„Er zog aber seine Straße fröhlich" - Lesepredigt zu Apostelgeschichte 8,26-39 von Peter Bukowski anlässlich der Einführung der neuen Lutherbibel

„Er zog aber seine Straße fröhlich" - Lesepredigt zu Apostelgeschichte 8,26-39 von Peter Bukowski anlässlich der Einführung der neuen Lutherbibel
8,26-39

„Er zog aber seine Straße fröhlich" - darauf läuft's für den Kämmerer hinaus. Das ist die Frucht jener Wendung zum Glauben, dass er seinen Weg fröhlich fortsetzt. Etwas Besseres hätte ihm nicht geschehen können. Etwas Besseres kann einem Menschen überhaupt nicht geschehen, als dass es von ihm heißt: Er zieht seine Straße fröhlich.

Fröhlich, das meint mehr als ein kurzlebiges Stimmungshoch. Fröhlich, das greift tiefer als das Gefühl, das wir mit guter Laune bezeichnen. Fröhlich, so nennen wir den Menschen, der innerlich zur Ruhe gekommen ist, der heitere Gelassenheit ausstrahlt. Am besten umschreibt es vielleicht das Wort „zufrieden“: dass also einer zu seinem Frieden findet.

Solche Fröhlichkeit, solche Zufriedenheit bewährt sich gerade in Situationen, in denen zu Freude, zu überschwänglichem Glücksgefühl kein Anlass besteht.
Der Apostel Paulus konnte gerade in Zeiten äußerster Bedrohung von Fröhlichkeit reden. Aus dem Gefängnis heraus schreibt er den Philippern in jenem Tonfall. Sein Brief ist geradezu ein Plädoyer der Fröhlichkeit. Und wer von Ihnen je einem Menschen begegnet ist, der solche Fröhlichkeit, solche innere Zufriedenheit ausstrahlt, der wird erfahren haben: Fröhliche Menschen sind für ihre Umgebung etwas Kostbares.

Dass es sich hier tatsächlich um ein ganz besonderes Gut des Menschen handelt, hält die griechische Sprache bis heute fest: Aus dem Wort für "sich freuen" (chairein) ist die gängigste Form der Begrüßung gebildet: „chaire, chairete!“ – so begrüßt man sich, so prostet man sich auch zu und wünscht sich eben damit das Beste, was Menschen einander wünschen können: Fröhlichkeit. Zufriedenheit.
Vom Kämmerer hörten wir nun am Ende: „Er zog aber seine Straße fröhlich."Fast möchten wir den Mann darum beneiden, denn das gehört ja eben auch zur Fröhlichkeit: Man kann sie nicht machen, vor allem: Man kann sie sich nicht selbst verschaffen. Für Genuss kann man etwas tun. Gute Stimmung kann man erzeugen. Ein paar schöne Stunden kann man sich allenfalls mit Geld erkaufen. Aber Fröhlichkeit, Zufriedenheit? Fast sieht es so aus, als rücke sie immer ferner, je mehr man danach strebt.
Das mag uns gerade am Leben des Kämmerers deutlich werden, bevor es jene entscheidende Wendung nimmt: Er hat schon viel gemacht in seinem Leben, ja, wir können sagen: Er hat aus seinem Leben durchaus etwas gemacht. Bis zum Finanzminister der mächtigen Königin von Äthiopien hat er es gebracht. Möglicherweise hat er für diesen enormen gesellschaftlichen Aufstieg allerdings einen (unmenschlich) hohen Preis bezahlt. Im griechischen Text wird er „eunuchos“ genannt. Das kann einfach die Bezeichnung seines Titels sein, das kann aber auch wörtlich gemeint sein. Denn bisweilen mussten sich im alten Ägypten und Äthiopien die höchsten Beamten kastrieren lassen, um dem königlichen Hause nicht als Männer gefährlich werden zu können. Wir hätten dann eine besonders krasse Erinnerung daran, welchen Preis Menschen zu zahlen bereit sind, wenn es darum geht, die Spitze der Karriereleiter zu erklimmen.

Wie dem auch sei: Je länger, je mehr scheint dem Kämmerer sein Leben als Erfolgsmensch und sein Karrieredasein nicht genügt zu haben. Wir erinnern uns an das Jesuswort:
„Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?" (Mt 16,26).
Für seine Seele will der Kämmerer etwas tun. Darum wendet er sich – was läge auch näher? – der Religion zu. Dabei scheut er weder Kosten noch Mühen. Er betreibt, wie's eben seine Art ist, auch diese Sache energisch und im großen Stil. 3000 Kilometer Pilgerfahrt nach Jerusalem legt er zurück. Und doch -–da, wo unsere Geschichte einsetzt, sehen wir ihn gleichsam unverrichteter Dinge zurückkehren: Er sitzt auf seinem Reisewagen, er liest in einem Buch der Bibel (wie gesagt, kaufen konnte er sich ja alles), er liest – und versteht doch nichts.

Ja, liebe Gemeinde, dass sich einem die Schrift öffnet, dass sie das Herz anrührt, so dass man zum Glauben findet und damit zu eben jener fröhlichen Zufriedenheit, das kann man nicht machen. Da ist selbst unser mächtiger Finanzminister aus dem Kabinett der Kandake am Ende seiner Möglichkeiten.
Und doch findet er schließlich, was er gesucht hat. Es wird später von ihm heißen:
„Er zog aber seine Straße fröhlich."
Und wie es eben doch noch zu jener Wendung kommt, das erzählt unsere Geschichte. Sie lässt uns teilhaben an den Stationen, die diese Wendung markieren. Und offensichtlich sollen wir sie zur Kenntnis nehmen, weil es keine beliebigen, keine zufälligen, sondern für den Weg zum Glauben notwendige Stationen sind.

 

1. Da kommt es erstens zu einer Begegnung.
Philippus kreuzt seinen Weg und spricht den Kämmerer an: „Verstehst du auch, was du liest?" (Apg 8,30)
Der Weg zum Glauben, der lebendige Kontakt zur Bibel sind kein Ein-Mann-Unternehmen. Da bedarf es der Ansprache, da braucht's den anderen, die Gemeinde. Allein hat sich der Kämmerer lange genug geplagt. Und das hätte noch lange so weitergehen können, aber jetzt tritt jemand an seine Seite und spricht ihn an, sagt: „Hör mal, verstehst du auch, was du liest, oder soll ich dir vielleicht helfen?"
Wer weiß, wie viele Menschen sich plagen, sich nutzlos abplagen, nur, weil niemand auf
die Idee kommt, sich ihnen zuzuwenden, sie anzusprechen und sich ihnen als Begleitung
und Hilfe anzubieten. Wer weiß, vielleicht wartet einer schon die ganze Zeit auf dich?

 

2. Dazu gehört nun andererseits auch vom Suchenden selbst der Mut, um Hilfe zu bitten. Wir hörten: „Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen." (Apg 8,31)
Können wir das? Tun wir das: uns ehrlich einzugestehen, wo wir auf uns alleine gestellt am Ende sind, und dann den Mut aufzubringen, jemanden um Hilfe zu bitten, zu sagen: „Setz´ dich mal mit mir zusammen" – selbst auf die Gefahr hin, eine Absage zu bekommen?
Ich glaube, vielen unter uns fällt das Erste, also das Helfen, noch leichter als das Zweite, das Um-Hilfe-Bitten. Und doch ist es so: Man mag es als Einzelkämpfer vielleicht bis zum Finanzminister bringen, zur Fröhlichkeit des Glaubens bringt man es allein schwerlich.
 

3. Nun ist es allerdings ganz wichtig zu sehen, dass die Gemeinschaft, die zwischen dem
Kämmerer und Philippus entstanden ist, als solche noch nicht die Wendung zum Glauben stiftet. Ich betone das, weil in der Kirche bisweilen andere Stimmen laut werden. Sie sagen: Die Gemeinschaft, also die Hinwendung des einen zum andern, das ist das Entscheidende. Wenn wir uns in unserer Gemeinde nur wohlfühlen und gegenseitig akzeptiert fühlen, wenn in der Seelsorge der Ratsuchende nur genug menschliche Annahme erfährt, dann ist das der notwendigste, weil Not wendende Schritt.
Aber wie soll das angehen? Soll der Kämmerer allein durch die Begegnung mit Philippus zur Zufriedenheit, zur inneren Ruhe finden? Würde das die Begegnung nicht maßlos überfordern? Philippus kann doch nicht mit seiner Person dem andern „Trost im Leben und im Sterben“ (Heidelberger Katechismus, Frage 1) sein!
Nein, die Gemeinschaft der beiden – so wichtig sie ist – , diese Gemeinschaft braucht ihr Thema, unter dem sich beide finden können.
Dieses Thema erschließt sich im Gespräch der beiden. Aber es geht nicht darin auf, es bleibt selbständiges Thema, in dem beide ihre Geborgenheit finden.
Und dieses Thema, das, was dem Kämmerer schließlich zu Herzen geht und ihn zum Glauben führt, ist die Botschaft von der Zuwendung Gottes, so, wie sie vom Propheten bezeugt und in Jesus erschienen ist.
Wir hörten: Philippus setzt ein mit der Schriftstelle, die der Kämmerer gerade gelesen hat. Sie redet davon, wie Gott sich zu uns auf den Weg gemacht hat, wie er uns gerade dort sucht und findet, wo uns unser Leben unerträglich ist: im Leiden, in Schuldverstrickung, in einem Leben, das ständig überschattet ist von der Macht des Todes.
Und so weit reicht Gottes hingebungsvolle Liebe, dass er gerade dort, wo kein Mensch, am allerwenigsten wir selbst, uns noch helfen können, an unsere Stelle tritt, unsere Not mit uns teilt, um uns aus den Fängen der Schuld und des Todes zu befreien.
Mit dieser Botschaft aus der Bibel setzt Philippus ein, aber er geht dann weiter, und zwar so, dass er nicht bei allgemeinen Worten bleibt, sondern dem Kämmerer die gute Botschaft persönlich zuspricht. Es heißt: „Er fing mit diesem Wort aus der Schrift an."
Und dann: „Er predigte ihm das Evangelium von Jesus." (Apg 8,35)
Wir erfahren nicht mehr den Inhalt dieses weiterführenden Zeugnisses, aber wir mögen erahnen, was es für den Kämmerer bedeutet zu hören: "Du bist nicht verloren. Bei Gott brauchst Du's nicht so zu machen wie in Deinem bisherigen Leben. Da brauchst Du nicht immer und immer noch etwas zu machen, nicht angestrengt nach oben zu kraxeln. Bei ihm bist Du schon am Ziel, denn er hat sich zu Dir hinabgeneigt. Du bist sein geliebtes Kind. Auch mit all Deinen hässlichen Seiten, mit all Deiner Verkehrtheit, mit all Deiner Unrast. Du bist, hörst Du: Du bist ihm recht, Du bist von ihm gewollt. Bei ihm wird Deine Seele Ruhe finden. Dein Leben ist nicht der Sinnlosigkeit preisgegeben, nein, es ist geborgen in Gottes gütiger Liebe, mit der er Dich, gerade so, wie Du jetzt dran bist, meint."
Mag die menschliche Zuwendung des Philippus irgendwann an ihre Grenzen stoßen – und auch die innigste menschliche Beziehung hat solche Grenzen –, Gottes Zuwendung ist grenzenlos. Er hält Bund und Treue ewiglich, und darum ist er „Trost im Leben und im Sterben“.

 

4. Eine Station ist noch zu nennen, eine letzte, aber eine, die wir besonders gerne vergessen.
Der Kämmerer hätte das alles hören können, es hätte ihm im Augenblick des Hörens auch zu Herzen gehen und ihn innerlich beflügeln können – und dann? Was ist morgen? Was ist, wenn die Worte verklungen sind und ihn der Alltag wieder eingeholt hat?
Sicher, die Worte bleiben auch dann noch wahr, aber werden sie für den Kämmerer auch lebendig bleiben, wenn der Kontakt mit dieser Botschaft vorüber ist?
Der Kämmerer scheint das zu ahnen, darum tut er den letzten Schritt: Er zieht aus dem Gehörten die notwendige Konsequenz: „Siehe, da ist Wasser, was hindert's, dass ich mich taufen lasse?" (Apg 8,36)
Dieser Schritt besagt: Der Kämmerer will fortan den Kontakt zu Gott nicht mehr abreißen lassen. Er will, auch über die Entfernungen hinweg, Glied in der Gemeinschaft derer sein, die sich als Gottes geliebte Kinder glauben. Es genügt ihm nicht, das Evangelium einmal gehört zu haben, er will in Zukunft wieder und wieder hinhören. Er will jetzt in seinem Leben die Wirkung des Evangeliums erproben. Er will, wenn ich es einmal so sagen darf, in seinem weiteren Leben die Probe auf's Exempel machen.
Und ebenda, wo das Evangelium ihn so angesprochen hat, dass er bereit wird, Konsequenzen zu ziehen und sein Leben darauf einzustellen, da heißt es von ihm: „Er zog aber seine Straße fröhlich."

 

Nachwort:
Es könnte jetzt einer denken: „Gut, beim Kämmerer hat das geklappt, aber bei mir nicht. Ich finde nicht zum Glauben, ich komme nicht zur Ruhe, ich ziehe meine Straße nicht fröhlich." Und auf meine Nachfrage hin könnte er vielleicht sogar glaubhaft versichern: „Ja, ich hab's mit diesen Stationen versucht: Ich habe Menschen um Hilfe ersucht, es haben sich auch welche um mich gekümmert. Ich habe die Botschaft gehört, ich bin auch bereit, Konsequenzen zu ziehen – aber trotzdem: Bei mir will's und will's nicht klappen."
Wer jetzt so bei sich fragt, dem möchte ich noch einen Hinweis geben und einen Rat.
Der Hinweis steckt in der Geschichte selbst.
Die Ausleger haben nämlich darauf hingewiesen, dass es im Grunde genommen eine Wundergeschichte ist. Wunderbar ist sie, weil sie uns Einblick nehmen lässt, wie hier Gott im Hintergrund wirkt: Da unternimmt der Kämmerer diese lange und für ihn zunächst ergebnislose Reise nur, um auf dem Rückweg Philippus zu begegnen. Und er wäre in dieser Einsamkeit ganz gewiss niemandem begegnet, schon recht keinem Missionar, wenn nicht ein Bote Gottes Philippus an diese einsame Stelle gewiesen hätte – und zwar gerade zu dem Zeitpunkt, wo der Kämmerer die entscheidende Stelle aus Jesaja liest, und gerade an der Stelle, wo dann auch das Wasser für die Taufe zu finden ist!
Damit zeigt uns die Geschichte: So viel setzt Gott ins Werk, so kunstvoll verknüpft er die Lebensfäden, damit am Ende ein fröhlicher Mensch dabei herauskommt.
Und diese Mühe gibt er sich mit jedem von uns, also auch mit Dir, der Du jetzt so fragst.
Und daher mein Rat: Hab noch etwas Geduld. Vielleicht bist Du – um's mit der Geschichte zu sagen – noch auf der Hinreise. Vielleicht braucht's noch eine Zeit, bis Du am richtigen Punkt angelangt bist.
Vielleicht hat Gottes guter Geist aber auch schon den auf den Weg geschickt, der sich Dir zuwenden und Dir in Deiner Unruhe zur Seite stehen wird.
Versuch's deshalb nicht zu zwingen! Vor allem: Quäl Dich nicht selbst. Fordere keinen Glauben von Dir, zwing Dich nicht zur Fröhlichkeit. Lass Dich in Deinem Unglauben, lass Dich in Deiner unzufriedenen Hast einmal gewähren. Ich weiß, wovon ich rede, ich weiß selbst, wie schwer das ist, aber womöglich ist das für Dich der erste Schritt, um zur Ruhe zu finden. Und wir wollen füreinander, also auch für Dich, Gott um seinen guten Geist bitten, dass er bei uns einkehrt, in uns Glauben weckt und uns zum Frieden bringt, damit es endlich von jedem unter uns heißen kann: „Er zog aber seine Straße fröhlich." Amen.

Perikope
30.10.2016
8,26-39

Was macht einen Märtyrer aus?

Liebe Gemeinde,

was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie das Wort „Märtyrer“ hören?

Männer oder Frauen in einer antiken Arena vor hungrigen Löwen?

Oder Terroristen mit Sprengstoffgürteln?

Der Duden stellt klar: „Märtyrer“ sind Menschen, die für ihren Glauben leiden und im Extremfall sogar sterben.

Gerade im Christentum hat das Leiden für den Glauben viele Gesichter. Auch wenn Ashkan uns sein Gesicht nicht einmal zeigen konnte.

Es beginnt mit der Steinigung des Stephanus und führt zu Menschen unserer Zeit.

Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie nicht töten, sondern im schlimmsten Fall getötet werden. Dass sie ihren Weg oft zitternd gehen und viele von ihnen zugleich von einer Kraft beseelt sind, mit der sie ertragen, standhalten und „über sich hinauswachsen“.

Wenn wir hier auf dem Schönblick Menschen fragen, die eine Verfolgung erlebt haben: Woher hattet Ihr diesen Mut? dann antworten manche sinngemäß: Ich bin gar nicht über „mich hinaus“, sondern „in mich hinein“ gewachsen. Ich habe zu Christus gebetet und erlebt, dass in mir plötzlich Kräfte waren, die ich mir nicht zugetraut hätte. Unvermutet, fast wie aus heiterem Himmel.“

Ihre Worte erinnern mich an ein Bild: Die Kraft der zwei Herzen. In meiner Jugendzeit warb mal ein Pharmaunternehmen mit diesem Slogan. Die Kraft der zwei Herzen. Doppelte Power!

Die kann jeder gut brauchen, der sein Leben gerade als Martyrium empfindet. Sei es, weil die Seele gerade tiefe Trauer trägt oder weil der Körper sich immer wieder vor Schmerzen krümmt.

Oder weil jede Lebensfreude angesichts der fürchterlichen Attentate der vergangenen Wochen in Angst oder Wut zu versinken droht. Da werden große Zweifel wach und wir fühlen uns so verletzlich und im Stich gelassen? Ist da überhaupt noch jemand bei mir?

Gut, wenn dann nicht nur mein Herz in mir klopft, verzagt und leise. Sondern Christus ein „zweites Herz“ in mir schlagen lässt. Ruhig und gewiss. Vielleicht getragen von dem Rhythmus eines Liedes, das wir einem der bekanntesten neuzeitlichen Märtyrer verdanken: Dietrich Bonhoeffer. Selbst in größter Gottesfinsternis konnte er noch mit Gott rechnen und dichten: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost was kommen mag“.

Dietrich Bonhoeffer schrieb diese Worte im KZ Flossenbürg im Dezember 1944, wenige Monate bevor er von den Nazis hingerichtet wurde. Ich nehme ihm seine Worte ab, seine Lebensgeschichte bürgt dafür.

So lassen Sie uns nun einen Moment innehalten und miteinander singen. Für alle Menschen, die diese guten Mächte heute besonders dringend brauchen.

Gottes gute Mächte wirken. Im Leben und im Sterben. Sie machen mutig und zuversichtlich.

Ashkan und seine Gemeinde bitten für die politischen Führer ihres Landes. „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ betete Jesus am Kreuz.

„Herr rechne ihnen diese Sünde nicht an“, so flehte Stephanus für seine Henker, erfüllt von Gottes Geist, ganz bei sich und zugleich ganz bei Gott.

Die Kraft der zwei Herzen, Christi Geist in uns, macht es sogar möglich, auf Unrecht und Gewalt mit Vergebung und Fürbitte zu antworten. Fürbitte und Liebe für die Verfolger und Fürbitte und Liebe für die Verfolgten.

Wie dringend verfolgte Christen Liebe und Fürbitte brauchen, habe ich besonders durch Navid Kermani begriffen. Der deutsch-iranische Schriftsteller erinnerte in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Pater Jacques Mourad. Dieser leitete die christliche Gemeinschaft Mar Musa, nahe der syrischen Stadt Qaryatain. Seine Gemeinschaft hatte sich der Begegnung mit dem Islam und der Liebe zu den Muslimen verschrieben. Kurz bevor er gemeinsam mit etwa 200 Gläubigen seiner christlichen Gemeinde von den Schergen des IS entführt wurde, schrieb er an eine französische Freundin: „Einzusehen, dass wir verlassen sind, ist fürchterlich - verlassen zumal von der christlichen Welt, die beschlossen hat, auf Distanz zu gehen, um die Gefahr von sich fern zu halten. Wir bedeuten ihnen nichts.“

Ein bitterer Satz. Jacques Mourad spricht ihn für viele Leidensgenossen aus.

In den vergangenen Jahren hat die Vertreibung und Verfolgung von Christen im Nahen Osten massiv zugenommen. Ein internationaler Aufschrei bleibt jedoch aus. Auch wir Christen nehmen eher stillschweigend, bestenfalls hilflos zur Kenntnis, welche Verbrechen in dieser Region geschehen.

Unter dem Terror des IS leiden ebenso Millionen von Muslimen. Darum eignet sich das leidvolle Thema der Christenverfolgung ganz und gar nicht, um allgemein Stimmung gegen „den Islam“ oder „muslimisch Gläubige“ zu machen. Pater Jacques wurde zum Beispiel auch mit Hilfe seiner muslimischen Freunde aus der Gewalt des IS befreit und in Sicherheit gebracht.

Meist erntet Verfolgung jedoch keine Hilfe, sondern betretenes Schweigen, im schlimmsten Fall sogar Applaus. Als der Märtyrer Stephanus von der wütenden Menge gesteinigt wurde, beobachtete ihn ein gewisser Saulus. Voller Genugtuung sieht er zu. Und bricht bald darauf zu einem Feldzug gegen die verhassten Christen nach Damaskus auf. Unterwegs trifft Saulus der Schlag. Christus selbst tritt ihm in den Weg und fragt: „Warum verfolgst Du mich?“

So erfährt Saulus, dass Christenverfolgung Christusverfolgung ist. Christus, der lebendige Herr, identifiziert sich besonders mit unterdrückten Menschen. Ihr Leid schmerzt ihn wie eine Wunde am eigenen Körper.

Diese Begegnung verändert für Saulus alles. Er wandelt sich vom Verfolger zum Apostel. Und mahnt Jahre später die Gemeinde in Korinth: „Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit“.

Denn um die geschwisterliche Hilfe war es damals wohl nicht so gut bestellt. Und heute?

Mich rüttelt es auf, wenn Pater Jacques auch über mich sagt „wir bedeuten ihnen nichts“. Ja, der Leib Christi ist verletzt, er blutet. In vielen Krisenregionen und Staaten dieser Welt. Und auch hier in Deutschland.

Das darf nicht sein. Das Leiden von Christinnen und Christen, die um ihres Glaubens willen aus ihren Ursprungsländern geflohen sind, darf hier bei uns nicht weitergehen – in keiner Flüchtlingsunterkunft und in keinem zugewiesenen Wohnort.

Die Kraft der „zwei Herzen“, die in der Not nicht aufgeben lässt, die Kraft der Liebe, die uns so bestimmt, dass wir Gleiches nicht mit Gleichem vergelten, diese Kraft schenkt uns Christus nicht nur für uns selbst. Sie kann uns auch helfen, engagiert für unsere verfolgten Glaubensgeschwister einzustehen. Es gibt Vieles, was wir tun können: Für sie beten. International politisch agieren und Verantwortliche zum Handeln auffordern. Betroffene über Hilfswerke konkret unterstützen und wir können uns in unserer Nachbarschaft informieren und einsetzen.

Wenn wir mit ihnen Kontakt aufnehmen, erleben wir, dass unsere verfolgten Glaubensgeschwister auch uns etwas geben: Das tiefe Vertrauen in Gottes Kraft. Und die Einsicht, dass es nicht selbstverständlich sind, offen und frei den eigenen Glauben bekennen zu können. Diese Freiheit braucht Schutz und Pflege.

So verkündigen wir gemeinsam mit ihnen den lebendigen Gott, handeln aus seiner Liebe und Vergebung, setzen uns ein für Unterdrückte und Benachteiligte und machen uns stark für das friedliche Miteinander unterschiedlicher Kulturen und Religionen in unserem Land.

Mit Herz und Hand an der Seite unserer verfolgten Brüder und Schwestern.

Und der Friede Gottes, der höher ist denn alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Perikope

Lieber mehr Erleuchtung als zu wenig Humanität – von Damaskus auf den Mont Ventoux – Predigt zu Apostelgeschichte 9,1-20 von Martin Penzoldt

Lieber mehr Erleuchtung als zu wenig Humanität – von Damaskus auf den Mont Ventoux – Predigt zu Apostelgeschichte 9,1-20 von Martin Penzoldt
9,1-20

Eine Erleuchtung. Licht von oben her. Vom Himmel. „Der HERR ist mein Licht“ heißt es in Psalm 27. „Der HERR ist mein Licht und mein Heil.“ So spricht die Christenheit den Psalm. „Deus illuminia mea“, sangen die Mönche durch die Jahrhunderte. „Gott, der HERR, ist mein Licht“ – „deus illuminia mea“.

Das ist auch der Wahlspruch der Universität von Oxford in dem uns so überraschend ferngerückten Engelland. Licht soll werden: Erkenntnis von oben und durch Wissenschaft. Erleuchtung und Bildung sollen ein Volk prägen durch Lehre und Vorbild. Erleuchtung und Bildung sollen bessere Menschen aus uns machen – und uns schützen vor wilden Spinnereien, Radikalismus und Ängsten.
Auf zwei Wegen führt uns diese Urlaubspredigt, zu zwei Erfahrungen, in denen sich unser Leben auf sehr verschiedene Weise spiegelt.

Die Geschichte der Erleuchtung vor Damaskus ist uns vertraut. Freilich ist uns der Religionsverfolger Saulus unheimlicher denn je. Wie früh dieser junge Mann sich vornimmt, die Ehre Gottes zu verteidigen, wie rabiat er alle Aufweichungen und Abweichungen in der Religion bekämpft, wie fanatisch er selbst hinter den fern nach Damaskus gezogenen Christen her ist – das ist erschreckend. Dabei hat Paulus in Tarsus selbst als Teil der jüdischen Minderheit in der Diaspora gelebt, hat zusätzlich als Pharisäer die „Oxfordbildung“ der Rabbinen erhalten. Und dann doch dieser Zorn und Vernichtungswille! Es ist müßig, die Hintergründe zu erforschen. Es hätte ihm genügen können, sich im Recht zu wissen. Aber das tat es nicht. In den Staub mit den Feinden Gottes!
Es bedurfte einer Erleuchtung von oben, einer aufrüttelnden Frage aus Jesu Mund, einer dreitägigen Blindheit, viel Fürsorge und des Beistands der Christen in Damaskus, um aus Saulus einen Paulus zu machen.
Wenn man lang genug über eine geglaubte Wahrheit nachdenkt, dann kommt mancher auf radikale Ideen und endgültige Lösungen. Es gibt oft keine Gegenwirklichkeit, , die den jungen Mann erden. Dass Paulus später so viel Wert auf seine Arbeit als Zeltmacher legte, überhaupt auf seine Unabhängigkeit in finanzieller Hinsicht, aber eben auch auf die Angewiesenheit von seiner Hände Arbeit zu leben, das weist in eine neue Richtung: auf Erdung. Auch seine Schmerzen gehören dazu, seine verwundete Leiblichkeit, das alles ist Gegenwirklichkeit gegen einen abstrakt-virtuellen Radikalismus, der nach Blut und Vernichtung schreit. Die Erleuchtung, die Saulus widerfährt, führt ihn nicht in höhere Sphären, sondern bindet ihn in seiner Menschlichkeit zurück an die Erde. Der gekreuzigte und auferstandene Christus, der ihn ruft, führt ihn nicht zu höheren Begriffen und endgültigen Weisungen, sondern auf den „neuen Weg“ der Christen in die Nachfolge – und in alle Welt.

Der „alte Weg“ des Gesetzes hatte seine Kraft in der Teilung. Zuallererst in der Teilung von erwählten Juden und Nichtjuden. Diese Teilung, so erfährt und versteht es der Letzte der Apostel, hat Christus durchbrochen (Eph 2,14). Damit wurde die voraussetzungslose Verkündigung des Evangeliums in aller Welt möglich. Vor Damaskus hat das Licht Gottes sein Herz geweitet, es offen für alle gemacht. In diesem Augenblick hat er nichts von all dem verloren, was es an Gutem und Wahrem in seinem Leben, in seinem Erbe gegeben hat. Sondern er hat auf neue Weise die Weisheit, die Wahrheit, die Tiefe des Gesetzes und der Propheten verstanden und hat sich diese auf neue Weise wieder angeeignet. Gleichzeitig hat sich seine Vernunft der Weisheit der Heiden geöffnet. So konnte er wirklich der Apostel aller Völker werden.

Paulus war gegen die Christen zu Felde gezogen, um dem Bösen und der Lebenszerstörung durch Gottes Gesetz Einhalt zu gebieten. Wird es nun das Zeichen des Kreuzes sein, unter dem die Welt verfolgt und besiegt wird? Nein! Paulus setzt eine andere – dazu querstehende – Teilung in Kraft: die Teilung nach Geist und Fleisch (Röm 8,4-10; Gal 5,16). Es setzt ein Ringen danach ein, gemäß dem Geiste Christi zu leben und den Feind zu lieben. Hass und Überheblichkeit gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen gehört nicht zum christlichen Code, wenn der Christ auch nicht dagegen gefeit ist. Aber die genuin eigene Frage des Christentums von Damaskus her ist, ob er denn nach dem Geist lebt oder nicht. In seinem Brief an die Gemeinde in Thessaloniki schreibt Paulus: „Alle seid ihr Söhne des Lichtes und Söhne des Tages.“(1.Thess  5,5) Hat nicht die Herrschaft des Geistes die der Sünde definitiv abgelöst?

An dieser Stelle, in diesem regenlustigen Sommer, folgen wir der Anweisung eines alten Gebetbuches und tun einen tiefen Seufzer: Seufzer! Die Unterscheidung von Damaskus her – zwischen Geist und Fleisch – trifft uns viel existenzieller als Fragen der Volkszugehörigkeiten. Sie ist eine in unser Innerstes verlegte Unterscheidung. Und sie wurde und wird meist als eine Herausforderung nach religiöser Höchstleistung an Gottesinnigkeit verstanden. Olympisch sozusagen. Wir blicken zurück und sehen den Eremiten Antonius sich in seiner Höhle winden (c. f. Flaubert). Alles hat er den Armen geben, weil er dem Ruf Christi gefolgt ist. Aber die Versuchungen des Fleisches folgen ihm in seinen Träumen. Kirchenvater Augustinus hatte allein Geist genug für viele Heilige, aber zugleich eine tiefe irdische Gebundenheit, wie die Existenz seines Sohnes Adeodatus verdeutlicht. Ein halbes Leben lang steht Augustinus vor einer tieferen, entscheidenden Berufung. Christsein bedeutete den Abschied von der Welt, von den irdischen Freuden.

Damaskus war ein brennender Punkt der Erleuchtung, in dessen Abglanz wir stehen und den die Kirche nur zeichenhaft und unvollkommen aufnehmen konnte. Also bedurfte es immer neuer Erleuchtungen auf dem Weg der Kirche zu Christus hin. Die wegweisende Deutung des Paulus durch Martin Luther steht ja erst 2017 an, manche Seufzer der Erleichterung sind zu erwarten – bis dahin werden wir uns noch ein bisschen mühen müssen und auf einen Berg steigen.

Wir blicken sieben Jahrhunderte zurück auf einen Mann im Gebirge: Es ist Petrarca, ein italienischer Dichter der Renaissance und römischer Kleriker.Er hat die Idee, dass Menschen mit antikem Wissen auch die besseren, respektvolleren Menschen sein würden (Petrarca: „mitis et amabilis“ – mild und liebenswert. Zuletzt in Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, 2016, S. 219).
Aus Neugier, Schaulust und Wissbegier bestieg er den Mont Ventoux,
den windumtosten Kegelberg in der Provence – eine legendäre Etappe in der Tour der France. Dieser Berg eröffnet mit seinen fast 2000 (1912) Metern einenBlick bis ans Mittelmeer, zu den Alpen und ins Rhônetal. Petrarca ging lange durchs Tal und erst auf Umwegen in die Höhe, um tief zu empfinden, welch gewaltiger Ausblick sich ihm bieten sollte. Da wo einst die Götter wohnten, genießt nun der Mensch das Panorama!
In einem Brief vom 24. April 1336 erzählt Petrarca: „Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht zu Unrecht Ventosus, »den Windigen«, nennt, habe ich am heutigen Tag bestiegen, allein vom Drang beseelt, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen. Zuerst stand ich, durch den ungewohnten Hauch der Luft und die ganz freie Rundsicht bewegt, einem Betäubten gleich da. Ich schaue zurück nach unten: Wolken lagen zu meinen Füßen, und schon wurden mir der Athos und der Olymp weniger sagenhaft, wenn ich schon das, was ich über sie gehört und gelesen, auf einem Berg von geringerem Ruf zu sehen bekomme.[…] Während ich dies eins ums andre bestaunte und bald an irdischem Geschmack fand, bald nach dem Beispiel des Körpers die Seele sich zu Höherem erhob, kam ich auf den Gedanken, in die Bekenntnisse des Augustinus hineinzuschauen.“ (Petrarca, F., Die Besteigung des Mont Ventoux. Stuttgart 1995, S. 4ff.) Wie einst Augustinus das entscheidende Bibelzitat („Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Harder und Eifersucht.“ Röm 13,13) zufällig aufschlägt und sich dabei erinnert wie es dem Antonius ebenso gegangen war (Mk 10,21), so findet Petrarca seinen Satz auch zufällig aber in den Bekenntnissen des Augustinus: „Und es gehen die Menschen zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die weit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne und haben nicht acht ihrer selbst.”(Confessiones X, 8, 15)

Petrarca ist bestürzt. Muss er nicht Augustinus folgen und in der Abgeschiedenheit Gott und sein Herz erforschen? Muss er nicht dem Augenschmaus – dem „eye candy“(Mt 5,29f.; 18,9) –  entsagen und den Weg der inneren Kontemplation wählen? Er will und tut es, aber er kann es nicht auf Dauer. Er schwärmt von der klösterlichen Einsamkeit in Arquà bei Padua und besucht doch alle trubelbunten Städte. Er preist das einfache Landleben, aber gesteht in einer literarischen Beichte gegenüber Augustinus, dass er trotz aller Liebe zu Gott weder auf Ruhm noch auf Liebe verzichten kann („Mein Geheimnis“ in: Petrarca, Das einsame Leben, Stuttgart 2004). Muss denn alles Vergängliche Sünde sein? Kann es nicht auch seine Würde haben? Petrarca ist zerrissen. Der Ausblick vom Berg war nicht nur eine ästhetische Erfahrung, „Romantik 2.0“ oder gar eine olympisch-alpine Disziplin, sondern Ausdruck der modernen Bejahung der Welt.

Wohin also hat diese Wende auf dem Bergweg Petrarca geführt? Es ist ein Schlüsselmoment auf dem Weg in die Neuzeit. Der Mensch ist es, der das erlebt und gesehen hat. Er ist es, der die Bibel liest und die antiken Autoren: seine christliche Frömmigkeit. Antike Bildung und Wissbegier vertragen sich nicht einfach, aber gehören zu ihm, dem Menschen. Er will den goldenen Überfluss der Welt sehen – und doch auf sich und seine Seele und auf die aller anderen achten.

Die Größe und Erhabenheit der Welt bleibt bedeutungslos, solange der Mensch sich nicht selbst kennt, gesteht Petrarca Augustinus zu. Die Schriften der Bibel und der griechisch-römischen Antike klären den Menschen über sich auf und öffnen ihm zugleich die Augen für Horizonterweiterung und Welterschließung. Aber alles, was er über sich selber weiß, stammt letztlich aus der Heiligen Schrift, den Vätern und den antiken Autoren. Aber nicht der Zitatenschatz und Faktenhuberei als Bildungsgewinn, sondern das Ideal des menschlichen Menschen, des Humanen, das verdanken wir ihm. Ein christlicher Humanismus ist geboren: Die geistige Existenz strebt Humanität an. Eine erneute Teilung trennt – alle anderen in sich begreifend – die Humanität von der Barbarei. Lieber mehr Erleuchtung als zu wenig Humanität, könnte man sagen.

Die Wege unserer Urlaubspredigt haben uns mit Paulus bis nach Damaskus geführt und die Notwendigkeit der Läuterung des Glaubens auf dem Weg zu Jesus, der unser aller Licht ist, in Erinnerung gerufen. Zum ersten Mal nimmt der Glaube die ganze bewohnte Welt in Blick. Dann kam – überraschend – der Berganstieg mit Petrarca, dessen Blick nun auch die Natur umfasst und den Menschen als herausgehobenen Teil von ihr.

Nun ist uns und auch im Oxford heutiger Zeit klar vor Augen, dass Bildungswissen nicht vor Abstürzen aller Art schützt. Auch der Humanismus allein erreicht keine höhere Lebensform, wie schon die Renaissance selbst zeigt. Gelehrsamkeit ohne religiösen Bezug führt zu keiner Läuterung. Aber in dem christlichen Humanismus, wie er in Deutschland durch die Reformation mitgeprägt wurde, sind die drei Bezüge „Gott“, „Mensch“ und „Welt“ immer gleichermaßen präsent und werden nicht aufeinander reduziert. Nicht religiöser Fanatismus noch tödlicher Narzissmus oder blanker Naturalismus kann allein regieren, wenn der Gott der Erleuchtung, der aufgeklärte Mensch und die Neugier auf die Welt im Spiele sind. So ist Religion, Humanität und Wissenschaft ein Antidot, ein Gegengift zu allen Radikalismen.

Wer bremst die modernen Eiferer? Gott gebe uns Licht und Dunkelheit, geistige Unabhängigkeit und Glaubensfestigkeit, Skepsis gegen einfache Lehren und Liebe zu den Menschen und allem was lebt. „Der HERR ist mein Licht und mein Heil; wovor sollten wir uns fürchten!“ (Ps 27,1 Lutherrevision 1912) Amen.

 

Pfr. Martin M. Penzoldt
Württembergstr. 52
70327 Stuttgart

Perikope

Anwenden - Anstaunen – Anhimmeln: Dreimal Damaskus und zurück – Predigt zu Apostelgeschichte 9,1-9 von Matthias Storck

Anwenden - Anstaunen – Anhimmeln: Dreimal Damaskus und zurück – Predigt zu Apostelgeschichte 9,1-9 von Matthias Storck
9,1-9

Anwenden

„Die Haut, in der jeder steckt, ist nicht seine eigene.“
Mit diesen wenigen Worten trifft der Schriftsteller Joseph Roth das allgemeine Lebensgefühl in Wien, Anfang der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, kurz nach dem Ende des ersten Weltkrieges. Die Stadt hatte den Glanz ihrer Fassaden und den sprichwörtlichen Charme fast unbeschadet durch die Kriegsjahre gerettet. Aber hinter aller Pracht war ihr unbemerkt die Seele verhungert. Nun gaben harte Disziplin, reger Geschäftssinn und eiserner Pioniergeist den strengen Takt für einen Neuanfang vor. Stetiges Misstrauen und kalte Berechnung waren die düsteren Wächter des sich langsam wieder einstellenden Wohlstandes. Derart unselige Ordnungen entwickeln ein Eigenleben und gehen unbemerkt in Fleisch und Blut über. „Jeder sagt das, was das Gesetz vorschreibt … Sie können, wenn Sie in ein Zimmer treten und die Menschen ansehen, sofort wissen, was jeder sagen wird.“
Unter den stets „wachen Augen des Gesetzes“ war eine unerbittliche, bis in die Herzen gefälschte Welt entstanden. Die ständige Selbstkontrolle wurde den Menschen zur zweiten Natur und machte sie nach und nach zu stumpfen Betrachtern ihres eigenen Daseins.
So schreit ganz Wien nach Damaskus.

Paulus im Museum
Ich weiß nicht, wie lange ich in der Stuttgarter Nationalgalerie als Betrachter vor dem berühmten Bild gestanden habe. 1627 malte Rembrandt, er war gerade 21 Jahre alt, den aus seiner Sicht schon steinalten Apostel Paulus. Der Blick des jungen Malers war geschult und wohl auch selbstbewusst genug, um Gestalt und Wahrheit des Apostels fein und genau in ein gutes Licht zu holen. Kein Wunder, als Rembrandt dann den Pinsel beiseite legt, hat sein prominenter Gefangener die ganze Welt im Gesicht. Die Sehnsucht, dass sie nicht so bleiben muss, wie sie ist, trägt er im Herzen wie einen tröstlichen Kassiber. Nichts ist zurecht buchstabiert, nichts dahin geredet. Alles bleibt wahr und genau. Die Zelle, aber auch der Trotz. Die Sehnsucht, aber auch der Streit, das Leid, aber auch die Verheißung. Licht und Farbe sind wie Zwillinge.
Als ich mich endlich losriss und abwandte, um zu gehen, ließ mich das Bild nicht mehr aus den Augen. Ich sollte anwenden, was ich gesehen hatte. Es schien mir, als wären die farbenfrohen Gemälde, die mir den langen Weg zu dem berühmten Porträt gesäumt hatten, blasser geworden. So, als hätte der Apostel ihnen ein wenig von ihrer bunten Wahrheit geraubt, um Besucher wie mich, die nur seinetwegen gekommen waren, mit ein paar Farbtupfern über den grauen Graben von fast zwei Jahrtausenden hinwegzutrösten.

Anstaunen

Gott ist nicht selbstverständlich
An dieses Erlebnis musste ich denken, als ich eine Predigt von Karl Barth aus dem Jahr 1920 las. „Gott ist nicht selbstverständlich!“, ruft er uns zu, „wir tun viel zu sicher!“

Ganz sicher muss sich auch der Gesandte des Jerusalemer Hohenpriesters gefühlt haben, als er, ausgestattet mit geistlicher Vollmacht und einem römischen Reisepass, nach Damaskus aufbrach. Sein Ziel war, die Anhänger einer neuen Sekte entweder zu Gott und zur Vernunft zurück zu bringen oder, bei Weigerung, gefesselt nach Jerusalem zu führen.
Unterwegs geriet ihm plötzlich die Welt aus dem Trott und in ein fremdes Licht. Er hörte eine Stimme, die er nicht kannte, dann aber nie mehr vergessen konnte: „Ich bin Jesus, den du verfolgst!“ Nach diesem Satz ist er ein anderer Mensch. Ein einziger Augenblick, und er ist buchstäblich „ein neues Geschöpf“, wie er später schreiben wird. Sein Gott ist aus dem Herzen. Seine Wahrheit ist brüchig, seine Pläne zunichte, seine Überzeugungen wertlos, seine Ziele verschwommen, seine Hoffnung verdorben, sein Himmel leer. Alles ist verrutscht und verrückt. Kein Wort auf seiner Zunge bleibt bei dem anderen. Kein Reim, kein Bild, keine Zeile. Er kann seinen Sinnen nicht trauen. Gott ist nicht selbstverständlich. Nie mehr.
Paulus blieb kein Einzelfall.
„Die dritte und die neunte Stunde ist jetzt“, schrieb der UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld während der Suez-Krise vor 60 Jahren. Damals ging es um wenige Augenblicke und um Haaresbreite an einem Weltkrieg vorbei.
Damaskus lag damals kurz vor Golgatha.
Die Gottverlassenheit solcher Momente bringt die Welt auf einen einzigen Punkt.
Auch heute genügt ein falsches Wort, und nichts und niemand ist mehr bei sich selbst. Alles hört sich plötzlich hoffnungslos gestrig an. (Das Wort „plötzlich“ klingt auf einmal wie „Platzregen“!) Und was gestern noch als weise galt, wirkt heute schon gedankenlos. Vieles scheint „viel zu sicher“. Die Wörterbücher verfallen. Die Begriffe machen sich auf und davon. Namen, die bis gestern nur gut und nach Urlaub klangen, scheinen bitter zu bestätigen, was wir nicht wahrhaben wollen: Würzburg, München, Ansbach, Nizza. Sie haben einen schmerzhaften Unterton bekommen und stellen unsere vertrauten Gewohnheiten und Ordnungen jetzt und hier in Frage, nicht erst vor Damaskus.
Manchmal ist Damaskus auch weniger plötzlich. Einer chassidischen Weisheit zufolge kann ein Wort, ein Satz, ein Gebet, eine Wahrheit, tagelang auf dem Herzen liegen bleiben. Erst, wenn es hinein fällt, beginnt es zu sprechen, zu wirken und die Welt zu verändern.

Schon scheinen gute Alltäglichkeiten, etwa eine Fußballkarte oder das weiße Tischtuch in einem Restaurant, über sich hinaus zu weisen. Man kann sie anstaunen. So wie man Gott anstaunen kann oder die Wahrheit oder das Wunder einer Geburt. Sogar ein Stück Brot sättigt anders. Alles muss nur der verhängnisvollen Gewohnheit entrissen werden. Viele Gedanken und Dinge werden einfach, klar und kostbar, wenn man sie zu lesen versucht, als seien sie neu wie am ersten Tag.
Sicher bleibt es eine gute Übung, sich selbst immer wieder in die kleinsten Kleinigkeiten eines neu geschenkten Tages hinein zu staunen wie in das allergrößte Wunder: Gott ist nicht selbstverständlich. Aber er ist gegenwärtig –  auch morgen noch.


Anhimmeln

Eine Szene im Drama „Peer Gynt“ des norwegischen Dichters Henrik Ibsen zeigt den alten Peer Gynt beim Enthäuten einer Zwiebel. „Das hört ja nicht auf! Immer Schicht auf Schicht … Bloß Häute! So ist mein Leben!“
Entsetzt wirft er die Zwiebel fort und spürt, wie alles von ihm abfällt. Schicht auf Schicht, Jahr um Jahr. Weder die Phantasie, noch seine Reichtümer, nicht einmal die Erinnerungen geben ihm Halt. Die ganze Welt blättert ab. Er blickt auf ein kaltes Leben ohne Bindungen, ein Stückwerk zusammenhangloser Episoden. Was der alte Mann vergeblich unter den Zwiebelhäuten seines Lebens suchte, ist sein Herz.
Es ist ihm vor Damaskus erfroren.

Paulus hatte vor Damaskus die ganze Welt schon hinter sich. Seinen Gott verlor er nicht zum ersten Mal. Es war auch gewiss nicht der letzte Anfang von vorn. Als er wieder sehen kann, kriecht er ins Wort wie in eine neue eigene Haut. Der Beginn ist Liebe, das Ende auch, so schreibt es Luther: „Es muss der ganze Mensch in das Evangelium kriechen und da neu werden. Er muss die alte Haut ausziehen wie die Schlange tut. Wenn ihre Haut alt wird, sucht sie ein Loch im Felsen, da kriecht sie hinein und zieht selbst ihre Haut ab und lässt sie draußen vor dem Loch. Also muss der Mensch sich auch in das Evangelium und Gottes Wort begeben und getrost seiner Zusage folgen. Das Wort wird nicht lügen. So zieht er seine alte Haut ab, lässt draußen sein Licht, seinen Dünkel, seinen Willen, seine Liebe, seine Lust, sein Reden, sein Wirken und wird also ganz ein anderer, neuer Mensch, der alle Dinge anders ansieht als vorher, anders richtet, anders urteilt, anders dünkt, anders will, anders liebt.“


Rembrandt im Knast
Jahrzehnte später, im Jahre 1661, wagte Rembrandt von neuem, dem Apostel das Licht der Welt in sein Altersgesicht zu malen. Jetzt war er selbst schon ein alter Mann.
Strich und Pinsel treffen nicht weniger genau als damals, aber ganz anders. Dem Maler ist im Zuge lebenslanger Übung fast jede Wahrheit von der Palette ins Herz gesprungen. Immer schnell genug, um der vermeintlichen Freundlichkeit der Welt auf die Schliche zu kommen.

Er hat inzwischen bitter gelernt, wie trostlos bunt die Welt und wie unendlich fern Gott sein kann. Vor allem aber, dass ein Tag vor Damaskus manchmal ein ganzes Leben verbraucht. Der frühe Tod seiner Frau Saskia verdunkelte ihm zuerst die Seele und zuletzt den Himmel. Am Ende schienen selbst seine Bilder Schatten nach ihm zu werfen. Bald war der weltberühmte Holländer verschuldet und verarmt. Der lichtsüchtige Maler, der mit seinen Bildern viele Menschen zu trösten vermochte, ist selber untröstlich. Immer wieder hat er die kargen Worte mit Farben angehimmelt, ohne sich die Welt zurechtzureden. Strich für Strich malte er nun seinem alten Freund Paulus dessen mühsamen Lebensweg mitten ins Gesicht: „Trübsal, Angst, Hunger, Kälte, Blöße, Gefahr und Krieg“ (Römer 8). Erst im Rückblick zeigen sich an den Rändern viele lichte und tröstliche Wegmarken Gottes.
Als das Porträt fertig ist, trägt Rembrandt selbst die Züge des Paulus. Der gefangene Apostel dagegen ist dem Selbstbildnis des lebensgeschulten Meisters wie aus dem Gesicht geschnitten. Auch so sieht Damaskus aus. Deutlicher und tiefer hat niemand diesen blitzhellen und ewigen Neuanfang festgehalten als dieser Maler und Meister des Lichts.
Wer wahrhaftig sucht, bleibt kein Betrachter. Er muss selbst mit ins Bild hinein und findet Gott mitten in der Welt am Kreuz. Das ist der Ort, wo der Glaube zu sich selbst kommt. Mitten in der Verzweiflung, im tiefsten Schweigen Gottes wird die menschliche Freiheit geboren.

Der Jesuitenpater Alfred Delp schreibt im Gefängnis, wenige Tage vor seiner Hinrichtung, im Februar 1945: „Die Geburtsstunde der menschlichen Freiheit ist die Begegnung mit Gott. Ob Gott nun einen Menschen aus sich herauszwingt durch die Übermacht von Not und Leid, ob er ihn aus sich herauslockt durch die Bilder von Schönheit und Wahrheit, ob er ihn aus sich herausquält durch die unendliche Sehnsucht, durch den Hunger und Durst nach Gerechtigkeit..., der Mensch muss zurück ins Wort.“ – Er muss zu sich selbst auferstehen.
Wer ins Wort zurückfindet, kehrt heim in die Verheißung, wohnt im Evangelium und verkriecht sich in der Taufe. Einem so geborgenen Menschen kann kein Tod „den Himmel rauben“.


 

Perikope

Predigt zu Apostelgeschichte 9,1-20 von Claudia Trauthig

Predigt zu Apostelgeschichte 9,1-20 von Claudia Trauthig
9,1-20

1
Kennen Sie
Kennst Du: Leo Müller?
Könnte ja sein.
Immerhin –
hat „Tante Google“ mehr als 10.000 Einträge zu dieser Namensabfrage parat.
Da gibt es Versicherungsexperten und Heilpraktiker, Journalisten und Politiker: alles: „Leo Müller“.
Kennen Sie, kennst Du: Leo Müller?
----
Offen gestanden:
Ich kenne Leo Müller auch nicht –
Und doch spielt er in meinem alltäglichen Leben durchaus eine Rolle:
Immer dann, wenn ich mit Familie oder lieben Freunden in unserem Esszimmer sitze.
Oder wenn mir der Platz im Pfarrbüro nicht ausreicht –
so dass ich für mein Arbeiten an den großen Esstisch ausweiche.
Dann habe ich ihn oder es immer vor Augen:
jenes Bild, das Leo Müller gemalt hat
und das ich vor einigen Jahren für eine Handvoll Euro
auf einem Flohmarkt erworben habe.

Zugegeben -
dieses Gemälde ist keine große Kunst.
Als ich es kaufte,
hat mich einfach angerührt,
dass es so lieblos in einem Pappkarton zwischen allerlei Krempel hochkant steckte.
Aus irgendeinem Nachlass.
Das Gemälde zeigt eine Landschaft,
scheinbar irgendwo in den Bergen,
den Alpen?
Menschen sind nicht zu sehen.
Frieden aber ist zu spüren.
Still ruht der See in der Mitte.
Nur ein laues Lüftchen
scheint die Nadeln der hochgewachsenen Tannen sanft zu bewegen.
Erhaben und unaufdringlich spiegeln sich die Berge im Gewässer.
Gut lesbar, Buchstabe für Buchstabe hat der (Hobby?)Künstler seinen Namen unter das (Din-A3-große) Bild gesetzt:
L E O M Ü L L E R -  wie ein Loblied auf den Schöpfer ist für mich sein Werk.

2
Zuhause dann drehe ich es um,
überlege, wie und wo ich es befestige.
Erst jetzt entdecke ich den aufgeklebten handgeschriebenen Zettel:
„Hintersee + Hochkalter.
Eingang zum Zauberwald
Nach einem Aquarell
1948
O.Bayern“ – Oberbayern?

Diese Zahl, diese wenigen Hinweise lassen das harmlose Gemälde, lassen Leo Müller, auf einmal in einem neuen Licht erscheinen:
1948 -
drei Jahre nach dem wahnsinnigen Krieg:
Die meisten Deutschen leiden weiterhin Hunger.
Viele Männer werden vermisst, sind noch in Gefangenschaft oder kehren, schwer beschädigt an Seele und Leib, zurück.
Die maßlose Schuld, die auf dem Volk lastet, kann man kaum ansehen, sonst wird man noch verrückt.
Ost und West streiten um Deutschland.
Zwölf Millionen Flüchtlinge müssen untergebracht werden.
(Nach ihren Schreckenserfahrungen wird nicht gefragt.)
Soviel Zerstörung, soviel Zukunftsangst war nie.

3
Aber Leo malt.
Vielleicht hieß er vor drei Jahren noch Leopold – wie zahllose Männer in Oberbayern.
Vermutlich war auch Leopold im Krieg,
hat gesehen,
was kein Mensch sehen, geschweige denn tun darf.
Vielleicht weiß auch Leo nicht, wie er (und die Seinen) morgen satt werden.
Vielleicht sollte er lieber Kartoffeln ausgraben gehen, statt wie versunken zu malen.
Doch Leopold ist jetzt Leo und malt: „Eingang zum Zauberwald“…
Der Krieg ist zu Ende.
Das Leben wird neu.
Die Schöpfung ist schön.
Gott ist der Gott des Friedens:
schaut Euch doch um:
In der Natur wird es neu … Und auch in mir!

4
Auch in Dir?
Auch in Euch, liebe Betrachterinnen und Betrachter meines kleinen und doch irgendwie großen Bildes.
Erkennt ihr es?
Das Licht – das das Leben hell macht?

Hören wir den Predigttext für den heutigen 12. Sonntag nach Trinitatis.
Auch er erzählt von einem Menschen, der verstrickt war: in Hass, Gewalt - Finsternis…
Auch er erzählt von einer Lebenswende und dem neuen Blick auf das Leben, auf Gott.

Apostelgeschichte, Kapitel 9:

1 Saulus aber schnaubte noch mit Drohen und Morden gegen die Jünger des Herrn und ging zum Hohenpriester
2 und bat ihn um Briefe nach Damaskus an die Synagogen, damit er Anhänger des neuen Weges, Männer und Frauen, wenn er sie dort fände, gefesselt nach Jerusalem führe.
3 Als er aber auf dem Wege war und in die Nähe von Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel;
4 und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was verfolgst du mich?
5 Er aber sprach: Herr, wer bist du? Der sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst.
6 Steh auf und geh in die Stadt; da wird man dir sagen, was du tun sollst.
7 Die Männer aber, die seine Gefährten waren, standen sprachlos da; denn sie hörten zwar die Stimme, aber sahen niemanden.
8 Saulus aber richtete sich auf von der Erde; und als er seine Augen aufschlug, sah er nichts. Sie nahmen ihn aber bei der Hand und führten ihn nach Damaskus;
9 und er konnte drei Tage nicht sehen und aß nicht und trank nicht.
10 Es war aber ein Jünger in Damaskus mit Namen Hananias; dem erschien der Herr und sprach: Hananias! Und er sprach: Hier bin ich, Herr.
11 Der Herr sprach zu ihm: Steh auf und geh in die Straße, die die Gerade heißt, und frage in dem Haus des Judas nach einem Mann mit Namen Saulus von Tarsus. Denn siehe, er betet
12 und hat in einer Erscheinung einen Mann gesehen mit Namen Hananias, der zu ihm hereinkam und die Hand auf ihn legte, damit er wieder sehend werde.
13 Hananias aber antwortete: Herr, ich habe von vielen gehört über diesen Mann, wie viel Böses er deinen Heiligen in Jerusalem angetan hat;
14 und hier hat er Vollmacht von den Hohenpriestern, alle gefangen zu nehmen, die deinen Namen anrufen.
15 Doch der Herr sprach zu ihm: Geh nur hin; denn dieser ist mein auserwähltes Werkzeug, dass er meinen Namen trage vor Heiden und vor Könige und vor das Volk Israel.
16 Ich will ihm zeigen, wie viel er leiden muss um meines Namens willen.
17 Und Hananias ging hin und kam in das Haus und legte die Hände auf ihn und sprach: Lieber Bruder Saul, der Herr hat mich gesandt, Jesus, der dir auf dem Wege hierher erschienen ist, dass du wieder sehend und mit dem Heiligen Geist erfüllt werdest.
18 Und sogleich fiel es von seinen Augen wie Schuppen und er wurde wieder sehend; und er stand auf, ließ sich taufen
19 und nahm Speise zu sich und stärkte sich.
Saulus blieb aber einige Tage bei den Jüngern in Damaskus.
20 Und alsbald predigte er in den Synagogen von Jesus, dass dieser Gottes Sohn sei.

 

5
Liebe Gemeinde,
diese Geschichte ist uns vertraut.
Schon in der Kinderkirche wird sie erzählt – und doch bleibt sie faszinierend, geheimnisvoll.
Ein geflügeltes Wort wurde aus ihr: „vom Saulus zum Paulus werden“.
Allerdings – das sei doch kurz erwähnt: Saulus hatte zeitlebens zwei Namen: Saul, bzw. Schaul, hebräisch: „der Erbetene“ und Paulus, sein lateinischer Name: „Der Kleine“.

So wird er also nicht erst durch dies berühmte Damaskuserlebnis namentlich „vom Saulus zum Paulus“,
auch wenn er sich später in seinen Briefen bevorzugt „Paulus“ nennt.
Vom Saulus zum Paulus.
Vom Christenverfolger, (Mörder!) – zum Christusbekenner. Zum ersten, vielleicht größten christlichen Theologen.

Wie kaum eine andere Geschichte des Zweiten Testaments zeigt diese, wie Gott ein Leben drehen kann.
Genau betrachtet aber ist die Bibel voller Geschichten solcher Lebenswenden.
Schaut her, hört zu, staunt mit und bekennt:
Gott ist einer, der das Leben drehen kann:

Das Leben des Mose und der Sarah,
das Leben des David und der Ruth,
das Leben der Maria und des Petrus,
das Leben der Martha und des Lazarus.

Schaut her, hört zu – unser Gott ist einer, der nicht erst am Ende der Zeit zu neuem Leben beruft,
sondern
schon hier und jetzt,
in Vergangenheit und Gegenwart
zum neuen Leben
durch seinen Geist befreit.
Vom Saulus zum Paulus.
Von Leopold zu Leo.


6
Unser Predigttext will keinesfalls als Heiligenlegende gelesen werden.
Nicht als spannender Spielfilm für Regentage vorüberziehen…
Er will auch nicht als Moritat vom großen Paulus in der Familienbibel schlummern, vom Staub der vergangenen 2000 Jahre überzogen.
Nein.
Er will zu uns sprechen.
Uns berühren.
Er verkündet uns das Evangelium von Jesus Christus, von dem dreieinigen Gott, auf dessen Namen wir heute zwei Kinder getauft haben.

Dieses Evangelium lautet:
Jesus Christus ist lebendig.
Gottes Geist ist die Kraft zum Guten immer und überall.
ER wirkt mitten unter uns – und auch in dir.

Nicht immer ist das so dramatisch wie bei Paulus, mögen wir denken, einwenden.
Nicht immer liegen so einschneidende Erfahrungen, Krieg, Trauma wie bei Leo voraus.
Doch auch wir sind oft blind für die Wahrheit unseres Lebens.
Auch wir hören oft auf so viele andere Einflüsterungen.
folgen nicht der Stimme Gottes, hören nicht, wie er tief in unserem Herzen beharrlich flüstert: Ich habe DICH bei deinem Namen gerufen… Du bist MEIN.
Oder wagen wir dem Wort Gottes in der Tiefe der Seele zu vertrauen?

In diesen sommerlichen Wochen, in denen das Leben sich -Gott sei Dank- auch entschleunigen kann… (und sollte), lädt die Geschichte des Paulus, ein,
durch sein Leben auch das eigene neu zu entdecken:

Was ist mein Leben?
Wofür lebe ich?
Lasse ich mich blenden?

Was hat Gott mit mir und durch mich vor?
Erkenne ich ihn und will ihn auch bekennen?
Wozu bin ich berufen?

 

 

 

Perikope

Die Kraft der Utopie – Predigt zu Apostelgeschichte 2,41-47 von Isolde Karle

Die Kraft der Utopie – Predigt zu Apostelgeschichte 2,41-47 von Isolde Karle
2,42-47

Liebe Gemeinde,
der Predigttext für den heutigen Gottesdienst steht in Apostelgeschichte 2. Es ist ein Text, der direkt an die Erzählung vom Pfingstwunder anschließt. An Pfingsten wurde die Kirche gegründet. Der Text ist deshalb eine Art Gründungsmythos der christlichen Kirche. Ich lese die Verse 41-47:

Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen; und an diesem Tage wurden hinzugefügt etwa dreitausend Menschen.
Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet.
Es kam aber Furcht über alle Seelen und es geschahen auch viele Wunder und Zeichen durch die Apostel.
Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam.
Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte.
Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern,
hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk.
Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.

In drei Schritten möchte ich mit Ihnen über diesen Text nachdenken.

 

Erstens: Ernüchterung

Was für ein Ideal wird uns hier vor Augen gemalt! Allein an einem Tag lassen sich 3000 Menschen in Jerusalem taufen, es geschehen viele Zeichen und Wunder, die Gemeinde lebt eine ideale Gemeinschaft – und dies nicht nur im Gottesdienst, sondern auch im Hinblick auf ihre Güter und Habe, die sie miteinander teilen. Und die christliche Bewegung findet noch dazu Wohlwollen beim ganzen Volk.

Wie traurig sieht im Vergleich dazu unsere Wirklichkeit aus! Die Kirche verliert seit Jahrzehnten kontinuierlich Mitglieder. Die Ökumene und das Bemühen um Einigkeit in der Christenheit ist eine äußerst mühsame Angelegenheit. Und das Christentum findet auch keineswegs Wohlwollen beim ganzen Volk, es muss sich in einer weltanschaulich neutralen Gesellschaft viel deutlicher legitimieren und verständlich machen als zu Zeiten, in denen die bürgerliche und die christliche Gesellschaft mehr oder weniger identisch waren.

Nun die gute Nachricht: Der Unterschied zwischen Realität und Utopie ist nicht erst unser Problem. Die neutestamentliche Exegese lehrt uns, dass es auch damals – ganz am Anfang – keineswegs so ideal zuging wie Lukas das hier suggeriert. Schon damals versuchte Lukas seiner tristen Gegenwart ein Ideal gegenüberzustellen. Zu seiner Zeit, etwa 50 Jahre nach der Gründung der Urgemeinde, war schon graue Alltäglichkeit in die Kirche eingekehrt. Es gab Streit und Konflikt, Hab und Gut wurden nicht geschwisterlich miteinander geteilt und die Gemeinden wuchsen auch nicht fulminant. Lukas leidet unter diesem tristen Alltag und stellt ihm einen in die Vergangenheit verlegten Zukunftstraum gegenüber.

Dass Lukas dabei durchaus Realist war, zeigt sich wenige Kapitel später. Lukas erzählt dort von Hananias und Saphira, einem Ehepaar der frühchristlichen Gemeinde. Die beiden gebärden sich als große Mildtäter, in Wirklichkeit sind sie aber darauf bedacht, heimlich für sich Vermögen auf die Seite zu schaffen. Sie vertuschen ihre wahren Vermögensverhältnisse.

Die Geschichte zeigt, dass die urchristlichen Anfänge nicht so ideal waren, wie es unser Predigttext nahelegt. Es ist ernüchternd und entlastend, dass selbst die erste, vom Geist erfüllte Bewegung ihren hohen Ansprüchen nicht immer gerecht werden konnte.

 

Zweitens: Ermutigung

Was ist nun aber die Absicht des Lukas, wenn er uns und seiner Gemeinde damals eine solch wunderbare Utopie christlichen Lebens vor Augen führt? Lukas sehnt sich nach einer Kirche, in der Liebe und Gerechtigkeit herrschen, einer Kirche, in der man sich einig ist im Hinblick auf die „essentials“ christlicher Lehre, einer Kirche, die eine lebendige Gemeinschaft lebt, die nicht nur aus Bürokratie, Hierarchien und Ämtern besteht. Fulbert Steffensky formuliert: „Die Geschichte ist nicht erzählt, weil es so war, sondern weil es so sein soll. Die Erinnerung sagt „Es war einmal“, weil es einmal so sein soll und sein wird. Der geglückte Anfang verspricht das glückende Ende“.

Lukas will uns mit dem idealtypisch erzählten Anfang der Christenheit provozieren. Er will uns zeigen: Wir könnten edler sein als wir sind. Wir sollten uns nicht voreilig mit Streit, Betrug und Selbstbezogenheit zufrieden geben. Nein, wir können –  wenigstens punktuell – so leben, wie es dem Reich Gottes entspricht: voller Lebendigkeit, in einer Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern, mit dem Mut großzügig zu geben und zu teilen.

Die Utopie, von der Lukas erzählt, ist deshalb nicht nur eine Utopie, sie wird ab und an auch Realität. Der Gründungsmythos der Kirche ist mehr als ein Traum. Er ist der Stachel im Fleisch der alltäglichen Tristesse. Er zeigt uns, dass Veränderung möglich ist. Er ist eine Sehnsuchtsgeschichte, die uns auf das Reich Gottes verweist.

Wir können das Reich Gottes spielen – mitten unter uns. Auf dem Kirchentag zum Beispiel, wenn es für einige Tage möglich ist, anders als sonst zu leben, öffentlich zu singen, miteinander zu lachen, Gemeinschaft zu riskieren, auf Müllberge zu verzichten, Fremde freundlich anzusprechen, über Probleme nachzudenken, die nicht meine, sondern diejenigen des Nächsten sind, der Hoffnung Raum zu geben, Brot und Wein in ökumenischer Gemeinschaft zu teilen, die Liebe Gottes zur Schöpfung zu feiern, Barrieren zwischen jung und alt zu überwinden und sich wechselseitig ganz selbstverständlich zu helfen.

Kirchentage leben davon, das Reich Gottes zu inszenieren, sie leben davon, greifbar werden zu lassen, dass wir anders miteinander umgehen können als es sonst üblich ist, dass es Alternativen gibt zur grauen Alltäglichkeit.

Der Kirchentag war vor einem Jahr in Stuttgart. Die Stuttgarter Zeitung titelte am Montag nach Ende des Kirchentags: „Gebt uns das Paradies zurück!“ Der Titel sagt alles. Der Journalist hatte verstanden, was der Kirchentag ist und sein will. Er vermisste schon am Montag danach die wunderbare Atmosphäre, die gute Laune, die ihn und die ganze Stadt verzaubert hatte. Dieser Kirchentag fand tatsächlich Wohlwollen beim ganzen Volk, wie es unser Text sagt, sogar bei der Polizei und beim Oberbürgermeister, der den Kirchentag ursprünglich gar nicht in Stuttgart haben wollte.

Man könnte hier noch viele weitere Beispiele anführen. Ich denke an den guten Geist an evangelischen Schulen, ich denke an evangelische Ferieneinrichtungen, die durch ihre Atmosphäre und Inklusionsbereitschaft dem Geist Gottes Raum geben, die vieles auf selbstverständliche Weise ermöglichen, was man normalerweise nicht für möglich hält. Und ich denke an die vielen Helfer, die es Flüchtenden in unseren Gemeinden ermöglichen, in einem fremden Land Fuß zu fassen und ein neues Zuhause zu finden.

Der Gründungsmythos in Apostelgeschichte 2 will uns zeigen uns, was geht, wenn der Geist Gottes unter uns Raum gewinnt. Es ist die Kraft der Utopie, die sich in ihm ausdrückt. Sie bewahrt uns davor, uns zu schnell zufrieden zu geben oder uns mit einem abgeklärten zynischen Realismus zu begnügen. Sie vermittelt Hoffnung.

Damit komme ich zu meinem letzten Gedanken:

 

Drittens: Das Teilen von Brot und Wein

Beim Teilen von Brot und Wein geht es im Neuen Testament nicht nur um einen liturgischen Akt. Es geht grundsätzlich um das gemeinsame Essen und Trinken, um die Gemeinschaft, die wir dabei erfahren, um die Erfahrung des Angenommenseins und ja – auch um den gemeinsamen Genuss. „Sie nahmen Nahrung zu sich mit Jubel“ heißt es in Vers 46. Was für eine wunderbare Formulierung! Beschrieben wird von Lukas keine moralinsaure Askese, sondern der Jubel und die große Freude über die Tischgemeinschaft, über das gemeinsame Essen und Trinken! Das Brot steht für das Notwendigste, der Wein für den Luxus. Menschen brauchen mindestens Brot, um überleben zu können. Der Wein geht über das Notwendigste hinaus, er ist Ausdruck des Überschießenden, des Genusses, der Freude an der Leiblichkeit, die uns Gott als Schöpfer von Herzen gönnt.

Das Miteinander essen, das Brotbrechen war ein zentrales Zeichen der christlichen Gemeinde, ein Zeichen für das Reich Gottes, das man am gemeinsamen Tisch schon vorwegnahm und feierte. Essen und Trinken, Zusammensitzen und Feiern gehören zum christlichen Glauben. Jesus nahm die natürlichen Bedürfnisse der Menschen ernst, sättigte Tausende mit fünf Broten und zwei Fischen und saß mit unterschiedlichsten Menschen zu Tisch. Im Abendmahl setzen Christen von Anfang an diese Tischgemeinschaft fort und nehmen die Zeit vorweg, in der der Hunger nach wahrem Leben gestillt sein wird.

Wenn wir gleich miteinander das Abendmahl feiern, dann teilen wir Brot und Wein, dann spielen wir das Reich Gottes. Wir sind als Brüder und Schwestern alle gleich, wenn wir uns um den Tisch des Herrn versammeln, es gibt dann keine Unterschiede mehr zwischen Studierenden und Lehrenden. Wir fassen uns an den Händen als Gemeinschaft Christi. Wir erinnern uns an Jesus, der das Reich Gottes verkündete und in seinem Tun mutig und konsequent praktizierte. Er nahm dafür Leid und Tod in Kauf. Und doch war das nicht das Ende. Gott hat den unbeirrbaren Utopisten bestätigt. Er hat ihn auferweckt und sich zu ihm bekannt: An ihm hatte er Wohlgefallen. Indem wir diesen Jesus in Leib und Brot in uns aufnehmen, teilen wir seinen Glauben an das Reich Gottes, wir teilen die Überzeugung, dass es in diesem Leben nicht nur um uns selbst geht, sondern um eine große weltweite Gemeinschaft. Und wir loben Gott wie die ersten Christen und nehmen das Brot und den Wein zu uns mit Jubel und Lobgesang. Amen.

 

Lied: Kommt mit Gaben und Lobgesang, EG 229

Perikope

Familienfotos – Predigt zu Apg 2,42-47 von Bert Hitzegrad

Familienfotos – Predigt zu Apg 2,42-47 von Bert Hitzegrad
2,42-47

Liebe Gemeinde!

Sie gehören zu unserem Leben dazu. Sie halten wichtige Momente fest, sind greifbare, sichtbare Erinnerungen. Eine Wand im Wohnzimmer ist dafür vorgesehen oder ein Regal im Bücherschrank: Familienfotos. Bilder der Kinder und Enkel, Fotos von Hochzeiten und Ehejubiläen, der Urlaub in Dänemark oder ein Gruppenbild vom Cousinentreffen. Stolz werden sie gezeigt, wenn Besuch kommt. Regelmäßig werden sie betrachtet, um die Erinnerungen wach zu halten. Aber auch immer wieder fällt der Staub darauf, der Staub der Zeit. Dann hilft ein Tuch, um sie wieder ansehnlich zu machen – die Bilder, die von den besonderen Augenblicken im Leben berichten, die Fotos, die ganze Geschichten erzählen. Geschichten von längst vergangenen Zeiten. Lebensgeschichten von Menschen, die verstorben sind. Bilder, die deshalb auch wehmütig machen.

Andere haben einen goldenen Rahmen bekommen. Das alte Schwarz-weiß-Bild aus dem letzten Jahrhundert. Der Name des Fotografen ist eingraviert, dazu die Jahreszahl 1916. In der Mitte sitzen die Urgroßeltern; für das Foto haben sie sich fein angezogen. Dazu die große Kinderschar wie Orgelpfeifen aufgestellt. Die beiden großen sind noch im Ersten Weltkrieg gefallen. Vorne rechts – der kleine Blonde, das ist der Großvater der Familie, der dann auch aus dem Osten flüchten musste und seine Frau in der neuen Heimat fand.

Ein Bild vor langer Zeit. Ein Bild von den Ursprüngen der Familie. Ein Bild im Goldenen Rahmen.

Solch ein Bild zeichnet uns heute auch der Predigttext. Und er wirkt wie mit Gold eingerahmt unter den Bildern der kirchlichen Familiengeschichte. Es ist das Bild einer einladenden, wachsenden und herzlich verbundenen Gemeinschaft in der Geburtsstunde der Christenheit. Vier Szenen stellt uns der heutige Predigttext vor Augen.

Da steht jemand zwischen den vielen Menschen, erhebt seine Hände zum Himmel und scheint das Wort an die Zuhörer zu richten. „Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel.”(V. 42) Petrus und die weiteren Apostel berichten von dem, was sie in der Gegenwart Jesu Christi erfahren haben. Sie haben seine Worte noch im Ohr und geben sie an ihre Zuhörer weiter. Die Einladung Christi, sein Reich schon hier auf dieser Erde wahr werden zu lassen: „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.”(Mt 5,9) Die Zuhörer lechzen nach den Mut machenden Worten. Sie können es nicht oft genug hören: „Kommt her alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.” (Mt 11,28) Und – es ist ihnen an den Gesichtern abzulesen – die Erquickung ist da, während sie den Aposteln zuhören. Sie spüren: es sind nicht nur Worte, es sind keine leeren Lehren, es sind tiefe, befreiende Erfahrungen, die sie machen – sie und die ganze Gemeinde.

Das ist in der nächsten Szene zu spüren, in der Menschen einander helfen, das geben, was sie brauchen. Niemand hält fest an dem, was er hat, niemand klammert an seinem Reichtum und Wohlstand, sondern achtet auf den, der nichts oder nur wenig hat. Das Wort, die Lehre, die Erinnerung an Jesu Wirken werden lebendig in der Liebe zum Nächsten. Die Blicke der Menschen sind dem anderen, der anderen zugewandt, offen, herzlich, fragend: „Wie kann ich Dir helfen, mein Bruder, meine Schwester?”

Diese Offenheit für die Bedürfnisse der anderen, die Frage nach dem, was notwendig ist, ist eng verbunden mit der tiefen und festen Gemeinschaft im Abendmahl. Sie reichen einander das Brot und trinken aus einem Kelch – ein Bild eines echten und tiefen Friedens. Die Gemeinschaft mit Gott durch seine Gaben wird hier sichtbar in der Herzlichkeit des Miteinanders. Sie reichen einander die Hände, weil alle zu dieser Gemeinschaft gehören und niemand herausfallen soll. Und während sie die Hände reichen, erleben sie ein Stück Himmel auf Erden. Und die Apostel bekräftigen es: „Ja, so war es, als er mitten unter uns war!”

Und auch die letzte kleine Szene auf diesem urkirchlichen Bild weist hin auf ihn, den Auferstanden, wie er bei ihnen ist: still, verborgen und doch gegenwärtig. Da sitzen sie und beten, danken und loben ihren Herrn und Meister. Er lebt nicht nur in ihren Erinnerungen, sondern sie begegnen ihm täglich, danken von Herzen und suchen Orientierung für ihr Leben. Sie stellen sich in den Machtbereich Gottes und erfahren von ihm Kraft und Stärke. Sie leben von der Verheißung: „Wo zwei drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.” (Mt 18,20)

Welch ein schönes, welch ein ideales Bild von der Kirche am Anfang! Was waren das für Zeiten! Der goldene Rahmen ist berechtigt. Aber vielleicht sitzt er auch schief. So wie bei dem Familienbild von 1916, das nicht nur die Idylle zeigt, sondern auch schmerzlich daran erinnert, dass der Erste Weltkrieg Familien zerstört hat. Und wenn die Oma von den guten alten Zeiten spricht, dann vergisst sie oft, wie mühsam und anstrengend es war, morgens in aller Herrgottsfrühe und in der Kälte des noch frischen Tages aufzustehen und das Feuer im Ofen anzufachen, damit es in der Küche langsam wieder warm wird. Heute dreht sie die Heizung auf und genießt den kleinen Luxus des Alltags.

Was waren das für Zeiten? So mag man auch ungläubig fragen im Rückblick auf das, was nicht gelungen ist, was aus dem goldenen Rahmen fiel. Die Apostelgeschichte ist zum Glück so ehrlich und rückt auch das eigne Bild zurecht. So einfach war es schon damals nicht mit der Hilfe für die anderen und der Selbstlosigkeit bei Reichtum und Besitz. Hananias und Saphira, wohl ein betuchtes Ehepaar, verkauften einen Acker, gaben aber nicht den vollen Erlös ab. Sie wurden ertappt und fielen tot um vor Scham. „Sie hatten alle Dinge gemeinsam.” (V42b) Diese Aussage aufrecht zu halten, war schon damals schwer. Und auch die konkrete Verteilung zeigte Probleme. Die einen beschwerten sich, dass die anderen mehr bekamen. Allzu menschlich ging es auch damals zu.

Was waren das für Zeiten? Mit Sicherheit nicht nur die goldenen Zeiten des Aufbruchs und des Neubeginns. Und es ist wohl auch nicht das Ideal und das Programm für die Kirche Gottes durch die Jahrhunderte hindurch.

Es reicht nicht aus, die alten Bilder mit einem goldenen Rahmen zu verzieren und in den Erinnerungen stecken zu bleiben.

Aber welche aktuellen Bilder hängen wir neben dieses Bild vom Anfang? Bilder von wunderschönen Kirchen, Kathedralen und Domen, die gen Himmel ragen. Doch wenn wir hineinschauen, sehen wir leere Kirchenbänke. Wo ist die Begeisterung der ersten Stunden, wo ist die Gemeinschaft derer, die füreinander einstehen, die Not lindern, das Brot brechen und miteinander und füreinander beten?

Die Kirche Jesu Christi zeigt sich heute sicherlich anders als damals. Und das ist auch gut und wichtig so. Sie muss sich immer wieder aus ihren alten Strukturen befreien, den goldenen Rahmen der Idylle und der Unveränderbarkeit ablegen und darüber nachdenken und diskutieren, welches Bild sie in einer veränderten Zeit von sich abgeben möchte. Die alten Kirchengebäude sind da sicherlich wichtige „Seh-Zeichen” am Horizont: Orte der Identifikation, Orte, wo Gemeinschaft erlebt wird, Seelsorge mit Händen zu greifen ist.

Doch wo Gemeinde lebt, wo Kirche als Ort der Gottesnähe erfahrbar wird, wo Jesus Christus mitten unter ist – da habe ich Bilder von Menschen und Begegnungen vor Augen. Es sind ähnliche Szenen wie damals in der Urgemeinde, die das Bild von Kirche ergeben. Konfirmanden zum Beispiel, die die Lehre der Apostel neu entdecken, weil sie eine Fotostory zum Glaubensbekenntnis erstellen. Ein Bild aus der Kleiderkammer für die Flüchtlinge oder vom herzlichen Miteinander beim Internationalen Café schenkt der Gemeinschaft und der Frage, wie wir die Not lindern können, eine ganz neue Strahlkraft. Und seitdem Kinder zum Abendmahl zugelassen sind und sie mit den Erwachsenen das Brot brechen, hat eine ganz neue Freude und Fröhlichkeit Einzug gehalten in unsere Gottesdienste. Das würde ich gern fotografieren – oder zumindest ein Bild in meinem Herzen mitnehmen. Und ebenso von dem Besuch im Trauerhaus, als der Sohn der Familie viel zu früh gestorben ist. Die Frage nach dem „Warum” stand im Raum, jedes Wort war zu viel. Aber nicht dieses eine Gebet, das schon zu „goldenen Zeiten” gebetet wurde, aber gerade auf dunklen Wegstrecken dem Leben neue Perspektiven gibt: „Vater unser im Himmel.”

Nein, wir müssen die Kirchenbilder von heute nicht hinter den Bildern von damals verstecken. Die alten Bilder haben uns eine Richtung gegeben. Und ich staune, dass wir weiterhin auf demselben Weg sind.

Aber wohin wird sie gehen, die Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen? Welche Bilder der Zukunft, welche Visionen begleiten uns?

Mein Bild von Kirche hat eine weit geöffnet Tür, die einlädt, nicht ausgrenzt. Eine Kirche, die Heimat und Geborgenheit schenkt, aber auch immer den Blick hinaus offen lässt. Eine Kirche, die sich nicht von den Sorgen um die eigene Zukunft gefangen nimmt, sondern die sich um die Menschen sorgt, die Schutz und Hilfe suchen.

Ich glaube, ich werde die Kinder im Kindergarten fragen, ob sie mir solch eine Kirche malen, damit ich mir das Bild dann aufhängen kann. Das wird sicherlich eine sehr bunte Kirche sein und ich ahne, dass die Kinder die Sonne und einen Regenbogen über das Kirchendach zeichnen, weil diese Kirche Gottes Nähe ausstrahlt und unter seinem Segen lebt.

Amen.

 

Perikope

Die ideale Gemeinde – Predigt zu Apg 2,42-47 von Esther Kuhn-Luz

Die ideale Gemeinde – Predigt zu Apg 2,42-47 von Esther Kuhn-Luz
2,42-47

„Die erste Gemeinde“ ist dieser biblische Text aus der Apostelgeschichte überschrieben.

Meine Güte, welche Idealzustände! Menschen, die alle zu einer Gemeinde dazu gehören und füreinander sorgen, miteinander teilen, die fürsorglich miteinander umgehen und einen Blick haben für soziale Gerechtigkeit. Sie verkauften Güter und Habe, verkauften ihre Immobilien und was sie sonst hatten. Jeder bekommt das, was er und sie nötig haben. Niemand geht leer aus, niemand hat zu viel. Einmütig waren sie – verstanden sich in ihrem gemeinsamen Glauben an den auferstandenen Christus als eine Gemeinschaft. Sie trafen sich regelmäßig, um miteinander Gottes Wort zu hören – im Tempel in Jerusalem. Denn das blieb „Haus Gottes“ – auch für diejenigen, die sich zu Christus bekannten. Denn Jesus selbst hatte doch auch hier gelehrt und war mit vielen Menschen im Gespräch gewesen. Aber sie trafen sich auch in den Häusern, reihum. Sie aßen miteinander – nicht nur die Freunde, sondern alle wurden irgendwo eingeladen. Sie teilten das Brot und erinnerten sich dabei immer an denjenigen, der ihnen das beigebracht hat: Wenn wir Brot teilen, dann werden wir satt. Dann denken wir immer auch an den, der für uns Brot des Lebens geworden ist.

Sie beteten miteinander, waren voller Dankbarkeit, lobten Gott und beteten auch füreinander.

So muss Gemeinde sein!

Ist so Gemeinde? Ja, vielleicht in kleinen Gemeinschaften, auch in Klöstern.

Wir kennen das anders – hier in Rottweil, und überall in der Landeskirche. Ja, wir, die wir hier sitzen, verstehen uns als Gemeinde. Wir zahlen Kirchensteuern, um die Arbeit der Kirche zu unterstützen: die Seelsorge, die Diakonie, die Bildungsarbeit, die Kirchenmusik. Wir unterstützen mit dem Geld auch die kirchlichen Häuser, in denen Menschen in der Gemeinde und in Akademien zusammen kommen. Die Kirchensteuer – eine kleine Erinnerung daran, dass „sie untereinander teilten, je nachdem, wie es einer nötig hatte“ (V. 45b).

Aber dass wir hier mit über 7000 evangelischen Gemeindegliedern in der Rottweiler Kirchengemeinde so füreinander sorgen, wie es in der Apostelgeschichte beschrieben wird, das kennen wir nicht. Dazu sind wir zu viele. Wir haben aber Strukturen aufgebaut, die dafür da sind, dass anderen Menschen geholfen wird.

Ideal sind wir nicht als Gemeinde, aber auch wir – und damit meine ich alle Gemeinden der Christen und Christinnen in der weltweiten Ökumene – wir „bleiben beständig in der Lehre der Apostel“ (V. 42a). Das Angebot ist jeden Sonntag da: sich von Gottes Wort Orientierung und Stärkung geben zu lassen. Den Gottesdienst als einen Ort der „seelischen und prophetischen Stärkung“ zu verstehen, wie wir das von Fulbert Steffensky letzte Woche gehört haben.

Wir beten füreinander und miteinander und feiern auch regelmäßig miteinander Abendmahl, wir teilen das Brot.

Das alles sind „Erinnerungen“ an die erste Gemeinde der Christusnachfolgenden in Jerusalem. Diese vier Kennzeichen einer christlichen Gemeinde, die Lukas aufzählt: in der Lehre des biblischen Wortes bleiben (griechisch: didache) und in der Gemeinschaft (griechisch: koinonia), im Brotteilen (griechisch: klasis tou artou) und im Gebet (griechisch: Proseuchai) Gemeinschaft zu erfahren. Gemeinschaft untereinander und mit Gott. Das sind die „notae ecclesiae“ geworden. Die Kennzeichen einer Kirche. Wo das stattfindet, findet Kirche statt.

Spannend, dass das nicht an einen Ort gebunden ist, sondern viel mehr ein Handeln beschrieben wird: Kirche ist dort, wo auf Gottes Wort gehört wird, Gemeinschaft erlebt wird, Brot geteilt wird, Menschen im Gebet verbunden sind.

Brotbrechen“ (V. 42b) heißt es in der Apostelgeschichte immer wieder anstatt „Brotteilen“. Das erinnert an die Eröffnung einer jüdischen Feier mit Gebet und Segen. Und gleichzeitig ist es ein Symbol dafür geworden, dass Jesus als Brot gebrochen wurde, damit viele satt werden. „Er brach das Brot“. Daran haben ihn auch seine Jünger wieder erkannt.

Also – ideal fing die Geschichte der christlichen Gemeinde an. Sozial gerecht und einmütig.

Stimmt das denn?

Wir kennen aus den Briefen des Apostel Paulus so viele Konflikte der Gemeinden.

Da hat jemand den anderen finanziell übervorteilt, also betrogen. In einer anderen Gemeinde trafen sich nur noch diejenigen, die begütert waren – und wollten mit den armen Menschen nichts mehr zu tun haben. Dann gab es jede Menge Konkurrenz und Machtkämpfe – wer ist der „Bestimmer“? Wer hat den bessern Glauben? Wer hat die Macht?
Menschliche Geltungsbedürfnisse waren in den christlichen Gemeinden genauso da wie in der nichtchristlichen Welt.

Und trotzdem.

Der Schreiber der Apostelgeschichte beschreibt den Anfang der christlichen Gemeinde als eine ideale Gemeinde. Und vielleicht ist damit gar nicht so sehr eine historische Realität beschrieben, sondern vielmehr eine Idee, wie sich Menschen zueinander verhalten sollten. Sie alle glauben an den auferstandenen Christus, der in seinem Leben – ganz unabhängig von dem Ansehen der Person – in vielen Begegnungen und Gesprächen die Menschenliebe Gottes spürbar werden ließ.

Der Bericht in der Apostelgeschichte über das Leben der ersten Christen ist ein in die Vergangenheit verlegter Zukunftstraum.

Und eine gute Zukunft kann man nur gestalten, wenn es einen guten Anfang gibt.

Wir erzählen uns unsere Geschichten so, dass es einen guten Anfang gibt. Das tun wir in unserer Biografie. Unsere Lebensgeschichte soll einen guten Anfang haben – und manche verändern im Nachhinein auch manches, um sich selbst Mut zu machen. Wenigstens der Anfang war gut.

Nachher werden wir hier im Gottesdienst sechs Kinder taufen – das ist auch eine Erinnerung an einen guten Anfang: Dass das Leben in Gott beginnt und deshalb einen guten Anfang hat.

Das gilt auch für die Geschichten, die von großen Aufbrüchen erzählen, die Menschen in die Freiheit geführt haben: vom Exodus über die Arbeiterbewegung, von der Theologie der Befreiung – auch der feministischen Theologie – bis hin zur großen Friedensvision Europas in der EU.

Auch wenn die Anfänge nie ganz ideal waren – die Geschichten darüber wurden als ideale Anfänge erzählt. Denn die Anfänge unserer Geschichten geben uns Orientierung und Kraft und Verheißung, wohin unsere Wege gehen können.

So ist das ja auch in den Anfangsgeschichten der Bibel.

Die Schöpfungsgeschichte erzählt von den guten Anfängen. Bei jedem Schöpfungswerk Gottes heißt es: „Und Gott sah, dass es gut war.“

Im Johannesevangelium lesen wir eine andere Geschichte eines guten Anfangs:

Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.“

Es gibt keine Welt ohne Gottes Wort, meint Johannes. Und in Gottes Wort gibt es immer wieder Anfänge, weil es am Anfang war.

Auch die Weihnachtsgeschichten sind solche guten Anfangsgeschichten. Mitten in der Armut, mitten in der Nacht, mitten in der Dunkelheit, mitten in der Hoffnungslosigkeit fängt Neues an. In einem zarten Kind. Der Anfang aller Anfänge.

Auch dieser Bericht von der ersten Gemeinde der Christusnachfolgenden – eine christliche Gemeinde und Kirche hat sich ja erst später gegründet – auch dieser Bericht über ein ideales Zusammenleben der ersten Christen und Christinnen ist so eine Schöpfungsgeschichte, ein guter Anfang! Damit wir eine Orientierung haben, wie es sein sollte.
Die Erinnerung sagt: „Es war einmal“. Weil es einmal so sein soll. Der geglückte Anfang verspricht das glückende Ende. Als Utopie. Einen Ort, den es noch nicht gibt, den wir aber ersehnen.

Weder damals noch heute gibt es die „ideale Gemeinde“. Aber mit dieser Beschreibung aus der Apostelgeschichte haben wir eine Idee, wie Gemeinde sein könnte.
Deswegen regt sich ja zum Glück auch so viel Protest, wenn gerade in Kirchengemeinden zu viel Geld für Luxus ausgegeben wird und zu wenig für soziale Projekte. Weil das so im Gegensatz steht zu dieser Beschreibung: Sie teilten alles, je nachdem wie es einer nötig hatte.

Deswegen sind ja in einer Kirchengemeinde zwar nicht Konflikte, aber zerstörerische Machtauseinandersetzungen so verheerend, weil sie gar nichts mehr davon zeigen, wie eine Gemeinde in Christus einmütig ist. Obwohl es doch der eine Christus ist, nach dem sich alle Christen und Christinnen nennen.

„Diese Geschichte der ersten Gemeinde ist wie die Unruh einer Uhr. Sie treibt unsere Lebensuhr weiter und sagt uns, dass die Zeit des Gelingens noch aussteht und wir noch nicht in dem Land sind, in dem alle in Frieden wohnen können.“(Fulbert Steffensky, Der Schatz im Acker, S. 80f)
Aber die Sehnsucht teilen wir. Das treibt uns voran. Und das gibt uns immer wieder Motivation, uns für eine Gemeinde zu engagieren, in der etwas davon zu spüren ist, dass Menschen mit unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Berufen und Biografien und Prägungen, mit verschiedensten Begabungen und Verletzungen im „Gasthaus Kirche“ genährt werden können.

Mich beschäftigt aber noch etwas.

Wie kam es eigentlich dazu, dass sich Menschen veränderten, dass sie bereit waren, sich zu einer Gemeinde, einer Gemeinschaft zusammen zu schließen und füreinander zu sorgen, füreinander Verantwortung zu übernehmen?

Da müssen wir noch einmal – biblisch gesehen – einige Wochen zurückgehen. Vor acht Wochen haben wir Pfingsten gefeiert. Dieses Geschenk der Geisteskraft Gottes, die uns bewegt. Die uns hilft, mit der Unsichtbarkeit Gottes zurechtzukommen, weil wir Gottes Kraft spüren, in uns, in Begegnungen, in Worten, in Gesten.

Diese Erzählung steht direkt vor unserem Text über die erste christliche Gemeinde – übrigens noch jenseits aller Konfessionen! Auch das ist eine Erinnerung, die ein Ziel vorgibt für kirchliches Handeln in der Zukunft!
Also direkt davor wird erzählt, was der Pfingstgeist bewirkt hat: Die Menschen haben die Worte, die sie gehört haben, verstanden! In ihrer Sprache. In ihrer Muttersprache, in ihrer Herzenssprache, in ihrem Dialekt. Sie haben verstanden, dass Gott in Christus gegenwärtig war und dass er es auch bleibt. Denn der Tod hat keine endgültige Macht mehr.

Sie haben die Psalmworte gehört und verstanden, dass das auch ihre Worte sein können. „Ich habe den Herrn allezeit vor Augen. Er steht mir zur Rechten. Darum ist mein Herz fröhlich. Mein Leib wird ruhen in Hoffnung. Du wirst mich nicht dem Tod überlassen. Du hast mir kundgetan den Weg des Lebens, du wirst mich mit Freude erfüllen vor deinem Angesicht!“ (Psalm 16).

Sie haben so zugehört, dass diese Worte in der Pfingstpredigt des Petrus in ihnen etwas verändert haben. Und sie wurden mutig, auf zu hören und auf Gottes Wort wirklich zu hören.

Marianne Gronemeyer hat ihn ihrem Buch „Genug ist genug. Über die Kunst des Aufhörens“ diesen Zusammenhang so eindrucksvoll beschrieben, wie ein wirkliches Hören uns dazu bewegen kann, aufzuhören mit dem, was uns das Leben schwer macht – und etwas in Bewegung kommt.

„Reden ist Silber – Hören ist Gold“.

„Gewicht hat im herkömmlichen Dialog nur der Sprecher, während der Hörer fast übersehen wird. Er ist oft nur die Landebahn für die niedergehenden Worte und kann sich nur Geltung verschaffen, wenn er selber das Wort ergreift. Sein Schweigen findet keine Zuhörer.“(S. 127)
Diese Art zu reden kann belehren. Aber es verändert nichts, weil nichts in Bewegung kommt, weil dem Zuhören und den Zuhörenden zu wenig Beachtung, Bedeutung gegeben wird. In einem wirklichen Gespräch ist der Redende daran interessiert, wie und ob die Zuhörenden sich bewegen lassen – und wartet auf Reaktion.
Die Kunst, zu zuhören, verändert den Sprechenden. Erst das wirkliche Zuhören gibt dem Menschen, der spricht, Bedeutung, weil erst das Zuhören eine Veränderung bewirken kann, die die reinen Worte nicht erreichen können.

Die Bereitschaft, so zuzuhören, so auf etwas, auf jemanden zu hören, dass sich in mir und mit mir etwas verändert, das war wohl das eigentliche Pfingstwunder.

Die Predigt des Petrus war das eine. Aber die Kunst, so zuzuhören, dass Menschen berührt und bewegt wurden und den Mut bekommen haben, auf das zu hören, was ihnen in Christus Orientierung und Kraft und Hoffnung gibt, das war der Ursprung der ersten christlichen Gemeinde.

Als sie das aber hörten, ging‘s ihnen durchs Herz, und sie sprachen zu Petrus und den anderen Aposteln: ‚Ihr Männer, liebe Brüder, was sollen wir tun?‘“ (V. 37)

So dem Wort Gottes zuzuhören, dass wir uns berühren und bewegen lassen und einmütig im Geist Gottes füreinander und miteinander Verantwortung übernehmen – das schenke uns die Geisteskraft Gottes.

Amen.

Perikope