Predigt zu Jesaja 54,7-10 von Ralph Hochschild
“Rühmt Euch! Aus Eurer Gemeinde wird etwas werden! Freut Euch! Investiert, schafft euch Räume, breitet Euch aus! Fürchtet Euch nicht! Die Leute werden Euch achten und respektieren!”
Das klingt jetzt befremdlich in unseren Ohren, liebe Gemeindeglieder, und sogar ein wenig peinlich. “Sich rühmen” - das passt nicht zu unserem Selbstverständnis. Wir rühmen uns nicht. Eher gehen wir ab und an mit dem unguten Gefühl in den Gottesdienst, dass mit unserer Kirche nicht mehr viel Staat zu machen sei. Es plagt uns, dass wir nicht investieren können, sondern darum kämpfen müssen, Gebäude und Arbeitsfelder zu erhalten. Die Jüngeren unter uns spüren, wie sie für ihren Glauben nicht selbstverständlich geachtet werden, sondern im Freundeskreis begründen müssen, warum sie “noch” in unserer Kirche sind, manche Konfirmanden, warum sie sich in den nächsten Wochen konfirmieren lassen.
“Rühmt euch! Freut Euch! Fürchtet Euch nicht!”
Noch befremdlicher klingt das in den Ohren der ersten Hörer. Sie sind aus ihrem Land vertrieben. Sie sind im Exil in Babylon. Sie sind am Boden. Kein Staat mehr da und kein Staat zu machen mit Israel. Der Tempel in Jerusalem zerstört, ein erkennbarer, verlässlicher, zentraler Raum für ihr geistliches Leben fehlt. Statt geachteter Bürgerinnen und Bürger sind sie Deportierte, abhängig von den Launen ihrer neuen Herren, verstört auf der Suche nach einem neuen Leben, irritiert in ihrem Glauben. Und doch ruft ihnen der Prophet zu:
“Rühmt euch! Freut Euch! Fürchtet Euch nicht!”
Es ist kein verzweifelter Pfiff im Wald. Es ist mehr als ein haltloser Appell und für uns mehr als eine euphorische Unterbrechung der Passionszeit. Das werden wir sehen. Denn wir lesen jetzt die direkt anschließenden Worte des Propheten aus dem zweiten Teil des Buches Jesaja, im 54. Kapitel die Verse 7 bis 10.
“7Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. 8Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.
9Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. 10 Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.”
Herr, segne unser Reden und Hören. Amen.
Liebe Gemeinde,
I. “Rühmt Euch! Freut Euch! Fürchtet Euch nicht!” - Denn: “7Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. 8Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.
Es sind scharfe Kontraste, die hier einander gegenüberstehen: da “verlassen” - hier “sammeln”, dort “das Angesicht verbergen” - hier “erbarmen”, da “nur ein Augenblick” und hier die “Ewigkeit”, dort der “Zorn” und hier die “Gnade”.
Diese Kontraste spiegeln die Widersprüche zwischen dem Erleben dieser entwurzelten Menschen und dem Propheten, der diesen traumatischen Erlebnissen eine ganz andere Deutung gibt. Da steht das Vergangene, hier steht die neue Zeit. Da steht der Schmerz über den Verlust der Heimat, der geistlichen Mitte, da steht die Orientierungslosigkeit und wohl auch materielle Not, hier dagegen das intuitive Wissen, dass dieses babylonische Exil nur eine Episode, fast nur ein Ausrutscher, eigentlich nur ein Augenblick in der langen Geschichte des Gottesvolkes mit seinem Gott ist.
Aber wie lange kann so ein Augenblick dauern? Wie quälend kann es für Menschen sein, wenn sie den Eindruck haben, Gott habe sie in ihrer Not verlassen? Wie entmutigt fühlen wir uns, wenn Gott sein Angesicht verbirgt, nicht ansprechbar für unsere Bitten, für unser Klagen scheint?
Es kommt mir vor, als forderte der Prophet von seinen Zuhörern den Mut zum Unwahrscheinlichen, das Wagnis, schon jetzt mitten im Leiden das Neue zu sehen, jetzt die neu erwachte Liebe Gottes im eigenen verpfuschten Leben zu spüren. Und darauf zu hoffen, dass sich einmal im Rückblick die Zeit der Not als kleiner Augenblick erweist. Wie in der Geschichte von jenem Mann, der erzählt: “Das letzte Lebensjahr meines Vaters war furchtbar. Ich war am Rande meiner Kräfte und wusste oft nicht weiter. Was ihm in seinem Leben etwas bedeutet hatte, das hatte ihm die Demenz Schritt für Schritt genommen. Er war nicht mehr er selbst, nicht mehr der, der er immer gewesen war. Orientierung und Selbstkontrolle waren ihm entglitten.
Aber wenn ich heute auf dieses schlimme Jahr zurückblicke, dann denke ich auch an die vielen glücklichen Jahre, die ich mit ihm als Kind gelebt habe. Wie mir mein Vater die Welt gezeigt und erschlossen hat, wie er mir Vorbild war und meinen ganzen Lebensweg mit so viel Liebe begleitet hat. Da ist dieses schlimme Jahr doch nur ein kurzer Abschnitt gewesen im Vergleich zu der langen, schönen Zeit, die wir miteinander in größerer Nähe und weiterem Abstand miteinander geteilt haben.”
Es stärkt uns, wenn Menschen von solchen Erfahrungen erzählen. Sie ermutigen uns, in den schwierigen Zeiten unseres Lebens doch mit Gott zu rechnen, darauf zu hoffen, dass auch uns eine bedrückende Gegenwart einmal nur als Augenblick erscheinen könnte. Der Prophet fügt noch eine biblische Erfahrung hinzu:
II. “Rühmt Euch! Freut Euch! Fürchtet Euch nicht!” - Denn: “9Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will.”
Wir reden nicht gerne vom zornigen Gott. Der Gedanke ist uns unangenehm. Einige spüren hier die destruktiven Kräfte, die jeder Glaube, auch ein religiöser, auch der christliche, haben kann. Manche erinnern sich vielleicht daran, wie Ihnen Angst vor Gott gemacht wurde, um sie zu disziplinieren. Uns gefällt die Vorstellung eines zornigen Gottes nicht, der sich von Menschen enttäuschen lässt. Ein Gott, der nicht mehr souverän ist, der die Kontrolle über sich verliert und “eine Flut von Wut”, wie man das hebräische Wortspiel hier nachahmen könnte, über die Menschen ergießt. Und doch machen Menschen solche Erfahrungen mit Gott, erklären Menschen ihr Scheitern mit dem Zorne Gottes.
Die Sintflutgeschichte, an die der Prophet uns hier mit dem Namen Noahs erinnert, verschweigt die Erfahrung des zornigen Gottes nicht. Aber sie gibt dieser Erfahrung eine grundlegende Wendung. Viel wichtiger als Gottes Zorn ist das Versprechen, das Gott in dieser Geschichte gibt: dass er sich selbst eine Grenze setzt. Dass er seinem Zorn eine Grenze setzt. Dass er einen Schwur leistet: “Ich will meine Versprechen niemals brechen.” Nicht den Bund mit Noah für die ganze Welt, nicht den Bund mit Israel, dessen Verheißungen bleiben, nicht den neuen Bund, den er durch Jesus Christus mit uns gestiftet hat. Indem Gott seinem Zorn eine Grenze setzt, verspricht er zugleich, dass er Schuld vergeben wird, Gnade schenken wird, neue Anfänge, neues Leben immer wieder möglich machen wird - auch für uns, so wie wir sind. Deshalb:
III. “10Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.”
Wir haben die tröstende Kraft dieses Bibelwortes erfahren. Viele Menschen hat es in tragischen Momenten mehr getröstet, als es jedes andere Wort gekonnt hätte. Hier hat der Prophet uns sein poetisches Talent, das Bibelwort seine große Kraft, Gott sein Treue gezeigt. Mögen Berge herabstürzen, Hügel wanken, Hoffnungen erschüttert werden, Lebensträume zerbrechen, Lebensentwürfe scheitern - Gottes Gnade und sein Friedensbund bleiben. Die Beziehung Gottes zu seinen Menschen bleibt intakt.
“Rühmt Euch! Freut Euch! Fürchtet Euch nicht!”
Lesen wir das Wort zusammen mit der Einleitung, die der Prophet diesem ganzen Abschnitt gegeben hat, so weitet sich unser Blick. Das Trostwort wird zu einem Impuls, das ganze Leben mit Höhen und Tiefen im Licht von Gottes Gnade, gehalten in seinem Friedensbund, zu begreifen. Darum rühmt euch des Gottes, der mit seiner Gnade bei uns bleibt, freut euch auch im Leide und fürchtet Euch nicht!
Liebe Gemeinde,
“Freut Euch mit Jerusalem” heißt der Leitvers für unseren heutigen Sonntag Lätare, “Freut euch”. Vielleicht liegt im Mit-Freuen mit Jerusalem das Geheimnis dieses Sonntags für uns Christen, in der Mitte der Passionszeit. Denn ich glaube aus dem Mit-Freuen mit Jerusalem wird ein Mit-Hoffen mit dem Gottesvolk erwachsen und der Mut, auf das zu vertrauen, was uns manchmal als das Unwahrscheinliche erscheinen mag - Gottes Treue. Amen.
Link zur Online-Bibel
So soll es nicht mehr sein! - Predigt zu Jesaja 54,7-10 von Peter Haigis
„So soll es nicht mehr sein!“
Liebe Gemeinde,
„Wo ist Gott?“ – so fragen Menschen, wenn das Leben Wunden schlägt. Da stirbt ein geliebter Mensch und der Partner oder die Partnerin steht plötzlich leer und verloren da. „Es ist kalt geworden in meiner Wohnung“, sagt mir jemand, „kalt auch in meinem Leben.“ Da bringt ein unvermuteter Unfall die gewohnten Abläufe durcheinander; da wendet eine Krankheitsdiagnose alle Zuversicht und endet gemeinsam geschmiedete Pläne; da schneidet der Tod hart und grausam ins Leben…
Nach Beispielen für derlei Erfahrungen müssen wir nicht lange suchen. Und immer fehlen die Worte, das Unfassbare zu benennen. Es fehlt der hoffnungsvolle Blick nach vorne. Es fehlt das Gefühl, im Leben zuhause sein zu dürfen. Im Gegenteil: Die Hütte des Lebens bekommt Risse, bekommt einen Schlag, ist einsturzgefährdet.
„Wo ist Gott?“, fragen Menschen in solchen Situationen oder auch: „Warum ich?“ So fragen wir im Angesicht des Leids, das uns selbst widerfährt oder dessen unmittelbare Zeugen wir werden. Es sind Fragen, die zum Ausdruck bringen, dass man sich hinauskatapultiert fühlt aus dem Leben und ungeborgen, unbehaust geworden ist. Und es sind Fragen, auf die es keine Antwort gibt – jedenfalls keine Antwort, die einfach so zu formulieren wäre wie die Frage selbst. Die möglichen Antworten auf diese Fragen können nur im und mit dem Leben selbst gegeben werden. Sie stellen sich ein, werden formuliert und gewonnen im Laufe eines lange währenden Prozesses, für den es viel Geduld braucht und der auch kein geradliniger Weg ist, sondern bei dem es ein Hin und Her, ein Auf und Aber, ein Vor und Zurück gibt.
Im Angesicht solcher Fragen, die sich mangels anderer Worte aufdrängen, ist es deshalb entscheidend, ob am Ende der Frage ein bloßes Fragezeichen steht, oder gar mehrere, oder ob es einen Doppelpunkt gibt, der über die Frage hinaus führt und hinein, ja zurück ins Leben.
Die Frage „Wo ist Gott?“ wurde und wird nicht nur im Blick auf individuelle Schicksalserfahrungen gestellt. Sie ist immer wieder auch Ausdruck für die Erfahrung einer Gruppe von Menschen, einer Sozialgemeinschaft, einer Generation. Die Älteren unter uns, die noch lebendige Erinnerungen an die Jahre des letzten Krieges oder an die unmittelbare Nachkriegszeit haben, werden sich daran erinnern, wie die Frage nach der Gegenwart Gottes Ausdruck für das Lebensgefühl einer Volks- und Schicksalsgemeinschaft geworden ist. Die ängstigenden Bombennächte in den Schutzbunkern oder die kargen Hungerwinter in den Ruinen drängten vielen diese Fragen auf: „Wo ist Gott?“ oder auch: „Warum müssen wir dies erleben?“
Von einer solchen schicksalhaften und niederschmetternden Erfahrung einer ganzen Volksgemeinschaft sprechen auch die Worte, die der Prophet Jesaja hier im Namen Gottes hörbar macht. Indirekt sprechen sie davon, rühren diese Erfahrungen noch einmal auf. Die Zeiten des Krieges, der Eroberung und Verschleppung sind vorüber, lange vorüber. Doch die Erinnerung daran sitzt noch in den Knochen. Da war das Gefühl, von Gott verlassen zu sein, übermächtig und die Empfindung, Gott habe sein Angesicht verborgen, stark.
Aber nun ist dies alles vorbei, ist Vergangenheit – und der Prophet wendet den Blick im Namen Gottes in eine neue Zukunft. Er malt den zerschlagenen Volks- und Leidensgenossen ein strahlendes Bild von Gottes neuer Zukunft vor Augen. Aus der drückenden Perspektive ihrer Leiderfahrungen heraus sollen Menschen wieder auf- und nach vorne schauen können. Sie sollen aufatmen dürfen. Ihre verletzten und geschundenen Seelen sollen Beruhigung, Zuversicht, ja Heilung erfahren.
Wie gesagt, dies ist ein Weg im Leben, manchmal sogar ein besonders langer und mühsamer. Man kann eigentlich wenig über ihn sprechen, jedenfalls nicht im Rahmen einer Predigt. Es ist ein therapeutischer Weg, ein Weg, der Begleitung erfordert, sicher auch Worte, die trösten und ermutigen, vor allem aber, Hände, die einen wohltuend berühren und stützen, oder einfach auch nur Ohren, die offen sind für all die Klagen, und die zuhören, lange geduldig zuhören. Solch ein Weg zurück ins Leben braucht Zuspruch und viel spürbare Gegenwart von anderen Menschen, die einfach nur da und nahe sind.
Aber über etwas anderes kann und muss gesprochen werden in dieser Predigt über Jesajas tröstende und aufmunternde Worte, die er im Auftrag Gottes seinem Volk übermittelt: Ist die Abwesenheit Gottes, die da so bitter erfahrbar war, ein Gefühl, eine Empfindung in mir – oder ist sie eine Tatsache? Hat sich Gott wirklich abgewandt und verborgen oder habe ich / haben wir dies „nur“ so empfunden? Und wenn ja: Welchen Grund hatte Gott, sich von mir / von uns abzuwenden? Warum hat er sich verborgen, sich aus meinem Leben zurückgezogen?
Die Worte, die Jesaja im Namen Gottes wieder- und weitergibt, sprechen in der Tat davon, dass es Gottes Abwesenheit im Leben von Menschen gibt. Dass Gott sich also von uns Menschen zurückzieht, sich verborgen hält, sich gerade nicht von ihnen finden lassen will und sie nicht hört: „Ich habe dich verlassen“, „ich habe mein Angesicht vor dir verborgen“. Das ist nicht nur ein Gefühl, es ist hier eine Tatsache, die ihren Grund im Handeln Gottes selbst hat.
Nimmt man diese Worte ernst, dann geht die Geschichte eben nicht aus wie in jenem anrührenden Bild von den Spuren im Sand. Dann ist es nicht nur ein Wahrnehmungsproblem, dass wir in schweren Zeiten des Lebens Gottes Spuren neben uns nicht mehr gesehen haben bzw. seine Spuren in den Zeiten, in denen er uns getragen hat, nur einfach nicht erkannt haben. Dann gibt es kein tröstliches Aufatmen am Ende. Sondern es ist wirklich so: „Ja, ich, Gott, habe dich verlassen; hier und da war ich nicht anwesend, habe dich nicht begleitet.“
Aber ist das Gott, so wie wir ihn kennen gelernt haben und auf ihn vertrauen? Müssen wir dies und müssen wir so an ihn glauben, dass es eben auch Zeiten seiner Abwesenheit und Verborgenheit in unserem Leben gibt? Zeiten, in denen er sich fernhält, ganz bewusst fernhält?
Da ist es ein kleiner Trost zu wissen, dass die Zeiten seiner Gnade und seines Erbarmens größer sein sollen als die Zeiten seiner Abwesenheit und Verborgenheit. So kann das Leben doch nicht ausgehen: wie eine Bilanz, die uns aufzeigt, wie viele Male Gott uns im Leben nahe und wie viele Male er uns ferne war!
Jesajas Worte sprechen aber nicht nur von Gottes tatsächlicher Abwesenheit, sie nennen auch einen Grund hierfür: in seinem Zorn hat sich Gott von den Menschen abgewandt und sich verborgen gehalten. Mit dieser Stimme ist Jesaja nicht allein. Viele andere Stellen der Bibel führen den Zorn Gottes als Grund für seine Verborgenheit ins Feld. Da ist es dann mit der Gnade und dem Erbarmen vorbei – und Menschen bekommen eine frostige und dunkle Seite Gottes zu spüren. Psalmen sprechen von dieser Erfahrung bzw. bitten darum, Gott möge sich nicht in seinem Grimm und Zorn offenbaren.
Immer wieder waren der Zorn Gottes und die Schuld des Menschen ein Erklärungsmodell für erfahrenes Leid. Die Frage „Warum ich?“ sollte die Antwort erhalten: „Weil du dir dies oder jenes hast zu Schulden kommen lassen und nun dafür büßen musst.“ Die Frage „Wo ist Gott?“ sollte die Antwort erhalten: „Er hat sich von dir abgewandt in seinem Zorn.“
Ob solche Antworten im Prozess der Bewältigung von Leid wirklich hilfreich sind, darf man fragen. Ob auf diese Weise mit dem erfahrenen Leiden besser umzugehen ist, wenn man zudem auch noch eine mögliche Schuld zu bearbeiten und zu bewältigen hat – ich bezweifle es. Und meine Zweifel rühren nicht nur aus einem Unbehagen über einen derart gnadenlosen Gott, der uns Leid zufügt, damit wir uns unserer Schuld stellen bzw. der sich aus Zorn weigert, uns auf dem Weg der Bewältigung von Leid und Schuld zu begleiten. Meine Zweifel haben ihren Grund in den Worten Jesajas selbst. Denn Jesaja kündigt hier im Namen Gottes eine grundstürzende Wende an. Sie steht unter der Generalüberschrift: „So soll es nicht mehr sein!“
Um seinen Wort Nachdruck zu verleihen, verweist Jesaja im Namen Gottes auf die Sintflutgeschichte: Zu Zeiten Noahs, in grauer Vorzeit also, da mag es so gewesen sein. Da gingen die Wasser über die Erde und vertilgten alles Leben auf ihr – aus Gründen des Zornes Gottes, wie uns die Geschichte erzählt. Doch dann schwor Gott, solches Unheil nicht mehr über die Erde zu bringen, und der Regenbogen sollte die Menschen an dieses Gelöbnis Gottes erinnern.
Zu Zeiten dieses Jesajas, der hier vor seinen von Kriegserfahrungen und Gefangenschaft gedemütigten Volksgenossen auftritt, kündigt sich nun eine ähnliche Wende in Gott selbst an und ein ähnliches Versprechen: „Mit meinem Zorn ist es vorbei“, sagt Gott. „Mit ihm brauchst du nicht mehr zu rechnen.“ Zum Zeichen für das Ende des Zornes Gottes mit seinem Volk richtet sich der Blick auf die Festigkeit und Unerschütterlichkeit der Berge. Sicher, da mag es noch manches Grollen geben, aber sie werden eher in sich zusammenstürzen als Gottes Gnadenbund.
Und heute? Heute leben wir in den Zeiten nach Noah und nach Jesaja. Heute gilt dies für uns: Wir sollen uns an Gottes Erbarmen und an seine Gnade halten. In Erfahrungen des Leids sollen wir nicht mit Gottes Zorn rechnen und uns das Hirn über mögliche Schuld und Strafe zermartern. Das bedeutet nicht, dass die Schuld klein geredet wird. Es bedeutet nur, dass es mit der unseligen Verquickung von Schuld und Leid ein Ende hat, ein definitives Ende: So soll es nicht mehr sein! Sondern so: Wo wir Schuld in unserem Leben erkennen, da sollen wir sie im Vertrauen auf Gottes Vergebung bekennen. Und wo uns das Leiden trifft, da sollen wir im Vertrauen auf Gottes Kraft diesen schweren Weg annehmen und ihn gehen. In aller Geduld und in aller Gewissheit um Gottes Nähe, die so unverbrüchlich ist wie die Gestalt der Berge, ja, noch unerschütterlicher. Amen.
Link zur Online-Bibel
Freude am Neuanfang - Predigt zu Jesaja 54,7-10 von Dorothee Kolnsberg
Freude am Neuanfang
Liebe Brüder und Schwestern,
ich denke mal, Sie kennen das auch! Ich meine Situationen, in denen wir nicht so reagieren, wie es angemessen wäre. Situationen, in denen Emotionen im Spiel sind und dadurch aus Kleinigkeiten auch mal Elefanten werden. Menschen erleben das in der Familie, in Partnerschaften und Freundschaften, in der Schule, bei der Arbeit und im öffentlichen Leben.
Ich erzähle Ihnen eine Begebenheit aus der Straßenbahn: Schon längere Zeit ist die Luft angespannt. Eine Frau guckt stur geradeaus. Eine ältere Frau hält sich konzentriert am Rollator fest. Sie redet auf ihren grauhaarigen Ehemann ein, der ebenfalls nicht mehr ganz rüstig ist: „Das ist doch kein Benehmen!“, schimpft sie vor sich hin. „Die jungen Leute meinen, die könnten sich alles erlauben.“ Die Luft ist zum Schneiden. Dann, beim Aussteigen kommt es zum Gerangel. Die ältere Frau mit dem Rollator fährt der jüngeren vor lauter Wut von hinten gegen die Beine. Die jüngere Frau dreht sich sofort um und wehrt sich. „Jetzt geht`s aber los! Was soll das denn? Sie sind mir gegen die Beine gefahren!“ – „Bin ich nicht!“ entgegnet die ältere. „Sind sie wohl. Jetzt lügen Sie auch noch!“ „Bin ich nicht!“
Auf dem Bahnsteig geht es weiter. Lautstark erheben die Frauen Vorwürfe gegeneinander. „Ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen so schlecht geht wie mir, wenn sie alt sind!“ ruft die ältere Frau heraus. Auch der Mann versucht nun, seine Frau zu verteidigen. Der Konflikt endet erst, als ein Jugendlicher darauf aufmerksam macht, dass sich viele an der Haltestelle von den Streithähnen (bzw. Streithennen!) gestört fühlen. Immer noch vor sich hin kochend, geht die jüngere Frau schließlich ein paar Schritte zur Seite. Was ursprünglich der Anlass für den Streit war, ist nicht mehr auszumachen.
Von außen betrachtet scheint es ganz einfach: Der Streit führt zu nichts, getrennte Wege zu gehen wäre angesagt. Aber für die Personen selbst? Alles andere als einfach. Es ist ein Beispiel für die vielen Momente, in denen Menschen sich nicht so verhalten, wie es vielleicht angebracht wäre, vernunftgeleitet, freundlich, höflich, verständnisvoll, besonnen.
Ein Beispiel dafür, dass Menschen nicht perfekt sind, sondern Fehler machen.
So beten wir im Vaterunser: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Denn das Ziel ist, dass Menschen miteinander gut auskommen: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Damit ist gesagt: es kommt immer wieder vor, dass Menschen aneinander schuldig werden. Aber wichtig ist, dass diese Dinge angesprochen werden. Dass sie nicht hinuntergeschluckt oder unter den Teppich gekehrt werden. Wer aber sagt: „Ich habe einen Fehler gemacht, es tut mir leid“, zu dem kann sein Gegenüber sagen: „Ist in Ordnung, nicht weiter schlimm.“ – „… wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“
Ein Zeitsprung zurück nach Babylon vor rund 2 500 Jahren. Die Israeliten sind verschleppt worden und leben im Exil. Ihr großer Traum: die Rückkehr in die Heimat, nach Jerusalem. Dort, in Babylon fühlen sie sich weit entfernt von Gott. Für sie ist Jerusalem ihre Heimat und die Heimat Gottes zugleich. Dort fühlen sie sich Gott nahe. Jetzt kommt es ihnen so vor, als ob sie von allem abgeschnitten wären. So erlebt es der Prophet Jesaja im heutigen Predigttext. Er hört Gott sagen:
„Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln.
Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.“ (Jesaja 54,7-8)
Das Gefühl der Verlassenheit und Gottesferne deuten die Israeliten so, dass Gott sie strafen will. Sie können es sich nicht anders erklären, als dass sie für ihr Tun selbst verantwortlich sind. All ihre Fehler haben nun zur Folge, dass es ihnen schlecht geht. Gott hat sie verlassen, er ist nicht mehr auf ihrer Seite.
Auch Menschen heute kommt es manchmal so vor, als ob Gott verschwunden wäre. Wo ist Gott? fragt die Frau, die an Krebs erkrankt ist.
Wo ist Gott? fragt der Mann, der noch nie so recht geglaubt hat.
Wo ist Gott? fragt der Mann, der von seiner Frau verlassen wurde.
Wenn es nicht glatt läuft – wenn Menschen sich Sorgen machen, oder Probleme im Beruf haben, dann kommt häufig die Frage auf: Wo ist Gott jetzt?
In der Leidensgeschichte Jesu hören wir übrigens auch davon. Jesus selbst ist von Gott verlassen. Er schreit es laut am Kreuz heraus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Auch von den Jüngern wird Jesus verlassen, so haben wir es in der Schriftlesung gehört.[1] Jesus bittet sie, mit ihm wach zu bleiben und zu beten. Aber sie schlafen ein. In dieser Stunde hat Jesus große Angst. Er hätte es so sehr gebraucht, dass jemand ihn an die Hand nimmt und ihn tröstet. Oder zumindest: Dass die Jünger mit ihm leiden. Aber nein: sie schlafen ein. Jesus ist von Gott und den Menschen verlassen. Er wird von Judas verraten und nach der Gefangennahme fliehen die Jünger.
Verlassen – so fühlen sich die Israeliten. Schauen wir, wie sie Hoffnung finden: Sie finden neuen Mut in der Erinnerung, in dem, was Menschen vorher bereits mit Gott erlebt hatten. Gott erinnert sie daran:
„Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will.“ (Jesaja 54,9)
Wie als Beweis erinnert Gott in den Worten des Propheten an frühere Zeiten, an die Sintflutgeschichte. Sie lässt sich wie eine Versöhnungsgeschichte lesen. Gott lässt es regnen, und er vernichtet damit Menschen und Tiere. Nur die Menschen und Tiere, die sich mit Noah auf die Arche gerettet haben, überleben. Diese Katastrophe verstehen die Israeliten als Zorn und Strafe Gottes: „Als aber der HERR sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden.“ (1. Mose 7,5)
Doch nach der Sintflut erneuert Gott die Gemeinschaft mit den Menschen. Er verspricht, dass dies nicht mehr passieren wird. Als Zeichen dafür setzt er den Regenbogen in die Wolken. Ein Zeichen der Versöhnung mit den Menschen. Daran können wir uns erinnern, bei jedem Regenbogen, den wir sehen. Gott zeigt: ich will mit euch sein. Nach der Sintflut entsteht neues Leben, und neue Hoffnung. Ich denke an die Taube, die mit einem grünen Zweig zur Arche zurückkehrt. Die Gefahr ist vorüber. Und Noah dankt Gott für die Bewahrung. Von nun an soll nichts mehr zwischen Gott und den Menschen stehen. Das sagt Gott im heutigen Predigttext folgendermaßen:
„Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“ (Jesaja 54,10)
Dies ist ein beliebter Bibelvers bei Konfirmationen und auch bei Taufen. Er ist als Trost zu lesen in Zeiten, in denen es sich anfühlt, wie von Gott verlassen zu sein. Gott setzt dagegen: „Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen.“ Alles kann ins Wanken geraten. Die Welt mag erschüttert werden, aber ich bin bei dir. Was immer Du für Fehlern begehst, ich werde immer zu dir halten. Oder wie Paulus schreibt: „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ (Römer 8,38-39)
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, stellt euch vor: ist es nicht ein schönes Bild, wenn bereits Babys bei der Taufe diese Worte zugesprochen bekommen. Sie müssen nichts dafür tun: Was auch immer passiert, Gott wird diesem kleinen Menschen immer wieder verzeihen. Und auch den größeren!
Das hat Folgen, liebe Gemeinde. Wenn ich mir sicher bin, dass ich geliebt bin, und dass nichts mich von dieser Liebe trennen kann, dann werde ich selbst zum Liebenden. Ich werde frei, mich entsprechend zu verhalten und, wenn es angebracht ist, zu sagen: „Entschuldige bitte.“
Wenn der Ärger sich ein wenig gelegt hat, könnte die ältere Frau aus der Anfangsgeschichte gesagt haben: „Ich bin neidisch, dass ich nicht mehr so jung bin wie Sie. Entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihnen wehgetan habe vor lauter Wut.“ Die jüngere Frau könnte auch sagen: „Sie haben mich ganz schön ausgeschimpft. Ich sehe aber, dass es ihnen nicht gut geht. Das tut mir leid.“
Immer wieder gibt es im Leben diese Gelegenheiten zum Neuanfang, „denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“
Amen.
[1] Matthäus 26,30-56, nach der Württembergischen Reihe.
Link zur Online-Bibel
Das Heulen des Feuermelders ernst nehmen… - Predigt zu Jesaja 58,1-9a von Marco Müller
Das Heulen des Feuermelders ernst nehmen…
Ich stand senkrecht im Bett! Ein verwirrter Blick auf den Radiowecker bestätigte: es war lange noch nicht Morgen! 2 Uhr 30! Auf dem Flur war der Feuermelder losgegangen. Ein selbst im Schlafzimmer durch Mark und Bein gehendes Heulen hatte mich aus dem Schlaf gerissen. Ich verlor keine Zeit, wühlte mich aus dem Bett, tapste hinaus auf den Flur und schaute zur Decke: Dort oben blinkte und heulte aufgeregt das Leben rettende Gerät. Von Feuer –– Gott sei Dank –– keine Spur. Kein Brandgeruch, nichts. Nur dieses Trommelfell zerschneidende Heulen… –– ‚Wie geht das wieder aus?‘ Ich stellte mich auf die vierte Stufe der Treppe und konnte gerade so mit dem Arm an die Zimmerdecke langen. Ein langer Druck auf den kleinen Taster sollte reichen, hatte ich seinerzeit in der Anleitung gelesen – aber nichts passierte, der Alarmton hielt an. Ich wurde unruhig. Die Nachbar, was würden die Nachbarn denken? Und hoffentlich wacht der Kleine nicht auf! Mein Gott, ich will schlafen! Es ist 2 Uhr 30! Also griff ich nach dem ganzen Gerät. Ein kräftiger Ruck – und ich hatte es samt Dübel aus der Decke gerissen. Ich zerrte die Batterie aus der Halterung… Das Geheul wurde leiser wie ein Plattenspieler, dem man den Stecker gezogen hat. Bis endlich Ruhe war. Gott sei Dank!
Ich lese aus dem Buch des Propheten Jesaja:
Rufe aus voller Kehle, halte nicht zurück!
Erhebe deine Stimme wie ein Horn und verkünde meinem Volk sein Vergehen; und dem Haus Jakob seine Sünden! Zwar befragen sie mich Tag für Tag, und es gefällt ihnen, meine Wege zu kennen. Wie eine Nation, die Gerechtigkeit übt und das Recht ihres Gottes nicht verlassen hat, fordern sie von mir gerechte Entscheidungen, haben Gefallen daran, Gott zu nahen.
– »Warum fasten wir, und du siehst es nicht? …demütigen uns, und du merkst es nicht?«
Siehe, am Tag eures Fastens geht ihr euren Geschäften nach und drängt alle eure Arbeiter. Siehe, zu Streit und Zank fastet ihr, und um mit gottloser Faust zu schlagen. Zurzeit fastet ihr nicht so, dass ihr eure Stimme in der Höhe zu Gehör brächtet. Ist ein Fasten, an dem ich Wohlgefallen habe, etwa wie dies: Ein Tag, an dem der Mensch sich demütigt? Seinen Kopf zu beugen wie eine Binse und sich in Sacktuch und Asche zu betten? Nennst du das ein Fasten und einen dem Herrn wohlgefälligen Tag?
Ist nicht vielmehr das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Ungerechte Fesseln zu lösen, die Knoten des Joches zu öffnen, gewalttätig Behandelte als Freie zu entlassen und dass ihr jedes Joch zerbrecht? Besteht es nicht darin, dein Brot dem Hungrigen zu brechen und dass du heimatlose Elende ins Haus führst? Wenn du einen Nackten siehst, dass du ihn bedeckst und dass du dich deinem Nächsten nicht entziehst?
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell sprossen. Deine Gerechtigkeit wird vor dir herziehen, die Herrlichkeit des Herrn wird deine Nachhut sein. Dann wirst du rufen und der Herr wird antworten. Du wirst um Hilfe schreien, und er wird sagen: Hier bin ich![1]
»Erhebe deine Stimme wie ein Horn und verkünde…«
Liebe Gemeinde, es durchdringt Mark und Bein, was Jesaja den Menschen da zuruft. Es heult alarmierend. Ein irritierender, die Trommelfelle zerschneidender Ton liegt in der Luft – und lässt sich nicht einfach samt Dübel rausreißen.
Heute, am Sonntag Estomihi, sozusagen am Tor in die Fastenzeit, drei Tage vor Aschermittwoch, da höre ich diese Generalkritik am Fasten Israels mit offenen Ohren… Und ich will nicht der Versuchung erliegen, zu schnell einzustimmen in die Überschrift der Lutherbibel und vom „falschen und echten Fasten“ reden, so als wüsste ich es so viel besser. Das ist ja verführerisch!
Israel hält sich an Gott. Es sucht Tag für Tag seine Nähe. Es befragt ihn, ruft zu ihm, versucht in ihn zu dringen und seine Wege zu verstehen. Jesaja lässt keinen Zweifel daran: Israel ist orientiert. Es hat einen klaren Blick auf Gott, es ringt mit ihm, wie vielleicht nur Israel das kann. Ich habe keinen Grund an der Wahrhaftigkeit dieses Suchens zu zweifeln! Gerade deshalb klingt die Stimme Jesajas ja so schrill. Auch in meinen Ohren…
Auf geheimnisvolle Weise teilen wir womöglich die gleichen Perspektiven, die gleichen Fragen und Sehnsüchte; und erhoffen in gleicher Weise, dass da einer antwortet: Hier bin ich!
Sie blickt ängstlich auf die kleine Kerze, die sie für ihn angezündet hat. Vorsichtig drückt sie sie in den Sand der Schale neben dem Kreuz. Sie schließt die Augen. Ohne dass sie das geplant hat, finden ihre Hände zueinander. Sie ist es nicht gewohnt zu beten. Sie weiß auch nicht, wie sie anfangen soll. Und so horcht sie nur in die große Stille dieser Kirche. Und füllt sie aus mit ihrer Sehnsucht und ihren Fragen. Welches Beten könnte ehrlicher sein? „Warum, Gott? Warum lässt du all das zu? Ich habe solche Angst.“ Es sind mehr die Gefühle, die zu Worten werden als die Gedanken. So versucht sie in Gott zu dringen und seine Wege zu verstehen. Ganz wahrhaftig, ganz nah dran. Sie würde so gern hören: Hier bin ich, hab keine Angst!
Die Stimme Jesajas geht durch Mark und Bein. Sie stört die Ruhe, die ich vor Gott suche. Ich nenne es nicht immer Fasten, aber dieses Suchen nach innerer Ruhe Tag für Tag, dieses Gottesdienst-Feiern und gerade dort die Kraft für eine neue Woche tanken – das kenne ich doch auch. Und ich kenne auch die Sieben Wochen Ohne in der Passionszeit, die mich erden sollen; durch die ich manchen Überfluss hinter mir lassen will, um wieder konzentriert zu sein auf den, der die Fülle ist… Auch ich versuche mich Gott zu nahen; im Stammeln eines Gebets, indem ich meine Sehnsucht ernst nehme.
Auf geheimnisvolle Weise teilen wir womöglich Israels Perspektiven. Die Fragen und Sehnsüchte; und erhoffen, dass da einer auf all unsere Fragen antwortet: Hier bin ich!
Aber heute muss ich mir etwas gefallen lassen! »Erhebe deine Stimme wie ein Horn und verkündige…« Es ist, als käme einer und wollte uns die Brillen zurechtrücken. Nicht abreißen und wegwerfen – so höre ich das nicht; aber doch abnehmen, putzen und neu aufsetzen. Schaut, seht noch einmal hindurch: bleibt nicht allein bei Euch, höre ich. Als korrigierte mir einer die Perspektive. Das tut manchmal weh. Petrus wüsste Lieder davon zu singen, wie weh das tun kann, wenn einer dir neue Perspektiven zeigt: »…du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist«[2]
‘Ihr fastet und senkt die Köpfe; ihr faltet die Hände und verliert Euch im Gebet. Und überseht, was es doch zu sehen gäbe…‘ Plötzlich korrigiert einer meine Perspektive und ich beginne schärfer zu sehen. Womöglich Zusammenhänge, die ich gar nicht so scharf sehen wollte! Ich höre Worte von ungerechten Fesseln, von Unterjochten, von Misshandelten und Hungrigen, von Heimatlosen. Das ganze Elend dieser Welt wird aufgerufen und steigt vor mir empor. Bedrohlich und überwältigend und lässt mich erstarren. Wie sollte ich da nicht ohnmächtig in mir zusammensinken!?
Das „Schlimme“ ist: durch diese frisch geputzte Brille kommen Perspektiven in den Blick, die Zusammenhänge aufzeigen. »Am Tag Eures Fastens geht ihr euren Geschäften nach und drängt alle eure Arbeiter; …zu Streit und Zank fastet ihr; …um mit gottloser Faust zu schlagen.« Ich hänge mit drin! Ich bin Teil dieses Systems! Das zu erkennen, muten diese Worte mir zu! Die Bedrängten dieser Welt und ich – wir sind im Zahnrädersystem dieser Welt miteinander verbunden. Die leidenden Kreaturen und ich, da gibt es Beziehungen, die ich nicht wegdiskutieren kann! ‘…ihr fastet und macht ansonsten so weiter wie bisher…!‘
Es ist schräg, wenn ich in Tränen vor dem Fernseher sitze und das Leid der Hühner in den Fabrikhallen von Wiesenhof und Co beklage, während ich tags drauf die halben Broiler für 2 Euro 49 an der Imbissbude kaufe. Es ist schräg, fassungslos den Kopf zu schütteln, wenn davon berichtet wird, wie kleine Bauernfamilien in Lateinamerika auf den Koka-Anbau als lukrative Quelle setzen, während ich tags darauf zum günstigen Kaffee greife, durch den vernünftige Löhne systematisch verhindert werden. Es ist sogar schräg, auf die Waffengewalt korrupter Staatschafs zu schimpfen, während die deutschen Waffenexporte in alle Welt Jahr für Jahr Spitzenwerte toppen und so auch meinen Lebensstandard heben helfen. Ich hänge mit drin in den Strukturen der Ungerechtigkeit! Ich bin Teil dieses Systems – auch wenn ich mir das nie ausgesucht habe! Das tut weh.
Diese Perspektive muss sich mir gefallen lassen! Die Bedrängten und ich – wir sind im Zahnräderwerk dieser Welk verbunden. Die leidenden Kreaturen – sie existieren nicht unabhängig von mir…
Ich bin Leben, das Leben will. Inmitten von Leben, das leben will. Albert Schweitzers Kernsatz gilt genau hier. Und Jesaja erinnert: Alles hängt zusammen – die Fesseln, mit denen wir beizeiten unsere Blicke festhalten, um nicht zu weit hinter den Horizont zu gucken, sind nicht selten die Enden derselben Fesseln, die andere Menschen und Kreaturen binden… Das zu hören, tut weh. Es ist ein alarmierendes Heulen in meinen Ohren. Dabei wollte ich doch Ruhe finden. Wollte horchen, ob Gott antworten würde auf mein Suchen und Fragen… Ob er endlich Heil bringen würde für mich und die, für die ich bete… Stattdessen weckt er mich auf durch dieses heulende Signal: »Rufe aus voller Kehle, halte nicht zurück!«
Christus-Pavillon. Hannover im Jahr 2000. Ich war übers Expo-Gelände geschlendert. Und stand schließlich in jenem riesigen Kubus am Messeschnellweg. Hoch und klar, weit und offen. Und still. In diesen Gottesdienst-Raum trat ich und näherte mich langsam dem Altar. Plötzlich fiel mein Blick auf das Kreuz, ein Kruzifix. Jedenfalls in Teilen: Ein Torso hing dort. Christus am Kreuz, den Blick gesenkt, der Körper ausgemergelt, kraftlos. Eine Schnitzerei aus dem Mittelalter. Der Zahn der Zeit hatte an ihm genagt. Vielleicht auch die Holzwürmer. Ihm fehlten die Beine. Und die Hände. Gottes Sohn – der Füße beraubt, die ihn zu den Menschen tragen könnten; beraubt der Arme, nach deren Umarmung doch auch ich mich so oft sehne! ‚Hier bin ich.‘ Auch ich will das hören!
Geht hin in alle Welt, schoss mir durch den Kopf. Hier im Christus-Pavillon auf der Weltausstellung. Und plötzlich begann dieser Torso zu sprechen, zu sprechen durch das Werk der Holzwürmer: ‘Geht hin in alle Welt! Ihr seid meine Füße; ihr seid meine Hände. Durch Euch will ich wirken. Durch Euch soll es hell werden. Auch durch Euch. Stellt euer Licht nicht unter einen Scheffel.‘
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell sprossen. Deine Gerechtigkeit wird vor dir herziehen…
Liebe Gemeinde, all das geschieht ja bereits. Daran glaube ich. All das ist ja längst auf dem Weg. Es gibt keinen Grund zusammenzubrechen vor der Größe dieser Aufgabe. Die Morgenröte ist ja schon zu sehen – immer wieder wird die Passionszeit vom Osterlicht durchbrochen. Heilung ereignet sich unter uns – manchmal in kleinen Zeichen, die alles auf den Kopf stellen. Und Gottes Gerechtigkeit geht doch längst vor uns her: sie stützt uns, wo wir fallen; sie hilft uns auf, wo wir scheitern; er sucht uns immer wieder, wo wir ihn vergessen haben.
Aber in all dem gilt es, nicht zu vergessen: Ihr werdet gebraucht! Ihr seid viele, ihr seid nicht allein – und auch auf Euch kommt es an! Ihr tragt Verantwortung, weil Gott euch das zutraut! Er baut auf Euch. Glaubt nicht die relativierenden Worte, dass all das egal sei. Traut nicht dem Kraft zehrenden Gefasel vom Tropfen auf den heißen Stein. Lasst Euch nicht irritieren von denen, die die Mitarbeit am Reich Gottes abqualifizieren. Von jenen, die sich Worte ausdenken, um zu diskreditieren: Gutmenschentum – als wäre daran etwas von Übel, das Gute zu suchen. Tugendterror[3] – als wäre es falsch, seinem Handeln hehre Ziele zu geben…
Ihr seid meine Füße; ihr seid meine Hände. Durch Euch will ich wirken. Geht hin in alle Welt, höre ich Christus sagen. Dieses Mal will ich das Heulen des Feuermelders nicht aus der Wand reißen. Denn es brennt ja tatsächlich. Riecht Ihr es nicht? Es gibt Zeiten, in denen ist es dran, sich neue Perspektiven zeigen zu lassen, bevor man wieder Ruhe finden darf. Da ist es dran, neue Wege zu gehen. Zu meinem Nächsten, zu denen, die gebeugt sind, die die Fesseln dieser Welt tragen. Diese Wege können sehr unterschiedlich aussehen… Ich spüre, wie ich Gottes Geistkraft brauche, um sie phantasievoll betreten zu können.
Noch immer sitzt sie vor der kleinen Kerze in der Kirche. „Warum, Gott? Warum lässt du all das zu? Ich habe solche Angst.“ Sie versucht ruhig zu werden. Hier in der Kirche klappt das ganz gut. Sie würde so gern hören: Hier bin ich, hab keine Angst! Als sie gerade aufstehen will, um zu gehen, legte eine alte Frau ihr die Hand auf die Schulter – phantasievoll auf dem Weg zu jemandem, der Fesseln trägt. Und sie flüstert ihr etwas ins Ohr: „Hab keine Angst, spricht Gott, ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.“
AMEN.
[1] Jes 58,1-19a in der Elberfelder Übersetzung nach der Revision von 2006.
[2] Evangelium des Sonntags: Mk 8,31-38.
[3] Vgl. Thilo Sarrazin, Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland, 2014.
Link zur Online-Bibel
Predigt zu Jesaja 58,1 – 9a von Karin Klement
(1) So spricht GOTT zum Propheten:
Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit. Und dem Hause Jakob seine Sünden!
(2) Sie suchen mich täglich. Und begehren, meine Wege zu wissen. Als wären sie ein Volk, das die GERECHTIGKEIT schon getan und das RECHT seines Gottes nicht verlassen hätte.
Sie fordern von mir RECHT; sie begehren, dass Gott sich nahe.
(3) „Warum fasten wir, und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib, und du willst es nicht wissen?“
SIEHE, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach. Und bedrückt alle eure Arbeiter. (4) SIEHE, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr. Und schlagt mit gottloser Faust drein.
Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.
(5) Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit: Wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet?
Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem Gott Wohlgefallen hat?
(6) Andersherum ist das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe:
Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast!
Lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast!
Gib frei, die du bedrückst; reiß jedes Joch weg!
(7) - Brich dem Hungrigen dein Brot,
und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!
Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn,
und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
(8) Dann wird dein LICHT hervorbrechen wie die MORGENRÖTE. Und deine HEILUNG wird schnell voranschreiten. Und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen. Und GOTTES HERRLICHKEIT wird deinen Zug beschließen.
(9) Dann wirst du rufen, und GOTT antwortet dir. Wenn du schreist, wird er sagen: SIEHE, hier bin ich.
Liebe Gemeinde!
Morgen ist Rosenmontag – Höhepunkt im Karnevalstrubel und närrischem Verulken. Mit riesigen Figuren aus Pappmaché werden bei den Umzügen Berühmtheiten des öffentlichen Lebens oder ein aktuelles Ereignis witzig dargestellt. In Büttenreden nimmt man Politiker und Prominente kräftig auf die Schippe. Sie müssen es ohne Widerspruch ertragen, dass ihnen oft recht schmerzhaft eine Wahrheit gesagt wird, die sie selbst vermutlich ganz anders einschätzen.
Die aufwendig geschmückten Umzugswagen präsentieren, was dem einfachen „gemeinen“ Volk im Blick auf unsere Gesellschaft an die Nieren geht oder auf die Nerven. Mit viel Witz in der Übertreibung und treffendem Spott werden wunde Punkte unseres menschlichen Verhaltens offengelegt und unübersehbar vor Augen geführt.
Diese Offenheit in Fasching, Fastnacht, oder wie immer man es nennt, hat auch etwas sehr Entlastendes: Wer Kritik äußert, muss sich nicht um abwägende, vorsichtige Formulierungen bemühen. Im Gegenteil, je übertriebener, desto besser. Hinter der Maske des augenzwinkernden Spötters dürfen ehrlich gemeinte Ansichten deutlich ausgesprochen werden. Ja, im Karneval darf man sich auf Kosten einer oder eines anderen ungestraft lustig machen. Und die Verspotteten tun gut daran, den Witz und dessen verborgenen Tiefschläge über sich ergehen zu lassen. Fasching ist somit – neben anderem – auch eine Form genehmigter „Rache des kleinen Mannes“ für all das, worüber er sich bei den „Großen und Mächtigen in Politik und Gesellschaft“ geärgert hat. Dabei wird „Tacheles“ geredet, unverblümt ehrlich zumindest ein Stück Wahrheit zu Gehör gebracht.
Dies kann durchaus heilsam wirken, sofern die davon Betroffenen sich die Wahrheit sagen lassen und darüber ins Nachdenken kommen. Einfach ist es aber nicht. Und es gelingt wohl kaum ohne schmerzliche Selbsterkenntnisse. Das mag jeder/jede aus eigenen Erfahrungen kennen, wenn man unverhofft hinter der Sonntags-Maske mit dem wahren eigenen Gesicht konfrontiert wird. Mit Schattenseiten, die einem nicht gefallen. Doch der Lohn ist eine neue, freie Gelassenheit; ein Wegfall von anstrengender Selbstdarstellung. Man darf sich einfach so geben, wie man ist, und muss anderen nichts mehr vormachen. Ein Stück Wahrheit über sich selbst zu erkennen, das entlastet und befreit, um der eigenen Person ein Stück näher zu kommen.
Wahre Worte zu sprechen, unabhängig davon, ob sie gefallen oder nicht, war auch eine Aufgabe der Propheten des Alten Testaments. Sie hielten oftmals eine recht harte, schmerzhafte Wahrheit dem Volk Israel wie einen Spiegel vor die Augen. Doch es ging ihnen nicht darum, ihre Mitmenschen zu verdammen, vielmehr ihnen einen heilsamen Weg zu eröffnen. Indem sie ihren Finger auf den wunden Punkt legen, zeigen sie, wie zwischenmenschliche Beziehungen und unsere Beziehung zu Gott gesunden können. Hören wir, was ein Prophet – rund 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung – im Auftrage Gottes zu verkündigen hat:
T E X T
Ein harsches, radikal kritisches Wort soll der Prophet seinen Zeitgenossen verkündigen. Schonungslos offen, ohne jede Zurückhaltung soll er die Wahrheit ausposaunen: „Ihr befindet euch im Irrtum, wenn ihr glaubt, es reiche aus, Gott zu dienen, ohne eure Mitmenschen im Blick zu haben. Ihr verfallt einer Illusion, wenn ihr glaubt, Gott erfreue sich daran, dass ihr religiöse Rituale einhaltet, fastet und euch vor Gott demütigt. Auf der anderen Seite jedoch unterdrückt ihr eure Mitmenschen, lasst eure Nächsten schonungslos leiden. GOTT will dir nahe sein, Mensch! Aber nicht ohne deine Nähe zu deinem Mitmenschen. Die Art und Weise, wie du anderen begegnest, berührt Gottes Herz.“
Historisch gesehen spricht der als Trito-Jesaja benannte Prophet vermutlich in eine triste Situation seines Volkes Israel. Die Zeit der Verbannung ins Exil ist überwunden. Doch die Heimgekehrten finden ein immer noch verwüstetes Land vor. Grundlegende Aufgaben stehen ihnen bevor: Häuser und Straßen bauen, eine schützende Mauer um Jerusalem schließen. Der zerstörte Tempel – Ort göttlicher Nähe und Zentrum für ihre Opfergottesdienste –muss neu errichtet und wieder aufgebaut werden. Aber alles braucht lange Zeit, und die Mühsal ermüdet die Menschen.
Ich stelle mir vor, wie die schlimmsten Hungerzeiten vorübergehen. Doch die wirtschaftliche Lage bleibt schwierig; die Kluft zwischen Arm und Reich verbreitert sich. Die Ordnungen des Lebens, öffentlich wie privat, gelingen nur ansatzweise und bruchstückhaft.
Über verordnete Fastentage versucht man das Gedächtnis an die Schrecken des Krieges zu bewahren und gleichzeitig Voraussetzungen für eine Umkehr und Erneuerung zu schaffen. In Klagegottesdiensten wendet sich das Volk an Gott; von IHM erhofft es eine Veränderung zum Guten. Aber erkennbare Verbesserungen bleiben lange Zeit aus, und mancher fragt sich schon, ob die ganze Mühe überhaupt etwas bringt.
Es scheint, als versage der Himmel seinen Segen zu allem, was die Menschen aufbauen. Harte Plackerei bringt nichts Ansehnliches hervor. Erfolge versickern, und auch das Leben jenseits aller Mühen und Arbeit gelingt nicht festlich. Kein Wunder also, dass sich Enttäuschung ausbreitet, und die Vergeblichkeit Zorn und Zweifel auslöst. Mit Gewalt wollen die Menschen ein Heil erzwingen, das sich durch Fasten und Beten nicht einstellen will.
„Wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein!“ klagt der Prophet. Der Umgang miteinander wird härter, die zwischenmenschlichen Beziehungen leiden. Der Zusammenhalt des Volkes bröckelt; die ganze Gemeinschaft leidet unter wachsender Rücksichtslosigkeit. Religiöse Rituale, wie Gebet und Fasten, verwandeln sich in Instrumente ihres Durchsetzungswillens. Nicht Demut, Umkehr, Einsicht bestimmen die Fastenden, sondern ein Geist von Bemächtigung: Es muss uns doch irgendwie gelingen!
„Es muss nicht“, widerspricht der Prophet. „Es würde vielleicht, wenn ihr aufhören könntet, alles selbst erzwingen zu wollen.“ Öffnen, lösen, freigeben – sind Handlungsweisen, denen die Morgenröte folgt. In kleinen Schritten, in persönlicher Zuwendung gegenüber dem Nächsten kann jede/jeder von uns am Heilwerden der Gemeinschaft mitarbeiten. Und dabei die große Wende zum Guten vertrauensvoll Gott überlassen. „Gottesdienst im Alltag“ könnte man das nennen, der genauso wichtig ist, wie das Singen, Beten und Gottloben in gottesdienstlicher Gemeinschaft.
Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe“, erklärt Gott:
Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, z.B. jene Menschen, von denen du glaubst, dass sie dir etwas schuldig sind, und die du nicht freigeben magst. Wer sagt dir denn, dass nur deine Ansichten die Richtigen sind?
Lass frei, auf die du das Joch der Unterdrückung gelegt hast! Überlege dir, wer von dir abhängig ist, und wie sich das anfühlt für diese Person. Vielleicht fällt es dir dann leichter, den anderen frei zu geben, und dich selbst auch viel freier zu fühlen.
Teile mit den Hungrigen dein Brot! Lass niemanden neben dir verhungern. Wo du das Bedürfnis eines anderen verspürst, gehe darauf ein, antworte mit dem, was du geben kannst und willst. Teile das, wovon du selbst lebst, dein Lebensmittel.
Führe die Obdachlosen in dein Haus! Gib ein Stück Heimat jenen, die draußen vor bleiben: vor den Grenzen Europas oder vor der Gemeinschaft in einem Stadtteil, einer Straße.
Bekleide den, der nichts anzuziehen hat. Nimm wahr, wo Menschen entblößt und bloßgestellt werden, und schütze sie in ihrer Scham.
Entzieh dich nicht deinem Fleisch. Kümmere dich um deine Mitmenschen, die dich brauchen.
Mitmenschlichkeit ist gefragt, Solidarität und Freigabe all jener, die du abhängig von dir hältst. Ein achtsamer Umgang mit allen, damit niemand Not leiden muss – eine ethische Forderung, die uralt ist, und dennoch in jedem Zeitalter immer wieder neu gestellt werden muss. Eine spezielle Art von Fasten fordert Gott: Verzicht auf Bereicherung, die zu Lasten oder auf Kosten anderer geht.
Fasten als Rücksichtnahme, anstelle rigoroser und ausschließlicher Selbstsucht. Es darf nicht sein, dass wir Menschen in reichen Ländern alles daran setzen unsere Körper per Fitnesstraining und Selbstkasteiung schön und gesund zu erhalten; andererseits gleichgültig die Ausbeutung unserer Mitmenschen ignorieren. Sei es, dass Models im perfiden Schlankheitswahn sich fast zu Tode hungern. Oder dass Menschen in armen Ländern aus Not ihre Nieren oder ihre Kinder verkaufen müssen. Wir profitieren auch von der Ausbeutung der Hilfsarbeiter in Katar, die für die Fußball-WM 2022 unter völlig unmenschlichen Bedingungen Stadien bauen.
GOTT aber gefällt ein Fasten, das ein Verzichten einübt in jene Dinge, die anderen Menschen sonst fehlen würden. Ein Fasten, das für sozialen Ausgleich sorgt und für ein gelingendes Miteinander.
Enthaltsam sein kann man auch im weiteren Sinne: In Solidarität mit den Hungernden in der Welt, indem man Geld, das man durch Verzicht auf luxuriöse Güter spart, den Armen spendet. Oder als symbolhaftes Verzichten und Sich-Verweigern gegenüber dem Zwang zum Immer-mehr-haben-müssen.
Fasten bedeutet nicht nur Verzicht auf etwas! Man hat auch etwas davon. Sich einzuüben in Enthaltsamkeit erschließt gute Erfahrungen von geistigem und leiblichen Wohlbefinden. Ich gewinne ein Mehr an Lebensqualität, wenn ich Zeit finde für einen besseren Kontakt zu meinen Mitmenschen, wenn ich über meinen eigenen Tellerrand hinausschaue und Anteil nehme an den Sorgen und Freuden der anderen. Ich empfinde Lebenszuwachs durch die befriedigende Erfahrung, dass ich helfen kann, dass ich gebraucht werde von meinen Nächsten. Ich bin zufriedener, gelassener, wenn ich unabhängig werde von dem permanenten Drang nach immer mehr.
Wenn ich mich – ab und zu – ein wenig zurücknehme, auf die Durchsetzung meines Willens oder meiner Wünsche verzichte. Dann kann ich erfahren, wie sich eine Situation entspannt, und mein Gegenüber ebenfalls locker und entspannt reagiert.
Der Verzicht auf etwas schenkt mir auch eine neue Sichtweise auf Gottes Schöpfung und Dankbarkeit für seine Gaben. Weniger zu besitzen ist auf einmal viel mehr!! Die vorher so selbstverständlich und gering geschätzten Dinge gewinnen ihre Einmaligkeit und Kostbarkeit zurück: Dass ich atmen und leben darf! Dass ich Menschen in meiner Nähe weiß, die mir lieb und wichtig sind.
„Wenn ihr einander helft, die Not des Nächsten seht und nicht achtlos daran vorübergeht“, lässt Gott den Propheten verheißen, „dann strahlt euer GLÜCK auf wie die Morgenröte und eure inneren und äußeren Wunden (vielleicht entstanden durch Unzufriedenheit, Neid und Konkurrenzverhalten) heilen schnell.
Eure guten Taten gehen euch voran; und meine Herrlichkeit folgt euch nach wie ein starker Schutz. Dann werdet ihr zu mir rufen, und ich werde euch antworten. Wenn ihr um Hilfe schreit, werde ich sagen: „Hier bin ich!“
Gottes Nähe lässt sich entdecken, wenn ich bereit bin, mich selbst und meine Mitmenschen gleichermaßen wichtig zu nehmen. Wenn ich bereit bin, andere Wahrheiten anzuerkennen – nicht nur meine eigenen. Auch, wenn es schmerzt. Dann kann die Maske abfallen, und ich schaue wie in einem Spiegel mein wirkliches Gesicht – ungeschminkt und unverzerrt.
GOTT lässt sich entdecken – in jedem Menschen, der neben und mit mir lebt, in der Gemeinschaft mit allen Menschen. Auch in jenen, bei denen es mir persönlich schwer fällt. Ich habe selbst sehr viel davon, wenn mir das gelingt! Ich darf so sein, wie ich bin, und kann darüber lachen, wenn beim Fasching meine Schwächen offensichtlich werden. Oder, wenn mir jemand einen Spiegel der Wahrheit vorhält. Denn, was immer es auch Kritisches an mir zu entdecken gibt, EINER ist da, der mir liebevoll den Rücken stärkt und spricht: „Siehe, hier bin ich!“
AMEN
Link zur Online-Bibel
Predigt zu Jesaja 58,1-9a von Dieter Splinter
Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden!Sie suchen mich täglich und begehren meine Wege zu wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie begehren, dass Gott sich nahe.»Warum fasten wir und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib und du willst's nicht wissen?« Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit, wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat? Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.
I.
Liebe Gemeinde!
Der Tempel hat keinen König. Das war lange anders. Wir erinnern uns. Geschichte ist aufschlussreich.
Der erste Tempel in Jerusalem geht auf König Salomo zurück. So berichtet es die Bibel. In diesem Tempel wurde nicht nur der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs verehrt. Der König hatte darin eine besondere Rolle. Er repräsentierte das Volk vor Gott. So wurde er im Gottesdienst in Psalmen besonders gewürdigt. Der 21. Psalm etwa fasst das in diese Worte: „Herr, der König freut sich deiner Kraft, und wie sehr fröhlich ist er über deine Hilfe! Du erfüllst ihm seines Herzens Wunsch und verweigerst nicht, was sein Mund bittet. Denn du überschüttest ihn mit gutem Segen, du setzt eine goldene Krone auf sein Haupt.“
Nun aber ist es anders. Der erste Tempel wurde 587 bzw. 586 v. Chr. zerstört, das Volk Israel in das babylonische Exil verschleppt. Dort saß es an den Wassern zu Babylon und weinte. Ihre Harfen hängten sie in Trauerweiden. Und sie sagten sich: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein.“ (Psalm 126, 1-2)
Eines Tages war es soweit. Die Erlösung geschah. Nach etwa 50jährigem Exil konnten die Israeliten zurückkehren. Viele waren in der Fremde geboren worden. Viele dort gestorben. Nun waren sie wieder im gelobten Land. Bald nach ihrer Rückkehr nach Jerusalem machten sie sich daran, den zerstörten Tempel wieder aufzubauen. Unter Mühen. 515 vor Christus wird der zweite Tempel eingeweiht. Er hat keinen König mehr. Ihm steht nun ein Priester vor. Aber vor allem gehen die Rechte und Pflichte des Königs auf die Gemeinde und jeden einzelnen und jede einzelne darin über.
II.
Der Tempel hat keinen König mehr. Aber er hat eine königliche Gemeinde. Jede darin ist eine Königin, jeder darin ist ein König. Wie so oft nehmen Entwicklungen in der Religion ihren Anfang. Hier – in den Worten Jesajas - deutet sich nämlich ein Übergang an: Von der Monarchie zur Demokratie, von der Theokratie zu einem Gemeinwesen, das Glaube und Recht in gegenseitigem Respekt aufeinander zu beziehen weiß. Entscheidend ist, dass schon bei diesem Übergang die solidarische Hilfe als eine königliche Aufgabe aller beschrieben wird.
Der Prophet Jesaja sagt es so: „Brich den Hungrigen dein Brot, und die im Elend und ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ Der Tempel hat keinen König. Er braucht ihn auch nicht mehr, denn er hat ja eine königliche Gemeinde. Wenn die sich ihrer Bestimmung gemäß verhält, dann ist sie „wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.“ (Jesaja 58,11) Dann – so Jesaja in einem großartigen Bild voller Verheißung – wird ihr „Licht hervorbrechen wie die Morgenröte“, ihre „Heilung wird schnell voranschreiten“, und ihre „Gerechtigkeit wird vor ihr hergehen“. Worte voller Bewegung. Am Ende dieser Prozession wird gar „die Herrlichkeit des Herrn“ ihren „Zug beschließen“.
III.
Stimmt das? Verheißungen haben immer einen voraus laufenden Charakter, sonst wären sie keine. Die Wirklichkeit sieht jedoch oft anders aus. Das war schon zu Jesajas Zeiten so. Und so bekommt der Prophet den Auftrag, dem Volk die Leviten zu lesen: „Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakobs seine Sünden!“
Das Volk bemüht sich ja, seinem königlichen Auftrag gerecht zu werden. Sie wollen Gott nahe sein. „... sie begehren, dass Gott sich nahe.“ Und darum fragen sie ihn : „Warum fasten wir und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib und du willst's nicht wissen?“
Die Antwort ist eindeutig. Das innere Bestreben durch Fasten Gott nahe sein zu wollen, passt nicht zum äußeren Verhalten. Da ist etwas auseinander gebrochen, was eigentlich zusammen gehört: „Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. Siehe, wenn ihr fastet, hadert ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.“
IV.
„Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.“ Passt dieser Satz ins Heute? Und – wenn ja – wie?
In einer Predigthilfe habe ich dazu folgende Feststellung gefunden: „In der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation ist nicht nur eine breite Palette von Nahrungsmitteln unabhängig von der Jahreszeit und den regionalen Bedingungen der Landwirtschaft verfügbar. Auch Genussmittel sind frei erhältlich. Bis in die Fernsehgewohnheiten hinein fordert die Konsum-gesellschaft dem Einzelnen ein gehöriges Maß an Selbstdisziplin ab, um zu wissen, was ihm selbst als Einheit von Seele und Leib eben nicht nur zu essen und zu trinken, sondern auch zu sehen guttut, und wo die Grenze zu problematischer Gewöhnung und Abhängigkeit überschritten ist. In einer solchen Situation hat die Praxis des Fastens verständlicherweise neue Freunde und Freundinnen gefunden.“ Soweit diese Predigthilfe. (Christian Nottmeier/Hans Martin Dober: Jesaja 58, 1-9a: Unterwegs zu den Quellen des Selbst, in: Predigtstudien für das Kirchenjahr 2007/2008, Perikopenreihe VI – Erster Halbband, hrsg. von Volker Drehsen et al., Stuttgart 2007, S. 137)
Für die Freunde und Freundinnen des Fastens geht es um Herrschaft. Genauer: Es geht darum, sich selbst zu beherrschen. Man möchte erreichen, dass man von Äußerem nicht abhängig ist. Man möchte erfahren, dass man ganz und gar dazu fähig ist, über sich selbst zu bestimmen. Diese Selbstbestimmung hat etwas Königliches. Kein Wunder, dass man nicht nur in der säkularen Welt, sondern auch in der evangelischen Kirche das Fasten (wieder-)entdeckt hat. Wir nennen das „Sieben Wochen ohne“. Da kann man zeigen, dass die Rechte und Pflichten des Königs auf die Gemeinde übergegangen sind. Schließlich hat der Tempel längst keinen König mehr.
Im Fasten kommen so auch evangelische Christen durchaus ihrem Auftrag nach. Ein Christenmensch ist schließlich ein freier Herr aller Dinge und nichts und niemandem untertan. Zugleich ist ein Christenmensch aber auch ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. Nur der ist ein guter König, der seinem Volk, also anderen und nicht bloß sich selbst, zu dienen weiß.
Jährlich werden in Europa und den USA Lebensmittel im Wert von 100 Milliarden Euro weggeworfen. Damit ließen sich die in dieser Welt von Hunger Bedrohten oder tatsächlich Hungernden, also etwa eine Milliarde Menschen, leicht ernähren. So lange es keinen gerechten Ausgleich zwischen Arm und Reich gibt, so lange die einen hungern, weil sie zu wenig haben – und die anderen hungern, weil sie zu viel haben - so lange das so ist, stimmt der Satz, den Jesaja uns über viele Jahrhunderte hinweg in unser Ohr posaunt: „Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.“
V.
Der Tempel hat keinen König mehr. Schon zu Jesajas Zeiten, also vor langer Zeit, wurde das festgestellt. Die Rechte und Pflichten des Königs sind auf die Gemeinde übergegangen. Daraus folgt nicht bloß das Recht zur Selbstbe-stimmung, sondern auch die Pflicht zur solidarischen Hilfe. Das schreibt uns Jesaja über die Jahrhunderte hinweg ins Stammbuch. Mehr noch: Er posaunt uns diese Mahnung ins Ohr.
Doch lässt er uns auch nicht ohne eine Verheißung und ohne einen Zuspruch Gottes. Dem nämlich, der nicht müde wird, Selbstbeherrschung und Solidarität miteinander zu verbinden und in einer Gemeinde zu leben sucht, ruft Jesaja mindestens genauso laut ins Ohr: „Dann wird dein Licht hervorbrechen wie eine Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HER wird dir antworten. Wenn du schreist wird er sagen: Siehe, hier bin ich.“
Amen
Link zur Online-Bibel
Vom glaubwürdigen Fasten - Predigt zu Jesaja 58,1-9a von Jens Junginger
Vom glaubwürdigen Fasten
Liebe Gemeinde,
mit dem kommenden Mittwoch, dem Aschermittwoch, beginnt die Fasten- und Passionszeit.
Fasten liegt im Trend: Körperkult, schlank werden, gesund Leben und Essen, lifestyle.
Fasten liegt im Trend, losegelöst jedoch von seiner ursprünglich jüdisch- christlichen Herkunft und Bedeutung.
Der Predigttext für den heutigen Sonntag ist bereits eine Predigt, eben über den eigentlichen Sinn des Fastens, über glaubwürdiges Fasten, in persönlicher, gesellschaftlicher, sozialer und globaler Hinsicht:
Wir hören diese Predigt in Abschnitten.
Sie steht im Buch des Propheten Jesaja. Dort im Kapitel 58.
Sie beginnt mit einem Aufruf und Auftrag Gottes an den Propheten:
1 Rufe getrost, halte nicht an dich!
Erhebe deine Stimme wie eine Posaune
und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit
und dem Hause Jakob seine Sünden!
Die Begründung schließt sich unmittelbar an:
2 Sie suchen mich täglich
und begehren, meine Wege zu wissen,
als wären sie ein Volk,
das die Gerechtigkeit schon getan
und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte.
Sie fordern von mir Recht,
sie begehren, dass Gott sich nahe.
Gott, so hören wir aus dem Mund des Propheten, ist regelrecht empört über die Aufdringlichkeit, das selbstgerechte und anmaßende Gebaren des gläubigen Volkes. Über die verwegene Selbsteinschätzung, dass sie meinen mit ihrer Art zu Leben und zu denken in besonderer Weise Gottes Nähe für sich in Anspruch nehmen könnten.
Gott ist besonders empört, weil es die Leute gerade mit der Rechtschaffenheit, mit der Einhaltung des Rechts und der Gerechtigkeit alles andere als ernst meinen.
In Wahrheit haben sie damit gar nichts mehr am Hut.
Sie lassen es an Glaubwürdigkeit vermissen.
Die Frage nach der Glaubwürdigkeit muss sich seit Wochen nicht nur der ADAC stellen.
Die Frage nach der Glaubwürdigkeit des christlichen Volk Gottes, der Institution Kirche, die steht bereits seit einigen Monaten auf der Tagesordnung.
Nicht nur für kirchenkritische ZeitgenossInnen, die katholische Kirche und manchen ihrer Bischöfe.
Wie glaubwürdig ist die evangelische Kirche und ihre Diakonie
auf Grund der Verknüpfung von Staat und Kirche,
im Blick auf den Umgang mit anvertrauten Mitteln,
und die Steuermittel die für ihre soziale Arbeit verwendet werden.
Wie glaubwürdig ist sie als Arbeitgeberin und als Organisation, die die Gerechtigkeit Gottes predigt, gesellschaftlich und politisch einfordert und zugleich als Akteurin auf dem ökonomisierten Sozialmarkt in ethische Zwänge gerät.
Im der Glaubwürdigkeit willen ist hier Transparenz und Offenheit sind geboten.
Blicken wir aber nochmals auf den Bibeltext, auf diejenigen, über die sich Gott durch den Propheten empört:
Viele waren aus dem babylonischen Exil wieder in die alte Heimat zurückgekehrt, nach Jerusalem. Doch wirklich befriedigend, gar beglückend war die Lage dort nicht. Nicht so, wie sie sich das im Exil, fern der Heimat, an den Flüssen Babylons erträumt hatten.
Die persische Besatzungsmacht in Palästina und Jerusalem hatte veranlasst Steuern in Münzgeld einzuziehen.
Das hatte zur Folge, dass sich im Volk eine zunehmende soziale Spaltung abzeichnete, zwischen der Seite dramatisch verarmender Verlierer des Steuereinzugs und der Seite der Gewinner.
Eine Finanzelite bildete sich, auch aus dem eigenen Volk.
Die hatten sich über eine rücksichtslose Kreditpraxis, zulasten einfacher Schuldsklaverei ziemlich bereichert. Erbarmungslose Pfändungen machten aus einem Großteil der Kleinbauern, hungernde, obdachlose und auf Almosen angewiesene Bettler.[1]
Liebe Gemeinde,
auch das kommt einem nicht ganz unbekannt vor. Ein bei weitem noch nicht verheilter Vertrauensriss durchzieht bis heute das Verhältnis zwischen Bürgern, Kleinbetrieben und Mittelstand zur Welt der Geschäftsbanken, Kreditinstitute und zum globalen Finanzsystem.
Im Kreis der Kredithaie zu Jesajas Zeiten wurden offenbar Rituale eines religiösen Fastens gepflegt, bei dem persönliche Enthaltsamkeit, Genuss-Mäßigung und Nahrungsverzicht mit Gebetsritualen gekoppelt war. Damit wollte man Gott gegenüber Reue und Ergebenheit zeigen, sich persönlich sozusagen seine Güte und Wohlgesonnenheit erkaufen.
Dass ein derartige Praxis und ein solches Fastens nicht mit pikanten Finanzpraktiken und verwerflichen Kreditgeschäften zusammenpasst, das empfinden wir heute ganz ähnlich wie Jesaja damals:
Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, sagt Jesaja
geht ihr doch euren Geschäften nach
und bedrückt alle eure Arbeiter.
4 Siehe, wenn ihr fastet,
hadert und zankt ihr
Ihr sollt nicht so fasten,
wie ihr jetzt tut,
wenn eure Stimme
in der Höhe gehört werden soll.
Wahrer echter Glaube, Gottes- Dienst im Sinne des Wortes, so das Plädoyer Jesajas, der will sich auch im wahren Leben zeigen, im Alltag, im Geschäftsgebaren und ökonomischen Handeln.
Jesaja kritisiert unverhohlen den offenkundigen Widerspruch:
5 Soll das ein Fasten sein,
an dem ich Gefallen habe,
ein Tag, an dem man sich kasteit,
wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf
und in Sack und Asche sich bettet?
In Sack und Asche gehen für Gott, und gleichzeitig sich an der Not und der ausbeuterischen Arbeit anderer Leute bereichern? Selbstkasteiung ohne eine Ethik verantwortlichen Handelns? Individuelle Verzichtsmoral bei struktureller Ungerechtigkeit?
Das ist Heuchelei. Das passt nun mal nicht zusammen.
Liebe Gemeinde
der prophetische Klartext hat bis heute nichts an seiner Gültigkeit eingebüßt.
Vier Wochen mit Hartz IV hieß eine Aktion, die im Bereich der Landeskirche in Gemeinden und Bezirken durchgeführt wurde.
Da konnte man vier Wochen lang mit dem Hartz IV Satz eine Art soziales Fasten üben, mal erleben wie das ist: Das Leben, der Anderen, der Bedürftigen und Armen und wie sich das anfühlt.
Einschränkung, Verzicht aus einem wohlmeinenden Mitgefühl heraus. Was hat sich dadurch geändert, für die, die über lange Zeit damit erleben müssen? Werden Die Vesperkirchen und Tafelläden jetzt weniger aufgesucht, weil die Leute jetzt mehr zur Verfügung haben? Mitnichten. Sie sind weiterhin ein traurige Erfolgsmodell.
" ist das ein Fasten an dem ich gefallen habe"?
Jesaja steckt den Finger in Wunde. Er regt eine selbstkritische Bestandsaufnahme an: Wie verstehen wir das Fasten heute? Wie kann ein glaubwürdiges Fasten Gestalt annehmen, jenseits der Pflege eines Körperkults, jenseits von Mitfühlaktionen? Persönlich, als Volk Gottes, als Kirche?
Es mag einem beim Zuhören ähnlich gehen, wie den Hörern damals, als sich Jesaja, bzw. einer aus seiner Schule, so klar und scharf zur Wort meldete.
Mit Kritik und offenen Fragen regelrecht überschüttet zu werden ist unbefriedigend. Es erschlägt einen. Da wünscht man sich ein paar konstruktive und konkrete Vorschläge zu hören, wie es denn anders laufen könnte. Der Text nimmt dieses Bedürfnis auf. Er wendet sich an die Kreditgeber, die sich für Gott vorübergehend kasteien und gleichzeitig aus der Not von Mitmenschen unsägliches Kapital schlagen und sagt:
6 Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe:
Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast,
lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast!
Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!
7 Brich dem Hungrigen dein Brot,
und die im Elend ohne Obdach sind,
führe ins Haus!
Wenn du einen nackt siehst,
so kleide ihn,
und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
8 Dann wird dein Licht hervorbrechen
wie die Morgenröte,
und deine Heilung
wird schnell voranschreiten,
und deine Gerechtigkeit
wird vor dir hergehen,
und die Herrlichkeit des HERRN
wird deinen Zug beschließen.
9 Dann wirst du rufen,
und der HERR wird dir antworten.
Wenn du schreist, wird er sagen:
Siehe, hier bin ich.
Liebe Gemeinde
Das heißt im Klartext:
Fasten, Beten, konkrete Unterstützung und das tun des Gerechten
gehören untrennbar zusammen:
Mit dem hungrigen Brot brechen,
Suppe ausgeben, Unterkunft ermöglichen, Klamotten aushändigen - von Angesicht zu Angesicht,
und das strukturelle Unrecht der Verarmung bekämpfen, vom Joch der Verschuldung befreien,
bedrückende Ungleichheit ausgleichen! Das gehört zusammen.
Unmittelbare Soforthilfe mit Vesper oder Suppe, und strukturelle Änderungen zur dauerhaften Linderung von Elend, Not und Ausbeutung gehören untrennbar zusammen.
Feiern, Besinnung, innere Einkehr und das Streiten für mehr Genügsamkeit, Bescheidenheit, Beschränkung gehören untrennbar zusammen.
Meditation, Stille, Singen und das Engagement für Fairness im Arbeitsplatz und gerechten Lohn
gehören untrennbar zusammen.
Wenn laut der entwicklungs- und Hilfsorganisation Oxfam[2] weltweit 85 Menschen so reich sind wie 3,5 Milliarden und knapp die Hälfte des weltweiten Vermögens sich in den Händen von einem Prozent der Weltbevölkerung konzentriert, dann ist es zwingend Armutsbekämpfung mit einer weltweite Umverteilung zu verknüpfen.
Wo sich das ereignet, wird Gott, gemäß dem Propheten Jesaja, sagen:
Siehe hier bin ich.
Ein Fasten wie Gott es will legt nahe,
zeitlich befristetet innezuhalten,
realisieren was im Übermaß hergestellt, angeboten und konsumiert wird,
festzuhalten, wo wir ohne Not fasten könnten, was ohne tatsächliche Einschnitte geteilt und verteilt werden könnte, an Essen, an Klamotten, an Waren und Produkten.
Ein Fasten wie Gott es will, bedeutet:
Gemeinsam einkehren, im Kopf frei werden, sich bewusst werden, worauf es wirklich ankommt, fürs eigene persönliche Leben, für eine Bevölkerung.
Ein Fasten wie Gott es will, heißt entdecken, welches Übermaß an Reizen, Versuchungen, Waren und, Produkten längst zu einer seelischen und materiellen Belastung für uns und den Globus geworden ist.
Ein Fasten wie Gott es will, ermöglicht Gewinn an Lebensqualität, an Zeit, an Menschlichkeit und Gerechtigkeit, vor Ort, in den Ländern des Südens, in der einen Welt
Es ermöglicht Gewinn,
für Beziehungen, Familie und Gemeinschaft,
für ein regionales Bewusstsein, für Nachbarschaften,
für deren interne Fürsorge und gegenseitige Versorgung.
Es bringt Gewinn, fürs gegenseitige Wahrnehmen, Kümmern, Teilen und Teilhaben lassen.[3]
„Hier bin ich!“ sagt Gott uns zu, wenn wir zögerlich werden und meinen, das kriegen wir nicht hin.
Hier bin ich, sagt Gott, und macht uns gewiss: Ihr seid nicht allein.
Hier bin ich, schon indem ihr anfangt, mit den ersten kleinen Schritten,
wird das Licht hervorbrechen
wie die Morgenröte
und deine Heilung, Volk Gottes, wird schnell voranschreiten.
Amen
[1] Vgl. Rainer Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit 2, Göttingen 1992, S.540
[3] Mehr dazu bei Niko Paech,dem Postwachtumsökonomen unter: http://www.zeitwohlstand.info/wp-content/uploads/2012/07/Zeitwohlstand…
Link zur Online-Bibel
Recht für die Völker - Predigt zu Jesaja 42,1-4 von Sibylle Reh
Recht für die Völker
Liebe Gemeinde, bei den meisten sind die Weihnachtsbäume abgeräumt. Die Weihnachtszeit im engeren Sinne ist vorbei. Allerdings steht dieser Sonntag bei uns noch im Zeichen des Epiphaniasfestes. Es steht jetzt in der Kirche aber nicht so sehr das Kind in der Krippe im Mittelpunkt, sondern das, was durch Jesus Neues in die Welt kam.
Der Predigttext für diesen Sonntag steht im Alten Testament
im Buch des Propheten Jesaja im 42. Kapitel
Jesaja 42, 1–4
Siehe, das ist mein Knecht - ich halte ihn - und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. 2 Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. 3 Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. 4 Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung.
Liebe Gemeinde, ein schöner, aber auch ein geheimnisvoller Text, der von einem Knecht und seinem Auftrag handelt. Seine Person und sein Auftrag hängen zusammen. Allerdings bleibt unklar, wer dieser Knecht ist.
Schon in der Apostelgeschichte fragt ein äthiopischer Kämmerer den Diakon Philippus: „Von wem redet der Prophet solches? Von sich selber oder von jemand anderem?“ (Apg. 8, 34b). Er bezieht sich allerdings auf eine andere Stelle im Jesajabuch, die auch von diesem Knecht handelt.
Der Gottesknecht könnte der Prophet sein, dann wären Texte wie dieser so eine Art Berufungsauftrag. Oder es das ganze Volk Israel könnte gemeint sein, das verstreut in der Welt lebt. Dann hätte die Zerstreuung einen Sinn, denn dadurch dass die Juden unter allen Völkern wohnen, bringen sie nun die gute Botschaft von ihrem Gott und seine Weisung in die Welt hinaus.
Man kann diese Texte aber auch auf einen zukünftigen König, hin deuten, den Messias. Das tut Philippus, und er legt dem Kämmerer dar, dass Jesus dieser König ist, der leiden musste und doch die Gute Botschaft und Gottes Weisung in die Welt gebracht hat.
Und das hat er wirklich. Zur Zeit Jesu gab es bereits im ganzen römischen Reich Juden. Das Judentum zog viele Menschen an, gerade durch die klaren Vorstellungen von Recht und Moral. Viele Menschen, die keine Juden waren, verehrten den Gott Israels und versuchten, sich an die jüdischen Gebote zu halten. Es waren so viele, dass es ein Wort dafür gab: Die Juden nannten sie „Gottesfürchtige“ oder „gottesfürchtige Fremdlinge“. Jedoch war der wirkliche Übertritt zum Judentum für Nichtjuden schwierig. Und er bewirkte durch die strengen Speisegebote eine starke soziale Abgrenzung von Nichtjuden. Die Teilnahme an Geschäftsessen und gemeinsames Essen mit nichtjüdischen Familienmitgliedern war für zum Judentum Übergetretene fast nicht mehr möglich. Und nicht zuletzt die Beschneidung dürfte viele abgeschreckt haben.
Beim Christentum war es anders. Auch für die ersten Christen war die Bibel der Juden ihre heilige Schrift. Sie stellten an sich selber auch hohe moralische Ansprüche ähnlich wie Juden. Die christlichen Gemeinschaften verlangten aber seit Paulus nicht mehr, dass neue Christen zuvor zum Judentum übertreten, und sich beschneiden lassen mussten, und auch die Speisegebote wurden gelockert.
So wurden viele der Gottesfürchtigen in aller Welt Christen.
Jetzt möchte ich aber noch mal zu der Zeit zurückgehen, in der, in der unser Text entstand, also noch mal mehr als 500 Jahre davor.
Der Prophet, dessen Worte im zweiten Teil des Jesajabuches gesammelt wurden, trat gegen Ende des Babylonischen Exils auf. Er bereitete die Israeliten auf die Rückkehr ins heilige Land vor.
Er spricht dabei aber zu Menschen, die in Babylon oder anderswo leben und tagtäglich mit Menschen zusammenkommen, die aus anderen Völkern stammen und andere Götter verehren.
Die Israeliten hatten erfahren, dass ihr Gott ein Gott ist, der mitgeht. Er hatte ihre Vorfahren zur Zeit Abrahams, Isaaks und Jakobs in der Zeit, in der sie Nomaden waren, begleitet, wo sie auch immer hingingen, bis hin nach Ägypten. Er hatte ihre Vorfahren unter Mose und Josua aus Ägypten zurück ins heilige Land gebracht. Er war bei ihren Vorfahren geblieben, als sie sesshaft wurden, Könige hatten und einen Tempel bauten. Er war bei ihren Eltern und Großeltern geblieben, als dieser Tempel zerstört wurde und sie ins Exil nach Babylon gehen mussten oder anderswohin flohen. Sie hatten gelernt, dass es für sie verboten war, die Götter anderer Völker anzubeten.
Nun kamen sie mit Menschen zusammen, die andere Götter anbeteten und fragten sie, was es mit diesen auf sich habe. Und sie waren sie zu der Erkenntnis gelangt, dass es die anderen Götter in Wahrheit gar nicht gab oder sie zumindest keine Macht hatten. Damit glaubten sie, dass auch die Menschen fremder Völker darauf angewiesen waren, den Gott Israels zu verehren, wenn sie die Hilfe eines Gottes brauchten. Darum erhielt der Gottesknecht den Auftrag, das Recht Gottes auch zu den anderen Völkern zu bringen.
Es ist schon faszinierend, das Volk Israel. Es ist im Altertum nur ein kleines Volk im nahen Osten gewesen, kein reiches, kein mächtiges. Um 1000 vor Christus, als die Großmächte der Umgebung gerade mal schwach waren, bildete sich ein Königreich heraus, das alle 12 Stämme Israels umfasste und gerade mal für 2 Generationen (unter König David und König Salomo) Bestand hatte. Danach existierten zwei kleinere, einander aber noch verbundene Königreiche. Das größere und reichere von beiden, das Reich Israel, wurde im 8. Jahrhundert erobert, die meisten Bewohner wurden ins Exil geführt, man hörte nie wieder von ihnen. Einige konnten aber ihre Traditionen in das kleinere Bruderland Juda im Gebirge retten. Dieses blieb, wenn auch zeitweise sehr klein, noch bis Anfang des 6. Jahrhunderts vor Christus bestehen.
Dann ist aber ein wirkliches Wunder geschehen. Auch als der Staat Juda von den Babyloniern erobert wurde, ein Großteil der Bevölkerung ins Exil geführt wurde, war dies nicht das Ende für das Volk Israel.
Im Gegenteil, das Volk sammelte sich neu, nicht mehr um ein Heiligtum, sondern und die heiligen Schriften.
Und wenn Juden seitdem auch in alle Welt zerstreut wurden, so kennt doch nun auch fast alle Welt ihre heiligen Schriften. Entweder kennt man sie direkt durch Juden oder auch durch uns Christen, die wir auch ja die Bibel der Juden als heilige Schriften haben, oder man kennt sie indirekt, durch den Islam, der sich in der Tradition dieser Schriften sieht.
So wurden die heiligen Schriften eines kleinen Volkes für sehr viele Menschen aus sehr verschiedenen Völkern Weisung.
Liebe Gemeinde, das Christentum hat Gottes Weisung in die Welt gebracht. Der Auftrag Jesu ist es nun an uns, sie weiterzugeben.
Was können wir denn der Welt geben? Als Christen sind wir in diesem Bundesland (Brandenburg) eine winzige Minderheit. Was haben wir der Mehrheit zu geben, die die Weisung und gute Botschaft Gottes gar nicht kennt?
Recht und Barmherzigkeit, sagt Jesaja:
„Er wird das Recht unter die Heiden bringen. 2 Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. 3 Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus.“
Recht: Nicht der Stärkere siegt, auch nicht derjenige, der die besten Beziehungen hat, sondern es wird nach dem Recht und dem Gesetz entschieden, auch für Schwache (geknicktes Rohr, glimmender Docht) haben eine Chance auf Gerechtigkeit.
Barmherzigkeit: Nicht auf dem, der bereits unten liegt, auch noch rumtrampeln, ihn nicht zerbrechen und nicht auslöschen
Das sind Dinge, die wir nicht nur sagen dürfen, sondern wir müssen sie auch leben. Natürlich gelingt uns das nicht immer, weder der Kirchenleitung noch uns einzelnen Christen. Wir Christen sind ja nicht alle Heilige. Aber wir können es versuchen. Wir haben ja auch einen barmherzigen Gott, der uns vergibt, wenn wir es mal nicht ganz schaffen.
Auch das ist Teil der Botschaft.
Link zur Online-Bibel
Israels Dienst als Licht der Völkerwelt - Predigt zu Jesaja 42,1-9 von Matthias Loerbroks
1 Siehe, mein Knecht, an dem ich festhalte,
mein Erwählter, dem meine Seele wohl will.
Ich gebe meinen Geist auf ihn,
dass er den Völkern Recht bringe.
2 Er schreit nicht, macht kein Aufhebens,
lässt nicht draußen seine Stimme hören,
3 ein geknicktes Rohr zerbricht er nicht
einen glimmenden Docht löscht er nicht aus,
in Treue trägt er Recht hinaus.
4 Er selbst verglimmt nicht
und knickt nicht ein,
bis er Recht setzt auf Erden,
und auf seine Weisung warten die Inseln.
5 So hat die Gottheit, der Ewige, gesprochen,
der die Himmel schuf und sie spannte,
die Erde ausbreitete und ihr Gewächs,
der dem Volk auf ihr Odem gab
und Geist denen, die auf ihr gehen:
6 Ich, der Ewige, habe dich gerufen in Gerechtigkeit,
ich fasse dich an deiner Hand,
ich verwahre dich,
ich gebe dich zum Bund für das Volk, zum Licht der Völker,
7 die Augen zu öffnen den Blinden,
die Gefangenen aus dem Kerker zu führen,
aus dem Gefängnis, die im Finstern sitzen.
8 Ich, der Ewige, das ist mein Name,
meine Ehre gebe ich keinem anderen,
meinen Lobpreis nicht den Götzen.
9 Das Erste, siehe, es kam,
Neues melde ich,
ehe es wächst, lasse ich es euch hören.
Der Gott Israels macht auf jemanden aufmerksam, zeigt geradezu mit dem Finger auf ihn: Da! Seht doch! Der da, das da! Das ist mein Knecht, der mir dient, dessen ganzes Leben Gottesdienst ist. Er ist nicht selbst darauf gekommen, hat sich nicht beworben um diesen Dienst – Gott hat ihn erwählt, er hält an ihm fest, denn er gefällt ihm, Gottes Seele will ihm wohl. Das alles gibt er bekannt, um diesen Knecht zu bestätigen und zu bestärken, ihn seines Beistands und Wohlwollens zu versichern, aber auch, er redet ja von dem Knecht zunächst in 3. Person, redet ihn nicht an, um alle anderen, die Öffentlichkeit, hinzuweisen auf diesen Knecht. Diese Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit macht neugierig, weckt Erwartungen – was mag denn bloß dran sein an dem da? –, hat aber auch einen mahnenden und warnenden Ton: macht euch nichts vor, täuscht euch nicht: an ihm halte ich fest, ihn habe ich erwählt, auf ihn gebe ich meinen Geist.
Und diese Demonstration ist nötig, denn von sich aus ist dieser Knecht nicht sehr eindrucksvoll, erregt kein öffentliches Aufsehen, macht nichts her: er schreit nicht rum. An einer anderen Stelle im Jesajabuch räumt die Öffentlichkeit rückblickend ein, diesen Knecht ganz falsch wahrgenommen und eingeschätzt zu haben: Er hatte keine Gestalt, keinen Glanz, kein Aussehen, das uns gefallen hätte, von Menschen verschmäht und gemieden.
Sein Dienst besteht darin, Recht zu exportieren, Recht in die Welt der Völker zu bringen, aber er tut diesen Dienst unauffällig, still und leise. Nicht nur dass er nicht lautstark Reklame macht für das Recht, das er anzubieten hat und das er exportieren will, er drückt es auch nicht gewaltsam durch: ein geknicktes Rohr zerbricht er nicht, einen noch glimmenden Docht löscht er nicht aus. Wir merken, der Gott Israels praktiziert eine andere Personalpolitik als die, die in unserer Öffentlichkeit für selbstverständlich, für die einzig mögliche gehalten wird. Nicht nur in Wahlkämpfen und bei der anschließenden Besetzung von Ministerien sind sich inzwischen fast alle einig, wie jemand sein und auftreten, manchmal sogar aussehen muss, der oder die sich durchsetzen und etwas durchsetzen will: ein Programm und also auch Recht, eine andere Gesetzgebung: hart und stark, zu allem entschlossen und zu allem fähig, öffentlich unübersehbar und unüberhörbar, glänzend, aber auch ruppig genug, um sich und um was durchzusetzen, durchzudrücken. Jemand grobes fürs Grobe. Der Knecht hier, der sich nicht selbst, sondern den Gott anpreist, scheint hingegen jemand zu sein, der zwar sympathischerweise keiner Fliege was zuleide tut, von dem wir uns aber auch fragen, wie er denn mit dieser Behutsamkeit Recht setzen und durchsetzen will.
Dieses Nichtzerbrechen von Geknicktem charakterisiert das Recht, das er setzen soll. Es handelt sich um Armenrecht, das die Mühseligen und Beladenen, die Erniedrigten und Beleidigten schützen soll und die Geknickten vorm Zerbrechen bewahren. Und ähnlich verhält es sich mit dem nur noch glimmenden Docht: gerade eingeschränktes, beschädigtes, reduziertes Leben, nah am Verlöschen bedarf des Schutzes. Solang es noch glimmt, besteht die Hoffnung, dass es wieder aufstrahlt, volle Leuchtkraft gewinnt. Und diese Praxis charakterisiert auch den Knecht selbst: er selbst ist jemand, der nicht einknickt, der und dessen Licht nicht völlig ausgelöscht wird. Diese Existenzweise und der Verzicht auf lautstarke und spektakuläre Bemühung um öffentliche Aufmerksamkeit gehören zusammen. Ein großer Rabbiner im Nachkriegsdeutschland, Robert Raphael Geis, beschrieb die Rolle und Aufgabe des jüdischen Volks unter den Völkern als „existenzielle Mission“. Im Unterschied zum christlichen Missionsverständnis, das vor allem mit Verkünden zu tun hat, mit Reden, in dem auch Zeugnis ablegen eher mit Worten zu tun hat als mit Taten oder gar mit Martyrium, soll Israel dadurch auf Gott aufmerksam machen, dass es selbstverständlich und ohne viel Aufhebens mit und in der Tora lebt und so unter den Völkern etwas anders lebt. Und dabei nicht einknickt und nicht ausgelöscht wird. Überall wo Juden leben, ist auch Gott inmitten der Völker.
Auch unser Jesajatext scheint bei dieser Dienstbeschreibung eines Gottesknechts an ganz Israel zu denken. Du aber, Israel, mein Knecht, Jakob, den ich wählte, Same Abrahams, meines Geliebten, du, den ich erfasste von den Rändern der Erde her, von ihren Grenzen her berief, ich sprach zu dir: mein Knecht bist du, erwählt habe ich dich und habe dich nicht verworfen, fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir – so heißt es ein Kapitel vor unserem Text. Und diese Bezeichnung Israels als Knecht Gottes erinnert an die Urgeschichte der Befreiung Israels aus der Sklaverei in Ägypten. Nachdem dort ausführlich von der Knechtschaft unter dem Pharao, dem harten und bitteren Frondienst als Sklaven erzählt wurde, heißt Gottes Botschaft an Pharao: lass mein Volk frei, dass es mir diene. Die Befreiung Israels aus der Sklaverei ist nicht Selbstzweck, sondern Befreiung zum Dienst, Berufung zum Knecht Gottes. Und nicht nur die Befreiung aus der Sklaverei hat diesen Sinn, auch das Exil: dass Israel unter allen Völkern verbreitet ist, dient dazu, dieses Recht, die Tora unter den Völkern zu verbreiten.
Innerhalb dieses sozusagen kollektiven Gottesknechts Israel sind immer wieder auch einzelne als Knecht Gottes hervorgehoben worden: Mose vor allem, aber auch Hiob wird von Gott selbst „mein Knecht“ genannt, und David nennt sich selbst „dein Knecht“, wenn er mit Gott redet. Doch solche einzelne sind Knecht Gottes vor diesem kollektiven Hintergrund ganz Israels als Knecht Gottes, sind Vertreter, Sprecher, manchmal fast Verkörperungen dieses Volks. Das gilt für alle Angehörige dieses Volkes, und vielleicht nimmt auch unser Text einen solchen Einzelnen in den Blick, der sein Volk vertritt, wenn nun nicht mehr von dem Knecht gesprochen, sondern dieser Knecht direkt angeredet wird: ich gebe dich zum Bund für das Volk, zum Licht der Völker. Das klingt so, als konzentriere sich der Bund zwischen diesem Volk und diesem Gott in einer Person, in der dieser Bund befestigt und bestätigt, jedenfalls deutlich wird. Deutlich auch für die anderen Völker. Das Volk des Bundes wird zum Bundesvermittler und so zum Licht der Völker. Die Verbreitung von Recht bringt auch Licht in die Welt, augenöffnende Aufklärung, Befreiung aus finsteren Verliesen und Kerkern. Die Völker, die nach biblischer Auffassung von Gott und seiner Tora wenig wissen, kein Rechtsbewusstsein haben und so auch kein Unrechtsbewusstsein, die befreiende Wohltat von Recht kaum kennen, entdecken die Wunder an der Tora, verlieren ihre Heidenangst: er hat uns wissen lassen sein herrlich Recht und sein Gericht. Und ohne es recht zu wissen, haben sie sich danach auch schon gesehnt, meint unser Text: alle Welt, bis an ihren Rand, wartet auf seine Tora.
Die ersten Christen und dann auch die Verfasser des Neuen Testaments, die alle Juden waren, haben auch Jesus als einen solchen einzelnen Knecht Gottes betrachtet, der sein Volk, den Knecht Gottes, unter den Völkern vertritt, in aller Welt das Recht dieses Gottes verbreitet und so auch Licht in die Welt bringt, die Völker aufklärt. Und das ist das Thema der Epiphaniaszeit: durch Jesus und das Evangelium kam dieses Licht weltweit zum Leuchten. Doch dieses Licht verlöscht, klärt nichts und niemanden mehr auf, wenn wir Jesus nicht mehr als Vertreter, Sprecher und Stimme seines Volkes verstehen, sondern als seinen Gegner, uns und ihn abgrenzen von den anderen Juden. Vorhin, im Evangelium hörten wir, wie Jesus bei seiner Taufe sich solidarisiert mit seinem Volk. Während Johannes einwendet, er habe die Taufe doch nicht nötig, er sei doch anders als alle anderen Juden, besser, besteht Jesus darauf, ganz und gar ein Glied dieses Volkes zu sein. Erst dann und daraufhin wird er bestätigt durch die Stimme vom Himmel, die auf ihn aufmerksam macht: das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Das zeigt uns auch, was unsere eigene Taufe bedeutet: wer sich taufen lässt, ein Christ, eine Christin wird, wird ein tätiger Teilnehmer an dieser Bundesgeschichte. Und so wird auch uns in der Lesung aus dem Römerbrief eine Existenzveränderung zugemutet und zugetraut, eine Metamorphose: euer Gottesdienst, also: eure Aufgabe als Gottesknecht, ist: Passt euch nicht an dem Schema dieser Welt, sondern lasst euch umgestalten.
Die Gottesrede aus dem Jesajabuch erinnert am Ende an den Namen dieses Gottes. Der Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat und allem Volk auf Erden Atem gibt, das ist der, dessen Name bedeutet: ich bin da, bin mit euch, wie auch immer ich mit euch sein werde. Das ist der Sinn und Inhalt der ganzen Schöpfung: dass er mit Israel zusammen sein will und durch Israel und Jesus auch mit uns.
Amen.
Lieder:
zu Beginn: 162 oder 351,7-9.13 oder 125
zwischen den Lesungen: 390
zwischen Credo und Predigt: 389,3-5
nach der Predigt: 293 oder 289,1+4
zwischen Abkündigungen und Gebet: 404,3-4.6-8
zwischen Gebet und Segen: 14,6 oder 23,4 oder 37,3 oder 73,5 oder 317,5
Link zur Online-Bibel
Das Licht für die Völker - Predigt zu Jesaja 42,1–4(5–9) von Mira Stare
Das Licht für die Völker
Liebe Glaubende,
die Weltnachrichten, die uns vor allem über die Medien täglich mitgeteilt werden, bringen uns positive und schöne Nachrichten, aber noch häufiger schwere, traurige und dunkle Ereignisse aus der ganzen Welt. In ihnen können wir die Sehnsucht vieler Menschen wahrnehmen, aus verschiedener Situationen der Unterdrückung und Gewalt gerettet zu werden. Der Blick in die Geschichte der Menschheit zeigt, dass diese Sehnsucht nach der Befreiung zu allen Epochen der Menschheitsgeschichte gehört.
Die heutige Lesung aus dem zweiten Teil des Jesajabuches (Deuterojesaja, Jes 40-55) berührt eine besonders schwere Zeit der Heilsgeschichte, nämlich die Exilszeit. Im Jahr 586 v. Chr. zerstörte Nebukadnezar Jerusalem und sogar den Tempel und führte vor allen die jüdische Oberschicht in die babylonische Gefangenschaft. Diese Gefangenschaft dauerte weder einige Monate noch einige Jahre, sondern eine viel längere Zeit, etwa fünfzig Jahre. Erst der Perserkönig Kyros II., der das babylonische Reich 539. v. Chr. eroberte, erlaubte den Exilanten den Rückkehr in ihre Heimat (das Kyros-Edikt). So will der zweite Teil des Jesajabuches den Juden in Babel vor allem Mut und Hoffnung machen. Ihre Gefangenschaft in Babel wird ein Ende haben. Gott wird sie wieder nach Zion zurückführen. Er wird sie durch seinen Knecht retten und den Bund mit ihnen erneuern.
Der Prophet kündigt an, dass Gott nicht allein handelt, sondern durch seinen Knecht. Die heutige Lesung ist das erste der vier Gottesknechtslieder bei Deuterojesaja und stellt uns die Gestalt des Gottesknechtes vor Augen. Der Gottesknecht ist von Gott geschaffen und erwählt. Gott hat gefallen an ihm und stützt ihn, auch durch die Gabe seines Geistes. Gott gibt seinem Knecht eine wichtige Sendung. Diese ist mit dem Wort „Recht“, das wiederholt vorkommt, definiert. Der Gottesknecht wird auf die Erde und den Völkern das Recht, das von Gott kommt, bringen. Er wird blinde Augen öffnen, Gefangene aus dem Kerker holen und alle, die im Dunkel sitzen, aus ihrer Haft befreien. Konkret geht es hier um die Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft. Man kann aber diese Formulierungen auch symbolisch lesen. Dann kann man noch viele andere Formen der Gefangenschaften erkennen sowohl damals als auch heute. Auch diese werden mit Hilfe des Gottesknechtes überwunden. Es fällt weiter das Verhalten des Gottesknechtes auf. Er schreit und lärmt nicht. Er handelt gewaltlos:
„Das geknickte Rohr zerbricht er nicht
und den glimmenden Docht löscht er nicht aus.“ (Jes 42,3)
In seinen Bemühungen ist der Gottesknecht unermüdlich, konsequent und zielstrebig:
„Er wird nicht müde und bricht nicht zusammen,
bis er auf der Erde das Recht begründet.“ (Jes 42,4)
Der Gottesknecht und sein Verhalten hat eine universale Bedeutung. Er begründet das Recht auf der Erde. Er ist das Licht für die Völker und nicht nur für das Volk Israel.
Gott hat die Gefangenen aus dem babylonischen Exil befreit und heimgeführt und damit einen schweren und dunklen Abschnitt der Heilsgeschichte bewältigt. Gott handelt aber weiter. In Jesus Christus, seinem Sohn, verwirklicht sich noch radikaler das, was Jesaja angekündigt hat. Jesus Christus ist der Gottesknecht entsprechend den Vorstellungen des Jesaja schlechthin (vgl. Mit 12,18-21). Er setzt sich ein für das Recht und die Gerechtigkeit Gottes gewaltlos, konsequent, unermüdlich. In ihm und seinem Verhalten wird Gott selber sichtbar und wird Gottes Reich und seine Gabe des ewigen Lebens erfahrbar. Auf diese Weise ist er „das Licht für die Völker“ (vgl. Lk 2,32).
Liebe Glaubende, Gott handelt in seinem Sohn auch in unserem Leben gewaltlos, unermüdlich, konsequent. Wir sind eingeladen, unser Leben zu betrachten und dankbar seine befreiende Wirkung zu erkennen. Er wirkt auch an unseren Mitmenschen, in unseren Familien, in der Gesellschaft, in der Welt. Wenn wir neben diesem Licht zugleich aber auch die Dunkelheit in uns und in der Welt von heute erfahren, dann sind wir durch die Heilsgeschichte ermutigt, an das Licht zu glauben und unsere Hoffnung zu stärken. Das letzte Wort wird Gott haben, in seinem Knecht / in seinem Sohn, im Licht für die Völker und für uns alle. Und dort, wo wir dieses Licht erfahren, dort sind wir aufgefordert, es an unsere Mitmenschen und Völker weiter zu geben – gewaltlos, unermüdlich, konsequent.