

„Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg!“ – das sind die ersten Worte des Totengedenkens, das heute am Volkstrauertag an zahlreichen Orten begangen wird.
„Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg“, sich bewusst zu machen, dass Krieg immer Tod bedeutet, Menschenleben vernichtet, tiefe Wunden schlägt, über Generationen hinweg sind der Grund dieses jährlichen Gedenktages. Das Gedenken wird getragen von der Hoffnung, dass es dem Frieden auf der Welt hilft, sich an die schrecklichen Folgen von Krieg zu erinnern. Nie wieder! Nie wieder soll es so sein. So gesehen ist das Erinnern, das Gedenken ein Tun für den Frieden.
„Unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen hier und in der ganzen Welt.“ – mit diesen Worten endet das Totengedenken.
Erinnern heißt Verantwortung für den Frieden zu übernehmen. Ist ein Tun für den Frieden.
Leicht ist das nicht. Jedes Erinnern, jeder Blick auf die Schrecken vergangener Kriege hält mir vor Augen, dass jetzt gerade irgendwo Krieg ist. Menschen sterben. In diesem Moment. Es ist zum Heulen und Verzweifeln. Frieden scheint in der Welt nicht möglich zu sein, auf Dauer schon gar nicht. Das macht Verantwortung für den Frieden schwer. Was kann ich tun?
Stöhnen und sehnen - zwei Worte zum Weiterdenken, die ich mir aus dem Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth zur Seite nehme. Paulus schreibt: Darum stöhnen wir und sehnen uns danach, mit dem himmlischen Haus überkleidet zu werden, [...] damit das Sterbliche verschlungen werde vom Leben.

Stöhnen, ächzen, seufzen … wahrnehmen all dessen, was mich bedrückt und stört, den Unfrieden in der Welt, und ja, auch in meinem Herzen. So sehr ich mir wünsche, dass die Welt ein friedlicher, freundlicher Ort für alle ist, spüre ich die Grenzen. Grenzen meiner eigenen Freundlichkeit anderen gegenüber, wenn sie mich nerven, wenn sie die Welt ganz anders sehen als ich. Und ich nehme wahr, was an den Ländergrenzen geschieht. Die Zäune, die gezogen werden, damit Menschen nicht „in Frieden“ kommen können. Aus den Kriegs- und Krisengebieten. Es macht mich wütend und ich fühle mich gleichzeitig ohnmächtig. Was kann ich schon tun?
Zunächst einmal stöhnen, ächzen, seufzen. Damit reagiere ich auf das, was ich als Unfrieden wahrnehme. Hinsehen, auch wenn es schmerzhaft ist und mich zum Stöhnen bringt, ist ein Tun für den Frieden. Weil das Hinschauen auch ein Weiterschauen möglich macht. Da steht ja noch ein Sehnen. Hinter dem Stöhnen.

Darum stöhnen wir und sehnen uns danach, mit dem himmlischen Haus überkleidet zu werden, (…) damit das Sterbliche verschlungen werde vom Leben.

Das ist ein starker Gedanke. Die „Lebens“-Erfahrung und -Angst, dass Unfrieden Leben bedroht, dass dagegen nicht anzukommen ist, dass Tod Leben verschlingt, stellt Paulus in ein anderes Licht. Er schreibt vom Leben, dass das Sterbliche verschlingt. Vom Leben, das Sterbliches, den Tod, in sich aufnimmt. Verschlingt! Also ganz und gar in sich aufnimmt. Und Leben ist. Und bleibt. Dieses Leben ist von Gott gegeben. Es ist ein „Kleid des Himmels“, ein Gewand, das Widerstandskraft gegen den Tod in sich trägt. Stöhnen über die Welt, wie sie ist, ist ein Erinnern an dieses Himmelskleid Leben. Und Sehnen ein Versuch, es mir jetzt anzuziehen. Anziehen zu lassen. Von Gott.

Darum stöhnen wir und sehnen uns danach, mit dem himmlischen Haus überkleidet zu werden, (…) damit das Sterbliche verschlungen werde vom Leben.

Sehnen: Ich sehne mich nach Sicherheit. Genug zu essen zu haben. Gut schlafen zu können. Menschen um mich zu haben, die mich verstehen, die mir das Gefühl geben, ich gehöre dazu. Ich sehne mich nach Geborgenheit und Leichtigkeit, Ruhe und Erholung. Ich sehne mich danach, dass Sinn ergibt, was ich tue, dass ich mit den Menschen um mich herum die Welt so gestalten kann, dass ich friedlich und zufrieden leben kann.
Ich sehne mich zutiefst nach Leben. Diese Sehnsucht ist so etwas wie eine Platzhalterin im Himmel! Bei all dem, was mich hier Stöhnen macht, bei allem Unfrieden und der Erfahrung von Sterblichkeit und Tod grenze ich noch an etwas anderes. An die Kraft, die mich überkleidet, damit das Sterbliche verschlungen werde vom Leben. Mein Sehnen kann mich mit dieser Kraft verbinden. Ich nenne sie Gottes Geist.

https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Creaci%C3%B3n_de_Ad%C3%A1m.jpg
Ein Bild vom Himmel der Sixtinischen Kapelle in Rom: Die Erschaffung Adams. 1508 von Michelangelo Buonarroti gemalt. Leben beginnt.

Leben beginnt: Ich sehe einen nackten Mann. Er liegt wie hingegossen auf einer grünen Wiese. Nah bei Gott. Fast auf Augenhöhe. Beide strecken die Arme aus. Fast berühren sie sich. Nur eine kleine Lücke ist da. Der Funke Leben, Geist, Atem kann da überspringen. Gott lässt erkennen: Ich habe Dich Erdling „Adam“ gemacht. Du bist schön. Kräftig. Also lebe! So deute ich mir die Geste.
Ein Bild, eine Einladung, sich zu erinnern: So ist Leben. Im Anfang. Nackt (wie Gott es schuf!), ganz da. (Anm: Auch wenn Michelangelo einen Männerkörper darstellt). Bereit, Gottes Geist überspringen zu lassen, Gottes Nähe zu spüren.   

1 Wir wissen: Wenn unser irdisches Zelt abgebrochen wird, dann haben wir einen Bau von Gott erbaut, ein nicht von Menschenhand errichtetes ewiges Haus im Himmel.
2 Darum stöhnen wir und sehnen uns danach, mit dem himmlischen Haus überkleidet zu werden.
3 So bekleidet, werden wir nicht nackt erscheinen.
4 Solange wir nämlich in diesem Zelt leben, stöhnen wir unter schwerem Druck, weil wir nicht entkleidet, sondern überkleidet werden möchten, damit das Sterbliche verschlungen werde vom Leben.

Ich sehe: Freien Himmel. Weite. Berge im Hintergrund. Eine Wiese. Adam liegt und ist nackt. Gott trägt ein weites, weißes Kleid. Ein flatterndes Tuch. Wie es wohl ist, damit „überkleidet“ zu werden? Ich stelle mir vor: Es fühlt sich gut an auf der Haut. Im Sommer kühl, im Winter warm. Es schützt mich vor dem Pieksen und den Käfern im Gras. Vor Regen. Und es riecht vertraut. Nach Heimat. Und Sicherheit. Nach Frieden.

….. , damit das Sterbliche verschlungen werde vom Leben.

Ich sehe die Lücke zwischen den Fingern Gottes und Adams. Und stelle mir vor, dass dort der Platz für meine Sehnsucht ist. Für jede Sehnsucht. Genau da, wo der Funke Leben, Geist, Atem überspringt. Und sagt: Du bist schön. Kräftig. Also lebe!
Sehnsucht verbindet mich mit Lebenskraft. Ist ein Vertrauen darauf, dass für mich heute gilt, was von Anfang an galt: Gottes Geist wirkt im Leben. Und kann Kraft entfalten. Auch jetzt.
Wenn wir heute an die Opfer von Gewalt und Krieg erinnern, trauen wir uns, all das zu sehen, was Frieden im Leben entgegensteht, ihn schwer macht. Was schmerzt. Uns stöhnen lässt. Dabei ist es gut zu wissen, dass wir einen „Platz im Himmel“ haben, von dem aus wir mit „Lebenskraft“ bekleidet werden. Unsere Sehnsucht führt uns an diesen Platz. In die Nähe Gottes. Hier werden wir daran erinnert, dass das Leben Kraft hat, das Sterbliche zu verschlingen.
Ich sehe noch einmal die Lücke zwischen den Fingern. Die Lücke ist frei. Lässt Platz. Um mir auszumalen, wie Leben das Sterbliche verschlingt. Wie Frieden wird. Gerade fehlen mir konkrete Bilder. Ich weiß nicht recht, was gehen kann. Was ich tun kann. Vielleicht ist die Lücke der Raum, wo noch gar keine Bilder sind. Wo es noch gar nicht darum geht, dass mir etwas einfällt. Nur den Platz sehen. Zum Dasein. Zum Hinsehnen. Und spüren: Wie steht es um meine Lebenskraft? Jetzt? Habe ich viel? Oder eher wenig? Kann ich vertrauen? Auf Gott? Den Frieden in der Welt? Und mich damit nicht zu verstecken. Sondern mich sehen zu lassen. Vielleicht ist ja jemand da, die oder der meine Sehnsucht teilt. Eine Idee hat. Vertrauen hat. Mir Vertrauen schenkt. Und mit mir glaubt, dass Gott da ist. Leben, das das Sterbliche verschlingt.
Erinnern heißt, stöhnen über die Welt, wie sie ist. Und vertrauen darauf, dass da mehr ist. Ein Himmelskleid Leben. Mich nach diesem Kleid zu sehnen ist ein Versuch, mir dieses Himmelskleid jetzt anzuziehen. Anziehen zu lassen. Von Gott. Damit Frieden wird.

Um diesen Frieden lasst uns jetzt beten:

Du, Gott des Friedens,
Führe mich vom Tod ins Leben,
aus dem Trug in die Wahrheit.
Führe mich aus Verzweiflung
in die Hoffnung,
aus Angst in Vertrauen.
Führe mich vom Hass zur Liebe,
vom Krieg zum Frieden.
Lass Frieden unser Herz erfüllen,
unsere Erde und das All.
(Londoner Gebetskette)

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrerin Kirstin Müller

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Der vorletzte Sonntag im Kirchenjahr ist belegt mit Volkstrauertag, Friedensdekade und anderen Gedenktagen (Mauerfall, Martinstag, Novemberpogrome), die sich im November häufen. Ich vermute, dass die innere Grundstimmung der Menschen eher nachdenklich und melancholisch ist.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Meine ersten Gedanken zu 2 Kor 5,1-10 habe ich mir im Zwiegespräch mit einer KolleginFreundin an einem schönen Oberharzer See gemacht. Wir waren schwimmen, tranken Kaffee und es schien möglich, dass der Himmel freundlich ist und unsere Sehnsucht schon immer beherbergt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das Sterbliche wird vom Leben verschlungen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Verständlichkeit, mehr erzählerisch, die Bestätigung der These, dass Predigen immer ein Plural ist!

 

Perikope
14.11.2021
5,1-10

Teilen macht ganz - Predigt zu 2. Kor 9,6-15 von Sven Evers

Teilen macht ganz - Predigt zu 2. Kor 9,6-15 von Sven Evers
9,6-15

Liebe Gemeinde,

ich möchte heute mit Euch über Geld reden.
Ja, das muss auch mal sein.
Es ist ja nicht wahr, dass Geld „nicht so wichtig“ sei, wie manche sagen.

Aber das kann man eben nur sagen, wenn man genug davon hat.
Frage den Obdachlosen in der Fußgängerzone oder das hungernde Kind in Afrika oder die alte Frau mit den alten Plastiktüten drüben beim Aldi – die werden sicher nicht behaupten, dass Geld „nicht so wichtig“ sei.

Aber zuerst möchte ich: Danke sagen. Schließlich ist heute Erntedankfest, und da gehört das ja wohl dazu und am besten an die erste Stelle.
Klar – Dankbarkeit kann man nicht befehlen – auch nicht, wenn heute „Erntedankfest“ auf dem Kalender steht.
Dankbarkeit – die stellt sich ganz unvermittelt, ganz unplanbar, auf ganz wundersame Weise ein:
Wenn da plötzlich der Gedanke aufblitzt, dass alles, was ist, ja auch nicht sein könnte.
Wenn da plötzlich Kopf und Herz erkennen, wie unverdient reich wir sind.
Wie gesagt: Befehlen kann man so eine Dankbarkeit nicht.Aber die Haltung, die es dafür braucht, die kann man einüben, wenn man: Sehen lernt.

(Und überhaupt ist ja der Glaube nichts anderes als ein Sehen – nämlich mit Gottes Augen – und ist jeder Gottesdienst und ist jedes Miteinander und jeder Unterricht, den wir in Glaubensdingen halten, nichts anderes als eine Seh-Schule. Glauben lernen heißt: Sehen lernen).

Ich fange mal bei mir selber an.

Da ist der Trecker, der auf der Moorbeker Straße vor mir her tuckert, während ich es doch eilig habe und ungeduldig in Schlangenlinien fahrend schaue, ob ich ihn nicht irgendwie überholen kann, um zwei Minuten früher an mein Ziel zu kommen.

Da ärgere ich mich im Supermarkt darüber, dass diese eine Sorte Fleisch nicht da ist. Und mein Lieblingskäse… habe ich nicht beim letzten Einkauf noch deutlich weniger dafür bezahlt? Und ich ärgere mich über die Kassiererin, die griesgrämig auf meine Einkäufe schaut anstatt freundlich zu lächeln, wofür sie doch schließlich bezahlt wird…

Und jetzt einmal: (Ernte-) Dank-Haltung lernen. Für meinen Tag heute mal die Danke-Brille aufsetzen.

Danke, Du Landwirt da vor mir auf der Straße. Danke, dass Du früh aufstehst und spät ins Bett gehst und Tage und Jahre auf den Feldern verbringst, damit ich Brot zu essen habe, oder in den Ställen, damit ich Fleisch zu Essen habe – obwohl es sich für Dich oft kaum noch lohnt und Du Dich fragst, wie lange das noch so weiter gehen kann.
Danke, dass Du die Supermarktregale füllst mit so vielem, das ich für viel zu wenig Geld dort jahraus, jahrein kaufen kann.

Danke übrigens auch Du, Frau an der Kasse, die Du für wenig Geld Kunden anlächeln sollst, die ihre Kreditkarte zücken, als sei Almosen, was sie Dir bezahlen.

Macht mal mit!
Lenkt den Blick auf das, was Euch stört, auf das, was Euch ärgert, auf das, worüber Ihr Euch heute schon aufgeregt habt oder immer wieder aufregt.

Langsam und mit Pausen aus der Liste (ad libitum)

  • Die Politik (die mit immer mehr Auflagen das Leben schwer macht).
  • Die anderen (die meinen, immer alles besser zu wissen, und Dir das Gefühl geben, Du stündest am Pranger, während Du doch nur andere und Dich selber ernähren willst).
  • Die Umstände (die doch ganz anders wären, wenn alles ganz anders wäre).
  • Der Trotz, der Dir in grünen Holzbalken von den Feldern entgegen schreit, auf fragwürdige Weise religiöse Symbole von Tod und Leben gebrauchend (missbrauchend?).
  • Das unfreundliche Wort, das Dir gesagt, obwohl Du doch ganz sicher alles richtig gemacht hast.
  • Die mangelnde Wertschätzung für Deine Mühen tagaus, tagein, die so tut, als sei selbstverständlich, was Du tust, ob es Dir gut geht oder schlecht.
  • Und ganz bestimmt so manches mehr…

(Stille – vielleicht mit Musik begleitet)

Und nun tu einmal all das zur Seite – ganz gleich, wie berechtigt oder unberechtigt Dein Ärger und Dein Verdruss sein mag.

Langsam und mit Pausen die o.g. „Liste“ stichwortartig wiederholen.

(Stille und Musik Ende)

Und nun schau einmal nach vorne zum Altar.
Die vielen Gaben, die hier versammelt.
Ein Ausschnitt nur dessen, was ist und was auch nicht sein könnte.
Symbol für so vieles, für das Du sagen könntest: Danke.
Symbol für einen Reichtum, der Dir geschenkt ist – in, mit und durch alle Arbeit hindurch, die Du selber hineingesteckt haben magst.
Es geht durch unsre Hände, kommt aber her von Gott…

Stimm ein in das Wort „Danke“.

Passt es?
Macht es etwas?
Mit dem, was Du hast?
Mit dem, was du nicht hast?
Mit Dir?

Ohne Ansage und nicht zu schwungvoll gespielt: EG 508

So, und nun lasst uns über Geld reden. Das heißt eigentlich:
Lasst uns reden über jene, die nicht so viel haben wie wir.
Lasst uns reden über jene, für die das tägliche Brot keine Selbstverständlichkeit ist, sondern die morgens mit Sorgen aufstehen und die abends mit Hunger ins Bett gehen.
Über die Obdachlosen in der Fußgängerzone.
Oder das Kind in Afrika.
Oder die Frau mit den Plastiktüten beim Aldi.
Über alle, die am Morgen nicht wissen, ob sie den Abend noch erleben und über jene, die am liebsten drei Kreuze machen möchten, wenn wieder ein Tag überstanden…
Denn sie sind nicht weniger als unsere Schwestern und Brüder.
Sie singen und beten, sie feiern und predigen, sie streiten sich und halten Gemeinschaft miteinander – im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Wie wir.
Sie brauchen unsere Gedanken. Sie brauchen unsere Gebete. Sie brauchen unser Mitgefühl.
Aber seien wir ehrlich: Sie brauchen auch und zuerst: Ihr tägliches Brot.
Denn von Gedanken und von Gebeten und von Mitgefühl wird man nicht satt.
Ihr ahnt es schon: Die Kollekte ist es, in der in einem jeden Gottesdienst diese Gemeinschaft, in der wir über den Erdball verbunden miteinander stehen, ganz konkret wird.
Die Kollekte ist nicht nur ein lästiger Teil des Gottesdienstes, der – insbesondere in Gemeinden, in denen die Kollekte im Gottesdienst gesammelt wird und nicht wie bei uns nur am Ausgang – die persönliche Andacht stört.
Sie ist der erste, ganz einfache und doch ganz konkrete Schritt, in dem unser Glaube, unsere Gebete, unsere Predigten, unsere Lieder praktisch und konkret werden, indem wir ganz real werden lassen, was wir in jedem Gottesdienst bekennen: Die Gemeinschaft der Heiligen.

6Das aber sage ich euch: »Wer spärlich sät, wird spärlich ernten. Und wer reichlich sät, wird reichlich ernten.«
7Jeder soll so viel geben, wie er sich selbst vorgenommen hat. Er soll es nicht widerwillig tun und auch nicht, weil er sich dazu gezwungen fühlt. Denn wer fröhlich gibt, den liebt Gott.

Das sage ich nicht. Das schreibt Paulus an die Gemeinde in Korinth, um sie zu begeistern für die Kollekte, die er gerade rund ums Mittelmeer für die in Not geratene Christenschar in Jerusalem sammelt.
Aber vom Prinzip her hat sich seit 2000 Jahren nichts verändert.
Es gibt jene, die nichts haben – und es gibt jene, die viel haben (selbst, wenn sie manchmal zu vergessen neigen, wie viel sie in Wahrheit haben).
Und Gemeinschaft, Gemeinde – ereignet sich im Miteinander-Teilen und im Abgeben – übrigens mit dem überraschenden Ergebnis, dass das Abgeben nicht nur die reich macht, die etwas bekommen, sondern auch, die etwas geben.
Geschenke machen ist oft viel erfüllender als Geschenke bekommen.
Und Teilen macht ganz – wie ich vor kurzem gelesen habe. Ein schöner, ein wahrer Gedanke, den man sich auf der Zunge und im Herzen zergehen lassen darf.

Und alle gemeinsam – und die Welt drum herum gleich mit!! – staunen, wie die Gemeinschaft des Glaubens, wie die Christinnen und Christen in aller Welt zusammenhalten und Anteil nehmen am Schicksal des anderen.

8Gott aber hat die Macht, euch jede Gabe im Überfluss zu schenken. So habt ihr in jeder Hinsicht und zu jeder Zeit alles, was ihr zum Leben braucht. Und ihr habt immer noch mehr als genug, anderen reichlich Gutes zu tun.9So heißt es ja in der Heiligen Schrift: »Er verteilt Spenden unter den Armen. Seine Gerechtigkeit steht fest für immer.«
10Gott gibt den Samen zum Säen und das Brot zum Essen. So wird er auch euch den Samen geben und eure Saat aufgehen lassen. Euer gerechtes Handeln lässt er Ertrag bringen. 11Er wird euch so reich machen, dass ihr jederzeit freigebig sein könnt. Und aus eurer Freigebigkeit entsteht Dankbarkeit gegenüber Gott, wenn wir eure Gaben überbringen.12Denn die Ausübung dieses Dienstes lindert nicht nur den Mangel, an dem die Heiligen leiden. Sie ist auch deshalb so wertvoll, weil sie große Dankbarkeit gegenüber Gott bewirkt. 13Weil ihr euch in diesem Dienst so bewährt habt, werden sie Gott loben. Denn daran sehen sie, dass ihr euch gehorsam zu der Guten Nachricht von Christus bekennt. Und an eurer Freigebigkeit merken sie, dass ihr mit ihnen und allen Gemeinschaft haltet. 14Und wenn sie für euch beten, werden sie das voll Sehnsucht nach euch tun. Denn sie haben erkannt, dass Gott euch in so reichem Maße seine Gnade geschenkt hat.

Was für eine Gemeinschaft. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes – über alle Grenzen und über alle Hindernisse und über alle Unterschiede und über alle Fremdheit hinweg.
Und diese Gemeinschaft, diese gegenseitige Verbundenheit, diese Dankbarkeit – die strahlt aus.
In unsere Herzen und in unser Leben.
In unsere Kirchen.
In unsere Welt.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Dr. Sven Evers

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Meine Dorfgemeinde, die zum Erntedankfest recht zahlreich erscheint – Landwirte, die selten kommen, Oma Meyer, die immer kommt, Konfis, die ab und an kommen, Neugierige, die vielleicht zum ersten Mal kommen (hoffentlich nicht zum letzten Mal), Trauerfamilien… 

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Drang vom Dank zum Teilen und das Staunen der Welt darüber, wie wir geschwisterlich miteinander umgehen. Der kleine Gedanke, dass Teilen ganz macht (ich habe ihn an einer katholischen Einrichtung in der Heidelberger Innenstadt gesehen und er geht mir nicht mehr aus dem Kopf).
Beflügelt hat mich außerdem die Lust auf die oben beschriebene Gemeinde – ich spreche gerne zu „meinen“ Leuten und habe Lust, mich mit ihnen auf den Weg in die Texte und von dort hinaus in die Welt zu machen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Siehe oben: Teilen macht ganz – darüber werde ich noch weiter nachdenken – und sicherlich wird der Gedanke auch noch Teil mancher Predigt werden.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ganz herzlichen Dank an den Predigtcoach für das intensive, kritisch-konstruktive Coaching!!

Perikope
03.10.2021
9,6-15