Zur Freiheit seid Ihr berufen - Predigt zu Galater 5,1-6 von Christof Vetter

Zur Freiheit seid Ihr berufen - Predigt zu Galater 5,1-6 von Christof Vetter
5,1-6

Das Konzert neigt sich dem Ende zu. Das Stadion tobt. Die Arena bebt. Das eine Lied fehlt noch. Der Star, den alle so lieben, der Star, der sich so rar macht, steht allein. Ganz vorne an der Bühne, neben einem Klavier. Er wartet ab, bis die Massen ruhig sein. Der Beifall ebbt ab… Ein paar Töne des Klaviers…

Die Masse singt schneller los, als der, der das Mikrophon gemacht hat – das gesamte Stadion brüllt:

Die Verträge sind gemacht
Und es wurde viel gelacht
Und was Süßes zum Dessert
Freiheit, Freiheit

Marius Müller-Westernhagen und seine Hymne über die Freiheit.

Der Drucker hält die Seite in der Hand, liest, was gerade aus der Presse gekommen ist: „Siehst du, was da steht?“, jubelt er. Unüberhörbar. Alle schauen zu ihm… Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. „Hey, lies doch weiter“, meint einer seiner Knechte – da steht noch mehr: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. Oh, dieser Luther, nie kann er sich klar ausdrücken: ein freier Herr, ein dienstbarer Knecht? Und dies in einer Schrift: Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520 zum ersten Mal erschienen. Was denn nun?

Fast 30 Jahre saß er im Gefängnis. Tag für Tag – und jetzt dreht sich der Schlüssel in der Zellentür. Angeblich ein letztes Mal. Menschen haben demonstriert, dass er frei gelassen wird. Nicht nur in Südafrika, all überall auf der Welt. Präsidenten haben sich für ihn eingesetzt. Und doch hat es fast 30 Jahre gedauert - Nelson Mandela:

Als ich aus der Zelle durch die Tür in Richtung Freiheit ging, wusste ich, dass ich meine Verbitterung und meinen Hass zurücklassen musste, oder ich würde mein Leben lang gefangen bleiben.

Seit 200 Jahren wird es immer wieder gesungen. Als die Studenten sich 1848 auf der Wartburg und in Hambach trafen, weil sie mit der Politik nicht mehr einverstanden waren. 100 Jahre später, als der regierende Bürgermeister von Berlin Ernst Reuter verzweifelte angesichts der Blockade von Berlin – und manchmal abends einfach so, wenn wir uns treffen, weil wir gern miteinander singen – bei den Pfadfindern oder auch zum Volksliedersingen einfach so:

Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten,
sie fliehen vorbei
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen,
es bleibet dabei:
die Gedanken sind frei.

Auf Reisen. Er sitzt da. Wieder einmal muss er einen Brief schreiben. Dieses Mal nach Galatien. Vor kurzem war er noch dort. Hat doch alles erklärt, hat gepredigt und diskutiert. Nun hört er schon wieder, dass dort Dinge geschehen, die ihm gar nicht gefallen. Er greift zur Feder und zum Pergament und schreibt: Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, wenn ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. Denn in Christus Jesus gilt nur der Glaube, der durch die Liebe tätig ist. Ich hoffe, so denkt er, sie verstehen es dieses Mal, wenn sie es schriftlich haben. Wer sich beschneiden lässt, weil es im alten Gesetz steht – man weiß ja nie, wozu es gut ist – der stellt sich unser das gesamte Gesetz. Unter alles! Es gibt nicht nur ein bisschen Gesetz. Am besten ich schreibe es noch einmal:

Ihr aber, Brüder und Schwestern, seid zur Freiheit berufen. Allein seht zu, dass ihr durch die Freiheit nicht dem Fleisch Raum gebt, sondern durch die Liebe diene einer dem andern. Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort erfüllt: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!"

So viel könnte jetzt hier noch zitiert werden – bis hin zu dem Song, den David Hasselhoff berühmt gemacht hat: „I’m looking for freedom“ – ich suche nach Freiheit. Diese unbeschreibliche Szene, als er auf der Silvesterparty 1989/1990 am Brandenburger Tor seinen Hit "Looking For Freedom" gesungen. Die Bilder von sich in den Armen liegenden Berlinerinnen und Berlinern gingen um die Welt.

Ich könnte auch die Kommunistin Rosa Luxemburg zitieren – oder zumindest des Satz, der ihr immer wieder zugesprochen wird:

„Die Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden.“

In ihrem Aufsatz und ihrer scharfen Kritik an der russischen Revolution habe sie dies geschrieben. Veröffentlicht wurde diese Schrift erst nach ihrem Tod. 1919 wurde sie zusammen mit ihrem Genossen Karl Liebknecht von einer herum marodierenden, sogenannten Bürgerwehr aus einer Wohnung entführt, verhört und gefoltert und erschossen. Die Leichen der beiden wurden in den Landwehrkanal geworfen – es sollte so aussehen, als seien die beiden von Ganoven ermordet worden. Das ist keine 100 Jahre her.

Ihr aber, Brüder und Schwestern, seid zur Freiheit berufen.

Das war doch nur eine Kommunistin. Und später waren es nur die Juden, die Homosexuellen, die Bibeltreuen, die Spinner und Verrückten und alle, die selbst denken wollten. Wie etwa Sophie und Hans Scholl und wie sie alle hießen: "Ihr Widerstand speist sich ganz wesentlich aus jugendlicher Sehnsucht nach Menschlichkeit, aus jugendlicher Leidenschaft für Freiheit und Gerechtigkeit."

Und wie viele Namen wären hier noch zu nennen: gestorben für die Freiheit, gestorben dafür, dass andere frei leben können. Als einer der letzten vielleicht Liu Xiaobo, Schriftsteller, Philosoph, Freiheitskämpfer, Friedensnobel-Preisträger und Chinas prominentester politischer Gefangener. Er wollte Demokratie in China. Er hat sich ein Leben lang dafür eingesetzt und es hat ihn das Leben gekostet. Oder auch der Journalist Jamal Khashoggi muss wahrscheinlich hier genannt werden – unbequem war er in seinem Denken für die Mächtigen in Saudi-Arabien. Nun ist er tot.

Aber vielleicht nach ihm noch andere, vielleicht welche, von denen wir nicht einmal wissen. Vielleicht keine Christen. Vielleicht vergessen, wie so viele vor ihnen, vielleicht irgendwo verscharrt, in irgendeinen Kalender verstreut oder ihre Asche dem Wind ausgesetzt – darauf gibt es nur eine Antwort:

Alle, die von Freiheit träumen,
Sollen's Feiern nicht versäumen,
Sollen tanzen auch auf Gräbern
Freiheit, Freiheit,
Ist das einzige, was zählt
Freiheit, Freiheit,
Ist das einzige, was zählt.

Zur Freiheit seid ihr berufen, ihr, liebe Schwestern und Brüder, ihr alle. Zur Freiheit seid ihr berufen – Freiheit, das einzige, was zählt. Um Freiheit haben viele gekämpft in der Geschichte unseres Landes, in der Geschichte unseres Kontinents, in der Geschichte unserer Welt. Zur Freiheit seid ihr berufen, schreibt der Apostel Paulus – und es hat selbst bei uns in der Kirche Jahrhunderte, Jahrtausende gebraucht, bis wir eine Ahnung davon hatten, was Freiheit eigentlich sein könnte. Martin Luther hat entdeckt, wie wichtig Freiheit ist – in seiner kirchlichen Situation, in dem Streit mit den Mächtigen – und seine Freiheit auch missbraucht. Weil, sie galt aus seiner Sicht nur den Christen, vielleicht sogar nur den Evangelischen – aber auf keinen Fall den Juden und den Muslimen. Das ist in den Jahren nach 1518 nicht besser geworden: Bauernkrieg, der 30jährige Krieg, Hexenverbrennungen – und auch Johannes Calvin ließ in Genf seine Gegner auf den Scheiterhaufen bringen.

Das ist auch in den demokratischen Strömungen nicht besser geworden: Die Freiheit, für die die Studenten 1848 kämpften, galten den Gebildeten und Betuchten. Auf der Strecke blieb, wer nichts hatte und nichts wusste. Und die Freiheit der Revolutionen der vergangenen beiden Jahrhundert fraßen schneller ihre Kinder, als die Revolutionäre es sich vorstellen konnte.

Liebe Schwestern und Brüder, liebe zur Freiheit Berufene, vielleicht irren auch wir uns – und spätere Generationen werden den Kopf schütteln darüber, welche Freiheiten, wir uns genommen haben: Freiheiten gegenüber Menschen, die zu uns gekommen sind, weil sie Schutz gesucht haben. Freiheiten gegenüber der Schöpfung Gottes, die wir ausbeuten und zerstören, Freiheiten gegenüber anderen Völkern, denen wir Waffen liefern, damit sie Kriege führen, gegen die wir dann protestieren können.

Zur Freiheit seid ihr berufen, liebe Schwestern und Brüder. Zur Freiheit sind wir berufen, liebe Schwestern und Brüder. Mit allen, die an unserer Seite stehen – unseren katholischen Geschwistern und den jüdischen Mitbürgern, den Muslimen und den Atheisten. Denen werden wir zwar allen sagen: Seht her, das ist unser Glaube, unser Leben, unsere Hoffnung, unser Gebet – aber gemeinsam sind wir mit allen, die sich für die Freiheit einsetzen. Für die Freiheit, miteinander zu leben – egal wie unsere Hautfarbe ist, egal wie unser Essen schmeckt – ja, selbst egal, zu wem wir beten.

Zur Freiheit sind wir berufen, liebe Schwestern und Brüder. Das heißt wir stehen gemeinsam ein für das Leben – und widersprechen allen, die auch nur einem von uns das Leben einschränken wollen: in der Politik, in der Gesellschaft, auf montäglichen Spaziergängen oder bei sonntäglichen Wahlen. Freiheit heißt nichts anderes als, wir übernehmen Verantwortung füreinander: Für den Bruder und die Schwester, für den Fremden und den Freund, für Frau und Mann, für Kinder allzumal und für alle, die unsere Kraft brauchen – „Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst“

Auf dass wir nie wieder bekennen müssen:

Als sie die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

So hat Martin Niemöller bekannt, nach 1945 und einigen Jahren als persönlicher Gefangener des Führers. Für uns heute sind sind die genannten austauschbar.

Doch egal, wem sie die Freiheit nehmen – wir müssen widerstehen, denn wir wissen: Zur Freiheit seid ihr berufen, liebe Schwestern und Brüder – und auch all die anderen Menschengeschwister.

Amen

Perikope
31.10.2018
5,1-6

Tragen und getragen werden – Predigt zu Galater 5,25-6,10 von Susanne Ehrhardt-Rein

Tragen und getragen werden – Predigt zu Galater 5,25-6,10 von Susanne Ehrhardt-Rein
5,25-6,10

I. Dieser Sommer war eine gute Zeit, um am und im Wasser zu sein – wenn man denn Zeit und Gelegenheit dazu hatte. Ich habe jede Gelegenheit genutzt: abtauchen, schwimmen, mit dem Boot durch Kanäle und über Seen paddeln – es war herrlich. Wasser erfrischt und belebt - und es trägt: nicht nur das Boot, auch ohne Schwimmhilfe bleibt man über Wasser, den Blick zum Himmel, die Arme ausgebreitet, ganz ruhig muss man liegen, dann spürt man die Tragkraft, den Auftrieb. Das ist ein wunderbares Gefühl, so getragen zu sein. Dieses Getragenwerden ist uns, so denke ich, mitgegeben: Der Mensch ist ein „Tragling“ – ein Lebewesen also, das in seinen ersten Lebensmonaten getragen werden muss, um sich gut zu entwickeln. Kein Nesthocker, kein Nestflüchter, sondern angewiesen auf Körperkontakt, auf tragende Arme, festhaltende Hände, auf Wärme und Bewegung. Daran erinnert mich diese Erfahrung auf dem Wasser. Umspült vom Wasser, getragen und gleichzeitig frisch und lebendig – so könnte es immer sein, so leicht und entspannt.

II. So leicht und entspannt ist es aber nur selten, das Leben. So frisch und lebendig fühle ich mich nicht so oft im Alltag. Und die Kehrseite dieses Sonnen-Sommers haben wir auch alle erlebt: kippende Seen, ausgetrocknete Flüsse, verdorrte Felder. Die Saat ist an vielen Orten gar nicht erst aufgegangen. Trockenheit und Hitze haben die Äcker ausgedorrt. Ob das schon eine Katastrophe ist, werden wir noch sehen, normal scheint es jedenfalls nicht mehr zu sein. Wie wir leben, wie wir handeln, wirkt sich aus – das sagen Klimaforscher und Geoökologen, das erleben wir also offenbar jetzt ganz unmittelbar. Die Zusammenhänge sind komplex, und gleichzeitig liegen sie oft auf der Hand. Die Erde trägt uns – aber sie erträgt unseren Ressourcenverbrauch nicht mehr. Diese Erkenntnis steht für viele am Ende dieses Sommers, und damit die Frage, welche Konsequenzen diese Erkenntnis haben muss. Eine einfache Lösung scheint es nicht zu geben, und trotzdem gibt es Dinge, die jede und jeder im Kleinen tun kann. Ob sich das dann auswirkt zum Guten, das können wir nur hoffen. Auch, ob wir noch genug Zeit haben, überhaupt etwas zu ändern an diesem Prozess. Es bleibt eine Spannung: zwischen Wissen und Handeln, zwischen Erkenntnissen über die Ursachen der Klimaveränderung und den Konsequenzen, die wir daraus ziehen müssen, im kleinen, persönlichen Leben wie im globalen Zusammenhang.

III. Von der Spannung zwischen Erkenntnis und Handeln, zwischen Haltung und Konsequenzen daraus, zwischen Glauben und Leben – von dieser Spannung redet auch der Predigttext für diesen Sonntag:

Galater 5,25 -6,10

Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. 26 Lasst uns nicht nach eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden. Brüder und Schwestern, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid. Und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest. Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst. Ein jeder aber prüfe sein eigenes Werk; und dann wird er seinen Ruhm bei sich selbst haben und nicht gegenüber einem andern. Denn ein jeder wird seine eigene Last tragen. Wer aber unterrichtet wird im Wort, der gebe dem, der ihn unterrichtet, Anteil an allen Gütern. Irret euch nicht! Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten. Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen. Darum, solange wir noch Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.

Es geht um die Frage, wie Christen leben sollen. Welche Freiheit ist das, von der Paulus immer wieder im Galaterbrief spricht? Wovon befreit der Glaube an Christus – und wozu? Wie wirkt sich diese Befreiung aus auf die Lebensgestaltung der Befreiten? Wie sind wir erkennbar als Christenmenschen – untereinander und vor der Welt? Wie tragfähig ist der Glaube? Und welcher Geist trägt uns?

Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln.

IV. Es fängt im Kleinen an: Mit den Menschen, denen ich täglich begegne, mit denen ich lebe und arbeite. Sanftmütig den Belastungen begegnen – das ist schwer. Ich denke an den türenknallenden 16jährigen. Ich denke an die Nachbarin, die nie grüßt. An den Kollegen, der freundlich lächelnd immer noch mehr Arbeit gern den anderen überlässt.

Ein jeder wird seine eigene Last tragen.

Wie komme ich dazu, die Last der anderen zu tragen? Bin ich ein Packesel, dem man immer noch mehr oben drauflegen kann? Wer hilft mir eigentlich, mein Päckchen zu tragen?

Sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht würdest.

Verständnis für den Ärger und die Unsicherheit eines Jugendlichen? Die Nachbarin zuerst grüßen, immer wieder? Die Lebenssituation des Kollegen wahrnehmen? Wie komme ich dazu? Ich habe meine Grenzen – wer trägt die mit mir?

Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.

Ganz am Anfang des Lebens sind wir darauf angewiesen, getragen zu werden, von sorgenden Armen und Händen. Diese Erfahrung stärkt die Kraft, auf eigenen Füßen zu stehen und groß zu werden. Und sie stärkt uns für die Aufgaben des Lebens: Lasten tragen, eigene, für andere, mit anderen. Nicht nur als Menschen sind wir Traglinge, sondern noch mehr als Christenmenschen. Paulus sagt: Ihr seid im Glauben getragen, ihr seid vom Geist getragen. Wie im Wasser, das trägt, habt ihr Auftrieb durch den Geist Gottes, der euch stärkt, der das Gute in Euch hervorbringt.

V. Eine mittelalterliche Legende erzählt von einem Riesen, der nur dem mächtigsten Herrscher dienen wollte. Der König, dem er zuerst dient, hat Angst vor dem Teufel. Der Teufel, dem er dann folgt, weicht dem Kreuzzeichen aus. Wem soll er nun dienen? Er übernimmt die Aufgabe, an einem gefährlichen Fluss Menschen von einem Ufer zum anderen zu tragen und tut das eine lange Zeit und ohne müde zu werden. In einer Nacht ruft ein Kind nach ihm und er trägt es auf seinen Schultern durchs Wasser. Die Last wird immer schwerer, so dass er in der Mitte des Flusses zu straucheln droht. Er fürchtet, zu ertrinken und meint, die ganze Welt läge auf seinen Schultern. Mit Mühe setzt er das Kind am anderen Ufer ab. „Du hast mehr als die Welt getragen. Den Schöpfer der Welt hast Du durch diesen Fluss getragen.“ Der Riese hat das Christuskind durch den Fluss getragen, und dabei hat er die Grenzen seiner Kraft gespürt. Und so wird sein Name sein: Christophorus, Christusträger. Mit dem Wasser, durch das Christophorus das Kind getragen hat, wird er von Christus selbst getauft. Und er wird weiter Menschen durch das reißende Wasser tragen, sie sicher ans andere Ufer bringen.

Das Christuskind lässt sich tragen – Gott lässt sich tragen. Die Legende vom Christophorus, dem Christusträger, erzählt, wie menschliche Tragkraft an ihre Grenzen kommt und was uns trägt. Und sie erzählt, wie Menschen, die sich vom Geist Gottes tragen lassen, kräftig werden zum Guten.

Getragen vom Wasser der Taufe, von der Tragkraft des Geistes Gottes: Lasst uns Gutes tun und nicht müde werden.

Und der Frieden Gottes, der höher ist als all unser Wollen und Tun und tiefer als all unser Denken und Glauben, der bewahre und trage uns in Christus Jesus. Amen.

 

Perikope
09.09.2018
5,25-6,10

„Einer trage des anderen Last…“ – Predigt zu Galater 5,25-6,10 von Peter Haigis

„Einer trage des anderen Last…“ – Predigt zu Galater 5,25-6,10 von Peter Haigis
5,25-6,10

Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. Lasst uns nicht nach eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden. Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst. Ein jeder aber prüfe sein eigenes Werk; und dann wird er seinen Ruhm bei sich selbst haben und nicht gegenüber einem andern. Denn ein jeder wird seine eigene Last tragen. Wer aber unterrichtet wird im Wort, der gebe dem, der ihn unterrichtet, Anteil an allem Guten. Irret euch nicht. Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten. Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen. Darum, solange wir noch Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.

Liebe Brüder, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid; und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest.

„Einer trage des anderen Last…“ – Das ist ein zentraler Satz in diesen Gedanken, die der Apostel Paulus am Ende seines Schreibens an die Gemeinden in Galatien notiert. Er steht inmitten einer Reihe von Überlegungen zur Ethik und zum alltäglichen Verhalten der Christen. Lebensregeln, Erfahrungsweisheit, gute und gut gemeinte Ratschläge.

„Einer trage des anderen Last…“ – Zumindest in christlichen Kreisen ist das ein geflügeltes Wort geworden. Deshalb möchte ich es auch heute Morgen in den Mittelpunkt meiner Predigt stellen.

Die Last anderer zu tragen, ist vielleicht zunächst mal gar keine so gute Idee. Geht das überhaupt? Sagt Paulus nicht ein paar Verse später, dass jeder seine eigene Last trägt und zu tragen hat?

Ich erinnere mich an eine Erfahrung, die wir während eines Pilgerwegs machten – eine kleine Übung: Nach drei Tagen Pilgerweg mit dem eigenen Rucksack auf dem Rücken ging es beim Morgenimpuls um das Thema „Lasten tragen“. Die übliche Erfahrung beim Pilgern ist ja die, dass man – zunächst – immer zu viel einpackt und mitnimmt. Erst mit der Zeit stellt sich die Einsicht ein, wie wenig man wirklich braucht. Und dann geht es ans Ausmisten: Dinge, die eigentlich unnötigerweise mitgeschleppt werden, sortiert man aus, lässt sie in Pilgerherbergen zurück, entsorgt sie. Bei ganz persönlichen Dingen habe ich es auch erlebt, dass Mitpilger ein Päckchen packen und an der nächsten Poststation Richtung Heimat schicken…

Nach drei Tagen pilgern hat man sich mit seinem Gepäck, seiner Last, und mit dem Rucksack auf dem Rücken ganz schön arrangiert. Bei unserer kleinen Übung damals sind wir am dritten Tag eine kleine Strecke mit getauschten Rucksäcken gelaufen. Das Resultat war einhellig: alle fanden, dass ihr „eigener Rucksack“ sich am besten anfühlt. Die Übung sollte verdeutlichen: Wir können uns mit unseren Lasten auch arrangieren. Klar, ohne geht man leichter und unbeschwerter. Aber was man zu tragen hat, damit kann man sich auch arrangieren – ein Stück weit jedenfalls.

„Einer trage des anderen Last…“? Manchmal ist es leichter, die eigene Last zu tragen als diejenige anderer. Doch es gibt natürlich auch die wohltuende Erfahrung, wenn jemand an etwas mitträgt, das mir selbst zu schwer geworden ist. Auch hier hat mir das Pilgern eine wertvolle, ganz praktische Erfahrung beschert. In unserer Gruppe hatte sich eine Teilnehmerin unterwegs am Fuß verletzt. Nichts Dramatisches, aber es genügte, um zu erkennen, mit dem Rucksack auf dem Rücken geht es heute zumindest nicht mehr weiter. Wir haben dann ihren Rucksack für den Rest der Etappe übernommen. Jeder hat ihn ein Stück des Weges getragen, eine Last abgenommen.

„Einer trage des anderen Last…“ Der Vers begegnet mir auch immer wieder als Denkspruch. Bei Konfirmationen oder auch bei Eheschließungen – vor allem bei der älteren Generation, zum Beispiel im Rahmen einer Goldhochzeit. In unseren heutigen Ohren klingt das ja eher nüchtern und fast ein wenig hart. Lasten tragen. Wo bleibt da die Freude am Leben, das Ungezwungene? Wo bleiben Freiheit und Liebe? Heute würde ein Brautpaar das vielleicht nicht mehr unbedingt als Leitwort der Ehegemeinschaft und des gemeinsamen Lebensweges auswählen. Die Zeiten sind andere.

Sieht man jedoch auf die Lasten eines noch jungen Lebens, das seinen Weg in Krieg und Nachkriegszeit zu finden versuchte, so mag der Denkspruch fast etwas Verhängnisvolles haben. Da mag das schwere Schicksal anklingen, das damals über einer ganzen Generation lastete.

Und doch ist es ein wertvoller Denkspruch – zur Trauung oder zur Konfirmation. Er enthält nicht nur etwas von dem realistischen Blick auf die Mühen des alltäglichen Lebens, er enthält auch eine wertvolle Erinnerung, ja fast schon eine Mahnung, die aber zugleich eine Zuversicht ausspricht.

Das Wort aus Gal. 6,2 erinnert uns daran, dass wir nicht alleine leben, sondern in Gemeinschaft, in Beziehungen. So wollte Gott es von Anbeginn. So hat er den Menschen geschaffen und seinem ersten Geschöpf, bereits eine Stütze, einen Mitträger, eine Mitträgerin zur Seite gestellt. Die Schöpfungsgeschichte der Bibel erzählt zunächst von der Erschaffung Adams – er ist sozusagen der Prototyp des Menschen. Es geht hier nicht um eine historische Persönlichkeit. „Adam“ – darin klingt das hebräische Wort für Erdboden („adamah“) an. An ihm, Adam, soll etwas typisch Menschliches sichtbar werden. Nämlich, dass er Materie ist: Erde, Staub, Atome… Aber er ist mehr als das. Deutlich wird auch, dass er (wie übrigens jedes Lebewesen!) den lebendigen Odem Gottes in sich trägt: das Geheimnis des Lebens. „Eine lebendige Seele“ – wie die Bibel sagt. Damit ist er Teil seiner Mitwelt, gehört mit den anderen Geschöpfen Gottes zusammen.

Doch dies genügt nach der biblischen Schöpfungserzählung noch nicht, um den Menschen zu charakterisieren. Denn keines seiner Mitgeschöpfe erweist sich als wirklich zu ihm passend. Adam bleibt zunächst allein in der Fülle der Schöpfung. Als Adam inmitten der Welt, die ihn umgibt, seiner Einsamkeit gewahr wird, wünscht er sich jemand Ebenbürtiges an seine Seite – und Gott formt aus seiner Seite einen zweiten Menschen, der ihm zur Seite steht und dem er selbst zur Seite geht.

Die Bibel benutzt hier ein Wort, dessen Sinn uns verloren gegangen ist, weil wir bei dieser Geschichte immer nur an Adams „Rippe“ denken. Doch das hebräische Wort meint mehr. Es bedeutet „Seite“, „Tragbalken“, „Hilfe“. Darum geht es also, das also ist unsere schöpfungsgemäße Bestimmung: einander zur Seite zu gehen, einander zu tragen (nicht nur zu ertragen), einander zu unterstützen.

In der biblischen Schöpfungsgeschichte wird auf diese Weise zwar zugleich die Gemeinschaft von Mann und Frau begründet – doch halte ich dies nicht für so entscheidend, wie die Einsicht, dass wir als Menschen überhaupt aufeinander angewiesen sind. Weil dies aber nun so ist, dass es zu unserer schöpfungsgemäßen Bestimmung gehört, füreinander da zu sein, deswegen kann man auch zwei Seiten in dieser Bestimmung erkennen. Da ist eben nicht nur das Mit-Tragen an der Last des anderen, sondern auch das Mit-Getragen-Werden durch andere. Ich nehme ja nicht nur des anderen Last auf mich, sondern darf auch Lasten abgeben und mich von anderen mittragen lassen. Mir scheint, dass dies die schwerere Übung ist, die wir zu lernen haben – einmal etwas abzugeben, mich mit meiner Last auch mal jemand anderem zuzumuten. Wie oft höre ich von älteren Menschen den Satz: „Ich will meinen Kindern nicht zur Last fallen.“ Wie traurig, wenn es nur dabei bleibt! Ist das Leben nicht ein Geben und ein Nehmen? Die Kinder – habe die Eltern sie nicht auch getragen in jungen Jahren? Und waren sie dabei wirklich nur eine Last, eine Belastung?

„Ein jeder trage seine eigene Last, und zur Not eben auch noch mit an der Last eines anderen…“ – darin scheint also so etwas zu stecken wie ein allgemein-menschliches Gesetz. Doch der Vers aus Gal. 6,2 hat noch eine Fortsetzung – und das ist der eigentliche Zuspruch: „…so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Das Gesetz dieser Welt ist, dass jeder seine eigene Last tragen muss; wir sagen heute: mit sich selbst fertig werden muss. Und manchmal tragen wir aneinander, aber es soll aufs Ganze gesehen ein Nullsummenspiel bleiben. Am Ende wird abgerechnet. Und die Bilanz muss stimmen.

Das Gesetz Christi erinnert uns daran, dass wir einander tragen können und dürfen und dadurch stärker werden. Wenn ich mit mir selbst fertig werden muss, dann gibt es niemanden, der meine Schuld oder meine Angst mit trägt, niemanden, dem ich meine Traurigkeit klagen kann. Freilich auch niemanden, mit dem ich Glück und Lebensfreude teile. Ein in dieser Weise selbst-bestimmtes Leben ist ein einsames und armseliges Leben.

Dagegen ruft uns das Gesetz Christi in die tragende Gemeinschaft von Mann und Frau, von Brüdern und Schwestern, von Eltern und Kindern, von Freunden, Nachbarn und sogar einander Fremden. Und mit einem Mal sehen wir, wie zutiefst menschlich, wie tragfähig und wie wunderbar dieses Gesetz Christi ist. Christus hat es übrigens nicht im Befehlston vorgetragen und angeordnet. Er hat es selbst vorgelebt. Das ist seine Art und Weise, Gesetze zu erteilen. Und er trägt als erster und letzter mit an unseren Lasten.

Amen.

Perikope
09.09.2018
5,25-6,10

Wirf die Gnade nicht weg - Predigt zu Galater 2, 16-21 von Christiane Quincke

Wirf die Gnade nicht weg - Predigt zu Galater 2, 16-21 von Christiane Quincke
2, 16-21

I.

Petrus bekommt auf einmal Muffensausen.

Ja, ja - er hatte ja damals in Antiochien zugestimmt:

die Neuen gehören genauso zur christlichen Gemeinde wie die, die er besser kennt und die von Anfang an dabei waren, die Judenchristen.

Ob sie nun schon immer dabei waren und zum Volk Israel gehören oder ob sie neu dazu gekommen sind, weil sie keine Juden waren - in der Gemeinde sind sie alle eins. Und alle gleichwertig.

Doch was auf dem Papier so gut aussieht, ist in der Praxis schwierig:

Beide Gruppen folgen Jesus nach. Nur müssen die Nichtjuden, die zu Jesus gehören, auch die jüdischen Regeln befolgen?

Und ist es für die Judenchristen zumutbar, mit den Neuen Abendmahl zu feiern, obwohl diese sich nicht an die Regeln halten, die für sie lebenswichtig sind?

Petrus will die besonders Frommen und Wichtigen,

die schon immer Da-Gewesenen nicht verärgern

….

und darum feiert er nicht mehr mit den Neuen.

Einfach so gehört man eben doch nicht zu Gott.

 

Paulus ist sauer.

Und sagt: Wirf die Gnade nicht weg.

Du, Petrus, baust Schranken auf, die für Gott nicht gelten.

Gott hat alle Schranken, die wir Menschen brauchen, abmontiert.

Da braucht es nichts mehr, was uns aufhält und abhält voneinander.

Und von ihm.

Und das gilt für Neue und Die-schon-immer-dabei-gewesenen gleichermaßen.

 

II.

Im Brief an die Gemeinde in Galatien schreibt Paulus:

Wir wissen: Kein Mensch gilt vor Gott als gerecht, weil er das Gesetz befolgt.

Als gerecht gilt man nur, wenn man an Jesus Christus glaubt.

Deshalb kamen auch wir zum Glauben an Jesus Christus.

Denn durch diesen Glauben an Christus werden wir vor Gott als gerecht gelten –

und nicht, weil wir tun, was das Gesetz vorschreibt.

Schließlich spricht Gott keinen Menschen von seiner Schuld frei,

weil er das Gesetz befolgt.

 

Nun wollen wir ja durch Christus vor Gott als gerecht gelten.

Wenn sich nun aber zeigt, dass wir trotzdem mit Schuld beladen sind –

was bedeutet das dann?

Etwa, dass Christus die Schuld auch noch fördert?

Auf gar keinen Fall!

Wenn ich nämlich das Gesetz wieder einführe, das ich vorher abgeschafft habe,

dann heißt das:

Ich selbst stelle mich als jemand hin, der es übertritt.

Das Gesetz hat mir den Tod gebracht.

Deshalb gelte ich für das Gesetz als gestorben, damit ich für Gott leben kann.

 

Mit Christus zusammen wurde ich gekreuzigt.

Deshalb lebe ich nicht mehr selbst – sondern Christus lebt in mir.

Mein jetziges Leben in diesem Körper lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes.

Er hat mir seine Liebe geschenkt und sein Leben für mich hergegeben.

Ich werfe die Gnade Gottes nicht weg.

Denn wenn wir durch das Gesetz vor Gott als gerecht gelten,

dann ist Christus ohne Grund gestorben.

 

III.

Wirf die Gnade nicht weg.

 

Schau dich mit den Augen Gottes an. Es sind Augen der Liebe.

Petrus hat das vergessen. Oder nicht mehr gespürt.

Aber auch du hast das verlernt, oder?

 

Sie ernährt sich gesund und trainiert ihre Bauchmuskeln für die Bikinifigur.

Und doch traut sie sich nicht ins Schwimmbad, weil sie sich für ihre Figur schämt.

Und sie will „normal“ sein - so wie die anderen alle.

Und doch merkt sie, dass sie auf Mädchen steht.

Sie traut sich nicht, offen zu sein.

Die anderen könnten blöde Sprüche klopfen. Und Schlimmeres.

Und sagt nicht auch die Bibel, dass das falsch ist?

Darf sie so sein?

 

Er sieht die Bilder von den Flüchtlingen in den libyschen Lagern.

Ihre Augen lassen ihn nicht los.

Und er erträgt es kaum, dass er so wenig tun kann.

Dass die NGOs nicht mehr aufs Meer fahren dürfen, um die Flüchtlinge zu retten.

Und selbst seine Regierung will diese Ärmsten der Armen ihrem Schicksal überlassen.

So scheint es ihm.

Und dann noch die Sprüche derer, die ständig rufen „Wir sind das Volk“.

Ist es so?

Gehört er nicht mehr zu diesem Volk,

weil er den Fliehenden ein Dach über dem Kopf geben will

und weil er sein Land für reich und stabil genug hält, dass es das tun kann?

Und er wird immer kleiner und mutloser.

 

IV.

Wirf die Gnade nicht weg.

Schau dich mit den Augen Gottes an.

 

Dieser Gott sieht den Zöllner und wie alle ihn verachten. Keiner will sein wie dieser Zöllner.

Aber Gott sieht: Dieser Zöllner ist ein Suchender und Fragender und er will ein anderes Leben führen, aber weiß noch nicht, wie.

Gott sieht, dass Petrus nicht nur der Feigling ist, der die neuen Christen versetzt, weil er mit ihnen kein Abendmahl feiern will.

Er sieht die Sorge von Petrus, dass die Gemeinde auseinanderbrechen könnte. Und er sieht in ihm den Menschenfischer. Und dieser Menschenfischer steht immer wieder neu auf.

Und er sieht, dass Paulus längst nicht nur der ist, der mächtige Worte findet, die er seinen Gegnern um die Ohren haut.

Er sieht auch: Paulus leidet darunter, nicht so gut reden zu können wie andere. Und er kommt körperlich an seine Grenzen. Und Gott sagt zu diesem Paulus zu:  meine Kraft ist in den Schwachen mächtig, also auch in dir.

 

Wirf die Gnade nicht weg.

Gott hat sich in dich verliebt von Anbeginn an.

Du gehörst zu ihm, egal was du tust.

Und wirf nicht weg, dass er dir viel mehr zutraut als du dir selbst.

Vielleicht ist das was ganz anderes, als du denkst.

 

V.

Wirf die Gnade nicht weg.

Sie wohnt in dir. Lebt in dir.

Gott ist so verliebt in dich, dass er dich ganz ausfüllt.

 

Und dann fragst du nicht mehr, ob du schön genug bist.

Du bist schön. Und das darfst du zeigen.

Und wenn du dein Spiegelbild nicht magst, lächelt er dir zu.

 

Du bist feige und mutlos?
Gottes Gnade lebt in dir!
Du bist verzweifelt und denkst: Ich bin eine Versagerin!?
Gottes Gnade lebt in dir!
Und dann stehst du auf und tust dich mit anderen zusammen.

Du betest und singst und protestierst und lädst ein.

Das, wozu du gerade die Kraft hast, das tust du.

Weil Gott es dir zutraut.

 

Gottes Gnade lebt in dir.

Selbst dann, wenn du dich für was Besseres hältst oder für besonders fromm.

Er riskiert dabei sehr viel. Sein ganzes Leben. Seine ganze Liebe.

Er hat selbst die Schranke abgebaut, dass du ganz zu ihm gehörst.

Und vielleicht denkst du:  dir fehlt diese Schranke. Sie hat dir Halt gegeben.

Nun ist sie nicht mehr da. Und du schaust anders auf dich.

Und das macht dir manchmal Angst.

Aber Gott schaut dich liebevoll an.

Und traut dir zu, dass du die Welt mit seinen Augen sehen wirst.

 

VI.

Wirf die Gnade nicht weg.

Erkenne die Spuren der Gnade inmitten einer gnadenlosen Welt.

Menschen, die die Liebe Gottes leben.

Da ist der Kapitän Claus-Peter Reisch: Der lässt sich nicht abschrecken und riskiert sogar Gefängnisstrafe, um Ertrinkende zu retten.

Da ist die Pfarrerin: sie hat die Gebärdensprache gelernt, um mit Gehörlosen Gottesdienst zu feiern.

Und da sind Jesiden, Juden, Christen und Muslime in Pforzheim: sie setzen sich gemeinsam für eine interreligiöse Kita ein. Und in eineinhalb Jahren ist es soweit.

Da ist die Hochzeit im Rahmen der Vesperkirche.

Da ist ein Lied, das dich beschwingt, ein Gespräch im Kirchkaffee.

Und jemand lächelt dir zu jetzt -  in deiner Sitzbank.

 

Spuren der Gnade.

Gottes verliebte Augen.

Sie schauen dich an.

Und du lächelst zurück.

Amen.

 

—————————————

Anmerkungen:

  1. Ich würde den Predigttext durch eine andere Person lesen lassen.
  2. Ich könnte mir vorstellen, nach Teil II „Amazing grace“ singen zu lassen.
  3. Als Evangeliumslesung würde ich statt Lk 18,9-14 eher Lk 7,26-50 wählen.
  4. Liedvorschläge: „Gott ist gegenwärtig“ (EG 165,1.5-6.8); Ist Gott für mich, so trete… (EG 351,1-2,5.7); Nun jauchzt dem Herren alle Welt (EG 288); Nun danket alle Gott (EG 321); Hilf mir und segne meinen Geist (EG 503,13-15); Mercy is falling/Herr, deine Gnade sie fällt auf mein Leben (FreiTöne 76); Meine engen Grenzen (z.B. in: Kommt, atmet auf 083); Wir strecken uns nach dir (z.B. in: Wo wir dich loben, wachsen neue Lieder 90)
Perikope
12.08.2018
2, 16-21

„damit ich Gott lebe“ - Predigt zu Galater 2, 16 – 21 von Henning Kiene

„damit ich Gott lebe“ - Predigt zu Galater 2, 16 – 21 von Henning Kiene
2,16-21

Eine schwedische Studentin weigert sich im Flugzeug Platz zu nehmen. So stoppt sie über Stunden einen Flug mit dem ein 52-jähriger Mann nach Afghanistan abgeschoben werden soll. Laut sagt sie: „Da sitzt jemand hinten, der soll nach Afghanistan abgeschoben werden. Dort ist Krieg und wenn er dahin kommt, wird er höchstwahrscheinlich getötet. Ich versuche, sein Leben zu retten". Ihr Handy filmt die Szene; man sieht ihr die große Anspannung an, auch als man versucht, ihr das Handy zu nehmen und sie zum Sitzen zu bringen. „Solange ich und hoffentlich andere stehen, kann der Pilot nicht starten,“ wiederholt sie (https://www.tagesschau.de/ausland/schwedin-stoppt-abschiebeflug-101.html).

Ich sehe mir den Videofilm an, bin beeindruckt von dem Mut dieser Frau. Als andere Passagiere sich von ihren Plätzen erheben, ihr applaudieren, beginnt sie zu weinen. Der Dank für diese Hilfe ist so groß wie der Stress. Als der Mann aussteigen darf, verlässt auch sie den Flieger. Die Courage dieser Frau weckt weltweit Bewunderung. Der Film wird zu einem viel gesehenen Videos im Netz. Woher die Studentin diesen übergroßen Mut nimmt? Nichts davon wird berichtet, nur über rechtliche Konsequenzen und die Kosten für die Verzögerung des Fluges.

Im Urlaub selbst miterlebt: Ein Auto parkt ein, zwei Menschen steigen aus. Plötzlich würgt der Mann die Frau. Alles auf belebter Straße. Laute Rufe dringen zwischen geparkten Autos hervor. Einige Passanten gehen vorbei, sehen weg. Ein Mann steht im gegenüberliegenden Café auf, tritt heran, greift zwar nicht ein, hält Abstand, spricht die beiden aber laut und unüberhörbar an: „Wir sehen Sie, bitte lassen Sie das“, fordert er. In der Umgebung ist seine Stimme gut zu hören. Ich rufe unterdessen die Polizei. Der Schläger ist irritiert, lässt mit seinen Hände von seinem Opfer ab, nur das Geschrei geht weiter. Der Mann aus dem Café bleibt nicht alleine, es bildet sich ein Kreis, die Leute versuchen zu besänftigen. Später kommt die Polizei, hilft. Es gibt viele Zeugen, Schlimmeres wurde verhindert.

Wie es kam, dass er aufstand und versuchte, die Frau zu schützen? Er weiß es hinterher nicht mehr. „Ich wollte helfen, nicht nur der Frau, auch dem Mann, der sollte aufhören und das nicht noch schlimmer machen“.

Es braucht Menschen, die eingreifen, Frauen und Männer, die sich im richtigen Moment von ihren bequemen Plätzen erheben und die Sache nicht einfach in die verkehrte Richtung laufen lassen. Der Mann war zufällig im Café, er wurde unfreiwillig zum Helfer. Die Studentin sei, so wurde berichtet, Aktivistin, sie setze sich gegen Abschiebungen der Menschen in Kriegsgebiete ein. Wie dem auch sei, sicher ist: Beide haben etwas getan, was getan werden muss. Bevor es zu spät ist, muss jemand eingreifen. Es braucht ein selbstloses Helfen. Und es braucht die Einsicht: Du machst es nicht für dich selber, du machst es, weil es notwendig ist und du innerlich frei bist. Hier steht viel auf dem Spiel und es lässt sich trotzdem kein Blumentopf gewinnen.

Aus der Perspektive des Apostel Paulus gesprochen: Kein Mensch wird durch seine Werke gerecht. Gerechtigkeit gibt es nur in Christus. Der eröffnet die Freiheit aufzustehen und zu handeln. Und im richtigen Augenblick fokussieren sich die Gedanken, werden die Muskeln stark und die Stimme gewinnt an Festigkeit und man kann stehen blieben und erhebt seine Stimme.

„Ich habe eine Position“, ist die Botschaft; es braucht keine neue Moral. Denn die Bibel steht mit ihren Geboten Pate. Sie sorgen für einen erfrischenden Grundstrom, der – auch in einer säkularen Gesellschaft - menschliches Handeln erreicht und selbst die Bereiche des Lebens versorgt, in denen Gott schon lange vergessen ist. Es sind Menschen, die über ungewöhnliche Taten staunen, es sind Menschen, die das Engagement bewundern. Es sind Menschen, die massenhaft auf das Video klicken und die Studentin mutig im Flugzeug stehen und für den Afghanen argumentieren sehen. Das alles ginge auch ohne von Gott zu sprechen. Der klickt sich mit Sicherheit nicht durch den Strom der Videos, um uns an dann zu loben oder zu strafen. Gott hat schon alles getan; dafür stehen die Gebote, das Kreuz und der Name Christi. Wir können Gott nicht imponieren. Er sorgt für eine Freiheit, die nicht um das eigene Fortkommen kreist. Selbstlos im ursprünglichen Sinn des Wortes macht Gott.  

Die Kette der Hilfe ist endlos lang: Junge Leute retten Lebensmittel, die sonst weggeworfen werden. Nachbarn gießen die in der Trockenheit ausdörrenden Straßenbäume. Beherzte Frauen und Männer kommentieren in den Social Media, wenn Menschen bedrängt werden und widerstehen dem Shitstorm der Verachtung. Es sind die Ehrenamtlichen, die in Krankenhäusern und Heimen ihre kostbare freie Zeit einsetzen, helfen, trösten und anpacken. Es braucht immer Menschen, die sich etwas zutrauen und auch Risiken nicht scheuen. Und manchmal fließen denen, die helfen, die Tränen über die Wangen. Sie riskieren Gegenwind, sogar Beleidigungen.

Christinnen und Christen kennen den Apostel Paulus. Der hat seine Erkenntnis, wie eine Grundströmung in die Menschheitsgeschichte hineingeleitet. Sein „Christus lebt in mir“ sorgt für Menschen mit Courage. Der Glaube verdichtet die Botschaft: Du kannst dir nichts erarbeiten, weder durch großen Fleiß noch mit der größten Mühe; vor deinem Wunsch, dich zu erheben und etwas zu tun, war Christus bereits auf dem Plan. Glaube fordert keine Fleißarbeit; durch ihn erreicht mich der Mut, mich zu erheben, wenn andere noch sitzen bleiben. Er erlöst mich von dem Bedürfnis, mir selbst, anderen und Gott etwas beweisen zu müssen; es ist alles bewiesen.

Während die einen noch fordern, dass andere nun endlich „aufstehen“ sollten, sind viele Menschen schon lange auf dem Plan und sorgen dafür, dass sich etwas ändern wird. Sie erheben sich, wenn sie sehen, dass Not herrscht. Sie handeln ohne den klammheimlichen Wunsch, irgendein „mieses Karma“ bekämpfen zu müssen oder ihren Status im Dies- und Jenseits weiter verbessern zu wollen.

100.000 Menschen unterschrieben im Laufe des Sommers eine Petition zur Seenotrettung (https://www.change.org/p/fl%C3%BCchtlingspolitik-in-europa-erst-stirbt-…). Da heißt es „Moral wird verunglimpft und Menschlichkeit kriminalisiert“, und es wird an die Politik appelliert: „entscheiden Sie sich für eine Politik der Mitmenschlichkeit und Solidarität, damit Europa seine Würde behält.“ Die Zahl der Unterstützenden steigt beständig, als ahnten die Menschen, dass man Hilfe nicht herunterschrauben kann und Rettung nicht verbieten darf. Als ahnten selbst die, die von Christus nichts wissen, dass man sich viel häufiger von seinem bequemen Sitzplatz erheben und manchem Beobachtungsposten verlassen muss um dann auch noch standhaft zu bleiben, wenn es ungemütlich wird. Die Zahl der Unterschriften steigt beständig. Es wirkt wie ein Kampf um das Überleben der anderen.

Es wird beständig ein Überschuss von diesem „in Christus leben“ in das Leben hineingeleitet. Davon werden manche Menschen immer noch überrascht und sie spüren, sie können nicht sitzen bleiben, wenn ein Mensch in ein Kriegsgebiet abgeschoben wird. Die Rede ist von einer Kraft, die der Glaube vorhält, von der furchtsame und mutige Menschen auch dann zehren, wenn es schwierig wird.

Es zieht sich sichtbar und auch unsichtbar eine Spur der Menschlichkeit durch diese heißen Sommertage. Da treten Menschen auf, Studentinnen stoppen Abschiebungen, beherzte Cafégäste verhindern eine schlimmere Prügelei, Leute bleiben nicht einfach auf ihren bequemen Plätzen sitzen, wollen nicht mehr von den Rängen aus zusehen. Es ist so, dass nun ich nicht mein Leben, meinen Sinn und mein Ziel suchen muss, weil „Christus lebt in mir“.

Perikope
12.08.2018
2,16-21

Heimat liegt vorne

Liebe Gemeinde,

als ich sechs war, zogen wir nach München. Für meine Eltern war jetzt dran, dass ich schwimmen lerne. Im Schwimmbad war mir jedoch nicht nur das tiefe Wasser unheimlich. Auch die bayerische Sprache, besonders vom Bademeister. Der fragte mich, damals noch mit blonden Locken: „Bist du a Bua oder a Madl?“ – Ich hab kein Wort verstanden. Schüchtern und ängstlich wie ich war, ging ich auf Nummer sicher: „Weiß ich nicht.“ Mein Bruder hat‘s gehört und später wurde die Geschichte oft in der Familie erzählt – ich aber hab mich arg geschämt.

Wenn die Verständigung unter Deutschen schon so schwierig ist – wie soll sie erst unter Deutschen und Syrern gelingen? Oder gar zwischen Christen und Muslimen?

Missverständnisse und Unsicherheit nehmen zu. Besonders seit den Terrorakten in diesem Sommer. Zugleich sagen 70% der Befragten einer aktuellen Studie (Skepsis oder Zuversicht? Erwartungen der Bevölkerung zur Aufnahme von Flüchtlingen zwischen November 2015 und August 2016, EKD, August 2016), dass sich die Evangelische Kirche weiterhin für Flüchtlinge und ihre Integration engagieren soll. Wie passt das zusammen?

Werfen wir mit dieser Frage einen Blick in die ersten christlichen Gemeinden. Da saß ein bunt gemischtes Volk im Gottesdienst. Und ging sich bei aller Liebe wahrscheinlich manchmal auch arg auf die Nerven.

Die Römer den anderen durch ihren herrischen Ton, die Sklaven durch den Dreck unter ihren Fingernägeln, die Griechen mit manchen altklugen Sprüchen, die Soldaten, weil sie ihre Waffen noch mit sich trugen und die Händler mit ihrem zur Schau gestellten Reichtum.

Wie fremd müssen sie sich gewesen sein und die enormen Missverständnisse, die da tagtäglich entstanden sind, kann ich aus unserem Miteinander von Siebenbürgen oder Menschen aus Kasachstan, Schlesien oder Westfalen, Franken oder Russland gut erahnen. Da wünschen sich manche Russlanddeutsche von den Hiesigen: Haltet in der Familie stärker zusammen, bringt den Alten Respekt entgegen und vergesst das Feiern miteinander nicht! Und manche Einheimische erwarten von den Spätaussiedlern: Zeigt euren Familienzusammenhalt doch auch außerhalb, in der Gesellschaft! Übernehmt Verantwortung für das Gemeinwesen, stellt euch zum Beispiel für den Kirchenvorstand auf oder den Stadtrat und gestaltet mit!

„Einspruch!“ hätte da wohl – der Apostel Paulus - gesagt. Erwartungen und Fremdheitsgefühle sollen uns nicht beherrschen!

Das schrieb er sinngemäß seiner Gemeinde in Galatien, der Gegend um das heutige Ankara, in einem Brief:

„Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus."(Galaterbrief 3,26+28)

Der gemeinsame Glaube an Jesus Christus verbindet uns stärker als Herkunft, soziales Milieu und Geschlecht trennen können. Weil alle zusammen gemeinsam den Leib Christi bilden.

Das glauben und leben wir auch hier in Würzburg. Wenn beim großen Sommerfest gemeinsam die Bierbänke aufgestellt und die Vorführungen beklatscht werden. Wenn sich die Menschen im Seniorenkreis aus ihrer alten Heimat erzählen. Oder wenn in unseren Kitas die Kinder zusammen spielen und sich in vielen Sprachen verstehen.

Und doch spüren wir Spannungen, Unerfülltes, weil unsere Gemeinschaft noch nicht wirklich eins ist:

Ein Gefühl der Unsicherheit bleibt, manchmal treten sogar Ängste auf – obwohl wir uns als Leib Christi verstehen. Doch unsere Gemeinde lässt sich davon nicht beirren, sondern nimmt die Herausforderung an.

Als buntes Volk Gottes, das sich wie Ruth und Olga Kinderknecht auf den Weg macht, kommen wir in einem Zeltbau zusammen. Das Dach verjüngt sich und lässt den Himmel sehen. Vorne auf dem Altarbild erahne ich den betenden Jesus. Er betet mit, im Rund der Gemeinde. Als unser Bruder und Begleiter.

Wir gehören zu ihm und er hält uns zusammen. Wir können uns alle anschauen. Ohne unten und oben. Und eine Ahnung davon bekommen, was uns allen als Gottes Söhne und Töchter gemeinsam ist: Die Sehnsucht nach Heimat.

Hier findet jeder seinen Platz, ohne dass die Einheimischen den später dazu gekommenen einen Platz zuweisen. Nein, als wanderndes Gottesvolk sind wir alle gleichermaßen unterwegs und gestalten unsere zukünftige Heimat gemeinsam.

Für mich ist das ein Modell, ein Bild, das sich auch auf das Miteinander mit den Geflüchteten anderer Religionen beziehen lässt. Nicht die Unterschiede bestimmen unsere Beziehung, sondern das Verbindende. Besonders unsere große gemeinsame Sehnsucht nach Frieden.

Da steht nicht einer über dem anderen. Sondern da können sich Anne Hasenauer und Issam in die Augen schauen und fühlen: Du bist mein Mitmensch. Und wir haben gemeinsame Werte.

Natürlich braucht es dafür Zeit. Heute verstehe ich die Frage: Bist du a Bua oder a Madl? Sie hören es, sprechen kann ich sie aber immer noch nicht „richtig“. Trotzdem bin ich hier daheim. Und in meiner Familie können wir herzlich über diese Geschichte lachen. Die Scham und Unsicherheit haben schon längst einer humorvollen Leichtigkeit Platz gemacht.

Ich glaube, so eine Leichtigkeit, ja so ein Segen kann auch uns allen - mit Olga und Issam und vielen anderen geschenkt werden. Denn Heimat, die liegt vorne.

Amen.

Perikope
25.09.2016
3,26+28

"Ihr seid zur Freiheit berufen" - Predigt zu Galater 5 von Martin Kruse

"Ihr seid zur Freiheit berufen" - Predigt zu Galater 5 von Martin Kruse
5

Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erlöser. (Jesaja 54, Vers 10)

Lasst uns hören auf das Gebet eines Sterbenden (nach Worten von Jörg Zink):

"Herr ich denke zurück. Ich gehe noch einmal den Weg durch alle meine Jahre. Nicht an meine Leistung denke ich. An das Gute, was du mir getan hast, denke ich und danke dir. An die Menschen, mit denen ich gelebt habe, an alle Freundlichkeit und Liebe, von der ich mehr empfangen habe, als ich wissen kann. An jeden glücklichen Tag und jede erquickende Nacht. An die Güte, die mich bewahrt hat in den Stunden der Angst und der Verlassenheit. An das Schwere, das ich getragen habe, denke ich. An Jammer und Mühsal, dessen Sinn ich nicht sehen konnte. Dir lege ich es in die Hand und bitte dich: Wenn ich dir begegne, zeige mir den Sinn. Ich denke zurück an die vielen Jahre. Mein Werk ist vergangen, meine Träume sind verflogen, aber du bleibst! Lass mich nun im Frieden aufstehen und heimkehren zu Dir, denn ich habe deine Güte gesehen. Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste,  wie es war im Anfang,  jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen

Liebe Gemeinde, liebe Marianne von Weizsäcker, liebe Familie, liebe Trauergäste aus Nah und Fern!

Am Sonntag, nach dem Fall der Mauer, am 12. November 1989, besuchte Richard von Weizsäcker den Gottesdienst in der überfüllten Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche. Draußen vor der Kirche standen etwa 3000 Menschen, wie die Polizei uns wissen ließ, Menschen aus Ost und West. Ein Privatsender hatte sich mit einem Übertragungswagen eingefunden. So konnten auch die 3000 draußen am Gottesdienst teilnehmen.

Ich bat Richard von Weizsäcker, den Bundespräsidenten, er möge doch ein Wort an die Gemeinde richten. Bis dahin hatte er noch nicht zum Fall der Mauer Stellung genommen. Er ging auf die Bitte ein, ohne besondere Vorbereitung – wie er in seinen Erinnerungen (Vier Zeiten) schreibt: "eine unbeholfene Mischung aus Laienandacht und Willkommensgruß". Ich hatte nicht den Eindruck, dass es "unbeholfen"  war, was er sagte, und die große Gemeinde sicher auch nicht. Er zitierte – ohne eine Bibel zur Hand zu nehmen – aus dem Gedächtnis Worte aus dem Brief des Apostels Paulus an die Galater – wie er schreibt: "jene mir vom Evangelischen Kirchentag ans Herz gewachsene Paulusworte". So haben wir ihn erlebt: als einen im Glauben verwurzelten Christenmenschen, ganz im Sinne der einprägsamen Worte Luthers:

"Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan."

Die Worte aus dem Galaterbrief möchte ich jetzt verlesen und für uns alle auslegen:

So bestehet nun in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat. Und lasset euch nicht wieder in ein knechtisches Joch einfangen. Ihr seid zur Freiheit berufen. Allein seht zu, dass ihr die Freiheit nicht missbraucht. Euch selbst zu leben. Sondern durch die Liebe diene einer dem andern". (Galater 5)

Am Nachmittag jenes Sonntags nach dem Fall der Mauer hat Richard von Weizsäcker ein schönes Beispiel der inneren Freiheit gegeben, die ihn bestimmte. Er ging alleine – ohne die üblichen Sicherheitsbegleiter eines Bundespräsidenten – quer über den öden, leeren Potsdamer Platz in Richtung auf die Baracke der Volkspolizei. Man musterte ihn mit dem Fernrohr und erkannte ihn. Dann löste sich der Kommandoführer, ein Oberstleutnant von seinem Trupp und ging auf Richard von Weizsäcker zu, machte eine korrekte Ehrenbezeigung (klappte die Hacken zusammen) und sagte: "Herr Bundespräsident, ich melde: Keine besonderen Vorkommnisse!" Als sei das das Normalste, drei Tage nach dem Fall der Mauer!

Das ist ein heute vielleicht simpel erscheinendes Beispiel für die Freiheit, die er lebte. Aber es steht ja, weiß Gott, nicht für sich allein! Ich erinnere an andere, gewichtigere Beispiele, herausgegriffen aus einer unübersehbaren Vielzahl von möglichen Beispielen.

Im Rückblick auf seine Jahre im Amt des Regierenden Bürgermeisters gab er zu erkennen: dies sei das eindrucksvollste Erlebnis in dieser Zeit gewesen. Nämlich Folgendes:

Als Mitglied des Rates der EKD, dem er 15 Jahre lang angehörte, reiste er Ende September 1983, im Lutherjahr, in einer Periode harter Spannungen zwischen Ost und West, zu einem Regionalen Kirchentag nach Wittenberg in die DDR. Seine kirchlichen Ämter gaben ihm die Chance, immer wieder in die DDR reisen zu können. In Wittenberg sprach er auf dem Marktplatz vor 15.000 Besuchern des Kirchentages. "Vertrauen wagen" war die zentrale Losung bei den sieben Regionalen Kirchentagen im Lutherjahr in der DDR. Und das war auch sein Thema; denn wie kann man "in der Freiheit bestehen" ohne Vertrauen zu wagen?

Eine Woche vorher, vor dem Besuch in Wittenberg, gab es ein Zusammentreffen mit Erich Honecker, dem Staatsratsvorsitzenden der DDR, in Schloss Hohenschönhausen in Ost-Berlin. Das trug ihm öffentliche Kritik ein: Er handle leichtfertig, er gefährde den Status West-Berlins.  Aber wer sich heute kundig macht, der erkennt schnell, mit welchem politischen Augenmaß, mit welcher Nüchternheit und zugleich mit welchem Wagemut Richard von Weizsäcker dieses Treffen vorbereitet und das Gespräch geführt hat.

"Ihr seid zur Freiheit berufen. Allein seht zu, dass ihr die Freiheit nicht missbraucht, Euch selbst zu leben. Durch die Liebe diene einer dem andern". Das war der Kompass, der ihn leitete. Beim Kirchentag in Köln1965, dessen Präsident er war, hat er diese Losung "So bestehet in der Freiheit" ins Persönliche entfaltet. "Das Evangelium gewährt uns die Hoffnung auf die Zukunft. Aber wir erfassen die lebendige Kraft dieser Hoffnung überhaupt nur im vollen Einsatz für unsere gegenwärtigen Aufgaben. Wir erfahren die Freiheit, in der wir bestehen können nur, wenn wir unsere Lebenskraft mit leidenschaftlicher Beharrlichkeit den heutigen Nöten widmen". Eine Freiheit ohne Verantwortung, eine selbstsüchtige Freiheit verdient diesen Namen nicht. "Seht zu, dass ihr die Freiheit nicht missbraucht, Euch selbst zu leben".

Ist es nicht ein Wunder, was Gott an Segen durch ein einziges Menschenleben stiften kann? Und so kommt in diesen Tagen ein dankbares Echo aus allen Himmelsrichtungen, aus aller Welt zurück auf die Nachricht hin, dass Richard von Weizsäcker an das irdische Ziel seines Lebens gekommen ist.

Er war bei euch, in der Familie zu Hause, wirklich zu Hause. Da fand er in den Unruhen der Zeiten und inmitten der vielen Pflichten die Geborgenheit, die er brauchte, um bestehen zu können, um Mensch zu bleiben. Der Segen, den Gott durch ein Menschenleben stiftet, wird nicht ins Grab gelegt, er wirkt auf spürbare, aber auch verborgene Weise weiter. Das möge euch in aller Trauer trösten und ermutigen.

"Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn; darum wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn", bekennt der Apostel Paulus. Das bleibt. Das ist gültig über den Tod hinaus. Das gilt hier und dort, für euch, für uns und und für ihn, den Heimgerufenen. Amen