Einer pöbelt für mich - Predigt zu Apostelgeschichte 6,1-7 von Katharina Loh

Einer pöbelt für mich - Predigt zu Apostelgeschichte 6,1-7 von Katharina Loh
6, 1-7

mit Paul Niemand von Falk Richter.

(ZWISCHENRUF)
Das Universum schwieg. Das Universum hatte noch nicht bemerkt, dass ich da war. Aber ich war da. Ich war ein kleiner Junge unter der Sonne, und ich redete in tausend Stimmen, denn keiner wollte mit mir zusammensein, keiner wollte mit mir spielen. Also war ICH all diese Menschen, die ich brauchte, um zu überleben.
Ich war nicht mehr allein, ich war die ganze Welt, alles, was ich brauchte, und ich sprach zu mir, und ich kämpfte mit mir, und ich war alle Menschen und alle Gedanken, ich war alles!


I
Sie mussten selbst gucken, wo sie bleiben. Keiner sah sie, keiner interessierte sich für sie.  Helft euch selbst! Und den Witwen in Jerusalem hängt der Magen in der Kniekehle. Nicht den einheimischen Witwen, sondern den zugezogenen Witwen. Sie wurden bei der täglichen Versorgung übersehen. Sie mussten selbst gucken, wo sie bleiben. Ein handfester Skandal. Zumal in einer christlichen Gemeinde, denn hier vermutet man soetwas doch eigentlich nicht. Aber auch hier gab es Lager. Es gab die, die schon immer hier lebten und hebräisch sprachen. Und die, die jahrelang weg waren und jetzt zurück gekommen sind und griechisch  sprachen. Und ein Murren erhob sich unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung.


(ZWISCHENRUF)
Ist da jemand? Hallo! Hallo! Ist da jemand?  Hört mich hier wer? Paul Niemand, das bin ich. Zu alt für einen Neuanfang, zu jung, um sich schon aufzugeben, in ein paar Jahren ist das alles vorbei, in ein paar Jahren bin ich einer dieser Männer, die diese schlabbernden Cordhosen tragen und dummes Zeug reden im Hausflur,  während sie den Müll raustragen, denen niemand mehr zuhört, weil es sowieso egal ist, was die sagen, denen alle immer zustimmen und jaja sagen und weitergehen. Einer dieser Männer, die auch nicht wirklich stören, weil es egal ist, ob sie da sind oder nicht da sind, weil es gar keinem so richtig auffällt. Ist da jemand? Hallo! Hört mich hier wer?


II
Übersehen werden.  Das Gefühl kennt - einer Studie zufolge - jeder Dritte. Unter uns lebt also ein unsichtbares Drittel. So viele Menschen haben, zumindest in bestimmten Lebensbereichen, das Gefühl, unsichtbar zu sein. Wie Luft. Alleinstehende Frauen etwa. Sie sind bis heute die am meisten armutsgefährdete Gruppe  unserer Gesellschaft. Wie die Witwen damals. Angewiesen, aber nicht gut versorgt. Mit Kindern oder ohne. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott. Die anderen kriegen ja auch nichts geschenkt. Aber auch Menschen mit auskömmlichem sozialen Status und sicherem Job, kennen solche Gefühle. Du kommst durchs Leben, du bewerkstelligste deinen Tag Hast aber das Gefühl, einfach nicht gesehen zu werden. Nicht wahrgenommen. Nicht so wirklich.
(ZWISCHENRUF)
Ich buche mir jetzt regelmässig Flüge. Und da sitze ich dann am Gate und warte. „Paul Niemand bitte zum Boarding.“ rufen Sie. Aber das mache ich nicht. Ich bleibe einfach sitzen. „Paul Niemand, bitte, Paul Niemand.“ Und ich sehe, wie alle unruhig werden, weil sie Angst haben, zu spät zu kommen, Und dann erklingt über alle Lautsprecher immer wieder mein Name. PAUL NIEMAND. Und keiner kann los, weil ich noch nicht da bin.


III
Wie gut den Witwen das wohl getan hat. Als andere für sie auf die Hinterbeine gegangen sind. Das Murren FÜR SIE. Ich weiss aus eigener Erfahrung, wie gut das tut. Wenn ich gesehen werde und wenn ich mir nicht ständig selber die Brücke vertreten muss. Und wenn ich mir nicht ständig selber die Butter auf meinem  rot verteidigen muss. Wie gut das tut, wenn einer mir gönnt und gibt, Wenn einer nach mir fragt, wenn einer mir auch mal die Brücke vertritt. Wenn EINER PÖBELT FÜR MICH!


IV
Und DIE MURRER haben etwas bewegt. Das Leitungsgremium der Gemeinde kann die LAUTSPECHER nicht überhören. Also haben sie die Menge zusammengerufen und gesagt: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen. 3 Darum, liebe Brüder, seht euch um nach sieben  Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. Sie haben etwas bewegt. Sieben Menschen werden zum Dienst bestellt. Und die Witwen sind versorgt.


V
Durch Organisation gelöst. Das machen wir bis heute. „Wenn du nicht mehr weiter weisst, gründe einen Arbeitskreis.“ Ein Satz- gemischt aus Ironie und Wahrheit. Kein Gremium kann alles alleine machen, man muss sich schon aufteilen, Aufgaben delegieren. Das gilt für Unternehmen, Kirchengemeinde, sogar Familien. Man muss sich schon aufteilen, wenn jeder bedacht werden soll und sich keiner dafür totmachen will. Viele Schultern. Und so glaube ich, will die Entscheidung in Jerulsam verstanden sein. Die Zwölf  sind sich nicht zu fein für den Tisch Dienst, sie wissen nur: Alleine geht es nicht. Man muss sich schon aufteilen! Wer geht einkaufen? Wer schreibt den Brief? Oder wie in Jerusalem: Wer hat Tischdienst und wer ist für die geistlichen Reden zuständig?


VI
Wir teilen uns auf! Das tun wir als Kirche und Diakonie schon viele Jahre. Und jeder hat hier seine Aufgabe. Wir haben uns auch aufgeteilt, als wir als Kirche ein Schiff gekauft haben, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Die einen gaben Geld, die anderen Zeit und ihr Gebet. Und unsere Kirche wird dafür angefeindet.
Warum wir uns um solche kümmern, Kirchgelder verschleudern, um Menschen aus Nöten zu helfen, in die sie sich doch selbst gebracht haben: in die Hände der Schlepper. Die wollen sich eine Zukunft in Europa erzwingen! Ja natürlich! Was denn sonst?! Es hagelt Briefe und Austritte. Und ich denke mir, das ist auch gut so, dass Menschen frei sind, zu gehen, denn wer in dem Ansinnen, Leben zu retten, seine Kirche nicht findet - der ist vermutlich auch noch nie so ganz in ihr angekommen.


VII
Wir haben uns aufgeteilt. Auch ihr habt euch aufgeteilt, liebe Julia und Sebastian, mit der Taufe eurer Tochter. Denn es ist gut, wenn da noch mehr sind, als nur Mutter und Vater. Darum Paten und Zeugen, darum ein Segen und eine ganze Gemeinde. Weil es ist gut, wenn welche da sind. Die helfen, die hinschauen, die im Zweifel für einen murren und lautsprechen. Keiner sollte alleine sein. Keiner sollte sich alles selbst sein müssen.


(ZWISCHENRUF)
Mein Name wird immer wieder durch den Lautsprecher gerufen. Jetzt bewege ich mich, aber ganz langsam. Ich will diesen Namen noch ein paar mal hören. Ganz langsam bewege ich mich Richtung Gate, Gate 1, 2, Gate 3 und 4, ich dreh mich noch mal um, schaue noch eine Weile nach draussen, Gate 5, Gate 6, Gate 7,
die warten auf mich, das weiß ich, ist viel zu aufwändig, meinen Koffer wieder auszuladen, Gate 8, Gate 9, Gate 10, PAUL NIEMAND PAUL NIEMAND BITTE ZU GATE 17 die werden alle zu spät kommen, wenn ich abwesend bin, bemerkt mich jeder.


VIII
Es gibt Niemande in der Geschichte. Und jeder von Ihnen hat einen Namen. Und ein Recht auf Achtung und Wahrung der Würde. Und trotzdem passiert es. Dass Menschen übersehen werden. Ungeschützt, unbeachtet. Ihrer Rechte beraubt. Es passiert uns. In uns. Und durch uns. Es passiert. Jede Gemeinschaft, tut gut daran, das nicht zu leugnen und zu üben, dass wir das besser machen, Wir müssen heute vielleicht mehr den je Lautsprecher der Übersehenen sein. und so lange fragen: Wer machts? Wer kümmert sich hier? Bis einer sagt:

Ich!

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Katharina Loh

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich sehe vor mir eine Gruppe tendentiell älterer Menschen, die den biblischen Text schon einmal gehört haben dürften. Daneben sehe ich eine Tauffamilie, die mit der „Gottes-dienstgemeinde“ nicht bekannt ist und ich weiss um - analog zum biblischen Text -  aus-schliessendes Verhalten auch in unserer eigenen Gemeinde. Menschen, die übersehen werden und jene, die übersehen.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Hilfreich war mir die Anerkennung des Skandals, der in dieser Situation des Überse-hens begründet liegt und die Tatsache, dass eine Lösung des Konfliktes schon in der Organisation beginnt und zwar auch im Delegieren. Nicht einer muss alle in den Blick nehmen, sondern viele sehen einen Ausschnitt. Es braucht eben soviele Ämter, bis alle gesehen sind. Das wäre auch für mich rechtverstanden -  Priestertum aller Gläubigen.  

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Nicht leugnen, dass wir (bisweilen) ignorante Herzen sind. Sich selbst wie eine Fliege vorm inneren Gesicht herumschwirren und sich davon abhalten, sich einzurichten in dieser Ignoranz gegenüber dem Leid anderer. Das nehme ich mit.
(Gut zusammen fasst das ein Gebet von Nadja Bolz-Weber): Gott, bitte hilf mir, mich nicht wie ein Arschloch zu verhalten.

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Eine Nacht drüber schlafen.

Perikope

Erinnere uns an den Anfang - Predigt zu Apostelgeschichte 4,32-37 von Anne-Kathrin Kruse

Erinnere uns an den Anfang - Predigt zu Apostelgeschichte 4,32-37 von Anne-Kathrin Kruse
4,32-37

Ein Traum von Abi- Klasse

Weißt du noch? Wie frisch verliebt waren wir alle miteinander. Ein Herz und eine Seele.
Unsere kleine, feine Oberstufen-Klasse, Altsprachlicher Zweig. Gerademal zwölf waren wir noch. Sechs Schülerinnen, sechs Schüler. Ständig hingen wir zusammen. Konnten uns blind aufeinander verlassen. Eine verschworene Gemeinschaft.
Konkurrenz war ein Fremdwort, Strebertum undenkbar. Bewundert haben wir einander für das, was die Andere konnte. Stolz waren wir auf den Erfolg des Anderen.
Und eine genial funktionierende Arbeitsteilung: eine Stunde vor Unterrichtsbeginn verteilte der jeweilige Fachexperte die fertigen Hausaufgaben an den Rest der Klasse. Niemand behielt etwas für sich. Alles wurde geteilt. Täglich traf man sich nach der Schule bei Theo, dem Kneipenwirt um die Ecke. Teilten, was es gab. Weißt du noch, damals?

32 Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam. 33 Und mit großer Kraft bezeugten die Apostel die Auferstehung des Herrn Jesus, und große Gnade war bei ihnen allen. 34 Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte; denn wer von ihnen Land oder Häuser hatte, verkaufte sie und brachte das Geld für das Verkaufte 35 und legte es den Aposteln zu Füßen; und man gab einem jeden, was er nötig hatte. 36 Josef aber, der von den Aposteln Barnabas genannt wurde – das heißt übersetzt: Sohn des Trostes –, ein Levit, aus Zypern gebürtig, 37 der hatte einen Acker und verkaufte ihn und brachte das Geld und legte es den Aposteln zu Füßen.

Erinnere uns an den Anfang.
Am Anfang, als Leben begann,
sprachst du zu uns: ihr seid willkommen,
hast du an die Hand uns genommen.

Erinnere uns an den Anfang,
an Ursprung und Werden, Vergehen,
damit wir das Leben verstehen,
damit wir klug werden. 

Ein Herz und eine Seele – damals in Jerusalem

Weißt du noch? Erinnerung an den Anfang. Als alles begann. So war es einmal – oder mag es gewesen sein… Ein Herz und eine Seele waren sie, diese kleine jüdische Gemeinde in Jerusalem, die an Jesus, ihren Messias, glaubte. Von seiner Auferstehung ging eine ungeheure Kraft aus. Niemand war dabei gewesen, und doch glaubten sie daran. Wie frisch verliebt! Ständig hingen sie zusammen, konnten sich blind aufeinander verlassen. Eine verschworene Gemeinschaft, zu der jeder das beitrug, was er konnte. Da gab es keine Konkurrenz, keinen Neid auf das, was die Nachbarn hatten. Auf Privatbesitz verzichteten sie, teilten, was es gab. Es war ihnen alles gemeinsam. Und das fiel nicht einfach vom Himmel… oder doch?!

Erinnerung an Gottes Weisung fürs Leben

Auch sie in der Jerusalemer Gemeinde erinnerten sich an den Anfang: Du weißt doch noch: Unsere Vorfahren damals in der Wüste Sinai! Weit und breit nichts als Sand und Steine. Und ein hoher felsiger Berg, den Gipfel in Wolken gehüllt. Mose war hinaufgestiegen, ganz allein. Um mit Gott zu reden. Mit Gott persönlich!
Nicht wohl war ihnen bei dem Gedanken. Wer wusste schon, ob er da heil wieder runter kam…
Gewartet haben sie, Stunde um Stunde. Als sie schon nicht mehr mit ihm gerechnet hatten und aufbrechen wollten, tauchte er plötzlich auf, ganz klein, kaum zu sehen in dieser gigantischen Felswand. Mit zwei Tafeln im Arm. Gottes Tora, seine Weisung. Sie hat unsere Vorfahren und auch uns selbst begleitet, und soll das auch weiterhin tun. Jesus hat uns darin immer wieder bestärkt, Gottes Weisung wie einen Schatz hochzuhalten, dass sie uns Orientierung gibt, hilft, tröstet - fürs Leben.
Und du weißt doch: das wichtigste Gebot in der Tora heißt: „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ Mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele – Gott lieben und den Nächsten. Darin sind wir eins. Ein Herz und eine Seele.

Das Land gehört uns nicht

Auch nicht einer von uns sagt von seinen Gütern, dass sie ihm gehören, sondern es ist uns alles gemeinsam. Auch das haben wir uns in unserer kleinen jüdischen Gemeinde in Jerusalem nicht ausgedacht. Erinnerst du dich? Denn Gott sagte schon unseren Vorfahren in seiner Tora: Ihr sollt das Land nicht auf Dauer verkaufen, denn es ist mein Land, ihr sei meine Gäste.
Das Land gehört uns nicht.
Immobilien bergen die Gefahr, andere abhängig zu machen. Aber: Reichtum verpflichtet – nämlich dazu, dass es niemanden geben soll, der verarmt. Deswegen wird bei uns alles verkauft und der Erlös der Gemeindeleitung übergeben. Damit keiner unter ihnen ist, der Mangel hat.

Erinnere uns an das Staunen.
mit staunendem offenen Blick
hast du uns als Kinder gesegnet,
sind wir allem Neuen begegnet.
 

Erinnere uns an den Anfang,
an Ursprung und Werden, Vergehen,
damit wir das Leben verstehen,
damit wir klug werden. 

So viel haben, wie jede und jeder braucht

Und noch etwas, woran sich die kleine jüdische Gemeinde, die an ihren Messias Jesus glaubte, gehalten hat: Man gab einem jeden, so viel er brauchte.
Zurück zu den Vorfahren in der Wüste. Jeden Tag dieser Sand! Er knirscht zwischen den Zähnen. Verstopft die Ohren. Außerdem haben sie Hunger. Und schlechte Laune. Dabei hatte Gott ihnen ein Land versprochen, in dem nicht nur wenige mehr als genug haben und der Rest leidet Hunger, sondern alle sind glücklich. In dem jede und jeder so viel hat, wie er und sie braucht. Zuneigung. Brot. Frieden.
Plötzlich fängst es an zu knistern. Es regnet… es regnet Krümel, die süß schmecken. Manna.
Nimm, so viel, wie du brauchst, sagt Gott. Nicht: Nimm, so viel Du kriegen kannst. Dann nehmen die einen viel, und für die anderen bleibt nichts übrig. Darum beten wir: Unser täglich Brot gib uns heute…täglich neu, so viel, dass alle genug haben, und die Preise durch Warentermingeschäfte nicht künstlich hoch gehalten werden. Das, was zu viel ist, verdirbt - auch den Charakter.
Deshalb das, was du wirklich brauchst, gibt Gott uns täglich neu – Himmelsbrot – Brot und Himmel, Güte und Segen, Wasser und Liebe. Alles, was ich nicht festhalten kann. Denn festhalten verdirbt. Bringt aus dem Gleichgewicht. Den Körper, die Seele, die Liebe. Ja, auch die ganze Erde. So viel Müll. So viel Ungerechtigkeit. So viel Gezocke. So viel Gewissenlosigkeit.

Dabei ist doch genug da! Das Himmelsbrot – leise fällt es uns in die Hand. Nähe, die wärmt. Arbeit, die satt macht.
(Nach Anregungen von Kirsten Fehrs, Predigt zur Kirchentagslosung Ex 16 im Eröffnungsgottesdienst zum Hamburger Kirchentag 2013)

Erinnere uns an Erfahrung.
Erfahrung, die uns heute prägt,
hat uns auch durch Trauer geleitet,
hat unseren Glauben geweitet. 

Erinnere uns an den Anfang,
an Ursprung und Werden, Vergehen,
damit wir das Leben verstehen,
damit wir klug werden. 

Wann werden wir endlich so, wie wir nie waren? (nach J.M. Modeß, GPM 74, S.332)

Das Leben Israels in der Wüste, Gottes gute Gebote, die zum Leben in Gerechtigkeit helfen, das Leben der kleinen Gemeinde in Jerusalem, die an ihren Messias Jesus glaubte und alles miteinander teilte…War das alles nur ein Traum? Eine Utopie, die sowieso nicht funktioniert?
Damals – wie frisch verliebt? Es gab ja auch das Murren, die Sehnsucht zurück in die Sklaverei an den Fleischtöpfen Ägyptens. Vielleicht waren sie nie ein Herz und eine Seele.
Umso drängender die Frage: Wann werden wir endlich so, wie wir nie waren? Wann verlernen wir das Festhalten, und lernen abzugeben? Wann werden wir endlich so gerecht, wie wir nie waren?
Und zwar so, dass alle etwas einzubringen haben. Dass wir Güter und Lasten, Schulden und Ideen nicht für uns behalten, sondern teilen. Wahrscheinlich wohl nie.
Die Corona-Krise hat uns überdeutlich gezeigt, wo unser Zusammenleben im Argen liegt. Dass wieder einmal die Ärmsten der Armen besonders gefährdet sind, auch in Deutschland. Und die Berufsgruppen, die am dringendsten gebraucht wurden - die Pflegekräfte, die Verkäuferinnen, die Leiharbeiter – mit am schlechtesten bezahlt werden.

Aber ohne die Sehnsucht nach einer gerechten Welt gäbe es die vielen kleinen Schritte nicht, die es jetzt schon gibt: In neue Technologien investieren, die unser Klima nicht weiter zerstören. Klimaziele verfolgen, die verhindern, dass die schweren Klimaveränderungen zuerst die Armen der Ärmsten treffen…Arbeit und Brot teilen, soviel jeder und jede braucht. Ganz kleine Schritte hin zu einer gerechten Welt, wie Gott sie gewollt hat. Dazu gehört hinzuschauen, mitzufühlen, aufstehen gegen den Hass und die Hetze - Himmelsbrot, gerecht geteilt, denn es ist genug da, aber es lässt sich nicht festhalten.

Erinnere uns an das Ende,
ans Ende, wenn du zu uns sprichst:
Willkommen seid ihr. Euer Bangen
Ist gänzlich in Liebe umfangen. 

Erinnere uns an den Anfang,
an Ursprung und Werden, Vergehen,
damit wir das Leben verstehen,
damit wir klug werden. 

Verliebt in die Zukunft

Weißt du noch? 40 Jahre ist das Abi her. Eine lange Zeit – so lange wie Israel nach seiner Befreiung durch die Wüste gezogen ist. Kaum erkennen wir uns wieder. Ergraut, beleibt. Nach und nach entdecken wir altvertraute Gesichtszüge, ein bekanntes schelmisches Lächeln blitzt auf, immer noch strahlende Augen. Neugierig aufeinander, entdecken wir uns wieder.
War eigentlich wirklich alles so traumhaft? Was ist aus uns geworden? Die kleine Fachwerkstadt bleibt uns. Noch immer sind wir verliebt, aber nicht mehr in die Vergangenheit. Frisch verliebt in die Zukunft! Denn die Verheißung bleibt. Macht Lust auf neues Leben, auch wenn wir nicht mehr taufrisch sind. Die Verheißung, sich an Gottes Wort als Weisung zum Leben zu halten. In der Gemeinschaft zu bleiben. Himmelbrot zu teilen mit denen, denen es nicht so gutgeht wie uns. Gott zu loben. Gesicht zu zeigen.

Erinnere uns an den Anfang,
an Ursprung und Werden, Vergehen,
damit wir das Leben verstehen,
damit wir klug werden. 

So soll es sein. Das heißt: Amen.

Das Kirchentagslied „Erinnere uns an den Anfang“ kann zwischen den Abschnitten gesungen bzw.in Coronazeit gespielt und mitgelesen werden.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Anne-Kathrin Kruse

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die St. Michaelskirche in Schwäbisch Hall gilt unter den selbstbewussten Haller Bürger*innen als ihr „Wohnzimmer“, vorzugsweise zu den Hoch-Zeiten städtischer Events. Während die Gottesdienstgemeinde sich sonst aus der ganzen Region einschließlich der Tagestouristen zusammensetzt, hat sich seit der Coronazeit ein neues Gemeinschaftsgefühl etabliert. Man schaut nacheinander und freut sich, sich wieder zu sehen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Menschen tauschen Erinnerungen aus und verklären diese mitunter kräftig. Gleichwohl verraten diese Verklärungen etwas von der Verheißung und den daraus resultierenden Hoffnungen, von denen der Glaube lebt. Diese Hoffnungen, Träume, Visionen von einer gerechten Welt im Sinne von Gottes Gerechtigkeit, die eben nicht blind ist, möchte ich stark machen. Denn sie machen uns lebendig. 

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Besondere Freude haben mir die Entdeckungen im Text gemacht, die sich auf Quellen und Parallelen im Alten Testament rückbeziehen und mir dadurch den Zugang zum Text wie zu heutiger Lebenswirklichkeit erleichtert haben. Sie helfen mir auch, biblische Texte nicht vorschnell zu individualisieren oder zu spiritualisieren. 

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Monika Hautzinger hat mir wichtige Hinweise v.a. zu Predigtstruktur und Perspektiv-wechseln gegeben – vielen Dank! 

Perikope

Schaue den Himmel mit meinem Gesicht – Predigt zu Apostelgeschichte 2,1-21 von Kirstin Müller

Schaue den Himmel mit meinem Gesicht – Predigt zu Apostelgeschichte 2,1-21 von Kirstin Müller
2,1-21

Der Titel entstammt dem Paul Gerhardlied: Die güldne Sonne EG 449,1-4  

(Ob Pfingsten gesungen werden darf? Vielleicht ist es möglich, die Melodie des Liedes zu spielen und die Strophen zu lesen, vor allem die erste mit der schönen Zeile: Schaue den Himmel mit meinem Gesicht. Die Predigt hat zwei Teile, einen erzählerischen Teil 1 und einen meditativen Teil 2. Zwischen beiden Teilen kann das Lied O Heilger Geist kehr bei uns ein, EG 130,1+2, gespielt (gesungen) werden. Ich habe einen Teil für Gottesdienst drinnen und Gottesdienst draußen ersonnen. Ich setze den Bibeltext als gelesen voraus. Bibelzitate sind kursiv)

Teil 1

Drinnen

Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle beieinander an einem Ort. Wie hören Sie die Pfingstgeschichte heute – hier im Kirchraum, mit Abstand und Atemschutz? Versammelt mit manchen (wahrscheinlich nicht allen) an diesem Ort?  Die Pfingstgeschichte bringt ja einiges an Menschenmenge,  Lautstärke und Bewegung mit: volle Häuser und Straßen, lautes Stimmengewirr. Das Brausen von Geistkraft! Da ist richtig was los:  Gottes Wort will Gehör finden. Will mit Macht hinaus – in die weite Welt hinein. Etwas will neu und anders werden. Lassen wir sie heute unter uns wirken.

Draußen

Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle beieinander an einem Ort. Wie hören Sie die Pfingstgeschichte heute hier draußen? Gemischt mit dem Rauschen der Blätter und Geräuschen der Straße? Mit Augen und Ohren bei all dem, was draußen zu sehen und zu hören ist? Pfingsten erzählt eine Geschichte vom Draußen: Gottes Wort strebt nach draußen. In die Welt hinein.

Vorbei ist die Zeit des kleinen, abgeschlossenen 12er/Jünger_innenkreises. Vorbei ist die Exklusivität. 120 Menschenwesen sind es schon, die sich zu den Geschwistern zählen. Viele sind es, die 50 Tage nach Ostern in Jerusalem in einem Haus zusammenkommen. Eng stelle ich es mir vor. Aufregend. Und nicht still.  Schon recht früh am Morgen, zur dritten Stunde, um 9 Uhr also, tost und braust es gewaltig im Haus. Wie bei einem Sturm. Und auf jede und jeden im Haus setzt sich eine Feuerzunge. Da ist richtig was los – laut und machtvoll werden die Versammelten gepackt und ergriffen.  Außerdem fangen alle gleichzeitig an, in allen möglichen Sprachen drauflos zu reden. Das entwickelt eine eigene Lautstärke.  Kein Wunder, dass hier etwas aus dem Haus nach draußen dringt und gehört wird. Kein Wunder, dass viele herbeigelaufen kommen und sich wundern.

Das Gotteswort dringt nach draußen in die Straßen Jerusalems. Es ist Wochen-Ernte-Festzeit. Viele Menschen aus aller Welt sind in Jerusalem versammelt. Die herbeigelaufen sind, hören und verstehen was gesprochen wird. Jede und jeder in der ihnen vertrauten Muttersprache. Die mit Geistkraft durchwirkte Sprache der  Versammelten macht das möglich. Fantastisch!  50 Tage nach Ostern gibt es kein Zurückhalten mehr: Die Jesusnachfolgenden öffnen Mund, Herz und Verstand, alle sprechen und predigen drauflos. Sie reden von den großen Taten Gottes. Sie bringen sie – durch die Fenster und Türen des Hauses hinaus - zur Welt! Das wirkt. Viele laufen herbei, bleiben stehen, wundern sich. Nachdem sie zunächst vielleicht nur sprachlos gestaunt haben, tauchen jetzt Fragen auf: Was ist denn da los? Sind die besoffen? Das gibt’s doch gar nicht, das geht doch nicht – höre ich sie durch die Fenster und Türen in das Haus hineinrufen. „Doch, das gibt es. Doch, das geht“, sagt diese Geschichte.

Jetzt ist es Zeit, ans Fenster, an die Tür, vor das Haus zu treten. Die 12 tun das. Wie früher. Jedenfalls fast. Denn Judas ist nicht mehr dabei. Für ihn ist Matthias ausgelost worden. Diese 12 treten auf. Petrus ergreift das Wort. Ordnet das Durcheinander der Sprachen, indem er ein altes Prophetenwort zur Hilfe nimmt: (Joel 3,1-5)

„So wird es sein in den letzten Tagen – spricht Gott – da will ich meine Geistkraft ausgießen auf alle Welt. Eure Söhne und Töchter sollen prophetisch reden, Eure Jugendlichen Visionen haben und Eure Alten Träume träumen. Selbst die Unfreien, Sklavinnen und Sklaven, werden weissagen können. Am Ende der Zeit wird alles feurig und blutig, rauchig und finster werden. Dann aber wird der Tag Gottes kommen, groß und glanzvoll und die Gottes Namen anrufen, werden gerettet werden.“

Es ist in all dem Lärm und Sprachgewirr gut zu hören, dass es um Rettung geht. Um Träume und Visionen als Weg zu Gott. Geistvoll. Wirklich. Die, die Petrus zuhören, fragen: „Was sollen wir tun?“ Petrus antwortet: „Ändert Euch. Lasst Euch taufen auf Jesu Namen. Dann werden Eure Sünden von Euch genommen und  ihr werdet die Heilige Geistkraft empfangen.“ (Apg 2, 37-41) Petrus war überzeugend. An jenem Tag kamen noch 3000 Personen dazu.  So war es - erzählt die Geschichte von Pfingsten – als die Jesusnachfolgenden von Geistkraft ergriffen wurden und das geistdurchwirkte Wort Gottes nach draußen, in die Welt kam.

 

Lied: EG 130 1+2 O Heilger Geist kehr bei uns ein – auch hier ist es möglich, die Melodie zu spielen und die Strophen zu lesen

Teil 2: (meditativ - drinnen)

O Heilger Geist kehr bei uns ein und lass uns Deine Wohnung sein … Wie können wir an dieses erste Pfingstfest anknüpfen? An Gottes rettendes Wort, das der Geist verteilt.

Ein erster Anknüpfungspunkt ist ja, dass wir damit beschäftigt sind, uns um Rettung zu bemühen. Abstand, Atemschutz, Desinfektion. Neue Formen von Kontakt ausprobieren. Und wir haben in den letzten Wochen Erfahrungen gesammelt, was uns rettet, wenn uns die Decke auf den Kopf fällt, der Raum zu eng wird, wir Menschen vermissen, uns angesteckt haben oder vom Virus bedroht fühlen.

Was hat uns gerettet? Ein Telefonat, ein Winken durchs Fenster, Hausputz, puzzeln, Lieder singen…… Das kleine alltägliche Tun verbindet uns mit dem großen Traum von Rettung. „So wird es sein – spricht Gott – ich will meine Geistkraft ausgießen auf alle Welt. Eure Söhne und Töchter sollen prophetisch reden, Eure Jugendlichen Visionen haben und Eure Alten Träume träumen.“  Sind Träume gesprossen – in den letzten Tagen? Wochen? Haben sie sich verändert? Und: welche Träume nähren nicht die Angst, sondern dass Vertrauen? Finde ich in ihnen Antworten auf die große Frage im Außen der Pfingsterzählung:  Was will das werden? Wie kann ich das, was mein Vertrauen nährt, teilen? Dass etwas davon durchdringt. Von drinnen nach draußen. Vielleicht indem ich nicht aufhöre zu erwarten, dass das, was werden will, gut ist.  Von Gott her steht immer Rettung aus.  Vielleicht indem ich den Dingen da draußen ihren Lauf lasse, aber immer mal  wieder aus dem engen Raum meiner Angst und Sorge heraustrete.  Mich der Weite Gottes, die ich nicht ganz verstehe, anvertraue. Und mich der Größe des Verstehens durch Gottes Geist überlasse, in allen Sprachen der Welt und der Herzen.  Gottes Geist ermutigt mich zu träumen von Nähe und Gesang, von Begegnungen und Berührungen.

Ohne Gefahr.Und damit dem Rettenden, dem, was kommen und sein wird, von Gott her, schon jetzt in und bei mir einen Raum zu bewahren. Damit es in der Welt bleiben und wachsen kann. Ich will nicht aufhören, den Himmel mit meinem Gesicht zu schauen. Und der Friede Gottes, der größer ist als alles, was wir mit unserem Verstand begreifen können, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Teil 2: (meditativ - draußen)

O Heilger Geist kehr bei uns ein und lass uns Deine Wohnung sein … Wie können wir an dieses erste Pfingstfest anknüpfen?

Ein erster Anknüpfungspunkt ist ja, dass wir auch draußen sind. Und mit uns das Gotteswort. Und andere Menschen. Wir zeigen unseren Gottesdienst her – andere können uns sehen und hören. Sie können sich über uns wundern oder uns nach unserem Glauben befragen (über den Zaun hinweg): „Was ist da los?“

Und wir können schauen. Wir können den Himmel mit unserem Gesicht schauen – wie es im Anfangslied hieß.  Das Schauen verbindet uns mit der alten Prophezeiung, an die sich Petrus damals gehalten hat. Schauen bedeutet biblisch gesehen auch träumen, Visionen haben, weissagen, prophezeien. Schaue den Himmel mit meinem Gesicht….

Spüren Sie: Sonne auf der Haut, Luftzug und Wind, Regentropfen… Schauen Sie sich um: Draußen gibt es viel zu sehen.  (Zeit, das konkrete Draußen wahrzunehmen. Bestimmt wird es frisches Grün, allerlei Lebensgeräusche u.ä. zu sehen geben) Gibt es ein Schauen für mich, einen Traum, einen Blick in die Zukunft,  etwas, wonach ich mich sehne? Etwas, das Lebenskraft entfalten soll. Etwas, das ich hege und pflege, damit es wächst. Oder heilt. Etwas, das mich stärkt ……

Wenn ich den Himmel mit meinem Gesicht schaue, spüre ich auch, „wohin“ Gott mich sehnt?  Eine Bewegung, in meinem Leben, auf etwas oder jemanden zu? Ein Vertrauen(können), dass es so gut weitergeht?  Was ist jetzt da?

Geistkraft verbindet das, was ich träume und sehne und wünsche mit anderen. Um mich herum.  Es wird verstehbar, besprechbar und dadurch wirksam. Selbst wenn alles durcheinander geredet wird, manches nicht klar ist und viele verschiedene Meinungen im Raum stehen. Geistkraft verbindet uns mit Gott. Und bei Gott ist es möglich, dass alles  bunt durcheinander und doch klar ist, in vielen Sprachen gesprochen, gefühlt, gehofft und doch eindeutig. Weil Gott uns zutraut, dass das, was retten kann, durch unsere Träume und unser Tun zur Welt kommt. Nicht immer fehlerfrei, nicht immer gleich zu verstehen. Aber wirksam. 

Geistkraft hält den Glauben daran lebendig, dass das geht. Und dass unser Schauen des Himmels unser gemeinsames Gebet und unser Vertrauen verbindet, sodass Kraft davon ausgeht. Und etwas nach außen dringt, was himmlisch ist und die Kraft hat, die Welt zu verwandeln. Die Kraft, der Schwung dieser Geistkraft seit damals, breite sich in uns aus und durch uns in der Welt.  Und der Friede Gottes, der größer ist als alles, was wir mit unserem Verstand begreifen können, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrerin Kirstin Müller

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Hilfreicher als Zahlen und Fakten zu Ihrer Gemeinde sind Hinweise dazu, welche Men-schen Sie beim Predigtschreiben vor Augen hatten. Notieren Sie bei Bedarf auch Beson-derheiten zu Anlass, Zeit oder Art des Gottesdienstes, die den Leser/innen den Zugang zu Ihrer Predigt erleichtern.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Bitte beschränken Sie sich auf einen Gedanken; beispielsweise einen Hinweis auf Ihre Schreibstrategie, eine lebensweltliche Wahrnehmung, eine Einsicht, die Ihnen der Pre-digttext erschlossen hat.

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Es geht um die alte Einsicht: Predigende sind zuerst Hörende. Bei der Vorbereitung der Predigt gehen einem viele Entdeckungen durch den Kopf und durch das Herz. Welche ist für Sie besonders bedeutsam? Welche Erkenntnis über Gott, Ihre Gemeinde, den Gang der Dinge… wird Sie weiter begleiten?

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Predigten redigieren: Das ist ein wichtiger Arbeitsschritt beim Predigtschreiben, egal ob mit oder ohne Predigtcoach. Beschreiben Sie einen Schritt aus Ihrer Überarbeitung dieses Predigtmanuskripts, den Sie besonders hilfreich fanden.

 

 

Perikope

Unter Menschen - Predigt zu Apostelgeschichte 10,21-35 von Barbara Bockentin

Unter Menschen - Predigt zu Apostelgeschichte 10,21-35 von Barbara Bockentin
10,21-35

Dilara umarmte ihre Mutter, bevor sie die Wohnungstür hinter sich schloss. Draußen atmete sie noch einmal tief durch. Sie strich durch ihre Haare. So nervös war sie schon lange nicht mehr gewesen. Heute war ein wichtiger Tag für sie. Das Aufnahmegespräch in der Altenpflegeschule stand an. Die Berufswahl war ihr leicht gefallen. Denn sie genoss es, mit alten Menschen zusammen zu sein. Dilara reckte den Kopf in die Höhe und begann energisch auszuschreiten. Nach einer kurzen Busfahrt, einem noch kürzeren Fußweg öffnete sie die Tür der Schule. Andere waren schon vor ihr da, sie musste warten.

Am Nachmittag erzählte sie von dem Gespräch. Ihre Familie war neugierig und stellte Fragen über Fragen. Dabei schwang leichte Skepsis mit, denn Dilara hatte sich für die evangelische Altenpflegeschule entschieden. Christentum und Islam ging das überhaupt zusammen? Dilara sprudelte nur so mit ihren Antworten heraus. Sie freute sich. Die Bedenken ihrer Familie teilte sie nicht.

 

Im August würde es losgehen. Einen Platz für ihre praktische Ausbildung hatte sie auch schon. Es war eine Einrichtung der Diakonie, in der sie arbeiten würde. Sie war überglücklich. Nun fieberte sie dem ersten Schultag entgegen.

Dann war es soweit: Dilaras erster Schultag. Das Fach Religion gehörte ebenso zu ihrem Schulalltag wie pflegerische oder medizinische Themen. Vor allem bei den Themen, die sich mit dem Umgang mit alten Menschen beschäftigten, lebte sie regelrecht auf. Vieles war ihr vertraut, denn der Respekt vor alten Menschen wurde in ihrer Familie gelebt. Lebhaft diskutierte sie mit den anderen in ihrer Klasse über ethische Fragen. Dabei empfand sie keinen so großen Unterschied zu dem, was ihre Religion zu sagen hatte.

Damit beschäftigte Dilara sich auch außerhalb der Schule weiter. Sie suchte das Gespräch mit ihrer Familie. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um diese beiden Fragen: „Ist es wichtig, woher der Mensch kommt oder an welchen Gott er glaubt? Oder ist es wichtiger, dass er Menschen liebt?“

 

Einige Wochen später stand Dilara pünktlich morgens um 6 Uhr im Stationszimmer ihres Altenpflegeheims. Sie wartete. Gerade hatte keiner Zeit für sie. Aufmerksam schaute sie sich um. Neben dem Stationszimmer saß eine alte Frau im Sessel. Sie war eingenickt. Hinter ihr kam ein alter Mann mit einem Rollator über den Flur geschoben.

Im nächsten Moment stand eine Altenpflegerin vor Dilara. Fragend schaute sie Dilara an. „Du bist die neue Schülerin? Ich bin Jutta. Wir sagen hier alle Du zueinander.“ Dilara nickte. „Dann komm mal mit. Ich zeig dir, wo du deine Sachen lassen kannst.“ Bis zur Pause verging die Zeit wie im Flug. Jutta zeigte ihr die Station, auf der sie arbeiten würde. Dilara versuchte sich zu merken, was sie hörte. So viele Einzelheiten. Ihr schwirrte der Kopf. Dann war endlich Pause.

Jetzt war Gelegenheit, die anderen ein wenig kennenzulernen. Sie frühstückten mitten auf dem Stationsflur. Einige Bewohner saßen um sie herum. Dilara stand unvermittelt auf. Ihr war aufgefallen, dass einer Frau ein kleiner Zettel aus der Hand gefallen war. Sie hob ihn auf und reichte ihn der Frau. Die anderen hatten das gar nicht mitbekommen.

Später half Dilara beim Mittagessen. Jutta zeigte ihr einen alten Herrn, der Hilfe beim Essenanreichen braucht. Sie setzte sich neben ihn. „Hallo, ich heiße Dilara. Ich möchte ihnen gerne helfen. Darf ich?“ „Ich bin Leo Bremer. Sie sind wohl nicht von hier?“ Dilara ging innerlich auf Abstand. Solche Sätze kannte sie zur Genüge. „Doch, ich bin hier geboren.“ „Aber ihr Name.“ „Meine Eltern sind Türken.“ „Hab‘ ich mir´s doch gedacht.“ Dilara schluckte. Sie lächelte Leo Bremer an. „Was?“ „Na, dass sie nicht von hier sind.“ Dann deutete Leo Bremer auf seinen Teller. „Was ist nun? Ich habe Hunger. Da ist es doch vollkommen egal, wer mir hilft. Hauptsache, es tut jemand.“

 

Inzwischen sind einige Wochen vergangen. Dilara geht immer noch mit viel Freude zu ihrer Arbeit. Viele neue Eindrücke jeden Tag. Das was sie bislang in der Schule gelernt hat, kann sie jetzt hier anwenden. Die Skepsis, die ihr anfangs entgegenschlug, ist geringer geworden. Sicher, hin und wieder gibt es Bemerkungen. Aber im Großen und Ganzen geht alles gut. Jutta ist eine aufmerksame Mentorin. Sie erklärt gut und beobachtet genau. Ihr ist nicht entgangen, dass Dilara sehr aufmerksam ist. „Du machst das sehr gut. Die Bewohner mögen dich. Sie spüren, dass du sie in dein Herz geschlossen hast.“ „Ich bin doch irgendwie dafür verantwortlich, dass sie sich wohl fühlen. Für mich ist das selbstverständlich.“

Heute ist Freitag und in dieser Woche hat sie Spätdienst. Die Beschäftigungstherapeutin hat sie gebeten, sie zu unterstützen. Dabei ist sie sehr vorsichtig. „Das macht dir doch nichts aus? Den Bewohnern ist der Gottesdienst wichtig.“ „Nein. Das ist in Ordnung. Fragst du, weil ich Muslima bin?“ Ella nickt. „Ja, ich möchte nicht, dass du dich unwohl fühlst. Andere Kolleginnen machen das nur ungern. Die frage ich inzwischen nicht mehr.“ „Mich kannst du fragen und ich tu es gerne. Den alten Leuten ist es wichtig, zum Gottesdienst zu kommen. Alleine schaffen es die meisten von ihnen ja nicht. Ich finde, das können sie von uns erwarten, dass wir da helfen. Das hier ist doch ein christliches Haus. Da gehört das einfach dazu.“ Ella schaut sie erstaunt an. Mit so einer langen Antwort hat sie nicht gerechnet. Sie überlegt. Dann sagt sie nur: „Gut, um viertel nach drei müssen die ersten nach unten gebracht werden.“ Beim Gehen dreht sie sich noch einmal um: „Wäre schön, wenn du dann bei Frau Schiller sitzen bleiben könntest. Wenn niemand ihre Hand hält, wird sie immer so unruhig. Früher ist sie nämlich immer mit ihrem Mann gemeinsam in den Gottesdienst gegangen.“ Dilara lächelt. „Gerne.“

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Barbara Bockentin

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
In Delmenhorst gibt es eine evangelische Altenpflegeschule und ein Altenpflegeheim, beide sind in Trägerschaft  der  Kirchengemeinden in Delmenhorst. Das Altersheim ge-hört zu der Kirchengemeinde in der ich tätig bin. Aufgrund des Personalmangels wer-den immer wieder Fragen laut, nach welchen Kriterien Pflegekräfte  eingestellt werden. Gerade bei muslimischen Bewerber*innen taucht die Frage auf, ob das in einer evange-lischen Einrichtung geht. Für die Schule ist diese Frage allerdings nicht relevant.
 

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Bei der Vorbereitung hat mich die Frage bewegt, wie sich denn das spezifisch Christliche in der Pflege äußert. Messen wir da nicht vielmehr mit zweierlei Maß, indem bei auslän-dischen Kräften genau darauf geschaut wird, bei den anderen hingegen nicht? Mit solchen oder ähnlichen Fragen beschäftigen sich auch Bewohner*innen und deren Angehörige.

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ganz überrascht war ich, wie der Bibeltext  und die Situation in der Pflege miteinander zu versprechen waren. Nachdem ich darauf gestoßen war, war es auch einfach, die Predigt zu formulieren. Die Frage, wie das, was für den christlichen Glauben entscheidend ist  in die-sem Fall Nächstenliebe), im Alltag - und gerade in diesem sensiblen Umfeld – gelebt und gestaltet werden kann, bleibt. Darauf gibt es keine einfache Antwort. Dass es vor Gott auf unser Handeln ankommt, ist mir hier wichtig geworden.

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Besonders hilfreich fand ich die Anregungen, die sich mit der Ausgestaltung der von mir gewählten Form der Erzählung befasst haben. Doch auch die Anregungen, die sich auf das Sichtbarmachen der Person der Predigerin bezogen, haben mich beschäftigt und dazu ge-führt, mich aus anderer Perspektive mit der von mir gewählten Predigtform zu beschäfti-gen.

 

Perikope

„Aufgefangen in Gottes Freiheit“ – Predigt zu Apostelgeschichte 16,23-34 von Dörte Gebhard

„Aufgefangen in Gottes Freiheit“ – Predigt zu Apostelgeschichte 16,23-34 von Dörte Gebhard
16,23-34

Predigt am Sonntag Kantate, am 19. 5. 2019 um 9.30 Uhr in der Reformierten Kirche Schöftland über Apg 16, 23-34

Gnade sei mit euch von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde

Gleich zuerst eine Frage:

Kennen Sie irgendeine Geschichte, in der Unschuldige ihrer Freiheit beraubt und ins Gefängnis geworfen werden? Bestimmt!  Leider! Das ist zu erwarten!

Solche Geschichten gibt es abertausendfach. Amnesty international könnte leider ganze Bibliotheken mit solchen Berichten füllen.

Eine besonders aufregende Geschichte dieser Sorte steht in der Apostelgeschichte des Lukas im 16. Kapitel. Paulus und Silas sind in Philippi. Sie haben dort einen Wahrsagegeist bekämpft, der ein paar geschäftstüchtigen Herren leider viel Geld gebracht hatte. Dafür werden sie sofort wegen Unruhestiftung angeklagt und unmittelbar bestraft.

Nachdem man ihnen, Paulus und Silas, viele Schläge verabreicht hatte, ließen sie die beiden ins Gefängnis werfen. Dem Gefängniswärter wurde eingeschärft, sie besonders gut zu bewachen. Befehlsgemäß brachte er sie in die hinterste Zelle und schloss ihre Füße in den Holzblock.

Paulus und Silas sind nicht einfach Unschuldige, sondern sogar Wohltäter; sie haben gerade eine Frau befreit, aus den Fängen zwielichtiger Gestalten! Dabei haben sie allerdings für etwas Aufsehen gesorgt, denn wer lukrative Geschäfte unmöglich macht, lebt gefährlich! Bis heute. So fangen diese Geschichten an! Sie sind leider nicht neu und schon gar nicht einzigartig.

Eine zweite Frage habe ich jetzt: Waren Sie selbst schon einmal im Gefängnis? Und dort in der hintersten Zelle? Hoffentlich nicht! Das sei ferne!

Ich war schon hinter Gitter. 2001 in Paris, mitten in der Stadt, in einem verwahrlosten Bau aus dem 19. Jahrhundert, mit dem irreführenden Namen La Santé, also „Die Gesundheit“.  Wie kann man ein Gefängnis bloss so nennen? Man kann es, wenn die Strasse davor schon „Rue de la santé“ heisst.

Das Gefängnis ist leider immer schon berühmt-berüchtigt, bis 1972 wegen der Hinrichtungen, Vollstreckungen der Todesstrafe, seitdem wegen der grauenhaften hygienischen Bedingungen. Das Gefängnis war 2001 vollkommen überbelegt, man musste sich drinnen einen Weg durch die Gefangenenmenge bahnen. Nun ist es seit 2014 geschlossen und wird renoviert.

Allerdings war ich seinerzeit nur kurz dort, zur Seelsorgeausbildung, und drum noch nie um Mitternacht.

Was sich damals mitten in der Nacht in Philippi zuträgt, erzählt Lukas folgendermassen:

Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und sangen Gott Loblieder. Die anderen Gefangenen hörten ihnen zu. Plötzlich gab es ein starkes Erdbeben, dass die Fundamente des Gefängnisses erschütterte. Da sprangen alle Türen auf, und die Ketten fielen von den Gefangenen ab.

Liebe Gemeinde

Das sind doch die fabelhaften und fieberhaften Fantasien von Inhaftierten überall auf der Welt! Was sollen sich Gefangene denn Besseres wünschen als so ein passendes Erdbeben? Genau so stark, dass die Türen aufspringen, aber so schwach, dass niemandem die Decke auf den Kopf fällt?! Stark genug, um die Freiheit zu erlangen und doch so schwach, dass niemand begraben wird unter tödlichen Trümmern? Leider ist nicht überliefert, welche Lieder und wie laut man singen muss, um ein solch treffliches Erdbeben auszulösen. Wir wissen auch nichts mehr von den anderen Gefangenen, die den Gesängen lauschten, leider.

Eine dritte Frage habe ich noch:

Kennen Sie schon die Geschichte aus dem Gefängnis, in der zwei Gefangene den Wächter befreien? Wahrscheinlich nicht! Bis jetzt! Diese Geschichte steht auch nur in der Apostelgeschichte des Lukas im 16. Kapitel. Sie geht erst so richtig los, wenn alle anderen Geschichten von Befreiungen leider längst zu Ende sind. Aber Freiheit ist niemals das Ende, sondern immer der Anfang von etwas Neuem! Jetzt wird es spannender:

Der Gefängniswärter wurde aus dem Schlaf gerissen. Als er sah, dass die Gefängnistüren offen standen, zog er sein Schwert und wollte sich töten. Denn er dachte: Die Gefangenen sind entflohen.

Dieser Wächter weiss Bescheid! Der Mann hat keine Illusionen oder sowas. Und er braucht kein Fitzelchen Fantasie dazu, sich seine Zukunft auszumalen. Da er Schloss und Riegel aus nächster Nähe kennt, weiss er leider nur zu gut, wie es sein wird, wenn er gleich drin sitzt, halbnackt, halbtot, frisch verprügelt mit Ruten, in der hintersten Zelle, die Füsse im Holzblock eingeschlossen. Warum sollten es die Römer mit ihm anders machen?!

Aber Paulus schrie laut: »Tu dir nichts an! Wir sind alle noch hier.«

Sie sind noch alle da, aber es ist nichts mehr wie es war. Die Gefangenen sind frei, sie könnten fliehen. Machen sie aber nicht. Mit Gottes Hilfe kommt es überhaupt nicht so, wie es eigentlich kommen muss.  Denn der Gefängniswärter muss eben auch erst noch befreit werden. Er ist noch gefangen in Finsternis, Gehorsam und Todesangst.

Der Wärter rief nach Licht. Er stürzte in die Zelle und warf sich zitternd vor Paulus und Silas nieder. Dann führte er sie hinaus und fragte: »Ihr Herren, was muss ich tun, damit ich gerettet werde?« Etwas anderes als Gefangenschaft kann sich der Wächter leider gar nicht vorstellen, er stellt sich nur einen Wechsel in der Chefetage vor und hofft, dass Paulus und Kollege die neuen Chefs werden und er so seinen alten Wächtern, den Römern, entgeht. An echte Freiheit kann er gar nicht denken, aber Silas und Paulus schaffen es mit Gottes Hilfe.

Die beiden fangen ihn auf in der Freiheit Gottes.

Sie antworteten: »Glaube an den Herrn, Jesus, dann wirst du gerettet und mit dir alle in deinem Haus.« Und sie verkündeten ihm und allen anderen in seinem Haus das Wort des Herrn. Jetzt kennen wir schon drei Sorten Gefangenschaft und Freiheit.  Zuerst sind da die Mitgefangenen, die sich selbst leider nicht zu singen trauen: Sie sind äusserlich und innerlich gefangen.  Dann kommen Paulus und Silas, sie sind zwar äusserlich gefangen, aber innerlich vollkommen frei. Sie sind sogar so frei, auch noch andere zu befreien. Zuerst eine Frau, dann sich selbst, jetzt vor allem ihren Wächter, denn der wiederum ist zwar äusserlich tendenziell frei, aber innerlich stark gefangen.

Diese Gefangenschaft ist am wenigsten offensichtlich, hat aber im Falle der Befreiung die herrlichsten Konsequenzen. Jetzt überschlagen sich die Ereignisse. Lukas kommt mit dem Erzählen kaum nach. In Freiheit geschieht viel mehr als in Gefangenschaft, man muss nicht einmal auf den nächsten Morgen warten. Es passiert so viel, dass leider nicht einmal Zeit bleibt, um das Waschwasser vor der Taufe auszuwechseln:

Noch in derselben Nachtstunde nahm der Wärter Paulus und Silas zu sich. Er wusch ihnen die Wunden aus. Dann ließ er sich umgehend taufen und mit ihm alle, die in seinem Haus lebten.

Anschließend führte er die beiden in sein Haus hinauf und lud sie zum Essen ein. Die ganze Hausgemeinschaft freute sich, dass sie zum Glauben an Gott gefunden hatte. Liebe Gemeinde Langsam wird es hell in Philippi, stelle ich mir vor!  Die längste Nacht hat ein Ende.  Hoffentlich haben sie dann das Wasser fortgeschüttet und nicht vor dem Essen auch noch Hände und Füsse darin gewaschen. Ich mag gar nicht daran denken!  Taufwasser sollte frisch sein wie bei uns, finde ich!

Aber das Beste ist: Auch wir, die ganze Gemeinschaft, sind heute zum Essen eingeladen. Wir sind so frei und feiern miteinander das Heilige Abendmahl.

Nochmals: Wie frei sind wir genau? Es gibt innere und äussere Freiheit, manchmal beide, manchmal keine.  Die Mitgefangenen sind gar nicht frei,  Paulus und Silas sind innerlich frei und werden es äusserlich.  Der Wächter ist äusserlich frei und wird es innerlich.  Wir sind schon, sonst wären wir nicht hier, äusserlich frei.

Innerlich sind wir auch frei – oder werden es, wenn es wir uns daran freuen, dass wir getauft sind, wenn wir vertrauen, dass der Glaube uns gefunden hat und dass wir aufgefangen und aufgehoben sind in Gottes Freiheit. Jetzt feiern wir Abendmahl, damit geht es los!

Denn in Freiheit geschieht viel mehr als in Gefangenschaft, man muss nicht einmal auf den nächsten Morgen warten.  Wir machen es wie Paulus und sein Kollege, wir fliehen nicht, wir bleiben noch etwas da.

Mit unserer Kollekte heute können wir protestantische Kirchen im Tessin aus ihren finanziellen Nöten befreien. Dort kann keine Kirchensteuer erhoben werden. Sie leben in und um Locarno von der Hand (am Portemonnaie) in den Mund.

Es passiert so viel, aber ich bin gewiss: In der Kaffeemaschine im Kirchgemeindehaus ist frisches Wasser.

Nachher gleich, beim Kirchenkaffee, können wir jemanden von der Hälfte seiner Sorgen befreien, nur schon durch Zuhören, denn geteiltes Leid ist nur noch halbes Leid.

Die Möglichkeiten, andere Menschen zu befreien sind ganz individuell, aber Gottes Reich guter Gelegenheiten näher und grösser als wir denken.

Paulus und Silas sitzen denn auch nicht ewig beim Essen, ich lese aus der Apostelgeschichte noch, was am nächsten Vormittag, ungefähr zu unserer Gottesdienstzeit geschieht:

Als es Tag geworden war, schickten die Stadtobersten die Amtsdiener und gaben dem Wärter die Anweisung: »Lass diese Leute frei!« Der Gefängniswärter gab Paulus die Nachricht weiter:  »Die Stadtobersten haben mich angewiesen, euch freizugeben. Ihr dürft das Gefängnis verlassen. Der Friede Gottes begleite euch!«

Aber Paulus sagte zu den Amtsdienern: »Man hat uns ohne ordentliches Gerichtsverfahren öffentlich verprügeln lassen. Dabei besitzen wir das römische Bürgerrecht! Dann hat man uns ins Gefängnis geworfen. Und jetzt will man uns heimlich abschieben? Das kommt nicht infrage! Die Stadtobersten sollen herkommen und uns persönlich aus dem Gefängnis begleiten!« Die Amtsdiener meldeten das den Stadtobersten. Die waren sehr erschrocken, als sie erfuhren, dass Paulus und Silas das römische Bürgerrecht besaßen. Sie kamen selbst und entschuldigten sich. Dann begleiteten sie die beiden aus dem Gefängnis und baten sie, die Stadt zu verlassen. Vom Gefängnis aus gingen Paulus und Silas zu Lydia. Dort trafen sie die Brüder und machten ihnen Mut. Dann verließen sie die Stadt.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen.

Perikope

Besser dran ist, wer im tiefsten Loch summend singt, als der, der auf dem letzten Loch pfeift - Predigt zu Apostelgeschichte 16, 23 – 34 von Joachim Hempel

Besser dran ist, wer im tiefsten Loch summend singt, als der, der auf dem letzten Loch pfeift - Predigt zu Apostelgeschichte 16, 23 – 34 von Joachim Hempel
16,23-34

'ne Gefängnisgeschichte zum Sonntag 'Kantate' – wer bloß kommt auf solche Idee !? Gefängnisgeschichten werden ja nicht nur in unseren Tagen zu allermeist mit Schreckensszenarien erzählt; Kantate ist aber doch einer jener Sonntagsnamen mit Aufforderungscharakter, österliche Freude auszudrücken. Nun gut, für Christenleute sind Hase und Eier, Frühlingsspaziergang und knospende Natur noch nicht alles, was Osterbotschaft ausmacht. Wir wissen, dass fröhlicher Auferstehungshoffnung Schmerzensleid am Karfreitag vorausgeht. Irgendwie sind es wohl die zwei Seiten menschlicher Existenz, die uns trotz aller speziellen 'Happy Hour – Angebote' nicht davor bewahrt, auch Schmerz und Leid, Trauer und Misslingen als des Lebens Teil zu erleben. Aber muss es dann am „Nun singt mal schön – Sonntag 'Kantate'“ gleich eine Gefängnisgeschichte sein? Selbst wenn es dabei wieder einmal um den Apostel Paulus und seinen Kompagnon Silas geht, - hätten die Textauswähler in ihrer wundersamen Kommission nicht einen etwas frischeren Bibeltext wählen können? Hatten sie natürlich schon, denn in den Textreihen zu diesem Sonntag ist auch durchaus von lobenden, jubelnden, fröhlich motivierendem Singen und instrumentalem Posaunen-, Harfen-, Hörner- und  Paukenklang die Rede. Die Welt der Gefangenen – egal wo auf dieser Erde – ist in der Regel seltener von Gotteslob und Gottesdank geprägt, da merken schon Mitgefangene, die in Ärger, Schuldbewusstsein, Reue oder auch energischem Brast über die Situation sich wieder finden, auf, wenn aus der Nachbarschaft andere  Töne zu vernehmen sind: Paulus und Silas beteten zur Mitte der Nacht, laut und lobten Gott. Von Dietrich Bonhoeffer wissen wir, dass auch in den Gestapo-Gefängnissen der Nazi-Diktatur Gefangene aufmerkten, wenn er zeigte, 'wes Geistes Kind' er war und deutlich wurde, dass nichts und niemand 'uns zu scheiden vermag von der Liebe Gottes, welche erschien in Christus Jesus'. Die Apostelgeschichte berichtet geradezu begeistert, was das Gebet und der Lobpreis Gottes bewirkten, dramatische Ereignisse: Erdbeben, sprengende Fesseln, ein hilfloser Wärter, neue Freunde, neues Vertrauen, die Gerechtigkeit siegt. Die Unruhe in der mazedonischen Stadt Philippi ist groß und schwankt zwischen Bestürzung und staunender Bewunderung, - und wie das beim Erzählen von direkt Erlebtem so geht, die Geschichte erhält allerlei persönliche Anfügungen oder Sichtweisen. Ich bin sicher, der Gefängnisaufseher erzählt das Geschehen anders als die Stadtrichter, und die fröhlich Getauften jubilieren anders als die, die froh sind, Paulus und Silas am Stadttor davonziehen zu sehen.

Der Lobpreis Gottes mitten zur Gefängnisnacht erinnert an das Pfeifen aus Kindheitstagen, wenn elterlicher Auftrag einen in dunkle Keller schickte; warum auch nicht? Singen oder mindestens Summen einer vertrauten Melodie weckt Erinnerung an gute Zeiten in schlechten Zeiten. Gerade dann, ob im Gefängnis seelischer Not oder im Kerker falscher Anfeindungen, ob in der JVA oder in politisch motivierter Einzelhaft, gerade dann ist es wichtig, an gute, glückliche, friedvolle Zeiten zu erinnern, denn die Erinnerung bleibt uns als ganz persönlich-subjektive Stärke, deren Bilder und Gedanken frei sind. Darum ist eine der schlimmsten Methoden der Haft und Unterdrückung die der 'Gehirnwäsche'. So lange du weißt, wer du bist und wer du bis zu diesem Augenblick deines Lebens geworden ist, solange ist Hoffnungslosigkeit keine Macht, die dich im Griff hat. Manchmal tut es in solchen Augenblicken weh, sich zu erinnern, dass „Gottes Güte, Gottes Treu an jedem Morgen neu sind“; da sind Gottes Lob und Gottes Dank auf pelziger Zunge und mit belegter Stimme kaum artikulierbar. Aber das 'dennoch bleibe ich stets an dir“ des Psalmbeters, dieses 'dennoch' ist der kleine glimmende Funke, der nötig ist, damit das Lebenslicht nicht bricht.

Die Apostelgeschichte überliefert Paulus und Silas im Gefängnis von Philippi nicht, um eine Handlungsanweisung für Inhaftierte zu liefern, vor allem nicht dort, wo es guten Grund für diesen besonderen Ort im gesellschaftlichen Miteinander gibt. Aber die Geschichte der beiden Protagonisten ist ermutigend für jene, deren Wille, deren aufrechte Gesinnung, deren freiheitlicher Geist gebrochen werden soll. Gefängnisse sind ja nicht eo ipso Orte der Gerechtigkeit oder der wiederherzustellenden Gerechtigkeit; aber sie sind vor allem keine Orte, die zu einer 'Gottes freien Zone' erklärt werden könnten. Wir Christen sind davon überzeugt, dass Gottes Nähe an jedem Ort und zu jeder Stunde unseres Lebens spürbar, erinnerbar und betbar ist. Und so ganz nebenbei erfahren wir durch den Schreiber dieser Gefängnisgeschichte, Lukas, auch, dass der später zum erfolgreichen Apostel mutierte Paulus einen ebenso von Höhen und Tiefen, von Zustimmung und Missverstehen, von Freude und Leid geprägten Lebensweg gegangen ist, wie jede und jeder von uns auch. Die Bibel kennt den Menschen als durchgängigen Helden nicht, was sie übrigens wohltuend von griechischen und römischen Helden und ihren heroischen Kämpfen unterscheidet. Die Bibel ist, was den Menschen betrifft, ziemlich realistisch. Daher kann sie uns am Sonntag des Singens und Musizierens auch Mut machen, nicht nur 'Himmel hoch zu jauchzen' sondern auch 'Todes betrübt' auf Gott zu vertrauen. Hier liegt übrigens ein Grund, warum Christen bei Beerdigungen singen und nicht nur Klageweibern wie im Orient oder in Afrika die Töne überlassen.

„Christ ist erstanden von der Marter alle, des soll'n wir alle froh sein,

Christ will unser Trost sein. Halleluja!

 

Perikope