Gott ein Gesicht geben - Predigt zu Jesaja 49,13-16 von Stefan Henrich
13 Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der HERR hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden.
14 Zion aber sprach: Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.
15 Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen.
16 Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir.
Liebe Gemeinde,
der ungarische Schriftsteller Sándor Márai hat Anfang 1945 in seinen Tagebuchnotizen einen Eintrag hinterlassen, in dem er davon spricht, „Gott keinerlei Gesicht geben zu können.“ Er wisse, „dass es Gott gibt“, er „nehme ihn in allem wahr wie das Leben“, aber, so Márai weiter: „Zu ihm sprechen kann ich nur mit ganz einfachen Worten wie zu einem Tier oder einem Kind; wenige Worte genügen ihm, um zu verstehen.“ (Sándor Márai, Unzeitgemäße Gedanken, Tagebücher 2, München 2009, S. 66)
Die Situation, in der Sándor Márai schreibt ist Folgende: Ende 1944 hat er in der Nähe von Budapest in einem Dorf Zuflucht gefunden. Budapest ist hart umkämpft. Die Stadt wird in großen Teilen zerstört und doch befreit von der Deutschen Besatzung.
In der Zuflucht von Sándor Márai haben sechzehn russische Soldaten Quartier genommen.
Einer der Soldaten, Hassan, ein Usbeke aus Taschkent, kocht aus einem Ochsenschädel Sülze und erzählt während des Kochens ausführlich und verträumt von seiner Heimat. Während er berichtet, entsteht vor Sandor Marais geistigen Auge ein paradiesisches Bild: „Taschkent sei am schönsten, sagt Hassan, weil dort Licht brenne, es in den Häusern im Sommer sehr warm sei und in der Nähe seiner Wohnung warmes Wasser aus der Erde hervorquelle.“ „Ich“, schreibt Sándor Márai, „mache Hassan darauf aufmerksam, dass all das im letzten Sommer auch für Budapest noch zutraf; er blinzelt jedoch zweifelnd.“ (S.66)
Liebe Gemeinde,
warum diese ungarische Erinnerung aus dem Krieg so kurz nach Weihnachten in diesem Gottesdienst zu diesem Predigttext aus dem Propheten Jesaja? Weil die Situation ganz anders ist und doch ähnlich.
Jesaja kommt mit Bildern und Sätzen, die Gott im Gefüge der Welt in Frage stellen und doch universell preisen für alle seine Taten der Erlösung.
Da ist einerseits der wirklich grenzenlose Jubel über die Befreiung des Volkes Israel aus der Babylonischen Gefangenschaft und andrerseits heult die Klage Zions auf: „Du, Gott, hast mich verlassen und vergessen.“
Zion ist Jerusalem, Jerusalem ist zerstört, die Mauern sind geschleift, aber da ist doch Zukunft und Wiederaufbau möglich, die Risse werden dicht gemauert und die Wunden geheilt werden. Deshalb sollen die Himmel jauchzen und die Erde soll sich freuen, Berge sollen jubeln, in verwüsteten Gärten und auf schlaglöchrigen Straßen soll Frohlocken erklingen. Warum? Weil Gott sein Volk getröstet hat und sich seiner Elenden erbarmt, so sagt es Jesaja.
Ach rede du nur, sagen die in den Bruchtrümmern der eigenen Existenz Sitzenden. Verlassen und vergessen hast du mich, du hast dein eigenes Zelt zerwühlt wie einen Garten, in Zion hast du, Gott, das Heiligtum entweiht, und die Mauern der Paläste in des Feindes Hand gegeben. (vgl. Klagelieder 2, 6ff.)
So scharf können die Bewohner Jerusalems klagen. Gut ist, dass Wut und Zorn raus kommen. Im Gebet findet die Klage nicht nur ihr Ventil sondern auch ihren Adressaten. Gott antwortet, in einem Argumentationsbild, dass zeitlos ist, jetzt und damals und immer.
Gott bekommt ein Gesicht, das Gesicht einer Mutter.
Kann eine Mutter vergessen das Kind ihres Leibes?
Nein, so lautet doch die erste Antwort und dann erst beim zweiten Gedanken fallen Szenen ein von den Kindern, deren Eltern in meist allergrößter Notlage sich nicht mehr kümmern konnten um sie, die sie doch lieben wollten und das nicht konnten. Doch, das gibt es, dass Mutter oder Vater die Kinder verlassen, aber ob sie ihrer vergessen können?
Und wenn es doch so wäre, dass Eltern ihre Kinder vergessen, so will ich, sagt Gott, dich Zion nicht vergessen. Ich habe dich wie mit Henna in meine Hände gezeichnet, habe dich in mein Herz geschrieben und auf meine Haut tätowiert. Deinen Mauern sollen mir Schutzzeichen sein, felsenfest unverbrüchlich gilt meine Liebe dir wie die Liebe der Mutter, die ihr Kind nie und nimmer vergisst.
Poetisches Zwischenspiel:
Sarah Kirsch, die in diesem Jahr verstorbene wunderbare Dichterin, hat ganz untypisch für sie in einem Mutterbild einer nachhause leuchtend hoffenden Liebe das Wort gegeben:
Seestück
Ich bin die
Mutter der auf dem
Meer segelnden
Söhne warte am
Strand mit den
Zündhölzern in der
Schürzentasche.
(aus: Sarah Kirsch, Bodenlos: Gedichte
Stuttgart 1996, S.13)
Zugrunde liegt die Geschichte der Seemannsfrauen, die oft monatelang auf die Heimkehr der Männer und Söhne warteten und in Ermangelung des Leuchturms an heimischen Stranden das Licht in die Nacht setzten einem Leuchtfeuer gleich. Und gleichzeitig erinnern die Zündhölzer und die Schürzentasche an das 1845 in Flensburg geschriebene Andersen-Märchen von dem kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern, das aus eben einer Schürze holend Licht um Licht entzündet, um der Kälte dieser Welt zu entkommen.
Doppelbödig ist nicht nur die Bibel, zur Tiefe des Himmels hin offen ist auch die Poesie.
Wie hieß es zu Weihnachten noch?
Das Volk, das im Finstern wandelt...
Zurück zu Sándor Márai, und zu der Eingangsäußerung von ihm, die er schreibt Anfang 1945:
„Ich weiß, dass es Gott gibt, ich kann ihm jedoch keinerlei Gesicht geben.(...) Zu ihm sprechen kann ich nur mit ganz einfachen Worten wie zu einem Tier oder einem Kind.“
Ich bin geneigt zu ergänzen: Oder wie zu einer Mutter, denn wenige Worte genügen auch und vor allem ihr, um zu verstehen.
Das Kind, die Tiere, die Mutter... Ohne dass es Absicht war, sind wir in weihnachtliche Fahrwasser geraten. Es scheint, als leuchte die Stallszene auf in schönster Tiefe mit Bildern für Gott, die Tiefenschichten erreichen. Glaube an Gott, der sich in der Nachfolge bewährt, der gekreuzigte Christus als Kind, und Gottvater ganz mütterlich, welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und Erkenntnis Gottes!
Zum Schluss:
In der Vorbereitung auf Weihnachten hatten wir im Haus auch den Kalender vom „Anderen Advent“.
An einem Tag war eine Erinnerung des 2010 verstorbenen Regisseurs Christoph Schlingensief unter dem Titel Weihnachtsfreude zu lesen:
„Aber dann sind mehrere schöne Dinge passiert. Es fing an am ersten Feiertag, da hatte ich ein wunderbares Erlebnis mit meiner Mutter. Nach dem Frühstück musste ich plötzlich mit den Tränen kämpfen. Da fragt sie, die kaum aus dem Rollstuhl kommt: ‚Soll ich rüberkommen? Ich komm rüber, warte, warte.‘ Da bin ich natürlich aufgestanden, zu ihr auf die andere Seite des Tisches gegangen, habe mich neben sie gesetzt und den Kopf auf ihre Schulter gelegt. Als sie dann meine Hand nahm, konnte ich die Tränen laufen lassen. Aber vor allem konnte ich endlich all die Dinge aussprechen, die mir eine solche Last waren. Ich konnte ihr erzählen, dass ich all die Jahre so viel Kraft gelassen habe, erzählen, wie anstrengend das für mich war, immer wieder Optimismus und Lebensfreude verbreiten zu wollen, dafür sorgen zu wollen, dass die Dinge schön sind. All das sagen zu können, endlich auch sagen zu können, dass ich das so nicht mehr will, hat so gutgetan, ich kann‘s gar nicht beschreiben. Es setzte ein großes Gefühl der Entspannung ein. Meine Mutter wusste zwar irgendwann gar nicht mehr, worüber wir gesprochen hatten, aber für mich war dieses Gespräch mit ihr ein Weihnachtswunder.“
(in: Der andere Advent 2013/14, Andere Zeiten e.V. Hamburg, zum 04. Dezember)
Amen
Lieder: Vor der Predigt EG 47: Freu dich Erd und Sternenzelt, danach: Es ist ein Ros entsprungen EG 30, dazu EG 39, 1-5, EG 37, 1-4, EG 35 und EG 44
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Predigt zu Jesaja 49,13-16 von Hans Joachim Schliep
29.12.2013 - Erster Sonntag nach dem Christfest
»Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der Herr hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden.«
Zion aber sprach: »Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.«
»Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir.«
„Wisst ihr noch, wie es geschehen…?“ Mit diesem neueren Weihnachtslied, liebe Gemeinde, haben wir den Gottesdienst begonnen. „Wisst ihr noch, wie es geschehen…?“ Ja, wir wissen es noch. Deshalb sind wir ja hier. Gerne nehmen wir das Geschenk dieses 1. Sonntags nach dem Christfest an. In Ruhe erinnern wir uns an das große Fest der Christgeburt im Stall von Bethlehem. Maria und Josef, Engel und Hirten: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. (Lk 2,12) Wer im Weihnachtstrubel vergeblich nach ihm gesucht hat, findet es heute, hier und jetzt! Die wahre Weihnacht braucht Zeit. Sonst verkommt sie ganz zur Ware Weihnacht. Jetzt sind die Geschenke verteilt und ausgepackt. Die Gäste sind längst zu Hause. Auch wir haben unsere Besuche gemacht. Oder machen sie heute Nachmittag. Am Nachmittag dieses Sonntags ›zwischen den Jahren‹. Da scheint das Weihnachtslicht immer noch. Da werden die Kerzen am Weihnachtsbaum noch einmal entzündet. Da klingt es nach, das Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden. Was ist und kommt, wird mitbestimmt von dem, was wir erinnern und was wir erwarten. Das Fest und die Freude - derart sind sie uns gegenwärtig.
Doch sind sie es anders als an den Festtagen selbst. Keineswegs dunkler oder gedämpfter. Nur weniger von außen als mehr von innen. Eben als Erinnerung: als das, was sich eingeschrieben hat in unserem Inneren und uns nun zuinnerst ist, wenn ich es einmal so sagen darf. Das ist das Gute, Besondere an diesem Tag, in diesen Tagen. Wir sprechen von der ›Zeit zwischen den Jahren‹, obwohl die Zeit voranschreitet wie alle Zeit. Doch schon als Kind schien es mir so: In diesen Tagen holt die Zeit Atem. „Was vorüber ist / ist nicht vorüber / Es wächst weiter / in deinen Zellen / ein Baum aus Tränen / oder / vergangenem Glück“. So dichtete es Rose Ausländer. So erlebe ich es: In diesen Tagen, ›zwischen den Jahren‹ eben, schiebt sich eine andere Wirklichkeit hinein in die des Gewohnten, Alltäglichen, Immergleichen. Die Zeit ist nicht anders als sonst, aber etwas ist spürbar von einer anderen Zeit.
Von dieser anderen Zeit inmitten der bekannten, messbaren, fortlaufenden spricht auch der Prophet Jesaja: »Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der Herr hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden.« In solchem Jubel bricht mit Macht das Ewige hinein ins Jetzt. Zwanglos, aber nicht grundlos. Im zwanglosen Zwang, dem ich mich verweigern könnte, aber erst nachdem ich ihn, den Jubel, vernommen habe, vibriert etwas vom unverfügbaren Grund von Welt und Leben. Vom Grund, der dem Schema von Ursache und Wirkung weit vorausliegt und weit überlegen ist. Gott steht nicht gegen die Kausalgesetze, ist aber Name für das Ursprünglichere und Grundlegendere. Ein Widerhall davon sind die bekannten Paukenschläge und Trompetenstöße, mit denen Johann Sebastian Bachs ›Weihnachtsoratorium‹ beginnt: „Jauchzet, frohlocket, auf preiset die Tage…!“ Wir dürfen uns den Propheten tatsächlich mit Pauke vorstellen, der von Trommelwirbel und Trompetenstößen begleitet mit lauter Stimme ruft oder lautstark singt. Denn das Buch des 2. Jesaja könnte ein Drehbuch sein für ein Schauspiel, für ein Bühnenstück. Jedenfalls lässt sich so am besten erklären, was den Textkomplex Jesaja 40 bis 55 ausmacht: die Wechselreden, die Zwischenrufe und die Gesänge: »Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der Herr hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden.«
Wo wurde das Stück aufgeführt? Zwei Spielstätten sind denkbar: Eine liegt am Rande der Großstadt Babylon, in dem Viertel, in dem die Israeliten wohnen mussten, die aus Jerusalem gewaltsam verschleppt worden waren. Dieses ›Babylonische Exil‹ begann im Jahr 587 vor Christus, bis Babylon selbst erobert wurde vom Perserkönig Kyros. Der beendete im Jahr 538 vor Christus per Edikt das Exil. Nach siebenmal sieben, nämlich 49 Jahren („Erlassjahr“: 3. Mose 25) konnten die Israeliten nach Jerusalem zurückziehen. Die zweite Spielstätte könnte Jerusalem selbst gewesen sein. Denn nach der Rückkehr mussten Stadt und Tempel erst einmal neu errichtet werden. Da gab es Schwierigkeiten über Schwierigkeiten. Da fehlte es am Nötigsten. Da war unklar, wem eigentlich was gehört und wer was tun sollte. Da ging, wenn überhaupt, alles nur schleppend voran. Einige meinten sogar, im Exil sei es doch viel besser gewesen. Wie heißt es, von mir leicht abgewandelt, in einem Rabbinenwort? Es ist leichter, Menschen aus dem Exil zu holen als das Exil aus den Menschen! Ja, schwerer meist als die Befreiung ist das Leben in Freiheit. Wer gibt Ermutigung? An der Spielstätte Jerusalem war sie ebenso, vielleicht noch nötiger als in Babylon: frei und immer noch in Ketten. Wer macht Hoffnung? Hoffnung auf einen guten Ausgang! Dass der Weg der richtige ist, auch wenn sein Ziel noch im Dunkeln liegt! Dazu hilft keine noch so sonnige Zukunftsprognose. Da gilt es, auf mehr zu hoffen als auf gutes Wetter. Da ist der Wirtschaftsindex ohne Aussagekraft. Da hilft nur der Paukenschlag, das Lied in höchsten Tönen.
Denn erst einmal gilt es, die Menschen zu wecken, sie herauszurufen aus ihrer Verzagtheit, ihrer Selbstbespiegelung, ihrem inneren Exil. Ihre Sinne zu öffnen für das, was sinnlich noch unerkennbar ist, wofür aber Augen und Ohren, alle Wahrnehmungsorgane auf Empfang gestellt werden sollten. Der Himmel weiß es längst. Die Erde, das flache Land, weiß es ebenfalls. Die Berge, auf denen Himmel und Erde sich gleichsam berühren, sie rufen, jauchzen es in alle Welt hinaus. Dann werden es auch die Menschen hören: Trost und Erbarmen sind beschlossene Sache. Ja, sie sind schon da: Trost und Erbarmen. Inmitten der Zeit, die nicht anders ist, ist eine andere Zeit angebrochen. Die Zeit, in der Menschen im Namen des Kindes in der Krippe, das der Mann am Kreuz einst war, zu Ende sprechen können, was nicht das letzte Wort sein darf. Gott selbst spricht ein anderes Wort. Das lässt wieder Atem holen unter der Last einer versteinerten Geschichte, im Gedenken an die Trümmer des Tempels oder gar mittendrin in der Ruine. Im Gottesspruch kommt erst einmal die Menschenklage zu Wort: Zion aber sprach: »Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.«
Wir erinnern uns an die Christgeburt. Wir erinnern uns der Freude. Sie ist gegenwärtig. Was soll da noch die Klage!? Wir können sie nicht beiseite lassen! Denn wie wir uns verlassen vorkamen - das gehört mit zur Erinnerung. In der Geburtsgeschichte nach Lukas 2 werden ganze ›Himmlische Heerscharen‹ aufgeboten, um die Verlassenheit der jungen Eltern ohne Raum in der Herberge (Lk 2,7) für ihr Neugeborenes zu beenden und die Verlorenheit der Hirten zu beseitigen! Die Verlassenheit und Verlorenheit dieser Welt! Weihnachten ist keine Droge, die unser Schmerzgedächtnis betäubt. Weihnachten ist eine gefährliche Erinnerung. Wer Weihnachten feiert und dabei die Bibel ernst nimmt, erhebt - gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst - politischen Protest: Nicht die sog. Größen wie Kaiser Augustus in der Hauptstadt Rom, der Göttliche, dessen Kinder schon als Götter bezeichnet werden, retten die Welt, sondern die sog. Kleinen wie das unbekannte Kind in der Krippe in der Nähe des unbedeutenden Dorfes Bethlehem. In diesem Gotteskind sind alle Menschen Kinder Gottes.
Von daher nehme ich eine dramatische Frage aus Jesaja 49 auf. Vers 15 beginnt mit den Worten: »Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes?« Heute müssen wir genauer sagen: Eltern vergessen ihre Kinder, nicht nur Mütter, sondern auch Väter. Das geht uns gegen die Natur, gegen alle menschlichen Empfindungen und die Grundgebote des Lebens. Dennoch gehört es zu den bitteren Tatsachen des Lebens, dass dieses Undenkbare, dieses eigentlich Unmögliche geschieht. Mehr als einmal habe ich damit zu tun gehabt, dass Kinder in ihren ersten Lebenswochen von den Eltern alleingelassen wurden. Wäre kein „rettender Engel“ gekommen, hätten sie keine drei Tage überlebt. Einmal konnten wir als Familie helfen. Die Frage geht mir wirklich nah: »Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes?«
Diese Frage bewegt mich in noch anderer Weise. Wer jetzt nicht hinhören will, möge das Folgende überhören. Denn ich wiederhole mich, habe ich doch in manchen Predigten noch während meiner aktiven Dienstzeit in dieser Gemeinde diese Sorge ausgesprochen: Haben wir noch unsere Kinder im Blick oder haben wir sie schon vergessen, obwohl sie bei uns sind? Wir könnten nämlich die letzte Generation sein, die lange wirkende Schäden durch Übernutzung unseres Planeten anrichtet, ohne selber den Preis dafür zahlen zu müssen. Dann wären wir die erste Generation, die nicht selber haftbar gemacht werden kann für die Schäden und Verwerfungen, die allein auf unser Konto gehen. Dann hätten wir einen Wesenszug unserer Kultur und Humanität schlicht außer Kraft gesetzt: das Prinzip Verantwortung. Verantwortung ist ohne persönliche Haftung nur leeres Gerede. Ohne Verantwortung gibt es auch keine Freiheit.
Heute weise ich auf diesen Punkt noch einmal hin, weil wir seit 12 Tagen eine neue Bundesregierung haben. Bei einer ›Großen Koalition‹ - was auch immer man von ihr halten mag: eine Demokratie braucht sowohl eine stabile Regierungsmehrheit als ebenso sehr eine starke Opposition - lag es nahe, in mühsamer, zeitraubender Kleinarbeit einen recht genauen Koalitionsvertrag auszuarbeiten und zu vereinbaren. Doch der wird nicht wie ein Fahrplan einzuhalten sein, sondern die Regierung, das Parlament, wir alle als mitverantwortliche Bürgerinnen und Bürger werden uns auf rasche und unerwartete Veränderungen in der Weltpolitik einzustellen haben. Umso mehr erhoffe ich mir, dass es in unserer Regierung Menschen gibt, die von dieser Frage wachgehalten werden: Wie können wir zukünftige Generationen entlasten, statt sie zu belasten?
Welche Ministerien sind wichtig, welcher weniger wichtig? Darüber wurde vor der Regierungsbildung viel gesprochen. Wirklich wichtig sind aus meiner Sicht die Ministerien, in denen es um Zukunftsfragen in internationalen Zusammenhängen geht. Darum rangiert für mich ein Ministerium wie das für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, also für Entwicklungspolitik, ganz oben, verbunden mit denen für Umwelt- und Energiefragen. Nur wo wir unsere eigenen nationalen Interessen von den Interessen der verarmten Menschen und der belasteten Natur her in den Blick nehmen, verstehen wir unsere Interessen recht und verlassen wir unsere Kinder nicht. Nur was auch anderen dient, wird uns zugute kommen. Das ist kein Gebot der Moral, sondern der Vernunft! Es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, wollen wir als rational denkende und ökonomisch handelnde Menschen gelten! Solche Menschen werden wir in unserer Regierung nur finden, wenn die von uns Gewählten sie in weit größerer Zahl als bisher unter uns finden.
Vor einigen Wochen las ich einen bedenkenswerten Satz des leider vergessenen Philosophen Arnold Metzger aus dem Jahr 1955. Er lautet sinngemäß: ›Unser Leben besteht aus ständig versinkenden Augenblicken, eben darum leben wir von dem her, wohin wir verlangen. So ist unsere Erinnerung die Quelle unserer Erwartung, unserer Hoffnung.‹ Wie wahr, wenn wir daran denken, wie schnell ein schönes Fest wie Weihnachten vorbei ist! Wie wahr, wenn uns ›zwischen den Jahren‹ wieder einmal klar wird, dass Zeit und Leben vergänglich sind, die Zeit unseres Lebens! Wie wahr, wenn wir dessen gewahr werden, welche Kraft, welche Tiefe, welche mächtige Erwartung uns aus der Erinnerung zuwächst! Es ist die Erinnerung an eine Macht, die in der Ohnmacht geboren wird. Im Stall von Bethlehem. Am Kreuz auf Golgatha. Dort, mit seinen letzten Atemzügen, spricht Jesus mit demselben Wort für „verlassen“ wie beim 2. Jesaja von seiner eigenen Verlassenheit: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34) Worte: gesprochen, gerufen aus der Ohnmacht heraus - dennoch machtvolle Worte, weil die Erinnerung an Gottes Mitsein, die Verinnerlichung von Gottes Nähe, gleichsam eine innere Transzendenz die Quelle einer mächtigen Erwartung sind. Es ist die Kraft, die Jesus Gott um Gott bitten lässt. Und mehr kann und muss niemand, der nach einem noch so schwachen Sinnfunken sucht, nach Glaube, Hoffnung, Liebe in diesen ›Tagen zwischen den Jahren‹: Gott um Gott bitten.
Jesus, unser Christus, konnte Gott um Gott bitten, weil er dieses Wort kannte, das in Jesaja 49 gegen das menschliche Vergessen als Erinnerung Gottes gestellt ist: »Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir.« Was ist damit genau gemeint? Dazu habe ich mehrere Deutungen gefunden. Heute nenne ich die beiden, die mir am meisten einleuchten. Einige Ausleger weisen darauf hin, dass in Jesaja 49 die weibliche Seite Gottes eine große Rolle spielt: die Frau; Zion, das häufig als Braut bezeichnet wird; das Trösten als mütterliches Erbarmen. So seien, was da in die Hände…gezeichnet ist, vielleicht sogar die Mauern die Umrisse einer jungen Frau. In der Tat, in unserem Predigttext ist im Grunde davon die Rede, wie Gottes Gottheit mütterliches Erbarmen ist. Die zweite Deutung leuchtet mir ebenso ein: Wer von oben auf Jerusalem schaut, sieht Hügel und Täler. Und wer auf die Linien seiner Innenhandflächen blickt, kann die Täler, die Jerusalem durchziehen, in den eigenen Händen erkennen. Wie also bei uns Gottes Stadt in die Hand gezeichnet ist, ist Gottes Stadt, sind letzten Endes wir alle eingezeichnet in Gottes Hand! Die Handlinien, die Vertiefungen, die Erhöhungen, sind alle Zeit wahrnehmbar. Sie gehören zu unserem Leib, zu unserem Leben. Diese Deutung finde ich umso einleuchtender, je mehr ich an den Dreh- und Angelpunkt der Christfestbotschaft denke: Gott ist Mensch geworden, d. h. in älteren Lutherbibeln: „Fleisch“. Keineswegs verbindet sich Gott allein mit unserem Geist, sondern mit unserem „Leib“! Sich an Weihnachten zu erinnern, bedeutet: sich an einen kleinen Menschen aus Fleisch und Blut zu erinnern, an Gott in stinkenden Windeln! »Denn der Herr … erbarmt sich seiner Elenden.«
Die Erinnerung ist Quelle und Kraft unserer Erwartung. Wir leben von dem her, wohin wir verlangen. Dann müsste unsere Hoffnung umso stärker sein, wenn uns die Erinnerung nach vorne weist. Wenn die Christfestbotschaft zur Zukunft unseres Lebens wird, zu dem, wohin wir verlangen. Denn die Zeiten werden nicht anders. Umso mehr muss etwas spürbar werden von einer anderen Zeit. In diesem Sinn erzähle ich, etwas abgewandelt, die Weihnachtsgeschichte nach Lukas 2 als Geschichte der Zukunft, der Zukunft bedrängter Menschen, denen dennoch zugesagt ist: »Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet…«:
„Es wird geschehen zu der Zeit, in der Gebote von Machthabern wie Augustus ausgehen, alle Welt solle sich schätzen lassen, damit die Steuerquellen weiter sprudeln und die Finanzmärkte keinen Kapitalmangel haben. Und die Menschen, die sich nicht wehren können, werden elektronisch erfasst und ausgespäht werden, bevor sie es merken konnten, ein jeder in seiner Stadt. Dann wird sich aufmachen einer wie Josef aus dem verarmten Galiläa, weil er der Macht über ihm entkommen will, zusammen mit seiner schwangeren Frau Maria. Und wenn sie im letzten Winkel der Welt angekommen sind, wird sie gebären ihren ersten Sohn und ihn in Windeln wickeln und in eine Krippe legen; denn sie werden sonst keinen Raum in der Herberge haben.
Doch es werden Hirten sein in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn wird zu ihnen treten, und die Klarheit des Herrn leuchten um sie; und sie werden sich sehr fürchten. Und der Engel wird zu ihnen sprechen: »Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.«
Alsbald wird da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen sein, die werden Gott loben und sprechen: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen«. Und wenn die Engel von ihnen gen Himmel fahren, werden die Hirten untereinander sprechen: »Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat.« Und sie werden heraneilen und finden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen...“.
Wie es weitergeht - Sie können es selbst erzählen. Denn Sie wissen, wie es geschehen ist und was immer wieder zur Erwartung, zur Hoffnung, zur Rettung wird: zu dem, wohin wir verlangen.
»Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen!« Amen.
Anmerkungen:
1. Das Gedicht „Nicht vorüber“ ist entnommen aus Rose Ausländer: Mutterland. Einverständnis, Fischer-TB 5775, Frankfurt/M. 1982, S. 109.
2. Für diesen Predigtentwurf habe ich neben den Exegesen zu Jes 49,13-16 in den aktuellen Ausgaben zur Predigtreihe VI der Predigtstudien, der Göttinger Predigtmeditationen, der Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext und in Roland Gradwohls Bibelauslegung aus jüdischen Quellen (Bd. 4) dankbar benutzt den Kommentar von Klaus Baltzer: Deutero-Jesaja, KAT X,2, Göttingen 1999. Durch die Auslegung von Deutero-Jesaja als szenischer Aufführung, wurde mir die besondere Textstruktur nachvollziehbar.
3. Dankbar verwendet habe ich außerdem Gedanken aus: Freiheit und Tod, Pfullingen 1955, dem Hauptwerk des zu Unrecht vergessenen Phänomenologen und Metaphysikers Arnold Metzger (1892-1974; zuletzt Honorarprofessor in München; Freund von Ernst Bloch), der auch von Theologen eines kritischen Dialoges gewürdigt werden sollte.
4. Lieder: EG 52,1-6; 57,1-3; 35,1-3; 35,4; 544,1-4; 44,1-3.
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Predigt zu Jesaja 52,7-10 von Elke Markmann
Liebe Gemeinde,
stellen Sie sich bitte vor, Sie lebten in einer Stadt, einem Land, die nicht Ihre Heimat sind. Sie, wir alle wurden aus unserer Heimat vertrieben. Weit weg von unserem Zuhause müssen wir leben. Wir leben schon einige Jahre in der Fremde. Unsere Kinder sind hier geboren und aufgewachsen. Manche können sich nicht erinnern an das Land, das unsere Heimat war – an das Land, nach dem wir uns immer wieder sehnen – an das Land, in das wir zurück kehren wollen.
So geht es vielen Menschen auf der Welt. Menschen aus Syrien, aus Afghanistan, aus dem Iran, aus Mali – die Reihe lässt sich unangenehm lang fortsetzen. Menschen verlassen ihre Heimat. Das tun die meisten nicht freiwillig, sondern weil die Lebensumstände sie dazu zwingen, weil sie verfolgt oder vertrieben werden.
So geht es den Menschen auch nicht nur heute. Vor 75 Jahren z.B. sind Menschen aus Deutschland geflohen – weg von Verfolgung und Hass. Vor 40 Jahren flohen Deutsche aus der DDR – weg von Unterdrückung und Misstrauen.
Schon immer flohen Menschen, verließen ihre Heimat, um irgendwo anders eine neue Zukunft aufzubauen.
Ihnen allen ist und war gemeinsam, dass sie von ihrer Heimat träumten. Viele sehnten sich danach, dass es in ihrer Heimat wieder so sein würde, dass sie zurück kehren können.
In einer solchen Situation haben Menschen auch schon vor mehr als 2500 Jahren in Babylon gelebt. Es waren Israeliten. Sie waren aus ihrer Heimat vertrieben worden, verschleppt ins ferne Babylon. Ihre Heimat, der Staat Israel wurde mitsamt seiner Hauptstadt zerstört. Der Tempel wurde nieder gerissen. Es schien kein Zurück mehr zu geben. Schon 40 Jahre lebten sie in einer Gesellschaft, in der sie immer Fremde blieben. Sie durften ihre Religion nicht offen und frei leben. Sie durften nur träumen von einer Zukunft in Jerusalem mit dem wieder aufgebauten Tempel. Ihnen blieb nichts als der Traum. Diese Träume bewahrten sie sich.
Doch die Zeiten änderten sich. Der neue Herrscher ließ die Israeliten freier leben. Für manche kam die Hoffnung zurück, dass sie doch in ihr Land zurück kehren können.
In dieser Zeit hinein, aus dieser Hoffnung heraus spricht der heutige Predigttext. Er steht beim Propheten Jesaja im 52. Kapitel:
7Wie schön sind auf den Bergen die Füße derjenigen, die Freude verkünden, die Frieden ansagen, Gutes verkünden, Rettung ansagen, die zu Zion sprechen: »Deine Gottheit regiert!« 8Horch! Deine Wachposten erheben die Stimme, jubeln gemeinsam! Ja, Auge in Auge sehen sie, wie Gott zurückkehrt zu Zion. 9Brecht in Jubel aus, alle gemeinsam, ihr Trümmerreste Jerusalems, denn getröstet hat Gott das Gottesvolk, hat Jerusalem befreit. 10Entblößt hat Gott den heiligen Arm vor den Augen aller fremden Völker: Es sehen alle Enden der Erde das Heil unserer Gottheit.
(Jes 52, 7-10 Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache)
Als ich versuchte, mir die Situation der Menschen damals vorzustellen, erinnerte ich mich an die Bilder, die in der vergangenen Woche im Fernsehen, im Internet und in den Zeitungen zu sehen waren. Nach dem Tod von Nelson Mandela konnten wir noch einmal sehen, wie der Weg aus der Apartheid, aus Rassentrennung und Rassenhass heraus war. Es gab viele Dokumentationen, Berichte und Erzählungen darüber, wie die Menschen Südafrikas sich nach Frieden sehnten. Auch dort wurden Menschen aus ihrer Heimat vertrieben, mussten umsiedeln in sogenannte Homelands, zusammen gepfercht, auseinander gerissen.
Während der Apartheid gab es sicherlich viele Menschen, die sich nach ihrer Heimat sehnten, nach einem friedlichen Leben ohne Verfolgung und Unterdrückung.
Und dann gibt es Menschen, die zu Friedensboten werden. Nelson Mandela war so ein Mann. Er hatte sich im Gefängnis geändert. Vom Anführer der radikalen und bewaffneten Teile des ANC, des African National Congress, hatte er den Weg zum Frieden gewählt. Oft habe ich es gehört: Wenn er damals, als er aus dem Gefängnis kam, Hass und Gewalt gepredigt hätte – das Land wäre explodiert. Aber er predigte nicht Hass und Gewalt, sondern Frieden und Versöhnung.
7Wie schön sind auf den Bergen die Füße derjenigen, die Freude verkünden, die Frieden ansagen, Gutes verkünden, Rettung ansagen, die zu Zion sprechen: »Deine Gottheit regiert!« 8Horch! Deine Wachposten erheben die Stimme, jubeln gemeinsam! Ja, Auge in Auge sehen sie, wie Gott zurückkehrt zu Zion. 9Brecht in Jubel aus, alle gemeinsam, ihr Trümmerreste Jerusalems, denn getröstet hat Gott das Gottesvolk, hat Jerusalem befreit. 10Entblößt hat Gott den heiligen Arm vor den Augen aller fremden Völker: Es sehen alle Enden der Erde das Heil unserer Gottheit.
Vor über 2500 Jahren in Babylon gab es keinen Nelson Mandela. Aber es gab die Hoffnung, wieder in die alte Heimat zurück kehren zu können. Wer davon redete und Träume und Sehnsucht lebendig machte, wurde zu einem Freude- und Friedensboten. Wer dies ankündigte, nahm die Sorgen und Ängste, die Sehnsucht und das Sehnen der Israeliten und Israelitinnen ernst.
Es eröffnete sich eine Perspektive. Noch waren sie nicht wieder in Jerusalem. Noch existierten die Trümmerreste Jerusalems. Die Stadt war noch nicht wieder aufgebaut, lag in Trümmern und war weit entfernt. Aber es gab eine neue Hoffnung. Diese neue Hoffnung gab den Menschen wieder neuen Lebensmut. Die Menschen konnten jubeln und glücklich sein. Sie priesen Gott, der ihnen wieder eine Zukunft schenkte.
Eine neue Perspektive, eine neue Hoffnung. Der Predigttext verknüpft diese neue Perspektive, die Hoffnung auf Zukunft eng mit Gott. Die Gottheit Israels erweist sich als siegreich. Vertreibung und Verschleppung, Unterdrückung und Verfolgung konnten die Menschen nicht von Gott entfernen, konnten Gott nicht vom Volk Israel trennen. Der Bund zwischen beiden blieb bestehen, hielt und erwies sich als dauerhaft stärker. Wenn die Israeliten wieder nach Jerusalem zurück kehren und den Tempel wieder aufbauen, dann erweist sich genau darin die Größe ihres Gottes. Sein Heil wird für alle weithin sichtbar werden.
Hoffnung und Dankbarkeit, Erleichterung und Gottvertrauen sprechen aus den Versen des Predigttextes.
Hoffnung und Dankbarkeit, Erleichterung und Gottvertrauen – diese Zutaten sind es, die den Blick in die Zukunft vergolden und verschönern.
Wir merken es auch als einzelne Menschen: Wenn alles trüb und schlecht ist, wenn es nur schlechte Nachrichten und nichts Gutes zu erwarten gibt – dann bleibt der Blick in die Zukunft trüb.
Aber wenn wir uns auf etwas freuen, wenn wir wissen, dass es etwas Schönes in der Zukunft gibt, dann können wir mit ganz anderem Schwung leben. Dann können wir jubeln und sehen die Zukunft golden.
In der Adventszeit blicken wir jedes Jahr wieder gespannt in die Zukunft. Wir wissen zwar genau, dass es Weihnachten wird. Wir wissen, dass Jesus geboren ist. Wir wissen, was damit neu aufgebrochen ist – und wir wissen auch, welche Hoffnungen immer wieder neu enttäuscht werden. Und doch ist die Adventszeit eine Zeit der freudigen Erwartung. Wir freuen uns auf Weihnachten. Wir freuen uns darauf, dass wir die Ankunft Gottes in der Welt feiern dürfen. Wir freuen uns darauf, dass es noch einmal eine neue Chance des Neuanfangs gibt. Wie weit das für jede und jeden einzelnen von uns zutrifft, ist eine andere Frage. Die Freude und Zukunftshoffnung ist bei vielen Menschen gleich. Die Freude und die Hoffnung, dass etwas Neues aufbrechen kann, dass Zerstörtes wieder aufgebaut werden kann, dass Getrenntes zusammen geführt wird.
Und so singen wir mit Begeisterung die Lieder, die von Hoffnung singen.
Macht hoch die Tür, die Tor macht weit.
Es kommt der Herr der Herrlichkeit,
ein König aller Königreich,
ein Heiland aller Welt zugleich,
der Heil und Leben mit sich bringt;
derhalben jauchzt, mit Freuden singt.
Gelobet sei mein Gott,
mein Schöpfer reich von Rat.
Und immer noch klingt es ähnlich wie die uralte Hoffnung derer, die auf eine Rückkehr aus Babylon hofften:
7Wie schön sind auf den Bergen die Füße derjenigen, die Freude verkünden, die Frieden ansagen, Gutes verkünden, Rettung ansagen, die zu Zion sprechen: »Deine Gottheit regiert!« 8Horch! Deine Wachposten erheben die Stimme, jubeln gemeinsam! Ja, Auge in Auge sehen sie, wie Gott zurückkehrt zu Zion. 9Brecht in Jubel aus, alle gemeinsam, ihr Trümmerreste Jerusalems, denn getröstet hat Gott das Gottesvolk, hat Jerusalem befreit. 10Entblößt hat Gott den heiligen Arm vor den Augen aller fremden Völker: Es sehen alle Enden der Erde das Heil unserer Gottheit.
Amen.
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Dein Gott regiert - Predigt zu Jesaja 52,7-10 von Agnes Schmidt-Köber
Dein Gott regiert
Jesaja 52
7 Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!
8 Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und rühmen miteinander; denn alle Augen werden es sehen, wenn der HERR nach Zion zurückkehrt.
9 Seid fröhlich und rühmt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems; denn der HERR hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst.
10 Der HERR hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, dass aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.
Liebe Gemeinde!
Hören Sie den Jubel, der aus diesen Zeilen dringt? Teilen Sie die Begeisterung, die den Schreiber dieser Verse antreibt? Nein?
Das gemalte Bild wirkt auf den ersten Blick etwas, naja, aufgedreht: liebliche Füße, die von den Bergen um Jerusalem herunter tänzeln, mit einer frohen Botschaft. Angesichts der Lage vor Ort zu schön, um wahr zu sein. Die Trümmer der Stadt sollen jubeln und jauchzen. Etwas viel verlangt von der Personifizierung der Katastrophe, die die Stadt 50 Jahre zuvor ereilte.
Eine geballte Ladung Stoff zum nachdenken und verarbeiten.
Wir haben es hier mit Worten zu tun, die um das Jahr 540-538 vor Christi Geburt entstanden sein dürften. Ein beachtlicher Teil des jüdischen Volkes lebt seit 40-50 Jahren in Babylonien, im Exil. Sie waren deportiert worden, nachdem Nebukadnezar seinem Vasallen König Jojachin berechtigterweise nicht mehr über den Weg traute und seine Macht demonstrierte, indem er Jerusalem eroberte. Die Deportation der oberen Gesellschaftsschicht war ein taktisch geschickter Schachzug. Zur Abschreckung und um sicher zu gehen, dass in Juda keinerlei Verschwörungen und Ränkespiele getätigt wurden, ließ Nebukadnezar Jerusalem zerstören, bes. den Tempel.
Für gläubige Juden war dies eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes: der Tempel war das Haus Gottes, seine Zerstörung mußte unweigerlich bedeuten, dass Gott nicht mehr in der Mitte seines Volkes wohnte, dass er sein Volk aufgegeben hatte.
Möglicherweise haben sich sowohl die Deportierten, als auch die in Jerusalem Verbliebenen, mit der Zeit an diese Situation gewöhnt – aber es ist kaum anzunehmen, dass ihnen diese Erfahrung gleichgültig geworden wäre.
In dieser Situation geschieht etwas Großes: das Babylonische Reich wird erobert und geht unter. Die neuen Machthaber sind die Perser, die wollen die Restauration. So wird die Rückwanderung der Deportierten in ihre Heimat ermöglicht. Mehr noch: der Jerusalemer Tempel soll wieder aufgerichtet werden, der neue König Kyrus gibt den Tempelschatz frei, den die Babylonier mitgeführt hatten.
Für jeden gläubigen Juden dürfte diese Wendung der Geschichte Grund zum Jubeln sein: Gott hat sich seinem Volk sichtbar wieder zugewandt. Diese Nachricht musste natürlich auch in Jerusalem verkündet werden.
Und nun setzt unser heutiger Bibelabschnitt ein – diesmal mit den Worten aus der neuesten Bibelübersetzung in sog. „gerechter“ Sprache
7 Wie schön sind auf den Bergen die Füße derjenigen,
die Freude verkünden, die °Frieden ansagen, Gutes verkünden,
Rettung ansagen, die zu Zion sprechen: »Dein Gott regiert!« (Im O-Ton: Deine Gottheit regiert.)
Auf diesem Hintergrund klingen diese Worte schon etwas weniger „aufgedreht“, die Freude ist verständlich: nach Jahrzehnten der Trauer und der Orientierungslosigkeit ein neuer Aufbruch, ein Neustart, ermöglicht durch Gott, von dem sich die Israeliten verlassen gefühlt hatten.
Die lieblich-schönen Füße stehen für einen Menschen, der eine gute Nachricht überbringt. Der wird allgemein als „schön“ empfunden, auch wenn er nicht gerade den gängigen Schönheitsidealen entspricht. Die Schönheit kommt von dem her, was seine Nachricht für den Empfänger bedeutet. Und diese Nachricht ist mehr als schön, sie ist wunderbar und unfassbar, Gott ist König, er regiert, er lenkt die Geschichte und Geschicke. Sie erfahren das auf gänsehauterregende Weise: er greift in die Geschichte seines Volkes ein, für alle sichtbar.
8 Horch! Deine Wachposten erheben die Stimme, jubeln gemeinsam!
Ja, Auge in Auge sehen sie, wie Gott °zurückkehrt zu Zion.
9 Brecht in Jubel aus, alle gemeinsam, ihr Trümmerreste Jerusalems,
denn getröstet hat Gott das °Gottesvolk, hat Jerusalem befreit.
Den Jubel stimmen die Wächter an, sie teilen die erfahrene Botschaft und gleichzeitig auch ihre Freude darüber mit und so vervielfältigt sich der Jubel.
Ein schönes Bild malen diese Worte vor unseren Augen: die Menschen, die in den Trümmern Jerusalems leben, drücken ihre Freude aus über die Nachricht, dass ein Neustart möglich wird – ich stelle mir den Jubel ähnlich vor, wie in der Fankurve eines Stadions, nachdem der ausgemachte Verlierer des Spiels doch noch ausgleicht oder gar das Spiel gewinnt.
Die weinende, trauernde Tochter Zion zieht den Schleier vom Gesicht und winkt damit dem Überbringer mit den lieblichen Füßen zu. Die Trümmer beginnen zu leben.
10 Entblößt hat Gott den heiligen Arm vor den Augen aller °fremden Völker:
Es sehen alle Enden der Erde das °Heil unserer Gottheit.
Das Blatt hat sich gewendet. Nicht nur die Bewohner Jerusalems sondern alle Enden der Erde sollen Gottes Heilshandeln sehen und Anteil daran haben. Nun scheint der Jubel übermütig zu werden: Gott zeigt seine Macht vor den anderen Völkern. Auseinandersetzungen mit Nachbarvölkern hatten eine beachtliche theologische Dimension. Hier geht es aber nicht um Machtdemonstration, sondern Gott lässt auch die anderen Völker Anteil haben. Angesichts der Wendung, die die Geschichte des Gottesvolkes genommen hat, angesichts dessen, dass Gott sich den heidnischen Perserkönig als Werkzeug auserwählt hat, um seinem Volk die Tränen abzuwischen, einleuchtend.
Einzelne Bilder aus diesem Bibelabschnitt sind nach wie vor gültig, auch im Advent 2013.
Nehmen wir den Einstieg: die lieblichen, schönen Füße der Freudenboten der Überbringer einer guten Botschaft, eines schönen Geschenkes wird als schön/angenehm/sympathisch empfunden. Jemand, der Hilfe bringt, kann zum „Engel“ (angelos-Bote) werden. Je beklemmender die Lage, in der man sich befindet, umso schöner derjenige, der daraus heraushilft. Daran hat sich nicht viel geändert. Man gerät in Not, oft ohne selbst etwas dafür zu können, und ist auf Hilfe von außen angewiesen. Wie dankbar und glücklich ist man über abgewendete Not und Schmach, daraus erwächst Jubel – in den Psalmen regelmäßig anzutreffen.
Dann bleibe ich am Bild der Trümmer hängen:
Im Gespräch mit meiner Studienfreundin über diese Verse kam zutage, dass die Trümmer auch als Trümmer noch zu etwas gut sind, dass sie auch in ihrem beklagenswerten Zustand eine Funktion haben. In jedem Menschenleben gibt es ein Trümmerfeld: Träume, Hoffnungen, Lebensentwürfe liegen darauf… Die singenden Trümmer des Bibelwortes zeigen an, dass sie sich mit ihrer scheinbaren Nutzlosigkeit nicht abgefunden haben, dass auch sie sich verändern können… Im Klartext: Mit den Trümmern im eigenen Leben kann man auf verschiede Art und Weise umgehen: man kann darüber gebeugt Gott (an)klagen, man kann sie liegen lassen und so tun, als gäbe es sie nicht und dann immer wieder aufs Neue darüber stolpern und sich dabei verletzen. Oder man räumt sie nach angemessener Trauerzeit weg und baut daraus mit Gottes Hilfe etwas Neues. Er, Gott, kann aus dem kleinsten Trümmerteil etwas Neues schaffen. Er hat die Regie, er hat das Drehbuch. Was vordergründig nach Katastrophe aussieht, ist auf den zweiten Blick Ausgangspunkt/Kehrtwende für etwas Neues.
Ein drittes und letztes Bild: Gott als König
Der Gott Israels ist als König im AT häufig anzutreffen. Er ist ein König, der zuverlässig treu ist, der keine Machtspielchen treibt, bei denen seine Untertanen zu Schaden kommen. In frommem Verständnis eine Veranschaulichung des Gottesattributes „Allmächtig“.
Mächtig in jeder Hinsicht – nach irdischen Vorstellungen waren das lange Zeit die Monarchen. Aus der prophetischen Literatur der Bibel ist zu vernehmen, dass das Gottesvolk Könige hatte, die dem Volk geschadet haben – das menschliche Königtum wird ab einem gewissen Zeitpunkt überaus kritisch beurteilt.
Der einzig wirklich mächtige König, dessen Regierung seinen „Untertanen“ keine Abgaben für den Lebensunterhalt verlangt, der wahrhaft weise und gerecht ist, der keine Huldigungen für sein angeknackstes Ego braucht, ist Gott.
Gott unterscheidet sich von den gekrönten Häuptern menschlichen Geblüts dadurch, dass er sich „unters Volk“ mischt, ohne seine Würde zu verlieren. Dass er selbst sich seiner Majestät entledigt und Mensch wird. Er wählt einen anderen Weg. Er muss nicht konfliktträchtige Koalitionen schmieden, er muss keine Kompromisse eingehen, er muss sich nicht dem Druck der Öffentlichkeit beugen, aus Angst abgeschafft zu werden. Er ist und bleibt der Höchste. Auch wenn noch so viel über seine Existenz geschrieben, gestritten und gespottet wird. Er ist völlig frei in seinen Entscheidungen. Daran (ver)zweifeln Menschen zu allen Zeiten.
Jetzt kann ich die Freude der Jerusalemer nachvollziehen und teilen: Gott wird Mensch, das angekündigte Heil ist da.
Georg Friedrich Händel hat sie in seinem grandiosen Oratorium „Der Messias“, im „Halleluja“, auf überschäumende Weise eingefangen. Die Freude über das Königtum Gottes wird fühlbar, stärkt Hoffnung und Zuversicht: http://www.youtube.com/watch?v=6iCk9fqNNt0
Wie lieblich ist der Boten Schritt, die uns verkünden den Frieden; sie bringen frohe Botschaft vom Heil, das ewig ist.
Ihr Schall gehet aus in jedes Land, und ihr Wort an alle Enden der Welt.
(…)
Halleluja, denn Gott der Herr regieret allmächtig. Das Königreich der Welt ist fortan das Königreich des Herrn und seines Christ, und er regiert auf immer und ewig, Herr der Herrn, der Welten Gott, Halleluja!
Möge diese Freude in Ihren Herzen dauerhaft Einzug halten.
Amen
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Religion ist Gedächtnis - Predigt zu Jesaja 52,7-10 von Christoph Dinkel
Religion ist Gedächtnis
Der Predigttext für den 4. Advent steht in Jesaja 52,7-10. Es ist ein politischer Text, eingebettet in eine genau fassbare historische Situation. Das Volk Israel befindet sich noch im Exil in Babylon, wohin es nach der katastrophalen Niederlage im Jahr 587 verschleppt worden war. Doch die politischen Umstände haben sich seitdem geändert. Wir befinden uns fast 40 Jahre nach der Katastrophe, etwa im Jahr 540 vor Christus. Statt des babylonischen Königs Nebukadnezars herrscht inzwischen der persische König Kyros. Er verfolgt eine liberale Religionspolitik. Für die im Exil befindlichen Israeliten gibt es eine neue Perspektive: Sie haben Aussicht zurückzukehren in ihre Heimat, nach Israel, nach Jerusalem, auf den Tempelberg, den Zion. Politische und religiöse Träume beginnen in Erfüllung zu gehen und so dichtet der unbekannte Prophet voller Freude und mit viel Anmut:
Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König! Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und rühmen miteinander; denn alle Augen werden es sehen, wenn der HERR nach Zion zurückkehrt. Seid fröhlich und rühmt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems; denn der HERR hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst. Der HERR hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, dass aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.
Liebe Gemeinde!
(1) Religion ist Gedächtnis. Natürlich ist Religion auch noch anderes. Sie ist Glaube, Hingabe, Wissen, Gefühl und – das Wichtigste – Gottvertrauen. Aber Religion ist eben auch Gedächtnis – und das sehen wir, wenn wir auf die Worte unseres unbekannten Propheten hören, die im Buch Jesaja überliefert sind.
Religion ist Gedächtnis, sie gehört zum sogenannten kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft. In ihrem kulturellen Gedächtnis speichert eine Gesellschaft grundlegende Orientierungen und Werte, kollektive Erfahrungen und Erinnerungen. Rechtstraditionen gehören dazu, Sitten und Gebräuche, aber auch Geschmackseigenheiten einer Kultur wie die Liebe der Deutschen zu Bäumen und Pferden und Blasmusik. Unser kulturelles Gedächtnis prägt unser Zeitempfinden, ganz speziell in der Advents- und Weihnachtszeit: Weihnachtsmärkte prägen die Innenstädte, Weihnachtsbäume schmücken die Wohnzimmer, auch bei manchen muslimischen Mitbürgern. Überall sieht man Engel und Sterne, die wenigstens den Kundigen an den Stern und das Hirtenfeld von Bethlehem erinnern. Die Weihnachtsgeschichte der christlichen Tradition prägt den ganzen Dezember und vergleichbar verhält es sich im Frühjahr mit der Osterzeit. Unsere Kultur ist von christlichen Traditionen imprägniert, sie transportiert das Gedächtnis der großen christlichen Erzähltraditionen seit Jahrhunderten – und keine noch so schwere Armut und keine noch so zerstörerische Diktatur konnte daran etwas ändern. Die christliche Religion ist Teil der Kultur und Teil des Gedächtnisses unserer Gesellschaft.
(2) Religion ist Gedächtnis. Das ist keinesfalls immer angenehm. Denn speziell die christlich-jüdische Tradition bewahrt nicht nur gute Erinnerungen. Im Gegenteil: Unsere Tradition bewahrt ganz gezielt gerade auch die schlimmsten Erinnerungen auf. Im Kern unseres Glaubens steht ein zu Tode Gefolterter, ein Gekreuzigter. Das hat Konsequenzen: Wer sich im Namen des Schmerzensmannes versammelt, der wird sensibel für Schmerzen überhaupt: Gequälte Menschen, gequälte Tiere – sie gehen uns an, wenn wir uns ernsthaft Christen nennen wollen.
Religion ist Gedächtnis und die christliche Religion erinnert sich gerade auch an die Katastrophen und Abgründe der Geschichte. Wir schließen dabei an die Gedächtnistradition des Judentums an. Für das Judentum ist die Zerstörung Jerusalems im Jahr 587 und das nachfolgende Exil die Urkatastrophe seiner Geschichte. Naheliegend wäre gewesen, die Katastrophe möglichst bald zu vergessen, die Ärmel hochzukrempeln, neu anzufangen und das Alte hinter sich zu lassen. Tausendfach sind besiegte Völker so mit ihren Niederlagen umgegangen. Doch das Judentum im Exil zog andere Konsequenzen. Gezielt wirkte man dem Vergessen entgegen. Man schrieb alles auf, was an Erinnerung da war. Mit ungeheurem Fleiß ging man an die Abfassung der Bücher, die bis heute den Kern des Alten Testaments bilden. Man war bereit, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, aus den politischen, den religiösen, den ethischen, den sozialen Fehlern, die man gemacht hatte. Die Zehn Gebote wurden als Maßstab für die Zukunft entwickelt. Aus der Erinnerung an die Katastrophe wurde eine ethische Kraftquelle ohne Beispiel entwickelt. Wer die schlechten Erinnerungen nicht scheut, kann Klarheit und Orientierung für die Zukunft entwickeln.
(3) Religion ist Gedächtnis. Aber sie ist keinesfalls nur Gedächtnis für Katastrophen. Gerade die Worte unseres Propheten belegen das. Mit Anmut und Poesie stiftet der Prophet ein Gedächtnis für einen der besten Momente der Geschichte Israels: Die Ankündigung der Befreiung aus dem Exil. Was für ein Augenblick: Fast vierzig Jahre unfreiwillig in der Fremde – und nun die Aussicht nach Hause zu kommen. Wie sich das anfühlt? Vielleicht so wie es sich am 9. November 1989 angefühlt hat, als in Berlin die Mauer fiel und Hunderttausende sich in die Arme lagen, weil die DDR-Diktatur vorbei war. Vielleicht so wie es sich angefühlt hat, als Nelson Mandela die Nachricht bekam, dass er nach 28 Jahren Gefangenschaft freikommen würde und die Apartheid abgeschafft wird. Die Worte des Propheten hätten Mandelas Worte sein können: „Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen“.
Religion ist Gedächtnis, gerade auch für die großen Momente des Gelingens, für die Momente des Glücks, der Befreiung, des großen Jubels: „Seid fröhlich und rühmt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems; denn der HERR hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst.“
(4) Religion ist Gedächtnis. Und was wären wir Menschen ohne das Gedächtnis der Religion! Die Erinnerung an den tiefsten Schmerz und an das höchste Glück hält die Religion für uns lebendig. Wir werden Zeitgenossen der exilierten Israeliten und begreifen uns so selbst neu, indem wir unsere Gegenwart einordnen und vergleichen können. Am Gedächtnis der Religion entwickeln wir unsere eigenen Maßstäbe für Gut und Böse, für Richtig und Falsch. Am Gedächtnis der Religion lernen wir die großen Gefühle mitzufühlen: Trauer und Schmerz, Glück und lauten Jubel. Wir leihen uns die poetischen Worte der Tradition für unsere eigene Seelenlage. Wir schlüpfen hinein in die Bilder und Gleichnisse der großen Sprachkünstler unseres Glaubens und finden bei ihnen Worte, die genauer sind und schöner als die Worte, die uns selbst aktuell zu Gebote steht.
Was wären wir Menschen ohne das Gedächtnis der Religion! Was wäre unser Glaube ohne dieses Gedächtnis! Viel zu sehr lassen wir uns oft von den Krisen der Gegenwart dominieren: von den großen politischen Krisen, aber auch von den kleinen, persönlichen. Sie nehmen uns gefangen, engen uns ein, machen uns klein und schwach. Voller Verzagtheit gehen wir oft durch den Tag, haben Angst vor dem Morgen, Angst vor der Klassenarbeit oder dem nächsten Konflikt. Kleinglauben nennt Jesus solch eine Haltung. Bei seinen Jüngern hat Jesus solchen Kleinglauben diagnostiziert. Auch bei uns würde er dieses Diagnose wohl immer wieder stellen können.
Gegen solchen Kleinglauben hilft das Gedächtnis der Religion. Sie erinnert uns an die großen Taten Gottes, an die Befreiung der Israeliten aus dem Exil, an die großen Worte und Taten Jesu, an die Befreiung von Diktatur, Apartheid und Unfreiheit. Gegen unseren Kleinglauben erinnert uns das Gedächtnis der Religion an die lieblichen Füße der Freudenboten, „die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!“ – Amen.
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Predigt zu Jesaja 52,7-10 von Dieter Koch
Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!
Liebe Gemeinde, dieses alte und zugleich so anrührende Prophetenwort will uns mitnehmen auf den Weg des Friedens, auf einen Pfad des Aufatmens und der Erleichterung. Liebliche Anmut als Tiefe der Wirklichkeit strahlt aus diesen Worten. Inmitten ihres Strahlens stellt sich jene Verheißung königlichen Lebens ein, die wir mit Gott verbinden, an der er uns Anteil gibt, die ihm, der Quelle alles Guten entspricht. Wir sehen in ein Leben, das aufrecht durch die Tage gehen kann, ein Leben, das sich getragen weiß vom Einklang der Freude, ein Leben, das sich aufschwingen kann in die Weite des Himmels, um in grenzenloser Offenheit dem Gesang, der von innen kommt, Raum zu geben.
Wie lieblich sind die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen! Ich höre sie, ich spüre sie, ihren fast schwerelosen Gang. Füße, die dahingleiten, angerührt, angefacht vom Jubel des Friedens. Ich spüre sie, ich stelle sie mir vor, die Freudenboten: Welcher Glanz in ihren Gesichtern, welches Strahlen, angerührt, angefacht vom Jubel des Friedens. Ich sehe sie vor mir, die Boten des Heils: Der Raum wird weit, das Leben leicht. Denn die Freude kommt nah, ist da, bringt sich dar. Leuchten erfüllt die Augen. Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes, angerührt, angefacht vom Jubel des Friedens.
Zu viel für diese Welt? Nur ein Traumgespinst? Eine nette Illusion? Wortgeklimper für weihnachtlichen Stimmungszauber? Zu viel angesichts so viel greifbarer Not, angesichts der Schmerzen, der schweren Krankheiten, der leeren Herzen, der Müdigkeit? Zu viel angesichts vermüllter Innenstädte, nächtlicher Saufgelage, Randale an den Ecken? Zu viel angesichts der Kriegsgewalt, der bestürzenden Bilder aus Syrien, der Verwüstungen. Da ist das Elend der Flüchtlinge, härtestem Winter ausgesetzt. Ein Land im Abgrund der Selbstzerstörung. Ich spüre Schmerz und Scham, Hilflosigkeit und Resignation. Da ist kein Jubel des Friedens.
Ich sehe sie vor mir, die Kinder, die statt dem Gesang des Guten nur die Tiraden des Hasses hören, die gelehrt werden, Kampflieder voll der Rache anzustimmen. Ich stelle sie mir vor, die Kinder, die eine solche Fülle von Verachtung spüren, dass sie daran nur ersticken können. Ich kenne aber auch die Kinder, die mitten im äußeren Frieden die Verachtung des Wohlstandes erfahren, die reichen Gabentischen gegenüber stehen, aber keine Liebe spüren, die früh schon auf Leistung getrimmt, sportlich auf Vordermann gebracht werden, die betrogen um Freude manchmal einfach nur Kinder sein wollen, angerührt, angefacht vom Jubel des Staunens.
Ist das Wort, das von Weite erzählt, von Freude und Frieden, wirklich zu viel für diese Welt? Niemals! Denn es gibt sie, die Orte der Erneuerung, die Orte des Jubels, die Erfahrungen, die Herzen weit machen. Es gibt sie, die Menschen, die ihrem Gewissen folgen, ihrer Seele trauen. Es gibt sie die vielen, vielen Taten der Hoffnung und es gibt die Gnade des Gebets, die Stille, die Freude der Ruhe, Einkehr in den tiefen Jubel. Es gibt königliches Leben, Hingabe an das Gute. Es gibt sie, die Hände, die Frieden stiften und die Herzen, die auf Freude gestimmt sind – inmitten der Not, inmitten der Schuld, inmitten der Schmerzen des Lebens, inmitten äußerer und innerer Qual.
Über Nelson Mandela, der vor wenigen Tagen zu Grabe getragen wurde, liegt so ein Glanz. Er lehrte mich, er zeigte mir, ein besserer Mensch zu werden, würdigte ihn Barak Obama. Und die ganze Welt verneigte sich noch einmal vor diesem Menschen, einer Ikone der Versöhnung – ein großes Leben. Da ist dieses Lächeln, die Freude in seinen Augen, Jubel ohne Rache. Aber auch der kleine Marcel Schwegler ist so ein Mensch, ein 12-jähriger Junge, der bei uns vor Ort, in einer ungemein ansteckenden Weise voller Begeisterung für sein Schulprojekt um Spenden bat, das Kinderhospiz Sternentraum in der Region. Da ist Freude, das ist Hingabe, Jubel des Staunens.
Es gibt sie, Menschen des Friedens in Syrien, es gibt sie in Palästina, es gibt sie auf Zion, es gibt sie in Bethlehem. Es gibt sie unter Juden und Arabern. Es gibt sie in unserem Land, in unserer Stadt, mitten unter uns. Es gibt uns. Denn sollten wir uns den adventlichen Weisen anvertrauen, ohne berührt zu sein von der Tiefe der Freude? Sollten wir uns der weihnachtlichen Musik übergeben, ohne dass unser Herz aufglüht im Frieden mit Gott? Sollten wir die letzten Schritte auf Weihnachten zugehen, ohne Erwartung der Freude, ohne den Vorglanz der Liebe, die sich in die Krippe legt? Sollten wir ernsthaft ein Fest feiern, ohne dass Hände sich füreinander öffnen, Frieden reichen?
Es gibt die Lieblichkeit jener Freudenboten, die gerade jetzt bei uns einkehren und uns hinwenden auf das tiefe Glück, dass es Gott gibt, und dass es Gott gerade dort gibt, wo die Neugierde und die Unschuld, die Freundlichkeit und das Erbarmen neu in uns geboren werden, damit wir aufgenommen werden in das Reich des Friedens, das nirgends sonst da ist, und nirgends sonst zu grünen beginnt als in der Tiefe unserer Herzen. Der innere Frieden beginnt, wo immer sich der Einklang der Freude einstellt und ein Leben sich wieder aufzuschwingen beginnt in die Weite des Himmels, um in grenzenloser Offenheit dem Gesang, der von innen kommt, Raum zu geben.
Es gibt nur einen Weg ins Glück, nur einen Weg des Guten, nur einen Weg des Friedens. Es ist der innere Weg im aufmerksamen Hineinhören in die Tiefe der Wahrheit, in die Tiefe des Geistes, in die Tiefe der göttlichen Gnade, die gerade dort beginnt, wo wir dies zulassen: Die Kraft des Friedens, das Antlitz der Liebe, das Gebet der Hoffnung, all dies, darin sich Gotteskindschaft vollzieht und wir in die Gemeinschaft mit dem hineingenommen werden, der König und Kind ist, Freudenbote und Gotteslamm, Jesus! Er ist Gottes Gesalbter, der Menschensohn, das Sinnbild und Urbild reiner Menschlichkeit, ein Leben mit Gott, ein Leben im Frieden.
Er, der da in der Krippe liegt, er, um dessentwillen die Engel das Friedenslied anstimmen, er ist der Mensch, der sein Leben ganz gab in Glaube, in Liebe, in Hoffnung. Er ist der Anfänger und Vollender des Glaubens. Denn was ist dieser Glaube, der mitten in der Innigkeit seiner Geburt aufbricht, anderes als das abgrundtiefe Vertrauen, das es Gott gibt, das unendliche Sich-Fallen-Lassen in die Hände des Ewigen? Was ist Liebe, wenn nicht ein immer neues Sich-frei-geben, ein Sich-Loslassen in die stillen Regungen der Güte und der Anmut? Was ist Hoffnung, wenn nicht die Glaube und Liebe tragende Bewegung unserer Seele, die nach Heimat ruft, nach der letzten Geborgenheit in Gott?
Er, der da in der Krippe liegt, er hat so gelebt und er will, dass auch wir so leben. Er, der da in der Krippe liegt, hat so gelebt, aus der Gewissheit in Gott, im Wissen um den offenen Himmel, aus dem die Taube des Friedens auf ihn herabstieg, die Fülle der göttlichen Liebe. Ein Traum wurde Wirklichkeit. Jener Traum, den Kinder träumen, jener Traum, den jede Mutter versteht, und der gerade nicht bloß ein Traum ist, sondern die Verheißung des Lebens selbst, das Gott uns schenkt. Da ist der Geschmack königlich-kindlichen Lebens, der dann auch seinen Blick auf die Not richten kann, dem Schmerz ins Auge schauen kann.
Dieser Geschmack königlich-kindlichen Lebens erfüllt Gasub Sirchans Strophen: „Ach Mutter, im Traum habe ich einen Engel mit weißen Flügeln gesehen, der Gewehre zerlegt und Kanonen zerschlägt, sie alle in Brand setzt und zu Asche werden lässt. Ach Mutter, im Traum habe ich einen Engel mit weißen Flügeln gesehen, er nahm die Asche in die Hand, verstreute sie im ganzen Land. Und plötzlich begann die Asche zu leben, als Taube am östlichen Himmel zu schweben. Ach Mutter, im Traum habe ich einen Engel mit weißen Flügeln gesehen, und Moses und Mohammed mussten zum Zeichen des Friedens einander die Hände reichen. ‚Sünder‘, donnert seine Stimme‚ ‚Sünder‘! Eilt euch, eilt euch! Schnell, Sems Kinder – dort kommt er, der Bote des Friedens und singt einen Psalm des Friedens!“
Oder ist dies doch nur ein Traum, ein Kindertraum zu viel für diese Welt? Dann ist alle adventliche Vorfreude nichtig, Weihnachten umsonst, unser Singen nur Flucht vor der Langeweile, Jesus ein umsonst Geborener. Traum nur oder doch der Weg? Der Weg in die Freude, in ein Leben, das in grenzenloser Offenheit dem Gesang, der von innen kommt, Raum gibt. Der Weg zum Frieden, der weit scheint, aber in die Weite führt – miteinander, im Glauben an den Gott, der nicht nur in Syrien und Palästina, nicht nur auf Zion und in Bethlehem, sondern auch hier, hier bei uns, uns, unsere Füße auf den Weg des Friedens stellt, jeden Einzelnen – und wir selber Friedensboten werden wie Jesus.
Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!
(Das Gedicht von Gasub Sirchan wird zitiert nach Walter Jens (Hg.), Es begibt sich aber zu der Zeit, Radius-Verlag, Stuttgart 1989, S.396)