Predigt zu Jesaja 58,1 – 9a von Karin Klement

Predigt zu Jesaja 58,1 – 9a von Karin Klement
58,1-9

(1)  So spricht GOTT zum Propheten:
Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit. Und dem Hause Jakob seine Sünden!

(2)  Sie suchen mich täglich. Und begehren, meine Wege zu wissen. Als wären sie ein Volk, das die GERECHTIGKEIT schon getan und das RECHT seines Gottes nicht verlassen hätte.
Sie fordern von mir RECHT; sie begehren, dass Gott sich nahe.
(3)  „Warum fasten wir, und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib, und du willst es nicht wissen?“

SIEHE, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach. Und bedrückt alle eure Arbeiter.  (4)  SIEHE, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr. Und schlagt mit gottloser Faust drein.
Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.

(5)  Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit:  Wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet?
Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem Gott Wohlgefallen hat?

(6)  Andersherum ist das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe:
Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast!
Lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast!
Gib frei, die du bedrückst; reiß jedes Joch weg!

(7)  -    Brich dem Hungrigen dein Brot,
und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!
Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn,
und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!

(8)  Dann wird dein LICHT hervorbrechen wie die MORGENRÖTE. Und deine HEILUNG wird schnell voranschreiten. Und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen. Und GOTTES HERRLICHKEIT wird deinen Zug beschließen.

(9)  Dann wirst du rufen, und GOTT antwortet dir. Wenn du schreist, wird er sagen: SIEHE, hier bin ich.


Liebe Gemeinde!
Morgen ist Rosenmontag – Höhepunkt im Karnevalstrubel und närrischem Verulken. Mit riesigen Figuren aus Pappmaché werden bei den Umzügen Berühmtheiten des öffentlichen Lebens oder ein aktuelles Ereignis witzig dargestellt. In Büttenreden nimmt man Politiker und Prominente kräftig auf die Schippe. Sie müssen es ohne Widerspruch ertragen, dass ihnen oft recht schmerzhaft eine Wahrheit gesagt wird, die sie selbst vermutlich ganz anders einschätzen.
Die aufwendig geschmückten Umzugswagen präsentieren, was dem einfachen „gemeinen“ Volk im Blick auf unsere Gesellschaft an die Nieren geht oder auf die Nerven. Mit viel Witz in der Übertreibung und treffendem Spott werden wunde Punkte unseres menschlichen Verhaltens offengelegt und unübersehbar vor Augen geführt.

Diese Offenheit in Fasching, Fastnacht, oder wie immer man es nennt, hat auch etwas sehr Entlastendes: Wer Kritik äußert, muss sich nicht um abwägende, vorsichtige Formulierungen bemühen. Im Gegenteil, je übertriebener, desto besser. Hinter der Maske des augenzwinkernden Spötters dürfen ehrlich gemeinte Ansichten deutlich ausgesprochen werden. Ja, im Karneval darf man sich auf Kosten einer oder eines anderen ungestraft lustig machen. Und die Verspotteten tun gut daran, den Witz und dessen verborgenen Tiefschläge über sich ergehen zu lassen. Fasching ist somit – neben anderem – auch eine Form genehmigter „Rache des kleinen Mannes“ für all das, worüber er sich bei den „Großen und Mächtigen in Politik und Gesellschaft“ geärgert hat. Dabei wird „Tacheles“ geredet, unverblümt ehrlich zumindest ein Stück Wahrheit zu Gehör gebracht.

Dies kann durchaus heilsam wirken, sofern die davon Betroffenen sich die Wahrheit sagen lassen und darüber ins Nachdenken kommen. Einfach ist es aber nicht. Und es gelingt wohl kaum ohne schmerzliche Selbsterkenntnisse. Das mag jeder/jede aus eigenen Erfahrungen kennen, wenn man unverhofft hinter der Sonntags-Maske mit dem wahren eigenen Gesicht konfrontiert wird. Mit Schattenseiten, die einem nicht gefallen. Doch der Lohn ist eine neue, freie Gelassenheit; ein Wegfall von anstrengender Selbstdarstellung. Man darf sich einfach so geben, wie man ist, und muss anderen nichts mehr vormachen. Ein Stück Wahrheit über sich selbst zu erkennen, das entlastet und befreit, um der eigenen Person ein Stück näher zu kommen.

Wahre Worte zu sprechen, unabhängig davon, ob sie gefallen oder nicht, war auch eine Aufgabe der Propheten des Alten Testaments. Sie hielten oftmals eine recht harte, schmerzhafte Wahrheit dem Volk Israel wie einen Spiegel vor die Augen. Doch es ging ihnen nicht darum, ihre Mitmenschen zu verdammen, vielmehr ihnen einen heilsamen Weg zu eröffnen. Indem sie ihren Finger auf den wunden Punkt legen, zeigen sie, wie zwischenmenschliche Beziehungen und unsere Beziehung zu Gott gesunden können. Hören wir, was ein Prophet – rund 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung – im Auftrage Gottes zu verkündigen hat:
T E X T

Ein harsches, radikal kritisches Wort soll der Prophet seinen Zeitgenossen verkündigen. Schonungslos offen, ohne jede Zurückhaltung soll er die Wahrheit ausposaunen: „Ihr befindet euch im Irrtum, wenn ihr glaubt, es reiche aus, Gott zu dienen, ohne eure Mitmenschen im Blick zu haben. Ihr verfallt einer Illusion, wenn ihr glaubt, Gott erfreue sich daran, dass ihr religiöse Rituale einhaltet, fastet und euch vor Gott demütigt. Auf der anderen Seite jedoch unterdrückt ihr eure Mitmenschen, lasst eure Nächsten schonungslos leiden. GOTT will dir nahe sein, Mensch! Aber nicht ohne deine Nähe zu deinem Mitmenschen. Die Art und Weise, wie du anderen begegnest, berührt Gottes Herz.“

Historisch gesehen spricht der als Trito-Jesaja benannte Prophet vermutlich in eine triste Situation seines Volkes Israel. Die Zeit der Verbannung ins Exil ist überwunden. Doch die Heimgekehrten finden ein immer noch verwüstetes Land vor. Grundlegende Aufgaben stehen ihnen bevor: Häuser und Straßen bauen, eine schützende Mauer um Jerusalem schließen. Der zerstörte Tempel – Ort göttlicher Nähe und Zentrum für ihre Opfergottesdienste –muss neu errichtet und wieder aufgebaut werden. Aber alles braucht lange Zeit, und die Mühsal ermüdet die Menschen.
Ich stelle mir vor, wie die schlimmsten Hungerzeiten vorübergehen. Doch die wirtschaftliche Lage bleibt schwierig; die Kluft zwischen Arm und Reich verbreitert sich. Die Ordnungen des Lebens, öffentlich wie privat, gelingen nur ansatzweise und bruchstückhaft.
Über verordnete Fastentage versucht man das Gedächtnis an die Schrecken des Krieges zu bewahren und gleichzeitig Voraussetzungen für eine Umkehr und Erneuerung zu schaffen. In Klagegottesdiensten wendet sich das Volk an Gott; von IHM erhofft es eine Veränderung zum Guten. Aber erkennbare Verbesserungen bleiben lange Zeit aus, und mancher fragt sich schon, ob die ganze Mühe überhaupt etwas bringt.
Es scheint, als versage der Himmel seinen Segen zu allem, was die Menschen aufbauen. Harte Plackerei bringt nichts Ansehnliches hervor. Erfolge versickern, und auch das Leben jenseits aller Mühen und Arbeit gelingt nicht festlich. Kein Wunder also, dass sich Enttäuschung ausbreitet, und die Vergeblichkeit Zorn und Zweifel auslöst. Mit Gewalt wollen die Menschen ein Heil erzwingen, das sich durch Fasten und Beten nicht einstellen will.

„Wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein!“ klagt der Prophet. Der Umgang miteinander wird härter, die zwischenmenschlichen Beziehungen leiden. Der Zusammenhalt des Volkes bröckelt; die ganze Gemeinschaft leidet unter wachsender Rücksichtslosigkeit. Religiöse Rituale, wie Gebet und Fasten, verwandeln sich in Instrumente ihres Durchsetzungswillens. Nicht Demut, Umkehr, Einsicht bestimmen die Fastenden, sondern ein Geist von Bemächtigung: Es muss uns doch irgendwie gelingen!
„Es muss nicht“, widerspricht der Prophet. „Es würde vielleicht, wenn ihr aufhören könntet, alles selbst erzwingen zu wollen.“ Öffnen, lösen, freigeben – sind Handlungsweisen, denen die Morgenröte folgt. In kleinen Schritten, in persönlicher Zuwendung gegenüber dem Nächsten kann jede/jeder von uns am Heilwerden der Gemeinschaft mitarbeiten. Und dabei die große Wende zum Guten vertrauensvoll Gott überlassen. „Gottesdienst im Alltag“ könnte man das nennen, der genauso wichtig ist, wie das Singen, Beten und Gottloben in gottesdienstlicher Gemeinschaft.

 Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe“, erklärt Gott: 
Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, z.B. jene Menschen, von denen du glaubst, dass sie dir etwas schuldig sind, und die du nicht freigeben magst. Wer sagt dir denn, dass nur deine Ansichten die Richtigen sind?
Lass frei, auf die du das Joch der Unterdrückung gelegt hast! Überlege dir, wer von dir abhängig ist, und wie sich das anfühlt für diese Person. Vielleicht fällt es dir dann leichter, den anderen frei zu geben, und dich selbst auch viel freier zu fühlen.
Teile mit den Hungrigen dein Brot! Lass niemanden neben dir verhungern. Wo du das Bedürfnis eines anderen verspürst, gehe darauf ein, antworte mit dem, was du geben kannst und willst. Teile das, wovon du selbst lebst, dein Lebensmittel.
Führe die Ob­dachlosen in dein Haus! Gib ein Stück Heimat jenen, die draußen vor bleiben: vor den Grenzen Europas oder vor der Gemeinschaft in einem Stadtteil, einer Straße.
Bekleide den, der nichts anzuziehen hat. Nimm wahr, wo Menschen entblößt und bloßgestellt werden, und schütze sie in ihrer Scham.
Entzieh dich nicht deinem Fleisch. Kümmere dich um deine Mitmenschen, die dich brauchen.

Mitmenschlichkeit ist gefragt, Solidarität und Freigabe all jener, die du abhängig von dir hältst. Ein achtsamer Umgang mit allen, damit niemand Not leiden muss – eine ethische Forde­rung, die uralt ist, und dennoch in jedem Zeitalter immer wieder neu gestellt werden muss. Eine spezielle Art von Fasten fordert Gott: Verzicht auf Bereicherung, die zu Lasten oder auf Kosten anderer geht.

Fasten als Rücksichtnahme, anstelle rigoroser und ausschließlicher Selbstsucht. Es darf nicht sein, dass wir Menschen in reichen Ländern alles daran setzen unsere Körper per Fitnesstraining und Selbstkasteiung schön und gesund zu erhalten; andererseits gleichgültig die Ausbeutung unserer Mitmenschen ignorieren. Sei es, dass Models im perfiden Schlankheitswahn sich fast zu Tode hungern. Oder dass Menschen in armen Ländern aus Not ihre Nieren oder ihre Kinder verkaufen müssen. Wir profitieren auch von der Ausbeutung der Hilfsarbeiter in Katar, die für die Fußball-WM 2022 unter völlig unmenschlichen Bedingungen Stadien bauen.
GOTT aber gefällt ein Fasten, das ein Verzichten einübt in jene Dinge, die anderen Menschen sonst fehlen würden. Ein Fasten, das für sozialen Ausgleich sorgt und für ein gelingendes Miteinander.

Enthalt­sam sein kann man auch im weiteren Sinne: In Solidarität mit den Hungernden in der Welt, indem man Geld, das man durch Verzicht auf luxuriöse Güter spart, den Armen spendet. Oder als sym­bolhaftes Verzichten und Sich-Verweigern gegenüber dem Zwang zum Immer-mehr-haben-müssen.

Fasten bedeutet nicht nur Verzicht auf etwas! Man hat auch etwas davon. Sich einzuüben in Enthaltsamkeit erschließt gute Erfah­rungen von geistigem und leiblichen Wohlbefinden. Ich gewinne ein Mehr an Lebensqualität, wenn ich Zeit finde für einen besseren Kontakt zu meinen Mitmenschen, wenn ich über meinen eigenen Tellerrand hinausschaue und Anteil­ nehme an den Sorgen und Freuden der anderen. Ich empfinde Lebenszuwachs durch die befriedigende Er­fahrung, dass ich helfen kann, dass ich ge­braucht werde von meinen Nächsten. Ich bin zufriedener, gelassener, wenn ich unabhängig werde von dem permanenten Drang nach immer mehr.
Wenn ich mich – ab und zu – ein wenig zurücknehme, auf die Durchsetzung meines Willens oder meiner Wünsche verzichte. Dann kann ich erfahren, wie sich eine Situation entspannt, und mein Gegenüber ebenfalls locker und entspannt reagiert.
Der Verzicht auf etwas schenkt mir auch eine neue Sichtweise auf Gottes Schöpfung und Dank­barkeit für seine Gaben. Weniger zu besitzen ist auf einmal viel mehr!! Die vorher so selbstverständlich und gering geschätzten Dinge gewinnen ihre Einmaligkeit und Kostbarkeit zurück: Dass ich atmen und leben darf! Dass ich Menschen in meiner Nähe weiß, die mir lieb und wichtig sind.

„Wenn ihr einander helft, die Not des Nächsten seht und nicht achtlos daran vorübergeht“, lässt Gott den Propheten verheißen, „dann strahlt euer GLÜCK auf wie die Morgenröte und eure inneren und äußeren Wunden (vielleicht entstanden durch Unzufriedenheit, Neid und Konkurrenzverhalten) heilen schnell.
Eure guten Taten gehen euch voran; und meine Herrlichkeit folgt euch nach wie ein starker Schutz. Dann werdet ihr zu mir rufen, und ich werde euch ant­worten. Wenn ihr um Hilfe schreit, werde ich sagen: „Hier bin ich!“

Gottes Nähe lässt sich entdecken, wenn ich bereit bin, mich selbst und meine Mitmenschen gleichermaßen wichtig zu nehmen. Wenn ich bereit bin, andere Wahrheiten anzuerkennen – nicht nur meine eigenen. Auch, wenn es schmerzt. Dann kann die Maske abfallen, und ich schaue wie in einem Spiegel mein wirkliches Gesicht – ungeschminkt und unverzerrt.

GOTT lässt sich entdecken – in jedem Men­schen, der neben und mit mir lebt, in der Gemeinschaft mit allen Menschen. Auch in jenen, bei denen es mir persönlich schwer fällt. Ich habe selbst sehr viel davon, wenn mir das gelingt! Ich darf so sein, wie ich bin, und kann darüber lachen, wenn beim Fasching meine Schwächen offensichtlich werden. Oder, wenn mir jemand einen Spiegel der Wahrheit vorhält. Denn, was immer es auch Kritisches an mir zu entdecken gibt, EINER ist da, der mir liebevoll den Rücken stärkt und spricht: „Siehe, hier bin ich!“
AMEN
 

Perikope
02.03.2014
58,1-9

Predigt zu Jesaja 58,1-9a von Dieter Splinter

Predigt zu Jesaja 58,1-9a von Dieter Splinter
58,1-9

Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden!Sie suchen mich täglich und begehren meine Wege zu wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie begehren, dass Gott sich nahe.»Warum fasten wir und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib und du willst's nicht wissen?« Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit, wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat? Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.

I.

Liebe Gemeinde!

Der Tempel hat keinen König. Das war lange anders. Wir erinnern uns.  Geschichte ist aufschlussreich.

Der erste Tempel in Jerusalem geht auf König Salomo zurück. So berichtet es die Bibel. In diesem Tempel wurde nicht nur der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs  verehrt. Der König hatte darin eine besondere Rolle. Er repräsentierte das Volk vor Gott. So wurde er im Gottesdienst in Psalmen besonders gewürdigt. Der 21. Psalm etwa fasst das in diese Worte: „Herr, der König freut sich deiner Kraft, und wie sehr fröhlich ist er über deine Hilfe! Du erfüllst ihm seines Herzens Wunsch und verweigerst nicht, was sein Mund bittet. Denn du überschüttest ihn mit gutem Segen, du setzt eine goldene Krone auf sein Haupt.“

Nun aber ist es anders. Der erste Tempel wurde 587 bzw. 586  v. Chr. zerstört, das Volk Israel in das babylonische Exil verschleppt. Dort saß es an  den Wassern zu Babylon und weinte. Ihre Harfen hängten sie in Trauerweiden. Und sie sagten sich: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein.“ (Psalm 126, 1-2)

Eines Tages war es soweit. Die Erlösung geschah. Nach etwa 50jährigem Exil konnten die  Israeliten zurückkehren. Viele waren in der Fremde geboren worden. Viele dort gestorben. Nun waren sie wieder im gelobten Land. Bald nach ihrer Rückkehr nach Jerusalem machten sie sich daran, den zerstörten Tempel wieder aufzubauen. Unter Mühen. 515 vor Christus wird der zweite Tempel eingeweiht. Er hat keinen König mehr. Ihm steht nun ein Priester vor. Aber vor allem gehen die Rechte und Pflichte des Königs auf die Gemeinde und jeden einzelnen und jede einzelne darin über.

II.

Der Tempel hat keinen König mehr. Aber er hat eine königliche Gemeinde. Jede darin ist eine Königin, jeder darin ist ein König. Wie so oft nehmen Entwicklungen in der Religion ihren Anfang. Hier – in den Worten Jesajas - deutet sich nämlich ein Übergang an: Von der Monarchie zur Demokratie, von der Theokratie zu einem Gemeinwesen, das Glaube und Recht in gegenseitigem Respekt aufeinander zu beziehen weiß. Entscheidend ist, dass schon bei diesem Übergang die solidarische Hilfe als eine königliche Aufgabe aller beschrieben wird.

Der Prophet Jesaja sagt es so: „Brich den Hungrigen dein Brot, und die im Elend  und ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ Der Tempel hat keinen König. Er braucht ihn auch nicht mehr, denn er hat ja eine königliche Gemeinde. Wenn die sich ihrer Bestimmung gemäß verhält, dann ist sie „wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.“ (Jesaja 58,11) Dann – so Jesaja in einem großartigen Bild voller Verheißung – wird ihr „Licht hervorbrechen wie die Morgenröte“, ihre „Heilung wird schnell voranschreiten“, und ihre „Gerechtigkeit wird vor ihr hergehen“. Worte voller Bewegung. Am Ende dieser Prozession wird gar „die Herrlichkeit des Herrn“ ihren „Zug beschließen“.

III.

Stimmt das? Verheißungen haben immer einen voraus laufenden Charakter, sonst wären sie keine. Die Wirklichkeit sieht jedoch oft anders aus. Das war schon zu Jesajas Zeiten so. Und so bekommt der Prophet den Auftrag, dem Volk die Leviten zu lesen: „Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem  Hause Jakobs seine Sünden!“

Das Volk bemüht sich ja, seinem königlichen Auftrag gerecht zu werden. Sie wollen Gott nahe sein. „... sie begehren, dass Gott sich nahe.“ Und darum fragen sie ihn : „Warum fasten wir und du siehst es nicht an? Warum  kasteien wir unseren Leib und du willst's nicht wissen?“

Die Antwort ist eindeutig. Das innere Bestreben durch Fasten Gott nahe sein zu wollen, passt nicht zum äußeren Verhalten. Da ist etwas auseinander gebrochen, was eigentlich zusammen gehört: „Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. Siehe, wenn ihr fastet, hadert ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.“

IV.

„Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.“ Passt dieser Satz ins Heute? Und – wenn ja – wie?

In einer Predigthilfe habe ich dazu folgende Feststellung gefunden: „In der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation ist nicht nur eine breite Palette von Nahrungsmitteln unabhängig von der Jahreszeit und den regionalen Bedingungen der Landwirtschaft verfügbar. Auch Genussmittel sind frei erhältlich. Bis in die Fernsehgewohnheiten hinein fordert die Konsum-gesellschaft dem Einzelnen ein gehöriges Maß an Selbstdisziplin ab, um zu wissen, was ihm selbst als Einheit von Seele  und Leib eben nicht nur zu essen und zu trinken, sondern auch zu sehen guttut, und wo die Grenze zu problematischer Gewöhnung und Abhängigkeit überschritten ist. In einer solchen Situation hat die Praxis des Fastens verständlicherweise neue Freunde und Freundinnen gefunden.“ Soweit diese Predigthilfe. (Christian Nottmeier/Hans Martin Dober: Jesaja 58, 1-9a: Unterwegs zu den Quellen des Selbst, in: Predigtstudien für das Kirchenjahr 2007/2008, Perikopenreihe VI – Erster Halbband, hrsg. von Volker Drehsen et al., Stuttgart 2007, S. 137)

Für die Freunde und Freundinnen des Fastens geht es um Herrschaft. Genauer: Es geht darum, sich selbst zu beherrschen. Man möchte erreichen, dass man von Äußerem nicht abhängig ist. Man möchte erfahren, dass man ganz und gar dazu fähig ist, über sich selbst zu bestimmen. Diese Selbstbestimmung hat etwas Königliches. Kein Wunder, dass man nicht nur in der säkularen Welt, sondern auch in der evangelischen Kirche das Fasten (wieder-)entdeckt hat. Wir nennen das  „Sieben Wochen ohne“.  Da kann man zeigen, dass die Rechte und Pflichten des Königs auf die Gemeinde übergegangen sind. Schließlich hat der Tempel längst keinen König mehr.

Im Fasten kommen so auch evangelische Christen durchaus ihrem Auftrag nach. Ein Christenmensch ist schließlich ein freier Herr aller Dinge und nichts und niemandem untertan. Zugleich ist ein Christenmensch aber auch ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. Nur der ist ein guter König, der seinem Volk, also anderen und nicht bloß sich selbst, zu dienen weiß.

Jährlich werden in Europa und den USA  Lebensmittel im Wert von 100 Milliarden Euro weggeworfen. Damit ließen sich die in dieser Welt von Hunger Bedrohten oder tatsächlich Hungernden, also etwa eine Milliarde Menschen, leicht ernähren. So lange es keinen gerechten Ausgleich zwischen Arm und Reich gibt, so lange die einen hungern, weil sie zu wenig haben – und die anderen hungern, weil sie zu viel haben - so lange das so ist, stimmt der Satz, den Jesaja uns über viele Jahrhunderte hinweg in unser Ohr posaunt: „Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.“

V.

Der Tempel hat keinen König mehr. Schon zu Jesajas Zeiten, also vor langer Zeit, wurde das festgestellt. Die Rechte und Pflichten des Königs sind auf die Gemeinde übergegangen. Daraus folgt nicht bloß das Recht zur Selbstbe-stimmung, sondern auch die Pflicht zur solidarischen Hilfe. Das schreibt uns Jesaja über die Jahrhunderte hinweg ins Stammbuch. Mehr noch: Er posaunt uns diese Mahnung ins Ohr.

Doch lässt er uns auch nicht ohne eine Verheißung und ohne einen Zuspruch Gottes. Dem nämlich, der nicht müde wird, Selbstbeherrschung und Solidarität miteinander zu verbinden und in einer Gemeinde zu leben sucht, ruft Jesaja mindestens genauso laut ins Ohr: „Dann wird dein Licht hervorbrechen wie eine Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HER wird dir antworten. Wenn du schreist wird er sagen: Siehe, hier bin ich.“

Amen

 

Perikope
02.03.2014
58,1-9

Vom glaubwürdigen Fasten - Predigt zu Jesaja 58,1-9a von Jens Junginger

Vom glaubwürdigen Fasten - Predigt zu Jesaja 58,1-9a von Jens Junginger
58,1-9

Vom glaubwürdigen Fasten

Liebe Gemeinde,
mit dem kommenden Mittwoch, dem Aschermittwoch, beginnt die Fasten- und Passionszeit.
Fasten liegt im Trend: Körperkult, schlank werden, gesund Leben und Essen, lifestyle.
Fasten liegt im Trend, losegelöst jedoch von seiner ursprünglich jüdisch- christlichen Herkunft und Bedeutung.
Der Predigttext für den heutigen Sonntag ist bereits eine Predigt, eben über den eigentlichen Sinn des Fastens, über glaubwürdiges Fasten, in persönlicher, gesellschaftlicher, sozialer und globaler Hinsicht:
Wir hören diese Predigt in Abschnitten.
Sie steht im Buch des Propheten Jesaja. Dort im Kapitel 58.
Sie  beginnt mit einem Aufruf und Auftrag Gottes an den Propheten:
1 Rufe getrost, halte nicht an dich!
Erhebe deine Stimme wie eine Posaune
und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit
und dem Hause Jakob seine Sünden!

Die Begründung schließt sich unmittelbar an:
2 Sie suchen mich täglich
und begehren, meine Wege zu wissen,
als wären sie ein Volk,
das die Gerechtigkeit schon getan
und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte.
Sie fordern von mir Recht,
sie begehren, dass Gott sich nahe.

Gott, so hören wir aus dem Mund des Propheten, ist regelrecht empört über die Aufdringlichkeit, das selbstgerechte und anmaßende Gebaren des gläubigen Volkes. Über die verwegene Selbsteinschätzung, dass sie meinen mit ihrer Art zu Leben und zu denken in besonderer Weise Gottes Nähe für sich in Anspruch nehmen könnten.
Gott ist besonders empört, weil es die Leute gerade mit der Rechtschaffenheit, mit der Einhaltung des Rechts und der Gerechtigkeit alles andere als ernst meinen.
In Wahrheit  haben sie damit gar nichts mehr am Hut.
Sie lassen es an Glaubwürdigkeit vermissen.

Die Frage nach der Glaubwürdigkeit muss sich seit Wochen nicht nur der ADAC stellen.
Die Frage nach der Glaubwürdigkeit des christlichen Volk Gottes, der Institution Kirche, die steht bereits seit einigen Monaten auf der Tagesordnung.
Nicht nur für kirchenkritische ZeitgenossInnen, die katholische Kirche und manchen ihrer Bischöfe.
Wie glaubwürdig ist die evangelische Kirche und ihre Diakonie
auf Grund der Verknüpfung von Staat und Kirche,
im Blick auf  den Umgang mit anvertrauten Mitteln,
und die Steuermittel die für ihre soziale Arbeit verwendet werden.
Wie glaubwürdig ist sie als Arbeitgeberin und als Organisation, die die Gerechtigkeit Gottes predigt, gesellschaftlich und politisch einfordert und zugleich als Akteurin auf dem ökonomisierten Sozialmarkt in ethische Zwänge gerät. 
Im der Glaubwürdigkeit willen ist hier Transparenz und Offenheit sind geboten.

Blicken wir aber nochmals auf den Bibeltext, auf diejenigen, über die sich Gott durch den Propheten empört:
Viele waren aus dem babylonischen Exil wieder in die alte Heimat zurückgekehrt, nach Jerusalem. Doch wirklich befriedigend, gar beglückend war die Lage dort nicht. Nicht so, wie sie sich das im Exil, fern der Heimat, an den Flüssen Babylons erträumt hatten.
Die persische Besatzungsmacht in Palästina und Jerusalem hatte veranlasst Steuern in Münzgeld einzuziehen.
Das hatte zur Folge, dass sich im Volk eine zunehmende soziale Spaltung abzeichnete, zwischen der Seite dramatisch verarmender Verlierer des Steuereinzugs und der Seite der Gewinner.
Eine Finanzelite bildete sich, auch aus dem eigenen Volk.
Die hatten sich über eine rücksichtslose Kreditpraxis, zulasten einfacher Schuldsklaverei ziemlich bereichert. Erbarmungslose Pfändungen machten aus einem Großteil der Kleinbauern, hungernde, obdachlose und auf Almosen angewiesene Bettler.[1]

Liebe Gemeinde,
auch das kommt einem nicht ganz unbekannt vor. Ein bei weitem noch nicht verheilter Vertrauensriss durchzieht bis heute das Verhältnis zwischen Bürgern, Kleinbetrieben und Mittelstand zur Welt der Geschäftsbanken, Kreditinstitute und zum globalen Finanzsystem.
Im Kreis der Kredithaie zu Jesajas Zeiten wurden offenbar Rituale eines religiösen Fastens gepflegt, bei dem persönliche Enthaltsamkeit,  Genuss-Mäßigung und  Nahrungsverzicht mit Gebetsritualen gekoppelt war. Damit wollte man Gott gegenüber Reue und Ergebenheit zeigen, sich persönlich sozusagen seine Güte und Wohlgesonnenheit erkaufen.
Dass ein derartige Praxis und ein solches Fastens nicht mit pikanten Finanzpraktiken und verwerflichen Kreditgeschäften zusammenpasst, das empfinden wir heute ganz ähnlich wie Jesaja damals:
Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, sagt Jesaja
geht ihr doch euren Geschäften nach
und bedrückt alle eure Arbeiter.
4 Siehe, wenn ihr fastet,
hadert und zankt ihr
Ihr sollt nicht so fasten,
wie ihr jetzt tut,
wenn eure Stimme
in der Höhe gehört werden soll.

Wahrer echter Glaube, Gottes- Dienst  im Sinne des Wortes, so das Plädoyer Jesajas, der will sich auch im wahren Leben zeigen, im Alltag, im Geschäftsgebaren und ökonomischen Handeln.
Jesaja  kritisiert unverhohlen den offenkundigen Widerspruch:
5 Soll das ein Fasten sein,
an dem ich Gefallen habe,
ein Tag, an dem man sich kasteit,
wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf
und in Sack und Asche sich bettet?

In Sack und Asche gehen für Gott, und gleichzeitig sich an der Not und der ausbeuterischen Arbeit anderer Leute bereichern? Selbstkasteiung ohne eine Ethik verantwortlichen Handelns? Individuelle Verzichtsmoral bei struktureller Ungerechtigkeit?
Das ist Heuchelei. Das passt nun mal nicht zusammen.
Liebe Gemeinde
der prophetische Klartext hat bis heute nichts an seiner Gültigkeit eingebüßt.
Vier Wochen mit Hartz IV hieß eine Aktion, die im Bereich der Landeskirche in  Gemeinden und Bezirken durchgeführt wurde.
Da konnte man vier Wochen lang mit dem Hartz IV Satz eine Art soziales Fasten üben, mal erleben wie das ist: Das Leben, der Anderen, der Bedürftigen und Armen und wie sich das anfühlt.
Einschränkung, Verzicht  aus einem wohlmeinenden Mitgefühl heraus.  Was hat sich dadurch geändert, für die, die über lange Zeit damit erleben müssen? Werden Die Vesperkirchen und Tafelläden jetzt weniger aufgesucht, weil die Leute jetzt mehr zur Verfügung haben? Mitnichten. Sie sind weiterhin ein traurige Erfolgsmodell.
" ist das ein Fasten an dem ich gefallen habe"?
Jesaja steckt den Finger in Wunde. Er regt eine selbstkritische Bestandsaufnahme an: Wie verstehen wir das Fasten heute? Wie kann ein glaubwürdiges Fasten Gestalt annehmen, jenseits der Pflege eines Körperkults, jenseits von Mitfühlaktionen? Persönlich, als Volk Gottes, als Kirche?
Es mag einem beim Zuhören ähnlich gehen, wie den Hörern damals, als sich Jesaja, bzw. einer aus seiner Schule, so klar und scharf zur Wort meldete.  
Mit Kritik und offenen Fragen regelrecht überschüttet zu werden ist unbefriedigend. Es erschlägt einen. Da wünscht man sich ein paar konstruktive und konkrete Vorschläge zu hören, wie es denn anders laufen könnte. Der Text nimmt dieses Bedürfnis auf. Er wendet sich an die Kreditgeber, die sich für Gott vorübergehend kasteien und gleichzeitig aus der Not von Mitmenschen unsägliches Kapital schlagen und sagt:
6 Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe:
Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast,
lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast!
Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!
7 Brich dem Hungrigen dein Brot,
und die im Elend ohne Obdach sind,
führe ins Haus!
Wenn du einen nackt siehst,
so kleide ihn,
und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
8 Dann wird dein Licht hervorbrechen
wie die Morgenröte,
und deine Heilung
wird schnell voranschreiten,
und deine Gerechtigkeit
wird vor dir hergehen,
und die Herrlichkeit des HERRN
wird deinen Zug beschließen.
9 Dann wirst du rufen,
und der HERR wird dir antworten.
Wenn du schreist, wird er sagen:
Siehe, hier bin ich.


Liebe Gemeinde
Das heißt im Klartext:
Fasten, Beten, konkrete Unterstützung und das tun des Gerechten
gehören untrennbar zusammen:
Mit dem hungrigen Brot brechen,
Suppe ausgeben, Unterkunft ermöglichen, Klamotten aushändigen - von Angesicht zu Angesicht,
und das strukturelle Unrecht der Verarmung bekämpfen, vom Joch der Verschuldung befreien,
bedrückende Ungleichheit ausgleichen! Das gehört zusammen.
Unmittelbare Soforthilfe mit Vesper oder Suppe, und strukturelle Änderungen zur dauerhaften Linderung von Elend, Not und Ausbeutung gehören untrennbar zusammen.
Feiern, Besinnung, innere Einkehr und das Streiten für mehr  Genügsamkeit, Bescheidenheit, Beschränkung gehören untrennbar zusammen.
Meditation, Stille, Singen und das Engagement für Fairness im Arbeitsplatz und gerechten Lohn
gehören untrennbar zusammen.
Wenn laut der entwicklungs- und Hilfsorganisation Oxfam[2] weltweit 85 Menschen so reich sind wie 3,5 Milliarden und knapp die Hälfte des weltweiten Vermögens sich in den Händen von einem Prozent der Weltbevölkerung konzentriert, dann ist es zwingend Armutsbekämpfung mit einer weltweite Umverteilung zu verknüpfen.
Wo sich das ereignet, wird Gott, gemäß dem Propheten Jesaja, sagen:
Siehe hier bin ich.
Ein Fasten wie Gott es will legt nahe,
zeitlich befristetet innezuhalten,
realisieren was im Übermaß hergestellt, angeboten und konsumiert wird,
festzuhalten, wo wir ohne Not fasten könnten, was ohne tatsächliche Einschnitte geteilt und verteilt werden könnte, an Essen, an Klamotten, an Waren und Produkten.
Ein Fasten wie Gott es will, bedeutet:
Gemeinsam einkehren, im Kopf frei werden, sich bewusst werden, worauf es wirklich ankommt, fürs eigene persönliche Leben, für eine Bevölkerung.
Ein Fasten wie Gott es will, heißt entdecken, welches Übermaß an Reizen, Versuchungen, Waren und, Produkten längst zu einer  seelischen und materiellen Belastung für uns und den Globus geworden ist.
Ein Fasten wie Gott es will, ermöglicht Gewinn an Lebensqualität, an Zeit, an Menschlichkeit und Gerechtigkeit, vor Ort, in den Ländern des Südens, in der einen Welt
Es ermöglicht Gewinn,
für Beziehungen, Familie und Gemeinschaft,
für ein regionales Bewusstsein, für Nachbarschaften,
für deren interne Fürsorge und gegenseitige Versorgung.
Es bringt Gewinn, fürs gegenseitige Wahrnehmen, Kümmern, Teilen und Teilhaben lassen.[3]
„Hier bin ich!“ sagt Gott uns zu, wenn wir zögerlich werden und meinen, das kriegen wir nicht hin.
Hier bin ich, sagt Gott, und macht uns gewiss: Ihr seid nicht allein.
Hier bin ich, schon indem ihr anfangt, mit den ersten kleinen Schritten,
wird das Licht hervorbrechen
wie die Morgenröte
und deine Heilung, Volk Gottes, wird schnell voranschreiten.
Amen

 


[1] Vgl. Rainer Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit 2, Göttingen 1992, S.540

[3] Mehr dazu bei Niko Paech,dem Postwachtumsökonomen unter: http://www.zeitwohlstand.info/wp-content/uploads/2012/07/Zeitwohlstand…

 

Perikope
02.03.2014
58,1-9

Recht für die Völker - Predigt zu Jesaja 42,1-4 von Sibylle Reh

Recht für die Völker - Predigt zu Jesaja 42,1-4 von Sibylle Reh
42,1-4

Recht für die Völker

Liebe Gemeinde, bei den meisten sind die Weihnachtsbäume abgeräumt. Die Weihnachtszeit im engeren Sinne ist vorbei. Allerdings steht dieser Sonntag bei uns noch im Zeichen des Epiphaniasfestes. Es steht jetzt in der Kirche aber nicht so sehr das Kind in der Krippe im Mittelpunkt, sondern das, was durch Jesus Neues in die Welt kam.
Der Predigttext für diesen Sonntag steht im Alten Testament
im Buch des Propheten Jesaja im 42. Kapitel

Jesaja 42, 1–4
Siehe, das ist mein Knecht - ich halte ihn - und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. 2 Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. 3 Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. 4 Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung.

Liebe Gemeinde, ein schöner, aber auch ein geheimnisvoller Text, der von einem Knecht und seinem Auftrag handelt. Seine Person und sein Auftrag hängen zusammen. Allerdings bleibt unklar, wer dieser Knecht ist.
Schon in der Apostelgeschichte fragt ein äthiopischer Kämmerer den Diakon Philippus: „Von wem redet der Prophet solches? Von sich selber oder von jemand anderem?“ (Apg. 8, 34b). Er bezieht sich allerdings auf eine andere Stelle im Jesajabuch, die auch von diesem Knecht handelt.
Der Gottesknecht könnte der Prophet sein, dann wären Texte wie dieser so eine Art Berufungsauftrag. Oder es das ganze Volk Israel könnte gemeint sein, das verstreut in der Welt lebt. Dann hätte die Zerstreuung einen Sinn, denn dadurch dass die Juden unter allen Völkern wohnen, bringen sie nun die gute Botschaft von ihrem Gott und seine Weisung in die Welt hinaus.
Man kann diese Texte aber auch auf einen zukünftigen König, hin deuten, den Messias. Das tut Philippus, und er legt dem Kämmerer dar, dass Jesus dieser König ist, der leiden musste und doch die Gute Botschaft und Gottes Weisung in die Welt gebracht hat.

Und das hat er wirklich. Zur Zeit Jesu gab es bereits im ganzen römischen Reich Juden. Das Judentum zog viele Menschen an, gerade durch die klaren Vorstellungen von Recht und Moral. Viele Menschen, die keine Juden waren, verehrten den Gott Israels und versuchten, sich an die jüdischen Gebote zu halten. Es waren so viele, dass es ein Wort dafür gab: Die Juden nannten sie „Gottesfürchtige“ oder „gottesfürchtige Fremdlinge“. Jedoch war der wirkliche Übertritt zum Judentum für Nichtjuden schwierig. Und er bewirkte durch die strengen Speisegebote eine starke soziale Abgrenzung von Nichtjuden. Die Teilnahme an Geschäftsessen und gemeinsames Essen mit nichtjüdischen Familienmitgliedern war für zum Judentum Übergetretene fast nicht mehr möglich. Und nicht zuletzt die Beschneidung dürfte viele abgeschreckt haben.
Beim Christentum war es anders. Auch für die ersten Christen war die Bibel der Juden ihre heilige Schrift. Sie stellten an sich selber auch hohe moralische Ansprüche ähnlich wie Juden. Die christlichen Gemeinschaften verlangten aber seit Paulus nicht mehr, dass neue Christen zuvor zum Judentum übertreten, und sich beschneiden lassen mussten, und auch die Speisegebote wurden gelockert.
So wurden viele der Gottesfürchtigen in aller Welt Christen.
Jetzt möchte ich aber noch mal zu der Zeit zurückgehen, in der, in der unser Text entstand, also noch mal mehr als 500 Jahre davor.
Der Prophet, dessen Worte im zweiten Teil des Jesajabuches gesammelt wurden, trat gegen Ende des Babylonischen Exils auf. Er bereitete die Israeliten auf die Rückkehr ins heilige Land vor.
Er spricht dabei aber zu Menschen, die in Babylon oder anderswo leben und tagtäglich mit Menschen zusammenkommen, die aus anderen Völkern stammen und andere Götter verehren.
Die Israeliten hatten erfahren, dass ihr Gott ein Gott ist, der mitgeht. Er hatte ihre Vorfahren zur Zeit Abrahams, Isaaks und Jakobs in der Zeit, in der sie Nomaden waren, begleitet, wo sie auch immer hingingen, bis hin nach Ägypten. Er hatte ihre Vorfahren unter Mose und Josua aus Ägypten zurück ins heilige Land gebracht. Er war bei ihren Vorfahren geblieben, als sie sesshaft wurden, Könige hatten und einen Tempel bauten. Er war bei ihren Eltern und Großeltern geblieben, als dieser Tempel zerstört wurde und sie ins Exil nach Babylon gehen mussten oder anderswohin flohen. Sie hatten gelernt, dass es für sie verboten war, die Götter anderer Völker anzubeten.
Nun kamen sie mit Menschen zusammen, die andere Götter anbeteten und fragten sie, was es mit diesen auf sich habe. Und sie waren sie zu der Erkenntnis gelangt, dass es die anderen Götter in Wahrheit gar nicht gab oder sie zumindest keine Macht hatten. Damit glaubten sie, dass auch die Menschen fremder Völker darauf angewiesen waren, den Gott Israels zu verehren, wenn sie die Hilfe eines Gottes brauchten. Darum erhielt der Gottesknecht den Auftrag, das Recht Gottes auch zu den anderen Völkern zu bringen.
Es ist schon faszinierend, das Volk Israel. Es ist im Altertum nur ein kleines Volk im nahen Osten gewesen, kein reiches, kein mächtiges. Um 1000 vor Christus, als die Großmächte der Umgebung gerade mal schwach waren, bildete sich ein Königreich heraus, das alle 12 Stämme Israels umfasste und gerade mal für 2 Generationen (unter König David und König Salomo) Bestand hatte. Danach existierten zwei kleinere, einander aber noch verbundene Königreiche. Das größere und reichere von beiden, das Reich Israel, wurde im 8. Jahrhundert erobert, die meisten Bewohner  wurden ins Exil geführt, man hörte nie wieder von ihnen. Einige konnten aber ihre Traditionen in das kleinere Bruderland Juda im Gebirge retten. Dieses blieb, wenn auch zeitweise sehr klein, noch bis Anfang des 6. Jahrhunderts vor Christus bestehen.
Dann ist aber ein wirkliches Wunder geschehen. Auch als der Staat Juda von den Babyloniern erobert wurde, ein Großteil der Bevölkerung ins Exil geführt wurde, war dies nicht das Ende für das Volk Israel.
Im Gegenteil, das Volk sammelte sich neu, nicht mehr um ein Heiligtum, sondern und die heiligen Schriften.
Und wenn Juden seitdem auch in alle Welt zerstreut wurden, so kennt doch nun auch fast alle Welt ihre heiligen Schriften. Entweder kennt man sie direkt durch Juden oder auch durch uns Christen, die wir auch ja die Bibel der Juden als heilige Schriften haben, oder man kennt sie indirekt, durch den Islam, der sich in der Tradition dieser Schriften sieht.
So wurden die heiligen Schriften eines kleinen Volkes für sehr viele Menschen aus sehr verschiedenen Völkern Weisung.

Liebe Gemeinde, das Christentum hat Gottes Weisung in die Welt gebracht. Der  Auftrag Jesu ist es nun an uns, sie weiterzugeben.
Was können wir denn der Welt geben? Als Christen sind wir in diesem Bundesland (Brandenburg) eine winzige Minderheit. Was haben wir der Mehrheit zu geben, die die Weisung und gute Botschaft Gottes gar nicht kennt?
Recht und Barmherzigkeit, sagt Jesaja:
„Er wird das Recht unter die Heiden bringen. 2 Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. 3 Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus.“
Recht: Nicht der Stärkere siegt, auch nicht derjenige, der die besten Beziehungen hat, sondern es wird nach dem Recht und dem Gesetz entschieden, auch für Schwache (geknicktes Rohr, glimmender Docht) haben eine Chance auf Gerechtigkeit.
Barmherzigkeit: Nicht auf dem, der bereits unten liegt, auch noch rumtrampeln, ihn nicht zerbrechen und nicht auslöschen

Das sind Dinge, die wir nicht nur sagen dürfen, sondern wir müssen sie auch leben. Natürlich gelingt uns das nicht immer, weder der Kirchenleitung noch uns einzelnen Christen. Wir Christen sind ja nicht alle Heilige. Aber wir können es versuchen. Wir haben ja auch einen barmherzigen Gott, der uns vergibt, wenn wir es mal nicht ganz schaffen.
Auch das ist Teil der Botschaft.
 

Perikope
12.01.2014
42,1-4

Israels Dienst als Licht der Völkerwelt - Predigt zu Jesaja 42,1-9 von Matthias Loerbroks

Israels Dienst als Licht der Völkerwelt - Predigt zu Jesaja 42,1-9 von Matthias Loerbroks
42,1-9

1 Siehe, mein Knecht, an dem ich festhalte,
mein Erwählter, dem meine Seele wohl will.
Ich gebe meinen Geist auf ihn,
dass er den Völkern Recht bringe.

2 Er schreit nicht, macht kein Aufhebens,
lässt nicht draußen seine Stimme hören,

3 ein geknicktes Rohr zerbricht er nicht
einen glimmenden Docht löscht er nicht aus,
in Treue trägt er Recht hinaus.

4 Er selbst verglimmt nicht
und knickt nicht ein,
bis er Recht setzt auf Erden,
und auf seine Weisung warten die Inseln.

5 So hat die Gottheit, der Ewige, gesprochen,
der die Himmel schuf und sie spannte,
die Erde ausbreitete und ihr Gewächs,
der dem Volk auf ihr Odem gab
und Geist denen, die auf ihr gehen:

6 Ich, der Ewige, habe dich gerufen in Gerechtigkeit,
ich fasse dich an deiner Hand,
ich verwahre dich,
ich gebe dich zum Bund für das Volk, zum Licht der Völker,

7 die Augen zu öffnen den Blinden,
die Gefangenen aus dem Kerker zu führen,
aus dem Gefängnis, die im Finstern sitzen.

8 Ich, der Ewige, das ist mein Name,
meine Ehre gebe ich keinem anderen,
meinen Lobpreis nicht den Götzen.

9 Das Erste, siehe, es kam,
Neues melde ich,
ehe es wächst, lasse ich es euch hören.

Der Gott Israels macht auf jemanden aufmerksam, zeigt geradezu mit dem Finger auf ihn: Da! Seht doch! Der da, das da! Das ist mein Knecht, der mir dient, dessen ganzes Leben Gottesdienst ist. Er ist nicht selbst darauf gekommen, hat sich nicht beworben um diesen Dienst – Gott hat ihn erwählt, er hält an ihm fest, denn er gefällt ihm, Gottes Seele will ihm wohl. Das alles gibt er bekannt, um diesen Knecht zu bestätigen und zu bestärken, ihn seines Beistands und Wohlwollens zu versichern, aber auch, er redet ja von dem Knecht zunächst in 3. Person, redet ihn nicht an, um alle anderen, die Öffentlichkeit, hinzuweisen auf diesen Knecht. Diese Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit macht neugierig, weckt Erwartungen – was mag denn bloß dran sein an dem da? –, hat aber auch einen mahnenden und warnenden Ton: macht euch nichts vor, täuscht euch nicht: an ihm halte ich fest, ihn habe ich erwählt, auf ihn gebe ich meinen Geist.

Und diese Demonstration ist nötig, denn von sich aus ist dieser Knecht nicht sehr eindrucksvoll, erregt kein öffentliches Aufsehen, macht nichts her: er schreit nicht rum. An einer anderen Stelle im Jesajabuch räumt die Öffentlichkeit rückblickend ein, diesen Knecht ganz falsch wahrgenommen und eingeschätzt zu haben: Er hatte keine Gestalt, keinen Glanz, kein Aussehen, das uns gefallen hätte, von Menschen verschmäht und gemieden.

Sein Dienst besteht darin, Recht zu exportieren, Recht in die Welt der Völker zu bringen, aber er tut diesen Dienst unauffällig, still und leise. Nicht nur dass er nicht lautstark Reklame macht für das Recht, das er anzubieten hat und das er exportieren will, er drückt es auch nicht gewaltsam durch: ein geknicktes Rohr zerbricht er nicht, einen noch glimmenden Docht löscht er nicht aus. Wir merken, der Gott Israels praktiziert eine andere Personalpolitik als die, die in unserer Öffentlichkeit für selbstverständlich, für die einzig mögliche gehalten wird. Nicht nur in Wahlkämpfen und bei der anschließenden Besetzung von Ministerien sind sich inzwischen fast alle einig, wie jemand sein und auftreten, manchmal sogar aussehen muss, der oder die sich durchsetzen und etwas durchsetzen will: ein Programm und also auch Recht, eine andere Gesetzgebung: hart und stark, zu allem entschlossen und zu allem fähig, öffentlich unübersehbar und unüberhörbar, glänzend, aber auch ruppig genug, um sich und um was durchzusetzen, durchzudrücken. Jemand grobes fürs Grobe. Der Knecht hier, der sich nicht selbst, sondern den Gott anpreist, scheint hingegen jemand zu sein, der zwar sympathischerweise keiner Fliege was zuleide tut, von dem wir uns aber auch fragen, wie er denn mit dieser Behutsamkeit Recht setzen und durchsetzen will.

Dieses Nichtzerbrechen von Geknicktem charakterisiert das Recht, das er setzen soll. Es handelt sich um Armenrecht, das die Mühseligen und Beladenen, die Erniedrigten und Beleidigten schützen soll und die Geknickten vorm Zerbrechen bewahren. Und ähnlich verhält es sich mit dem nur noch glimmenden Docht: gerade eingeschränktes, beschädigtes, reduziertes Leben, nah am Verlöschen bedarf des Schutzes. Solang es noch glimmt, besteht die Hoffnung, dass es wieder aufstrahlt, volle Leuchtkraft gewinnt. Und diese Praxis charakterisiert auch den Knecht selbst: er selbst ist jemand, der nicht einknickt, der und dessen Licht nicht völlig ausgelöscht wird. Diese Existenzweise und der Verzicht auf lautstarke und spektakuläre Bemühung um öffentliche Aufmerksamkeit gehören zusammen. Ein großer Rabbiner im Nachkriegsdeutschland, Robert Raphael Geis, beschrieb die Rolle und Aufgabe des jüdischen Volks unter den Völkern als „existenzielle Mission“. Im Unterschied zum christlichen Missionsverständnis, das vor allem mit Verkünden zu tun hat, mit Reden, in dem auch Zeugnis ablegen eher mit Worten zu tun hat als mit Taten oder gar mit Martyrium, soll Israel dadurch auf Gott aufmerksam machen, dass es selbstverständlich und ohne viel Aufhebens mit und in der Tora lebt und so unter den Völkern etwas anders lebt. Und dabei nicht einknickt und nicht ausgelöscht wird. Überall wo Juden leben, ist auch Gott inmitten der Völker.

Auch unser Jesajatext scheint bei dieser Dienstbeschreibung eines Gottesknechts an ganz Israel zu denken. Du aber, Israel, mein Knecht, Jakob, den ich wählte, Same Abrahams, meines Geliebten, du, den ich erfasste von den Rändern der Erde her, von ihren Grenzen her berief, ich sprach zu dir: mein Knecht bist du, erwählt habe ich dich und habe dich nicht verworfen, fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir – so heißt es ein Kapitel vor unserem Text. Und diese Bezeichnung Israels als Knecht Gottes erinnert an die Urgeschichte der Befreiung Israels aus der Sklaverei in Ägypten. Nachdem dort ausführlich von der Knechtschaft unter dem Pharao, dem harten und bitteren Frondienst als Sklaven erzählt wurde, heißt Gottes Botschaft an Pharao: lass mein Volk frei, dass es mir diene. Die Befreiung Israels aus der Sklaverei ist nicht Selbstzweck, sondern Befreiung zum Dienst, Berufung zum Knecht Gottes. Und nicht nur die Befreiung aus der Sklaverei hat diesen Sinn, auch das Exil: dass Israel unter allen Völkern verbreitet ist, dient dazu, dieses Recht, die Tora unter den Völkern zu verbreiten.

Innerhalb dieses sozusagen kollektiven Gottesknechts Israel sind immer wieder auch einzelne als Knecht Gottes hervorgehoben worden: Mose vor allem, aber auch Hiob wird von Gott selbst „mein Knecht“ genannt, und David nennt sich selbst „dein Knecht“, wenn er mit Gott redet. Doch solche einzelne sind Knecht Gottes vor diesem kollektiven Hintergrund ganz Israels als Knecht Gottes, sind Vertreter, Sprecher, manchmal fast Verkörperungen dieses Volks. Das gilt für alle Angehörige dieses Volkes, und vielleicht nimmt auch unser Text einen solchen Einzelnen in den Blick, der sein Volk vertritt, wenn nun nicht mehr von dem Knecht gesprochen, sondern dieser Knecht direkt angeredet wird: ich gebe dich zum Bund für das Volk, zum Licht der Völker. Das klingt so, als konzentriere sich der Bund zwischen diesem Volk und diesem Gott in einer Person, in der dieser Bund befestigt und bestätigt, jedenfalls deutlich wird. Deutlich auch für die anderen Völker. Das Volk des Bundes wird zum Bundesvermittler und so zum Licht der Völker. Die Verbreitung von Recht bringt auch Licht in die Welt, augenöffnende Aufklärung, Befreiung aus finsteren Verliesen und Kerkern. Die Völker, die nach biblischer Auffassung von Gott und seiner Tora wenig wissen, kein Rechtsbewusstsein haben und so auch kein Unrechtsbewusstsein, die befreiende Wohltat von Recht kaum kennen, entdecken die Wunder an der Tora, verlieren ihre Heidenangst: er hat uns wissen lassen sein herrlich Recht und sein Gericht. Und ohne es recht zu wissen, haben sie sich danach auch schon gesehnt, meint unser Text: alle Welt, bis an ihren Rand, wartet auf seine Tora.

Die ersten Christen und dann auch die Verfasser des Neuen Testaments, die alle Juden waren, haben auch Jesus als einen solchen einzelnen Knecht Gottes betrachtet, der sein Volk, den Knecht Gottes, unter den Völkern vertritt, in aller Welt das Recht dieses Gottes verbreitet und so auch Licht in die Welt bringt, die Völker aufklärt. Und das ist das Thema der Epiphaniaszeit: durch Jesus und das Evangelium kam dieses Licht weltweit zum Leuchten. Doch dieses Licht verlöscht, klärt nichts und niemanden mehr auf, wenn wir Jesus nicht mehr als Vertreter, Sprecher und Stimme seines Volkes verstehen, sondern als seinen Gegner, uns und ihn abgrenzen von den anderen Juden. Vorhin, im Evangelium hörten wir, wie Jesus bei seiner Taufe sich solidarisiert mit seinem Volk. Während Johannes einwendet, er habe die Taufe doch nicht nötig, er sei doch anders als alle anderen Juden, besser, besteht Jesus darauf, ganz und gar ein Glied dieses Volkes zu sein. Erst dann und daraufhin wird er bestätigt durch die Stimme vom Himmel, die auf ihn aufmerksam macht: das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Das zeigt uns auch, was unsere eigene Taufe bedeutet: wer sich taufen lässt, ein Christ, eine Christin wird, wird ein tätiger Teilnehmer an dieser Bundesgeschichte. Und so wird auch uns in der Lesung aus dem Römerbrief eine Existenzveränderung zugemutet und zugetraut, eine Metamorphose: euer Gottesdienst, also: eure Aufgabe als Gottesknecht, ist: Passt euch nicht an dem Schema dieser Welt, sondern lasst euch umgestalten.

Die Gottesrede aus dem Jesajabuch erinnert am Ende an den Namen dieses Gottes. Der Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat und allem Volk auf Erden Atem gibt, das ist der, dessen Name bedeutet: ich bin da, bin mit euch, wie auch immer ich mit euch sein werde. Das ist der Sinn und Inhalt der ganzen Schöpfung: dass er mit Israel zusammen sein will und durch Israel und Jesus auch mit uns.

Amen.

Lieder:

zu Beginn: 162 oder 351,7-9.13 oder 125

zwischen den Lesungen: 390

zwischen Credo und Predigt: 389,3-5

nach der Predigt: 293 oder 289,1+4

zwischen Abkündigungen und Gebet: 404,3-4.6-8

zwischen Gebet und Segen: 14,6 oder 23,4 oder 37,3 oder 73,5 oder 317,5

 

Perikope
12.01.2014
42,1-9

Das Licht für die Völker - Predigt zu Jesaja 42,1–4(5–9) von Mira Stare

Das Licht für die Völker - Predigt zu Jesaja 42,1–4(5–9) von Mira Stare
42,1-9

Das Licht für die Völker

Liebe Glaubende,

die Weltnachrichten, die uns vor allem über die Medien täglich mitgeteilt werden, bringen uns positive und schöne Nachrichten, aber noch häufiger schwere, traurige und dunkle Ereignisse aus der ganzen Welt. In ihnen können wir die Sehnsucht vieler Menschen wahrnehmen, aus verschiedener Situationen der Unterdrückung und Gewalt gerettet zu werden. Der Blick in die Geschichte der Menschheit zeigt, dass diese Sehnsucht nach der Befreiung zu allen Epochen der Menschheitsgeschichte gehört.

Die  heutige Lesung aus dem zweiten Teil des Jesajabuches (Deuterojesaja, Jes 40-55) berührt eine besonders schwere Zeit der Heilsgeschichte, nämlich die Exilszeit.  Im Jahr 586 v. Chr. zerstörte Nebukadnezar Jerusalem und sogar den Tempel und führte vor allen die jüdische Oberschicht in die babylonische Gefangenschaft. Diese Gefangenschaft dauerte weder einige Monate noch einige Jahre, sondern eine viel längere Zeit, etwa fünfzig Jahre. Erst der Perserkönig Kyros II., der das babylonische Reich 539. v. Chr. eroberte, erlaubte den Exilanten den Rückkehr in ihre Heimat (das Kyros-Edikt). So will der zweite Teil des Jesajabuches den Juden in Babel vor allem Mut und Hoffnung machen. Ihre Gefangenschaft in Babel wird ein Ende haben. Gott wird sie wieder nach Zion zurückführen.  Er wird sie durch seinen Knecht retten und den Bund mit ihnen erneuern.
Der Prophet kündigt an, dass Gott nicht allein handelt, sondern durch seinen Knecht. Die heutige Lesung ist das erste der vier Gottesknechtslieder bei Deuterojesaja und stellt uns die Gestalt des Gottesknechtes vor Augen. Der Gottesknecht ist von Gott geschaffen und erwählt. Gott hat gefallen an ihm und stützt ihn, auch durch die Gabe seines Geistes. Gott gibt seinem Knecht eine wichtige Sendung. Diese ist mit dem Wort „Recht“, das wiederholt vorkommt, definiert. Der Gottesknecht wird auf die Erde und den Völkern das Recht, das von Gott kommt, bringen. Er wird blinde Augen öffnen, Gefangene aus dem Kerker holen und alle, die im Dunkel sitzen, aus ihrer Haft befreien. Konkret geht es hier um die Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft. Man kann aber diese Formulierungen auch symbolisch lesen. Dann kann man noch viele andere Formen der Gefangenschaften erkennen sowohl damals als auch heute. Auch diese werden mit Hilfe des Gottesknechtes überwunden. Es fällt weiter das Verhalten des Gottesknechtes auf. Er schreit und lärmt nicht. Er handelt gewaltlos:
„Das geknickte Rohr zerbricht er nicht
und den glimmenden Docht löscht er nicht aus.“ (Jes 42,3)
In seinen Bemühungen ist der Gottesknecht unermüdlich, konsequent und zielstrebig:
„Er wird nicht müde und bricht nicht zusammen,
bis er auf der Erde das Recht begründet.“ (Jes 42,4)
Der Gottesknecht und sein Verhalten hat eine universale Bedeutung. Er begründet das Recht auf der Erde. Er ist das Licht für die Völker und nicht nur für das Volk Israel.

Gott hat die Gefangenen aus dem babylonischen Exil befreit und heimgeführt und damit einen schweren und dunklen Abschnitt der Heilsgeschichte bewältigt. Gott handelt aber weiter. In Jesus Christus, seinem Sohn, verwirklicht sich noch radikaler das, was Jesaja angekündigt hat. Jesus Christus ist der Gottesknecht entsprechend den Vorstellungen des Jesaja schlechthin (vgl. Mit 12,18-21). Er setzt sich ein für das Recht und die Gerechtigkeit Gottes gewaltlos, konsequent, unermüdlich. In ihm und seinem Verhalten wird Gott selber sichtbar und wird Gottes Reich und seine Gabe des ewigen Lebens erfahrbar. Auf diese Weise ist er „das Licht für die Völker“ (vgl. Lk 2,32).

Liebe Glaubende, Gott handelt in seinem Sohn auch in unserem Leben gewaltlos, unermüdlich, konsequent. Wir sind eingeladen, unser Leben zu betrachten und dankbar seine befreiende Wirkung zu erkennen. Er wirkt auch an unseren Mitmenschen, in unseren Familien, in der Gesellschaft, in der Welt. Wenn wir neben diesem Licht zugleich aber auch die Dunkelheit in uns und in der Welt von heute erfahren, dann sind wir durch die Heilsgeschichte ermutigt, an das Licht zu glauben und unsere Hoffnung zu stärken. Das letzte Wort wird Gott haben, in seinem Knecht / in seinem Sohn, im Licht für die Völker und für uns alle. Und dort, wo wir dieses Licht erfahren, dort sind wir aufgefordert, es an unsere Mitmenschen und Völker weiter zu geben – gewaltlos, unermüdlich, konsequent.

Perikope
12.01.2014
42,1-9

Gott ein Gesicht geben - Predigt zu Jesaja 49,13-16 von Stefan Henrich

Gott ein Gesicht geben - Predigt zu Jesaja 49,13-16 von Stefan Henrich
49,13-16

13 Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der HERR hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden.
14 Zion aber sprach: Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.
15 Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen.
16 Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir.

Liebe Gemeinde,

der ungarische Schriftsteller Sándor Márai hat Anfang 1945 in seinen Tagebuchnotizen einen Eintrag hinterlassen, in dem er davon spricht, „Gott keinerlei Gesicht geben zu können.“ Er wisse, „dass es Gott gibt“, er „nehme ihn in allem wahr wie das Leben“, aber, so Márai weiter: „Zu ihm sprechen kann ich nur mit ganz einfachen Worten wie zu einem Tier oder einem Kind; wenige Worte genügen ihm, um zu verstehen.“ (Sándor Márai, Unzeitgemäße Gedanken, Tagebücher 2, München 2009, S. 66)

Die Situation, in der Sándor Márai schreibt ist Folgende: Ende 1944 hat er in der Nähe von Budapest in einem Dorf  Zuflucht gefunden. Budapest ist hart umkämpft. Die Stadt wird in großen Teilen zerstört und doch befreit von der Deutschen Besatzung.
In der Zuflucht von Sándor Márai haben sechzehn russische Soldaten Quartier genommen.
Einer der Soldaten, Hassan, ein Usbeke aus Taschkent, kocht aus einem Ochsenschädel Sülze und erzählt während des Kochens ausführlich und verträumt von seiner Heimat. Während er berichtet, entsteht vor Sandor Marais geistigen Auge ein paradiesisches Bild: „Taschkent sei am schönsten, sagt Hassan, weil dort Licht brenne, es in den Häusern im Sommer sehr warm sei und in der Nähe seiner Wohnung warmes Wasser aus der Erde hervorquelle.“ „Ich“, schreibt Sándor Márai, „mache  Hassan darauf aufmerksam, dass all das im letzten Sommer auch für Budapest noch zutraf; er blinzelt jedoch zweifelnd.“  (S.66)
      
Liebe Gemeinde,
warum diese ungarische Erinnerung aus dem Krieg so kurz nach Weihnachten in diesem Gottesdienst zu diesem Predigttext aus dem Propheten Jesaja? Weil die Situation  ganz anders ist und doch ähnlich.

Jesaja kommt mit Bildern und Sätzen, die Gott im Gefüge der Welt in Frage stellen und doch universell preisen für alle seine Taten der Erlösung.
Da ist einerseits der wirklich grenzenlose Jubel über die Befreiung des Volkes Israel aus der Babylonischen Gefangenschaft und andrerseits heult die Klage Zions auf: „Du, Gott, hast mich verlassen und vergessen.“
Zion ist Jerusalem, Jerusalem ist zerstört, die Mauern sind geschleift, aber da ist doch Zukunft und Wiederaufbau möglich, die Risse werden dicht gemauert und die Wunden geheilt werden. Deshalb sollen die Himmel jauchzen und die Erde soll sich freuen, Berge sollen jubeln, in verwüsteten Gärten und auf schlaglöchrigen Straßen soll Frohlocken erklingen. Warum? Weil Gott sein Volk getröstet hat und sich seiner Elenden erbarmt, so sagt es Jesaja.
Ach rede du nur, sagen die in den Bruchtrümmern der eigenen Existenz Sitzenden. Verlassen und vergessen hast du mich, du hast dein eigenes Zelt zerwühlt wie einen Garten, in Zion hast du, Gott, das Heiligtum entweiht, und die Mauern der Paläste in des Feindes Hand gegeben. (vgl. Klagelieder 2, 6ff.)
So scharf können die Bewohner Jerusalems klagen. Gut ist, dass Wut und Zorn raus kommen. Im Gebet findet die Klage nicht nur ihr Ventil sondern auch ihren Adressaten. Gott antwortet, in einem Argumentationsbild, dass zeitlos ist, jetzt und damals und immer.

Gott bekommt ein Gesicht, das Gesicht einer Mutter.

Kann eine Mutter vergessen das Kind ihres Leibes?
Nein, so lautet doch die erste Antwort und dann erst beim zweiten Gedanken fallen Szenen ein von den Kindern, deren Eltern in meist allergrößter Notlage sich nicht mehr kümmern konnten um sie, die sie doch lieben wollten und das nicht konnten. Doch, das gibt es, dass Mutter oder Vater die Kinder verlassen, aber ob sie ihrer vergessen können?
Und wenn es doch so wäre, dass Eltern ihre Kinder vergessen, so will ich, sagt Gott, dich Zion nicht vergessen. Ich habe dich wie mit Henna in meine Hände gezeichnet, habe dich in mein Herz geschrieben und auf meine Haut tätowiert. Deinen Mauern sollen mir Schutzzeichen sein, felsenfest unverbrüchlich gilt meine Liebe dir wie die Liebe der Mutter, die ihr Kind nie und nimmer vergisst.

Poetisches Zwischenspiel:
Sarah Kirsch, die in diesem Jahr verstorbene wunderbare Dichterin, hat ganz untypisch für sie in einem Mutterbild einer nachhause leuchtend hoffenden Liebe das Wort gegeben:

Seestück

Ich bin die
Mutter der auf dem
Meer segelnden
Söhne warte am
Strand mit den
Zündhölzern in der
Schürzentasche.

(aus: Sarah Kirsch, Bodenlos: Gedichte
Stuttgart 1996, S.13)

Zugrunde liegt die Geschichte der Seemannsfrauen, die oft monatelang auf die Heimkehr der Männer und Söhne warteten und in Ermangelung des Leuchturms an heimischen Stranden das Licht in die Nacht setzten einem Leuchtfeuer gleich. Und gleichzeitig erinnern die Zündhölzer und die Schürzentasche an das 1845 in Flensburg geschriebene Andersen-Märchen von dem kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern, das aus eben einer Schürze holend Licht um Licht entzündet, um der Kälte dieser Welt zu entkommen.

Doppelbödig ist nicht nur die Bibel, zur Tiefe des Himmels hin offen ist auch die Poesie.

Wie hieß es zu Weihnachten noch?
Das Volk, das im Finstern wandelt...

Zurück zu Sándor Márai, und zu der Eingangsäußerung von ihm, die er schreibt Anfang 1945:
„Ich weiß, dass es Gott gibt, ich kann ihm jedoch keinerlei Gesicht geben.(...) Zu ihm sprechen kann ich nur mit ganz einfachen Worten wie zu einem Tier oder einem Kind.“
Ich bin geneigt zu ergänzen: Oder wie zu einer Mutter, denn wenige Worte genügen auch und vor allem ihr, um zu verstehen.

Das Kind, die Tiere, die Mutter... Ohne dass es Absicht war, sind wir in weihnachtliche Fahrwasser geraten. Es scheint, als leuchte die Stallszene auf in schönster Tiefe mit Bildern für Gott, die Tiefenschichten erreichen. Glaube an Gott, der sich in der Nachfolge bewährt, der gekreuzigte Christus als Kind, und Gottvater ganz mütterlich, welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und Erkenntnis Gottes!

Zum Schluss:
In der Vorbereitung auf Weihnachten hatten wir im Haus auch den Kalender vom „Anderen Advent“.
An einem Tag war eine Erinnerung des 2010 verstorbenen Regisseurs Christoph Schlingensief unter dem Titel Weihnachtsfreude zu lesen:

„Aber dann sind mehrere schöne Dinge passiert. Es fing an am ersten Feiertag, da hatte ich ein wunderbares Erlebnis mit meiner Mutter. Nach dem Frühstück musste ich plötzlich mit den Tränen kämpfen. Da fragt sie, die kaum aus dem Rollstuhl kommt: ‚Soll ich rüberkommen? Ich komm rüber, warte, warte.‘ Da bin ich natürlich aufgestanden, zu ihr auf die andere Seite des Tisches gegangen, habe mich neben sie gesetzt und den Kopf auf ihre Schulter gelegt. Als sie dann meine Hand nahm, konnte ich die Tränen laufen lassen. Aber vor allem konnte ich endlich all die Dinge aussprechen, die mir eine solche Last waren. Ich konnte ihr erzählen, dass ich all die Jahre so viel Kraft gelassen habe, erzählen, wie anstrengend das für mich war, immer wieder Optimismus und Lebensfreude verbreiten zu wollen, dafür sorgen zu wollen, dass die Dinge schön sind. All das sagen zu können, endlich auch sagen zu können, dass ich das so nicht mehr will, hat so gutgetan, ich kann‘s gar nicht beschreiben. Es setzte ein großes Gefühl der Entspannung ein. Meine Mutter wusste zwar irgendwann gar nicht mehr, worüber wir gesprochen hatten, aber für mich war dieses Gespräch mit ihr ein Weihnachtswunder.“
(in: Der andere Advent 2013/14, Andere Zeiten e.V. Hamburg, zum 04. Dezember)
 
Amen

Lieder: Vor der Predigt EG 47: Freu dich Erd und Sternenzelt, danach: Es ist ein Ros entsprungen EG 30, dazu EG 39, 1-5, EG 37, 1-4,  EG 35 und EG 44

 

Perikope
29.12.2013
49,13-16

Predigt zu Jesaja 49,13-16 von Hans Joachim Schliep

Predigt zu Jesaja 49,13-16 von Hans Joachim Schliep
49,13-16

29.12.2013 - Erster Sonntag nach dem Christfest

»Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der Herr hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden.«

Zion aber sprach: »Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.«
»Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir.«

 „Wisst ihr noch, wie es geschehen…?“ Mit diesem neueren Weihnachtslied, liebe Gemeinde, haben wir den Gottesdienst begonnen. „Wisst ihr noch, wie es geschehen…?“ Ja, wir wissen es noch. Deshalb sind wir ja hier. Gerne nehmen wir das Geschenk dieses 1. Sonntags nach dem Christfest an. In Ruhe erinnern wir uns an das große Fest der Christgeburt im Stall von Bethlehem. Maria und Josef, Engel und Hirten: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. (Lk 2,12) Wer im Weihnachtstrubel vergeblich nach ihm gesucht hat, findet es heute, hier und jetzt! Die wahre Weihnacht braucht Zeit. Sonst verkommt sie ganz zur Ware Weihnacht. Jetzt sind die Geschenke verteilt und ausgepackt. Die Gäste sind längst zu Hause. Auch wir haben unsere Besuche gemacht. Oder machen sie heute Nachmittag. Am Nachmittag dieses Sonntags ›zwischen den Jahren‹. Da scheint das Weihnachtslicht immer noch. Da werden die Kerzen am Weihnachtsbaum noch einmal entzündet. Da klingt es nach, das Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden. Was ist und kommt, wird mitbestimmt von dem, was wir erinnern und was wir erwarten. Das Fest und die Freude - derart sind sie uns gegenwärtig.

Doch sind sie es anders als an den Festtagen selbst. Keineswegs dunkler oder gedämpfter. Nur weniger von außen als mehr von innen. Eben als Erinnerung: als das, was sich eingeschrieben hat in unserem Inneren und uns nun zuinnerst ist, wenn ich es einmal so sagen darf. Das ist das Gute, Besondere an diesem Tag, in diesen Tagen. Wir sprechen von der ›Zeit zwischen den Jahren‹, obwohl die Zeit voranschreitet wie alle Zeit. Doch schon als Kind schien es mir so: In diesen Tagen holt die Zeit Atem. „Was vorüber ist / ist nicht vorüber / Es wächst weiter / in deinen Zellen / ein Baum aus Tränen / oder / vergangenem Glück“. So dichtete es Rose Ausländer. So erlebe ich es: In diesen Tagen, ›zwischen den Jahren‹ eben, schiebt sich eine andere Wirklichkeit hinein in die des Gewohnten, Alltäglichen, Immergleichen. Die Zeit ist nicht anders als sonst, aber etwas ist spürbar von einer anderen Zeit.

Von dieser anderen Zeit inmitten der bekannten, messbaren, fortlaufenden spricht auch der Prophet Jesaja: »Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der Herr hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden.« In solchem Jubel bricht mit Macht das Ewige hinein ins Jetzt. Zwanglos, aber nicht grundlos. Im zwanglosen Zwang, dem ich mich verweigern könnte, aber erst nachdem ich ihn, den Jubel, vernommen habe, vibriert etwas vom unverfügbaren Grund von Welt und Leben. Vom Grund, der dem Schema von Ursache und Wirkung weit vorausliegt und weit überlegen ist. Gott steht nicht gegen die Kausalgesetze, ist aber Name für das Ursprünglichere und Grundlegendere. Ein Widerhall davon sind die bekannten Paukenschläge und Trompetenstöße, mit denen Johann Sebastian Bachs ›Weihnachtsoratorium‹ beginnt: „Jauchzet, frohlocket, auf preiset die Tage…!“ Wir dürfen uns den Propheten tatsächlich mit Pauke vorstellen, der von Trommelwirbel und Trompetenstößen begleitet mit lauter Stimme ruft oder lautstark singt. Denn das Buch des 2. Jesaja könnte ein Drehbuch sein für ein Schauspiel, für ein Bühnenstück. Jedenfalls lässt sich so am besten erklären, was den Textkomplex Jesaja 40 bis 55 ausmacht: die Wechselreden, die Zwischenrufe und die Gesänge: »Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der Herr hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden.«

Wo wurde das Stück aufgeführt? Zwei Spielstätten sind denkbar: Eine liegt am Rande der Großstadt Babylon, in dem Viertel, in dem die Israeliten wohnen mussten, die aus Jerusalem gewaltsam verschleppt worden waren. Dieses ›Babylonische Exil‹ begann im Jahr 587 vor Christus, bis Babylon selbst erobert wurde vom Perserkönig Kyros. Der beendete im Jahr 538 vor Christus per Edikt das Exil. Nach siebenmal sieben, nämlich 49 Jahren („Erlassjahr“: 3. Mose 25) konnten die Israeliten nach Jerusalem zurückziehen. Die zweite Spielstätte könnte Jerusalem selbst gewesen sein. Denn nach der Rückkehr mussten Stadt und Tempel erst einmal neu errichtet werden. Da gab es Schwierigkeiten über Schwierigkeiten. Da fehlte es am Nötigsten. Da war unklar, wem eigentlich was gehört und wer was tun sollte. Da ging, wenn überhaupt, alles nur schleppend voran. Einige meinten sogar, im Exil sei es doch viel besser gewesen. Wie heißt es, von mir leicht abgewandelt, in einem Rabbinenwort? Es ist leichter, Menschen aus dem Exil zu holen als das Exil aus den Menschen! Ja, schwerer meist als die Befreiung ist das Leben in Freiheit. Wer gibt Ermutigung? An der Spielstätte Jerusalem war sie ebenso, vielleicht noch nötiger als in Babylon: frei und immer noch in Ketten. Wer macht Hoffnung? Hoffnung auf einen guten Ausgang! Dass der Weg der richtige ist, auch wenn sein Ziel noch im Dunkeln liegt! Dazu hilft keine noch so sonnige Zukunftsprognose. Da gilt es, auf mehr zu hoffen als auf gutes Wetter. Da ist der Wirtschaftsindex ohne Aussagekraft. Da hilft nur der Paukenschlag, das Lied in höchsten Tönen.

Denn erst einmal gilt es, die Menschen zu wecken, sie herauszurufen aus ihrer Verzagtheit, ihrer Selbstbespiegelung, ihrem inneren Exil. Ihre Sinne zu öffnen für das, was sinnlich noch unerkennbar ist, wofür aber Augen und Ohren, alle Wahrnehmungsorgane auf Empfang gestellt werden sollten. Der Himmel weiß es längst. Die Erde, das flache Land, weiß es ebenfalls. Die Berge, auf denen Himmel und Erde sich gleichsam berühren, sie rufen, jauchzen es in alle Welt hinaus. Dann werden es auch die Menschen hören: Trost und Erbarmen sind beschlossene Sache. Ja, sie sind schon da: Trost und Erbarmen. Inmitten der Zeit, die nicht anders ist, ist eine andere Zeit angebrochen. Die Zeit, in der Menschen im Namen des Kindes in der Krippe, das der Mann am Kreuz einst war, zu Ende sprechen können, was nicht das letzte Wort sein darf. Gott selbst spricht ein anderes Wort. Das lässt wieder Atem holen unter der Last einer versteinerten Geschichte, im Gedenken an die Trümmer des Tempels oder gar mittendrin in der Ruine. Im Gottesspruch kommt erst einmal die Menschenklage zu Wort: Zion aber sprach: »Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.«

  Wir erinnern uns an die Christgeburt. Wir erinnern uns der Freude. Sie ist gegenwärtig. Was soll da noch die Klage!? Wir können sie nicht beiseite lassen! Denn wie wir uns verlassen vorkamen - das gehört mit zur Erinnerung. In der Geburtsgeschichte nach Lukas 2 werden ganze ›Himmlische Heerscharen‹ aufgeboten, um die Verlassenheit der jungen Eltern ohne Raum in der Herberge (Lk 2,7) für ihr Neugeborenes zu beenden und die Verlorenheit der Hirten zu beseitigen! Die Verlassenheit und Verlorenheit dieser Welt! Weihnachten ist keine Droge, die unser Schmerzgedächtnis betäubt. Weihnachten ist eine gefährliche Erinnerung. Wer Weihnachten feiert und dabei die Bibel ernst nimmt, erhebt - gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst - politischen Protest: Nicht die sog. Größen wie Kaiser Augustus in der Hauptstadt Rom, der Göttliche, dessen Kinder schon als Götter bezeichnet werden, retten die Welt, sondern die sog. Kleinen wie das unbekannte Kind in der Krippe in der Nähe des unbedeutenden Dorfes Bethlehem. In diesem Gotteskind sind alle Menschen Kinder Gottes.

Von daher nehme ich eine dramatische Frage aus Jesaja 49 auf. Vers 15 beginnt mit den Worten: »Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes?« Heute müssen wir genauer sagen: Eltern vergessen ihre Kinder, nicht nur Mütter, sondern auch Väter. Das geht uns gegen die Natur, gegen alle menschlichen Empfindungen und die Grundgebote des Lebens. Dennoch gehört es zu den bitteren Tatsachen des Lebens, dass dieses Undenkbare, dieses eigentlich Unmögliche geschieht. Mehr als einmal habe ich damit zu tun gehabt, dass Kinder in ihren ersten Lebenswochen von den Eltern alleingelassen wurden. Wäre kein „rettender Engel“ gekommen, hätten sie keine drei Tage überlebt. Einmal konnten wir als Familie helfen. Die Frage geht mir wirklich nah: »Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes?«

Diese Frage bewegt mich in noch anderer Weise. Wer jetzt nicht hinhören will, möge das Folgende überhören. Denn ich wiederhole mich, habe ich doch in manchen Predigten noch während meiner aktiven Dienstzeit in dieser Gemeinde diese Sorge ausgesprochen: Haben wir noch unsere Kinder im Blick oder haben wir sie schon vergessen, obwohl sie bei uns sind? Wir könnten nämlich die letzte Generation sein, die lange wirkende Schäden durch Übernutzung unseres Planeten anrichtet, ohne selber den Preis dafür zahlen zu müssen. Dann wären wir die erste Generation, die nicht selber haftbar gemacht werden kann für die Schäden und Verwerfungen, die allein auf unser Konto gehen. Dann hätten wir einen Wesenszug unserer Kultur und Humanität schlicht außer Kraft gesetzt: das Prinzip Verantwortung. Verantwortung ist ohne persönliche Haftung nur leeres Gerede. Ohne Verantwortung gibt es auch keine Freiheit.

Heute weise ich auf diesen Punkt noch einmal hin, weil wir seit 12 Tagen eine neue Bundesregierung haben. Bei einer ›Großen Koalition‹ - was auch immer man von ihr halten mag: eine Demokratie braucht sowohl eine stabile Regierungsmehrheit als ebenso sehr eine starke Opposition - lag es nahe, in mühsamer, zeitraubender Kleinarbeit einen recht genauen Koalitionsvertrag auszuarbeiten und zu vereinbaren. Doch der wird nicht wie ein Fahrplan einzuhalten sein, sondern die Regierung, das Parlament, wir alle als mitverantwortliche Bürgerinnen und Bürger werden uns auf rasche und unerwartete Veränderungen in der Weltpolitik einzustellen haben. Umso mehr erhoffe ich mir, dass es in unserer Regierung Menschen gibt, die von dieser Frage wachgehalten werden: Wie können wir zukünftige Generationen entlasten, statt sie zu belasten?

Welche Ministerien sind wichtig, welcher weniger wichtig? Darüber wurde vor der Regierungsbildung viel gesprochen. Wirklich wichtig sind aus meiner Sicht die Ministerien, in denen es um Zukunftsfragen in internationalen Zusammenhängen geht. Darum rangiert für mich ein Ministerium wie das für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, also für Entwicklungspolitik, ganz oben, verbunden mit denen für Umwelt- und Energiefragen. Nur wo wir unsere eigenen nationalen Interessen von den Interessen der verarmten Menschen und der belasteten Natur her in den Blick nehmen, verstehen wir unsere Interessen recht und verlassen wir unsere Kinder nicht. Nur was auch anderen dient, wird uns zugute kommen. Das ist kein Gebot der Moral, sondern der Vernunft! Es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, wollen wir als rational denkende und ökonomisch handelnde Menschen gelten! Solche Menschen werden wir in unserer Regierung nur finden, wenn die von uns Gewählten sie in weit größerer Zahl als bisher unter uns finden.

Vor einigen Wochen las ich einen bedenkenswerten Satz des leider vergessenen Philosophen Arnold Metzger aus dem Jahr 1955. Er lautet sinngemäß: ›Unser Leben besteht aus ständig versinkenden Augenblicken, eben darum leben wir von dem her, wohin wir verlangen. So ist unsere Erinnerung die Quelle unserer Erwartung, unserer Hoffnung.‹ Wie wahr, wenn wir daran denken, wie schnell ein schönes Fest wie Weihnachten vorbei ist! Wie wahr, wenn uns ›zwischen den Jahren‹ wieder einmal klar wird, dass Zeit und Leben vergänglich sind, die Zeit unseres Lebens! Wie wahr, wenn wir dessen gewahr werden, welche Kraft, welche Tiefe, welche mächtige Erwartung uns aus der Erinnerung zuwächst! Es ist die Erinnerung an eine Macht, die in der Ohnmacht geboren wird. Im Stall von Bethlehem. Am Kreuz auf Golgatha. Dort, mit seinen letzten Atemzügen, spricht Jesus mit demselben Wort für „verlassen“ wie beim 2. Jesaja von seiner eigenen Verlassenheit:  »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34) Worte: gesprochen, gerufen aus der Ohnmacht heraus - dennoch machtvolle Worte, weil die Erinnerung an Gottes Mitsein, die Verinnerlichung von Gottes Nähe, gleichsam eine innere Transzendenz die Quelle einer mächtigen Erwartung sind. Es ist die Kraft, die Jesus Gott um Gott bitten lässt. Und mehr kann und muss niemand, der nach einem noch so schwachen Sinnfunken sucht, nach Glaube, Hoffnung, Liebe in diesen ›Tagen zwischen den Jahren‹: Gott um Gott bitten.

Jesus, unser Christus, konnte Gott um Gott bitten, weil er dieses Wort kannte, das in Jesaja 49 gegen das menschliche Vergessen als Erinnerung Gottes gestellt ist: »Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir.« Was ist damit genau gemeint? Dazu habe ich mehrere Deutungen gefunden. Heute nenne ich die beiden, die mir am meisten einleuchten. Einige Ausleger weisen darauf hin, dass in Jesaja 49 die weibliche Seite Gottes eine große Rolle spielt: die Frau; Zion, das häufig als Braut bezeichnet wird; das Trösten als mütterliches Erbarmen. So seien, was da in die Hände…gezeichnet ist, vielleicht sogar die Mauern die Umrisse einer jungen Frau. In der Tat, in unserem Predigttext ist im Grunde davon die Rede, wie Gottes Gottheit mütterliches Erbarmen ist. Die zweite Deutung leuchtet mir ebenso ein: Wer von oben auf Jerusalem schaut, sieht Hügel und Täler. Und wer auf die Linien seiner Innenhandflächen blickt, kann die Täler, die Jerusalem durchziehen, in den eigenen Händen erkennen. Wie also bei uns Gottes Stadt in die Hand gezeichnet ist, ist Gottes Stadt, sind letzten Endes wir alle eingezeichnet in Gottes Hand! Die Handlinien, die Vertiefungen, die Erhöhungen, sind alle Zeit wahrnehmbar. Sie gehören zu unserem Leib, zu unserem Leben. Diese Deutung finde ich umso einleuchtender, je mehr ich an den Dreh- und Angelpunkt der Christfestbotschaft denke: Gott ist Mensch geworden, d. h. in älteren Lutherbibeln: „Fleisch“. Keineswegs verbindet sich Gott allein mit unserem Geist, sondern mit unserem „Leib“! Sich an Weihnachten zu erinnern, bedeutet: sich an einen kleinen Menschen aus Fleisch und Blut zu erinnern, an Gott in stinkenden Windeln! »Denn der Herr … erbarmt sich seiner Elenden.«

Die Erinnerung ist Quelle und Kraft unserer Erwartung. Wir leben von dem her, wohin wir verlangen. Dann müsste unsere Hoffnung umso stärker sein, wenn uns die Erinnerung nach vorne weist. Wenn die Christfestbotschaft zur Zukunft unseres Lebens wird, zu dem, wohin wir verlangen. Denn die Zeiten werden nicht anders. Umso mehr muss etwas spürbar werden von einer anderen Zeit. In diesem Sinn erzähle ich, etwas abgewandelt, die Weihnachtsgeschichte nach Lukas 2 als Geschichte der Zukunft, der Zukunft bedrängter Menschen, denen dennoch zugesagt ist: »Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet…«:

„Es wird geschehen zu der Zeit, in der Gebote von Machthabern wie Augustus ausgehen, alle Welt solle sich schätzen lassen, damit die Steuerquellen weiter sprudeln und die Finanzmärkte keinen Kapitalmangel haben. Und die Menschen, die sich nicht wehren können, werden elektronisch erfasst und ausgespäht werden, bevor sie es merken konnten, ein jeder in seiner Stadt. Dann wird sich aufmachen einer wie Josef aus dem verarmten Galiläa, weil er der Macht über ihm entkommen will, zusammen mit seiner schwangeren Frau Maria. Und wenn sie im letzten Winkel der Welt angekommen sind, wird sie gebären ihren ersten Sohn und ihn in Windeln wickeln und in eine Krippe legen; denn sie werden sonst keinen Raum in der Herberge haben.

Doch es werden Hirten sein in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn wird zu ihnen treten, und die Klarheit des Herrn leuchten um sie; und sie werden sich sehr fürchten. Und der Engel wird zu ihnen sprechen: »Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.«

Alsbald wird da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen sein, die werden Gott loben und sprechen: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen«. Und wenn die Engel von ihnen gen Himmel fahren, werden die Hirten untereinander sprechen: »Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat.« Und sie werden heraneilen und finden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen...“.

Wie es weitergeht - Sie können es selbst erzählen. Denn Sie wissen, wie es geschehen ist und was immer wieder zur Erwartung, zur Hoffnung, zur Rettung wird: zu dem, wohin wir verlangen.

»Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen!« Amen.

 

Anmerkungen:

1. Das Gedicht „Nicht vorüber“ ist entnommen aus Rose Ausländer: Mutterland. Einverständnis, Fischer-TB 5775, Frankfurt/M. 1982, S. 109.

2. Für diesen Predigtentwurf habe ich neben den Exegesen zu Jes 49,13-16 in den aktuellen Ausgaben zur Predigtreihe VI der Predigtstudien, der Göttinger Predigtmeditationen, der Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext und in Roland Gradwohls Bibelauslegung aus jüdischen Quellen (Bd. 4) dankbar benutzt den Kommentar von Klaus Baltzer: Deutero-Jesaja, KAT X,2, Göttingen 1999. Durch die Auslegung von Deutero-Jesaja als szenischer Aufführung, wurde mir die besondere Textstruktur nachvollziehbar.

3. Dankbar verwendet habe ich außerdem Gedanken aus: Freiheit und Tod, Pfullingen 1955, dem Hauptwerk des zu Unrecht vergessenen Phänomenologen und Metaphysikers Arnold Metzger (1892-1974; zuletzt Honorarprofessor in München; Freund von Ernst Bloch), der auch von Theologen eines kritischen Dialoges gewürdigt werden sollte.

4. Lieder: EG 52,1-6; 57,1-3; 35,1-3; 35,4; 544,1-4; 44,1-3.

Perikope
29.12.2013
49,13-16

Predigt zu Jesaja 52,7-10 von Elke Markmann

Predigt zu Jesaja 52,7-10 von Elke Markmann
52,7-10

Liebe Gemeinde,

stellen Sie sich bitte vor, Sie lebten in einer Stadt, einem Land, die nicht Ihre Heimat sind. Sie, wir alle wurden aus unserer Heimat vertrieben. Weit weg von unserem Zuhause müssen wir leben. Wir leben schon einige Jahre in der Fremde. Unsere Kinder sind hier geboren und aufgewachsen. Manche können sich nicht erinnern an das Land, das unsere Heimat war – an das Land, nach dem wir uns immer wieder sehnen – an das Land, in das wir zurück kehren wollen.

So geht es vielen Menschen auf der Welt. Menschen aus Syrien, aus Afghanistan, aus dem Iran, aus Mali – die Reihe lässt sich unangenehm lang fortsetzen. Menschen verlassen ihre Heimat. Das tun die meisten nicht freiwillig, sondern weil die Lebensumstände sie dazu zwingen, weil sie verfolgt oder vertrieben werden.

So geht es den Menschen auch nicht nur heute. Vor 75 Jahren z.B. sind Menschen aus Deutschland geflohen – weg von Verfolgung und Hass. Vor 40 Jahren flohen Deutsche aus der DDR – weg von Unterdrückung und Misstrauen.

Schon immer flohen Menschen, verließen ihre Heimat, um irgendwo anders eine neue Zukunft aufzubauen.

Ihnen allen ist und war gemeinsam, dass sie von ihrer Heimat träumten. Viele sehnten sich danach, dass es in ihrer Heimat wieder so sein würde, dass sie zurück kehren können.

In einer solchen Situation haben Menschen auch schon vor mehr als 2500 Jahren  in Babylon gelebt. Es waren Israeliten. Sie waren aus ihrer Heimat vertrieben worden, verschleppt ins ferne Babylon. Ihre Heimat, der Staat Israel wurde mitsamt seiner Hauptstadt zerstört. Der Tempel wurde nieder gerissen. Es schien kein Zurück mehr zu geben. Schon 40 Jahre lebten sie in einer Gesellschaft, in der sie immer Fremde blieben. Sie durften ihre Religion  nicht offen und frei leben. Sie durften nur träumen von einer Zukunft in Jerusalem mit dem wieder aufgebauten Tempel. Ihnen blieb nichts als der Traum. Diese Träume bewahrten sie sich.

Doch die Zeiten änderten sich. Der neue Herrscher ließ die Israeliten freier leben. Für manche kam die Hoffnung zurück, dass sie doch in ihr Land zurück kehren können.

In dieser Zeit hinein, aus dieser Hoffnung heraus spricht der heutige Predigttext. Er steht beim Propheten Jesaja im 52. Kapitel:

7Wie schön sind auf den Bergen die Füße derjenigen, die Freude verkünden, die Frieden ansagen, Gutes verkünden, Rettung ansagen, die zu Zion sprechen: »Deine Gottheit regiert!« 8Horch! Deine Wachposten erheben die Stimme, jubeln gemeinsam! Ja, Auge in Auge sehen sie, wie Gott zurückkehrt zu Zion. 9Brecht in Jubel aus, alle gemeinsam, ihr Trümmerreste Jerusalems, denn getröstet hat Gott das Gottesvolk, hat Jerusalem befreit. 10Entblößt hat Gott den heiligen Arm vor den Augen aller fremden Völker: Es sehen alle Enden der Erde das Heil unserer Gottheit.

(Jes 52, 7-10 Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache)

Als ich versuchte, mir die Situation der Menschen damals vorzustellen, erinnerte ich mich an die Bilder, die in der vergangenen Woche im Fernsehen, im Internet und in den Zeitungen  zu sehen waren. Nach dem Tod von Nelson Mandela konnten wir noch einmal sehen, wie der Weg aus der Apartheid, aus Rassentrennung und Rassenhass heraus war. Es gab viele Dokumentationen, Berichte und Erzählungen darüber, wie die Menschen Südafrikas sich nach Frieden sehnten. Auch dort wurden Menschen aus ihrer Heimat vertrieben, mussten umsiedeln in sogenannte Homelands, zusammen gepfercht, auseinander gerissen.

Während der Apartheid gab es sicherlich viele Menschen, die sich nach ihrer Heimat sehnten, nach einem friedlichen Leben ohne Verfolgung und Unterdrückung.

Und dann gibt es Menschen, die zu Friedensboten werden. Nelson Mandela war so ein Mann. Er hatte sich im Gefängnis geändert. Vom Anführer der radikalen und bewaffneten Teile des ANC, des African National Congress, hatte er den Weg zum Frieden gewählt. Oft habe ich es gehört: Wenn er damals, als er aus dem Gefängnis kam, Hass und Gewalt gepredigt hätte – das Land wäre explodiert. Aber er predigte nicht Hass und Gewalt, sondern Frieden und Versöhnung.

7Wie schön sind auf den Bergen die Füße derjenigen, die Freude verkünden, die Frieden ansagen, Gutes verkünden, Rettung ansagen, die zu Zion sprechen: »Deine Gottheit regiert!« 8Horch! Deine Wachposten erheben die Stimme, jubeln gemeinsam! Ja, Auge in Auge sehen sie, wie Gott zurückkehrt zu Zion. 9Brecht in Jubel aus, alle gemeinsam, ihr Trümmerreste Jerusalems, denn getröstet hat Gott das Gottesvolk, hat Jerusalem befreit. 10Entblößt hat Gott den heiligen Arm vor den Augen aller fremden Völker: Es sehen alle Enden der Erde das Heil unserer Gottheit.

Vor über 2500 Jahren in Babylon gab es keinen Nelson Mandela. Aber es gab die Hoffnung, wieder in die alte Heimat zurück kehren zu können. Wer davon redete und Träume und Sehnsucht lebendig machte, wurde zu einem Freude- und Friedensboten. Wer dies ankündigte, nahm die Sorgen und Ängste, die Sehnsucht und das Sehnen der Israeliten und Israelitinnen ernst.

Es eröffnete sich eine Perspektive. Noch waren sie nicht wieder in Jerusalem. Noch existierten die Trümmerreste Jerusalems. Die Stadt war noch nicht wieder aufgebaut, lag in Trümmern und war weit entfernt. Aber es gab eine neue Hoffnung. Diese neue Hoffnung gab den Menschen wieder neuen Lebensmut. Die Menschen konnten jubeln und glücklich sein. Sie priesen Gott, der ihnen wieder eine Zukunft schenkte.

Eine neue Perspektive, eine neue Hoffnung. Der Predigttext verknüpft diese neue Perspektive, die Hoffnung auf Zukunft eng mit Gott. Die Gottheit Israels erweist sich als siegreich. Vertreibung und Verschleppung, Unterdrückung und Verfolgung konnten die Menschen nicht von Gott entfernen, konnten Gott nicht vom Volk Israel trennen. Der Bund zwischen beiden blieb bestehen, hielt und erwies sich als dauerhaft stärker. Wenn die Israeliten wieder nach Jerusalem zurück kehren und den Tempel wieder aufbauen, dann erweist sich genau darin die Größe ihres Gottes. Sein Heil wird für alle weithin sichtbar werden.

Hoffnung und Dankbarkeit, Erleichterung und Gottvertrauen sprechen aus den Versen des Predigttextes.

Hoffnung und Dankbarkeit, Erleichterung und Gottvertrauen – diese Zutaten sind es, die den Blick in die Zukunft vergolden und verschönern.

Wir merken es auch als einzelne Menschen: Wenn alles trüb und schlecht ist, wenn es nur schlechte Nachrichten und nichts Gutes zu erwarten gibt – dann bleibt der Blick in die Zukunft trüb.

Aber wenn wir uns auf etwas freuen, wenn wir wissen, dass es etwas Schönes in der Zukunft gibt, dann können wir mit ganz anderem Schwung leben. Dann können wir jubeln und sehen die Zukunft golden.

In der Adventszeit blicken wir jedes Jahr wieder gespannt in die Zukunft. Wir wissen zwar genau, dass es Weihnachten wird. Wir wissen, dass Jesus geboren ist. Wir wissen, was damit neu aufgebrochen ist – und wir wissen auch, welche Hoffnungen immer wieder neu enttäuscht werden. Und doch ist die Adventszeit eine Zeit der freudigen Erwartung. Wir freuen uns auf Weihnachten. Wir freuen uns darauf, dass wir die Ankunft Gottes in der Welt feiern dürfen. Wir freuen uns darauf, dass es noch einmal eine neue Chance des Neuanfangs gibt. Wie weit das für jede und jeden einzelnen von uns zutrifft, ist eine andere Frage. Die Freude und Zukunftshoffnung ist bei vielen Menschen gleich. Die Freude und die Hoffnung, dass etwas Neues aufbrechen kann, dass Zerstörtes wieder aufgebaut werden  kann, dass Getrenntes zusammen geführt wird.

Und so singen wir mit Begeisterung die Lieder, die von Hoffnung singen.

Macht hoch die Tür, die Tor macht weit.
Es kommt der Herr der Herrlichkeit,
ein König aller Königreich,
ein Heiland aller Welt zugleich,
der Heil und Leben mit sich bringt;
derhalben jauchzt, mit Freuden singt.
Gelobet sei mein Gott,
mein Schöpfer reich von Rat.

Und immer noch klingt es ähnlich wie die uralte Hoffnung derer, die auf eine Rückkehr aus Babylon hofften:

7Wie schön sind auf den Bergen die Füße derjenigen, die Freude verkünden, die Frieden ansagen, Gutes verkünden, Rettung ansagen, die zu Zion sprechen: »Deine Gottheit regiert!« 8Horch! Deine Wachposten erheben die Stimme, jubeln gemeinsam! Ja, Auge in Auge sehen sie, wie Gott zurückkehrt zu Zion. 9Brecht in Jubel aus, alle gemeinsam, ihr Trümmerreste Jerusalems, denn getröstet hat Gott das Gottesvolk, hat Jerusalem befreit. 10Entblößt hat Gott den heiligen Arm vor den Augen aller fremden Völker: Es sehen alle Enden der Erde das Heil unserer Gottheit.

Amen.

 

Perikope
22.12.2013
52,7-10

Dein Gott regiert - Predigt zu Jesaja 52,7-10 von Agnes Schmidt-Köber

Dein Gott regiert - Predigt zu Jesaja 52,7-10 von Agnes Schmidt-Köber
52,7-10

Dein Gott regiert

Jesaja 52

7 Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!

8 Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und rühmen miteinander; denn alle Augen werden es sehen, wenn der HERR nach Zion zurückkehrt.

9 Seid fröhlich und rühmt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems; denn der HERR hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst.

10 Der HERR hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, dass aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.

Liebe Gemeinde!

Hören Sie den Jubel, der aus diesen Zeilen dringt? Teilen Sie die Begeisterung, die den Schreiber dieser Verse antreibt? Nein?

Das gemalte Bild wirkt auf den ersten Blick etwas, naja, aufgedreht: liebliche Füße, die von den Bergen um Jerusalem herunter tänzeln, mit einer frohen Botschaft. Angesichts der Lage vor Ort zu schön, um wahr zu sein. Die Trümmer der Stadt sollen jubeln und jauchzen. Etwas viel verlangt von der Personifizierung der Katastrophe, die die Stadt 50 Jahre zuvor ereilte.

Eine geballte Ladung Stoff zum nachdenken und verarbeiten.

Wir haben es hier mit Worten zu tun, die um das Jahr 540-538 vor Christi Geburt entstanden sein dürften. Ein beachtlicher Teil des jüdischen Volkes lebt seit  40-50 Jahren in Babylonien, im Exil. Sie waren deportiert worden, nachdem Nebukadnezar seinem Vasallen König Jojachin berechtigterweise nicht mehr über den Weg traute und seine Macht demonstrierte, indem er Jerusalem eroberte. Die Deportation der oberen Gesellschaftsschicht war ein taktisch geschickter Schachzug. Zur Abschreckung und um sicher zu gehen, dass in Juda keinerlei  Verschwörungen und Ränkespiele getätigt wurden, ließ Nebukadnezar Jerusalem zerstören, bes. den Tempel.

Für gläubige Juden war dies eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes: der Tempel war das Haus Gottes, seine Zerstörung mußte unweigerlich bedeuten, dass Gott nicht mehr in der Mitte seines Volkes wohnte, dass er sein Volk aufgegeben hatte.

Möglicherweise haben sich sowohl die Deportierten, als auch die in Jerusalem Verbliebenen, mit der Zeit an diese Situation gewöhnt – aber es ist kaum anzunehmen, dass ihnen diese Erfahrung gleichgültig geworden wäre.

In dieser Situation geschieht etwas Großes: das Babylonische Reich wird erobert und geht unter. Die neuen Machthaber sind die Perser, die wollen die Restauration. So wird die Rückwanderung der Deportierten in ihre Heimat ermöglicht. Mehr noch: der Jerusalemer Tempel soll wieder aufgerichtet werden, der neue König Kyrus gibt den Tempelschatz frei, den die Babylonier mitgeführt hatten.

Für jeden gläubigen Juden dürfte diese Wendung der Geschichte Grund zum Jubeln sein: Gott hat sich seinem Volk sichtbar wieder zugewandt. Diese Nachricht musste natürlich auch in Jerusalem verkündet werden.

Und nun setzt unser heutiger Bibelabschnitt ein – diesmal mit den Worten aus der neuesten Bibelübersetzung in sog. „gerechter“ Sprache

7 Wie schön sind auf den Bergen die Füße derjenigen,
die Freude verkünden, die °Frieden ansagen, Gutes verkünden,
Rettung ansagen, die zu Zion sprechen: »Dein Gott regiert!« (Im O-Ton: Deine Gottheit regiert.)

Auf diesem Hintergrund klingen diese Worte schon etwas weniger „aufgedreht“, die Freude ist verständlich: nach Jahrzehnten der Trauer und der Orientierungslosigkeit ein neuer Aufbruch, ein Neustart, ermöglicht durch Gott, von dem sich die Israeliten verlassen gefühlt hatten.

Die lieblich-schönen Füße  stehen für einen Menschen, der eine gute Nachricht überbringt. Der wird allgemein als „schön“ empfunden, auch wenn er nicht gerade den gängigen Schönheitsidealen entspricht. Die Schönheit kommt von dem her, was seine Nachricht für den Empfänger bedeutet. Und diese Nachricht ist mehr als schön, sie ist wunderbar und unfassbar, Gott ist König, er regiert, er lenkt die Geschichte und Geschicke. Sie erfahren das auf gänsehauterregende Weise: er greift in die Geschichte seines Volkes ein, für alle sichtbar.
8 Horch! Deine Wachposten erheben die Stimme, jubeln gemeinsam!
Ja, Auge in Auge sehen sie, wie Gott °zurückkehrt zu Zion.
9 Brecht in Jubel aus, alle gemeinsam, ihr Trümmerreste Jerusalems,
denn getröstet hat Gott das °Gottesvolk, hat Jerusalem befreit.

Den Jubel stimmen die Wächter an, sie teilen die erfahrene Botschaft und gleichzeitig auch ihre Freude darüber mit und so vervielfältigt sich der Jubel.

Ein schönes Bild malen diese Worte vor unseren Augen: die Menschen, die in den Trümmern Jerusalems leben, drücken ihre Freude aus über die Nachricht, dass ein Neustart möglich wird – ich stelle mir den Jubel ähnlich vor, wie in der Fankurve eines Stadions, nachdem der ausgemachte Verlierer des Spiels doch noch ausgleicht oder gar das Spiel gewinnt.

Die weinende, trauernde Tochter Zion zieht den Schleier vom Gesicht und winkt damit dem Überbringer mit den lieblichen Füßen zu.  Die Trümmer beginnen zu leben.

10 Entblößt hat Gott den heiligen Arm vor den Augen aller °fremden Völker:
Es sehen alle Enden der Erde das °Heil unserer Gottheit.

Das Blatt hat sich gewendet. Nicht nur die Bewohner Jerusalems sondern alle Enden der Erde sollen Gottes Heilshandeln sehen und Anteil daran haben. Nun scheint der Jubel übermütig zu werden: Gott zeigt seine Macht vor den anderen Völkern. Auseinandersetzungen mit Nachbarvölkern hatten eine beachtliche theologische Dimension. Hier geht es aber nicht um Machtdemonstration, sondern Gott lässt auch die anderen Völker Anteil haben. Angesichts der Wendung, die die Geschichte des Gottesvolkes genommen hat, angesichts dessen, dass Gott sich den heidnischen Perserkönig als Werkzeug auserwählt hat, um seinem Volk die Tränen abzuwischen, einleuchtend.

Einzelne Bilder aus diesem Bibelabschnitt sind nach wie vor gültig, auch im Advent 2013.

Nehmen wir den Einstieg: die lieblichen, schönen Füße der Freudenboten der Überbringer einer guten Botschaft, eines schönen Geschenkes wird als schön/angenehm/sympathisch empfunden. Jemand, der Hilfe bringt, kann zum „Engel“ (angelos-Bote) werden. Je beklemmender die Lage, in der man sich befindet, umso schöner derjenige, der daraus heraushilft. Daran hat sich nicht viel geändert. Man gerät in Not, oft ohne selbst etwas dafür zu können, und ist auf Hilfe von außen angewiesen. Wie dankbar und glücklich ist man über abgewendete Not und Schmach, daraus erwächst Jubel – in den Psalmen regelmäßig anzutreffen.

Dann bleibe ich am Bild der Trümmer hängen:

Im Gespräch mit meiner Studienfreundin über diese Verse kam zutage, dass die Trümmer auch als Trümmer noch zu etwas gut sind, dass sie auch in ihrem beklagenswerten Zustand eine Funktion haben. In jedem Menschenleben gibt es ein Trümmerfeld: Träume, Hoffnungen, Lebensentwürfe liegen darauf… Die singenden Trümmer des Bibelwortes zeigen an, dass sie sich mit ihrer scheinbaren Nutzlosigkeit nicht abgefunden haben, dass auch sie sich verändern können… Im Klartext: Mit den Trümmern im eigenen Leben kann man auf verschiede Art und Weise umgehen: man kann darüber gebeugt Gott (an)klagen, man kann sie liegen lassen und so tun, als gäbe es sie nicht und dann immer wieder aufs Neue darüber stolpern und sich dabei verletzen. Oder man räumt sie nach angemessener Trauerzeit weg und baut daraus mit Gottes Hilfe etwas Neues. Er, Gott, kann aus dem kleinsten Trümmerteil etwas Neues schaffen. Er hat die Regie, er hat das Drehbuch. Was vordergründig nach Katastrophe aussieht, ist auf den zweiten Blick Ausgangspunkt/Kehrtwende für etwas Neues.

Ein drittes und letztes Bild: Gott als König

Der Gott Israels ist als König im AT häufig anzutreffen. Er ist ein König, der zuverlässig treu ist, der keine Machtspielchen treibt, bei denen seine Untertanen zu Schaden kommen. In frommem Verständnis eine Veranschaulichung des Gottesattributes „Allmächtig“.

Mächtig in jeder Hinsicht – nach irdischen Vorstellungen waren das lange Zeit die Monarchen. Aus der prophetischen Literatur  der Bibel ist zu vernehmen, dass das Gottesvolk Könige hatte, die dem Volk geschadet haben – das menschliche Königtum wird ab einem gewissen Zeitpunkt überaus kritisch beurteilt.

Der einzig wirklich mächtige König, dessen Regierung seinen „Untertanen“ keine Abgaben für den Lebensunterhalt verlangt, der wahrhaft weise und gerecht ist, der keine Huldigungen für sein angeknackstes Ego braucht, ist Gott.

Gott unterscheidet sich von den gekrönten Häuptern menschlichen Geblüts dadurch, dass er sich „unters Volk“ mischt, ohne seine Würde zu verlieren. Dass er selbst sich seiner Majestät entledigt und Mensch wird.  Er wählt einen anderen Weg. Er muss nicht konfliktträchtige Koalitionen schmieden, er muss keine Kompromisse eingehen, er muss sich nicht dem Druck der Öffentlichkeit beugen, aus Angst abgeschafft zu werden. Er ist und bleibt der Höchste. Auch wenn noch so viel über seine Existenz geschrieben, gestritten und gespottet wird. Er ist völlig frei in seinen Entscheidungen. Daran (ver)zweifeln Menschen zu allen Zeiten.

Jetzt kann ich die Freude der Jerusalemer nachvollziehen und teilen: Gott wird Mensch, das angekündigte Heil ist da.

Georg Friedrich Händel hat sie in seinem grandiosen Oratorium „Der Messias“, im „Halleluja“, auf überschäumende Weise eingefangen. Die Freude über das Königtum Gottes wird fühlbar, stärkt Hoffnung und Zuversicht:  http://www.youtube.com/watch?v=6iCk9fqNNt0

Wie lieblich ist der Boten Schritt, die uns verkünden den Frieden; sie bringen frohe Botschaft vom Heil, das ewig ist.

Ihr Schall gehet aus in jedes Land, und ihr Wort an alle Enden der Welt.

(…)

Halleluja, denn Gott der Herr regieret allmächtig. Das Königreich der Welt ist fortan das Königreich des Herrn und seines Christ, und er regiert auf immer und ewig, Herr der Herrn, der Welten Gott, Halleluja!

Möge diese Freude in Ihren Herzen dauerhaft Einzug halten.

Amen

Perikope
22.12.2013
52,7-10