Der Lebensfaden, der nicht reißt - Predigt zu Jes 38,9-20 von Anke Fasse

Der Lebensfaden, der nicht reißt - Predigt zu Jes 38,9-20 von Anke Fasse
38,9-20

Den ganzen Nachmittag schon sitzt sie in der Kapelle des Krankenhauses. Die Kerzen am Lichterbaum brennen. Sie hält einen bunten Faden in den Händen, den sie immer wieder betrachtet, befühlt, ihn irgendwie ausmisst. Ich sitze einige Reihen hinter ihr. Dann wendet sie sich zu mir um, blickt mich an und sagt: „Wie ist das eigentlich mit dem Lebensfaden? Ich denke schon den ganzen Nachmittag darüber nach.“
Das eigene Leben, wie ein bunter Faden. Individuell die Farben, das Material, die Stärke der Einzelfäden, die zusammenkommen und auch die Länge. Wie ist das eigentlich mit dem Lebensfaden? – als Krankenhausseelsorgerin ist diese Frage für mich allgegenwärtig.
Ich denke an einen Besuch auf der Palliativstation, an die Worte einer Patientin: „Mein Lebensfaden wird bald abgeschnitten. Schnipp schnapp, einfach so.“ Traurig und resigniert liegt die schmale, blasse Frau im Bett. „Es gibt keine Hoffnung mehr. Keine Therapieoption“, fährt sie fort. „Warum?“ fragt sie? „Warum passiert mir das? Hätte ich das gewusst… so gerne würde ich … ist das gerecht? Wie kann Gott das zulassen … wo ist er überhaupt?“ Die Klage einer schwerkranken Frau, die ihren Tod vor Augen hat und so gern noch leben würde. Die Klage, die Bitte, der Schrei hin zu Gott – so alt wie die Menschheit. Biblisch, wenn Hiskia betet:   

In der Mitte meines Lebens muss ich dahinfahren, zu des Totenreichs Pforten bin ich befohlen für den Rest meiner Jahre. Ich sprach: Nun werde ich nicht mehr sehen den Herrn, ja, den Herrn im Lande der Lebendigen, nicht mehr schauen die Menschen, mit denen, die auf der Welt sind. Meine Hütte ist abgebrochen und über mir weggenommen wie eines Hirten Zelt. Zu Ende gewebt hab ich mein Leben wie ein Weber; er schneidet mich ab vom Faden. Tag und Nacht gibst du mich preis; bis zum Morgen schreie ich um Hilfe; aber er zerbricht mir alle meine Knochen wie ein Löwe; Tag und Nacht gibst du mich preis. Ich zwitschere wie eine Schwalbe und gurre wie eine Taube. Meine Augen sehen verlangend nach oben: Herr, ich leide Not, tritt für mich ein! Was soll ich reden und was ihm sagen? Er hat’s getan! Entflohen ist all mein Schlaf bei solcher Betrübnis meiner Seele. (Jes 38, 10b-15)

(Lied, wenn möglich von Kantor*in gesungen: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibst. Um Frieden, um Freiheit, um Hoffnung, bitten wir. In Sorge, im Schmerz, sei da, sei uns nahe Gott. Ergänzungsheft zum EG 24, 1)

Ich erinnere mich an einen anderen Besuch: „Ich weiß, dass mein Leben nach dem Unfall am seidenen Faden hing“, das sagt der Patient immer wieder. Seit über drei Monaten liegt er nun hier im Krankenhaus. Mühsam lernt er gerade wieder laufen. Sprechen und schreiben kann er schon wieder. Es liegt noch ein langer Reha-Weg vor ihm. Und er weiß auch, dass er in sein altes Leben so nie wieder zurückkehren kann und wird. Die alte körperliche und geistige Fitness wird er nicht wieder erreichen. Und doch ist er voll des Glücks, der Dankbarkeit über diese unverdiente zweite Chance, wie er sie selbst nennt. „Und die nutze ich, diese zweite Chance, jeden Tag, da können sie sicher sein!“ Ja, da bin ich mir sicher, so wie er mich anstrahlt. Dieser Mann hat Heilung erfahren – und er erzählt dies weiter, quasi als Loblied, den Menschen und auch Gott. Auch das ist biblisch. Ich lese das Gebet des Hiskia weiter:

Herr, davon lebt man, und allein darin liegt meines Lebens Kraft: Du lässt mich genesen und am Leben bleiben. Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe; denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück. Denn die Toten loben dich nicht, und der Tod rühmt dich nicht, und die in die Grube fahren, warten nicht auf deine Treue; sondern allein, die da leben, loben dich so wie ich heute. Der Vater macht den Kindern deine Treue kund. Der Herr hat mir geholfen, darum wollen wir singen und spielen, solange wir leben, im Hause des Herrn. (Jes 38, 16-20)

Mein Handy klingelt. Es ist meine Freundin. „Hast Du Lust heute ein bisschen zu feiern?“, fragt sie. Ich bin etwas überrumpelt. „Wieso? Was gibt es denn zu feiern?“ „Das Leben“, sagt sie ganz schlicht. Und sie fügt hinzu: „Ich war heute bei der Krebsvorsorge. Und vorher hatte ich wieder diese scheiß Angst. Dieses Gefühl, es könnte alles einfach ganz schnell zu Ende sein und ich kann nichts machen. Aber: Alles ist gut! Ist das kein Grund zu feiern?“ Ja, wir feiern das Leben, einfach so, weil es nicht selbstverständlich ist. Was für ein schöner, fröhlicher Abend mit Lachen und Reden, mit Brot und Wein.

(Lied, wenn möglich von Kantor*in gesungen: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibst. Um Einsicht, Beherztheit, um Beistand bitten wir. In Ohnmacht, in Furcht, sei da, sei uns nahe Gott. Ergänzungsheft zum EG 24, 2)

Wie ist das mit dem Lebensfaden? Wer entscheidet über seine Länge?

Das Bändchen in meinem Gesangbuch ist – vielleicht gar nicht so zufällig – bei Psalm 90. Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. Ja, wir wissen, dass wir irgendwann sterben werden. Ja. Auch Hiskia, der das biblische Loblied singt und Heilung erfahren hat. Auch der Patient, der so glücklich und dankbar ist, dass sein seidener Lebensfaden wieder fest wurde. An dem Abend mit meiner Freundin, da haben wir es bedacht und dabei und deswegen das Leben gefeiert, bewusst, bei Brot und Wein.
Die Endlichkeit bedenken, beim Feiern, in Gesundheit, in Krankheit und im Gebet. Und darauf zu vertrauen, dass Gott mich hört, mich erhört. Aus Erfahrung, nicht nur von der Palliativstation, wissen wir, dass Erhörung nicht bedeutet etwa eine Krebserkrankung zu heilen. Aber ist Erhörung nicht auch Kraft, Trost, Halt, Geborgenheit, Vertrauen, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist? Es ist die Sehnsucht da, dass aus der Klage vor dem Tod das Vertrauen in das Leben werden kann.

(Lied, wenn möglich von Kantor*in gesungen: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibst. Um Heilung, um Ganzsein, um Zukunft bitten wir. In Krankheit, im Tod, sei da, sei uns nahe Gott. Ergänzungsheft zum EG 24, 3)

Wie ist das mit dem Lebensfaden? Ich habe immer nur einen Teil des Lebensfadens in der Hand, nicht den Anfang und auch nicht das Ende. Mit diesem Teil kann ich etwas machen. Diesen kann ich befühlen, ertasten, etwas hineinweben, herausreißen, an etwas anknüpfen. Der rote Faden bei all den offenen Fragen ist der Liebesfaden Gottes zu uns. Dieser kennt keinen Anfang und kein Ende. In ihn hineingewebt sind alle unsere individuellen, bunten Lebensfäden.
Meine Gedanken gehen wieder zurück zu der Frau in der Krankenhauskapelle. Der Faden, den sie in ihren Händen befühlte, den hatte sie aus dem Taufbecken genommen. Diese Worte sind darin eingraviert: Fürchte Dich nicht. Ich habe dich erlöst! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein! (Jes 43, 1)

Wie ist das eigentlich mit dem Lebensfaden? Meine Antwort an die Frau in der Kapelle ist: Ich vertraue darauf, dass unser Lebensfaden in Gottes Händen gut aufgehoben ist – und deswegen auch niemals reißt oder abgeschnitten wird, egal was passiert. Ja, unser Lebensfaden ist bei Gott in guten Händen – und so vertraue ich bei und in allem auf sein „Fürchte Dich nicht!“ Amen.

(Lied, wenn möglich von Kantor*in gesungen: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibst. Dass du, Gott, das Sehnen, den Durst stillst, bitten wir. Wir hoffen auf dich, sei da, sei uns nahe Gott. Ergänzungsheft zum EG 24, 4)

 

 

 

 

 

 

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrerin Anke Fasse

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mein Predigtort ist die Kapelle des Krankenhauses. Meine Gemeinde sind eine kleine Zahl von Patient*innen, die ich in der Regel vorher nicht persönlich kenne. Auch wird der Gottesdienst per Video in die Zimmer übertragen. Ich feiere Gottesdienst mit und für Menschen, die sich im Krankenhaus in einer Ausnahmesituation befinden. Ein Gespür für die Kostbarkeit und Unverfügbarkeit des Lebens liegt oft in der Luft, ebenso wie die Frage nach Sinn und Ziel des Lebens sowie angesichts von schweren Diagnosen die Frage des „Warum“.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Bild des Lebensfadens zu skizzieren und auszugestalten hat mir großen Spaß gemacht. Dieses Bild aus dem Predigttext aufzunehmen, es in den Ort Krankenhaus mit den Lebensgeschichten und -fragen der Menschen hineinzutragen und mit der Geschichte Gottes zu verbinden – eine Komposition, die mich beflügelt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wie ist das mit dem Lebensfaden? Eine existentielle Frage heute genauso wie zu biblischen Zeiten. Allein mit dem auf Gott vertrauenden „Fürchte dich nicht“ kann ich diese Frage für mich und mein Gegenüber aushalten.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Fokussierung im Bild des Lebensfades und die Zentralisierung auf den vertrauenden klaren Schluss.

Perikope
10.10.2021
38,9-20

Gottesknecht gegoogelt. Karfreitagscollage - Predigt zu Jesaja 52, 13-53,12 von Jürgen Kaiser

Gottesknecht gegoogelt. Karfreitagscollage - Predigt zu Jesaja 52, 13-53,12 von Jürgen Kaiser
52, 13-53,12

[Pfarrer/in:]

Prolog.

Karfreitag. Der Tag, an dem der Sohn Gottes starb. Was soll er uns sagen, dieser Tag – dieser Tod? Viele Zeitalter, nachdem er geschehen?

Viele Zeitalter, bevor er geschehen, sagt Gott zu Israel dies:

[Sprecher/in 1:]

Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. Wie sich viele über ihn entsetzten – so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch und seine Gestalt nicht wie die der Menschenkinder –, so wird er viele Völker in Staunen versetzen, dass auch Könige ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn was ihnen nie erzählt wurde, das werden sie nun sehen, und was sie nie gehört haben, nun erfahren.

[Pfarrer/in:]

Gibt es noch etwas, das noch nie erzählt wurde? Können wir noch etwas erfahren, was wir noch nie gehört haben? Was könnte uns noch in Staunen versetzen?

[Sprecher/in 1:]

Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und an wem ist der Arm des Herrn offenbart?

***

[Pfarrer/in:]

Gottesknecht gegoogelt eins: hässlich.

[Sprecher/in 2:]

„Ich bin ein 27-jähriger Mann und sehr hässlich. Mein ganzes Leben lang wurde ich wegen meinem Aussehen gemobbt und runtergemacht. Viele Leute haben mir persönlich gesagt, ich sei das hässlichste Lebewesen, das je existiert hat. Außerdem sagten mir einige Menschen, manchmal sogar vor der ganzen Klasse, dass ich Selbstmord machen sollte, weil mein Aussehen unerträglich ist. […] Bei der Arbeit gab es mal eine Situation, wo einer sein Handy rausnahm, um mich zu filmen, dabei sagte er: "Boah ist der hässlich". […] Menschen wie ich sollten gar nicht erst existieren. Ich bin der Untermensch. Ich hatte noch nie wirkliche Freunde und noch nie eine Beziehung zu einer Frau. Mit 27 Jahren bin ich immer noch eine Jungfrau. Außerdem wurde ich von 2 Prostituierten abgelehnt. Nicht mal Prostituierte wollen was mit mir zu tun haben.
Zu meiner Person: 191cm, 95kg, dunkelbraune Haare, braune Augen, komisches hässliches Gesicht.“ [https://www.hilferuf.de/thema/ich-bin-haesslich-und-denke-oft-ueber-sui…]

[Sprecher/in 1:]

Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.

***

[Pfarrer/in:]

Gottesknecht gegoogelt zwei: krank.

[Sprecher/in 2:]

„Oberarzt Stefan Münster hat gerade einen 24-Stunden-Dienst und ist nassgeschwitzt, weil er in voller Schutzmontur einer Covid-19-Patientin die Lungenmaschine angeschlossen hat. […] Da kommt eine Pflegerin ins Arztzimmer und drückt ihm ein Telefon in die Hand, ein Angehöriger ist dran. Er fragt Münster, ob der Zeit für ein Gespräch hätte. Draußen piepen die Maschinen, durch die geöffnete Tür sieht man Pfleger hin- und hereilen, hört die Assistenzärzte reden. […] Er sagt: „Klar habe ich Zeit.“

Der Anrufer […] sitzt mit dem kleinen Sohn allein daheim. Den Mann quält die Angst um seine Frau. Es folgt ein langes Gespräch, an dessen Ende Münster sagt: „Heute war kein guter Tag. Aber morgen ist ein neuer Tag.“

Die Ärzte und Pfleger hier betonen oft, sie könnten nicht mit jedem „mitsterben“. Sie haben gelernt, sich emotional abzuspalten, um trotz der vielen Erfolge nicht an den unvermeidlichen Niederlagen kaputtzugehen. Das Gespräch mit dem Mann, sagt Münster später, werde er dennoch „mit nach Hause nehmen“. Solange die Fallzahlen draußen nicht sinken, gibt es hier drinnen nur eine Möglichkeit, dem Mann, dessen Frau er das Leben retten soll, in die Augen zu blicken: Wenn die Frau im Sterben liegt. Es ist die einzige Ausnahme, wegen der Angehörige die Intensivstationen betreten dürfen.“ [https://www.geo.de/wissen/gesundheit/23067-rtkl-pandemie-um-leben-und-t…]

[Sprecher/in 1:]

Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn.

[Pfarrer/in:]

Sie können nicht mit jedem mitsterben. Sie müssen sich emotional abspalten. Wie weit kann man mit einem anderen mitgehen? Wie weit kann man überhaupt mit einem anderen mit-leiden und mit-sterben? Wer kann das schon? Man muss doch selbst irgendwie am Leben bleiben – physisch und psychisch und emotional. Das ist ja auch nicht leicht – in diesen Tagen. Das Mitleiden und das Mitsterben muss sich einer erstmal leisten können! Man muss vieles abspalten in den Tagen der Pandemie, das viele Leid, die vielen Toten und das Warum?

Abgespalten haben wir auch die Frage, was das mit Gott zu tun hat. Ob das Virus eine Strafe Gottes sei. Abspalten und wegdrücken muss man diese Frage, sonst wird man an Gott verrückt. Wen sollte denn Gott damit strafen wollen? Die, die gestorben sind? Uns alle? Zu was soll denn diese Frage führen außer zu absurden Schuldzuweisungen? Und zu einem kranken Glauben an einen giftigen Gott.

Und doch ist die Frage da. Sie lässt sich nicht so einfach unter den Teppich kehren. Sie nagt weiter. Trotz theologisch-kirchlichem Frageverbot. Irgendwo ist immer ein schlechtes Gewissen und dann ist die Frage, die man nicht stellen soll, wieder da: Bekommen wir jetzt die Rechnung für unsere Sünden? Ist das fitte und flexible Virus Gottes Rache für unseren fortgesetzten Frevel an seiner Schöpfung?

Ist heute der Tag, an dem diese Frage mal gestellt werden darf? Weil sie schon beantwortet wurde? Mit der unglaublichsten alle unmöglichen Antworten? Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. […] Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten.

[Sprecher/in 1:]

Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und an wem ist der Arm des Herrn offenbart?

***

[Pfarrer/in:]

Gottesknecht gegoogelt drei: stumm.

[Sprecher/in 2:]

„Wer in Berlin Plötzensee im Namen des Volkes vom Leben zum Tode gebracht wurde, dem zeigte sich der Staat in aller Macht und Herrlichkeit. Der Henker im Cut, seine drei Knechte im schwarzen Anzug. Der Herr Kammergerichtsrat in roter Rohe, der Staatsanwalt und der Pfarrer im schwarzen Talar, die Justizbeamten im jagdgrünen Tuch, der Anstaltsarzt im weißen Kittel, die Gäste in Uniform. Auf dem Tisch ein Kruzifix, an der Wand zwei hohe Kandelaber. […] An diesem Todesort herrschten Recht und Ordnung, war jeder Schritt durch eine Vorschrift festgelegt. Für die Gäste gab es Eintrittskarten und den Hinweis: "An der Richtstätte wird der deutsche Gruß vermieden." Vom Opfer erwarteten die Beamten, daß es sich dem Protokoll gemäß verhalte, "ruhig und gefaßt" Nur selten fiel einer aus der Rolle. "Ich erinnere mich an keinen, der geweint hat, geschrien oder sich gewehrt", sagt mir der evangelische Pfarrer Hermann Schrader, 80, der damals ein dutzendmal dabeisein mußte. "Mancher war auch dadurch beruhigt, daß man ihm sagen konnte: Ich stehe hinter Ihnen, bis das Fallbeil fällt."“ [https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40351220.html]

[Sprecher/in 1:]

Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.

***

[Pfarrer/in:]

Gottesknecht gegoogelt vier: nicht mehr im Lande der Lebendigen.

[Sprecher/in 2:]

„Beyan* sieht gut aus. Schlanke weiße Hände, melancholischer Künstlerblick, perfekt sitzende Lederjacke. Keine Narbe durchzieht das glatte Gesicht, der 25-Jährige lächelt verhalten. Beyan könnte Bankangestellter sein oder Berater, freundlich und zuvorkommend, einer von Millionen Zugereisten, die sich in Deutschland eine Existenz aufgebaut haben.

Doch der junge Mann aus Syrien […] hat ein Problem: Er kann seine Haustür in Berlin nicht aufschließen, weil das Geräusch des sich drehenden Schlüssels ihn in Panik versetzt. Er hat Angst vor Autos, vor seinen Gedanken und Erinnerungen, Angst vor seinem eigenen Schatten.

"Sie waren wie die Wölfe", beginnt Beyan seinen Bericht. "Sie" - die Männer mit den Masken, die Männer mit der Macht, die Folterknechte des syrischen Militärgeheimdienstes in Damaskus. Im März 2006, sagt Beyan, habe er auf einer Gedenkfeier für die Opfer eines Massakers in der Stadt Qamischli im Nordosten Syriens Gedichte vorgetragen. …

Fragen habe man ihm gestellt, endlos wiederholte Fragen, auf die er keine Antwort wusste: "Sie schleppten mich in eine Zelle, wo ich mich ausziehen musste", sagt er leise. […] "Sie banden meine Arme und Füße an eine Eisenstange. Dann schlugen sie mich, immer wieder, von allen Seiten." […] Auch Elektroschocks seien an der Tagesordnung, sagt Beyan: "Wenn sie den Strom anschalten, kannst du nicht mehr reden und bist total wehrlos. Danach bist du so erschüttert, dass du mit dir selbst nicht mehr klarkommst", sagt er und verbirgt sein Gesicht in den Händen. "Sie haben mich so fertiggemacht, dass ich das Vertrauen in die Menschen verloren habe."“ [https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/folteropfer-in-deutschland…]

[Sprecher/in 1:]

Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wen aber kümmert sein Geschick? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat seines Volks geplagt war. Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist.

***

[Pfarrer/in:]

Epilog.

Karfreitag. Der Tag, an dem der Sohn Gottes starb.

Gibt es noch etwas, das noch nie erzählt wurde? Können wir noch etwas erfahren, was wir noch nie gehört haben? Was könnte uns noch in Staunen versetzen?

Christus, der gestorben ist, ist der junge Mann, so hässlich, dass er nicht mehr leben will. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.

Christus, der gestorben ist, ist die Frau, mit der der Arzt nicht mitsterben konnte, weil er weiter Leben retten muss. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen.

Christus, der gestorben ist, ist der, der nicht geweint hat, nicht geschrien hat und sich nicht gewehrt hat, als man ihn nach Recht und Ordnung und Protokoll gemäß hinrichtete, … wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer.

Christus, der gestorben ist, ist Beyan, der Syrer, den sie so fertiggemacht haben, dass er das Vertrauen in die Menschen verloren hat. Wen aber kümmert sein Geschick?

Christus stirbt jeden Tag.

[Sprecher/in 1:]

Aber der Herr wollte ihn also zerschlagen mit Krankheit. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und lange leben, und des Herrn Plan wird durch ihn gelingen. Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden. Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben dafür, dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.

[Pfarrer/in:]

Karfreitag. Der Tag, an dem der Sohn Gottes starb.

Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und an wem ist der Arm des Herrn offenbart?

„Heute war kein guter Tag. Aber morgen ist ein neuer Tag.“

…und des Herrn Plan wird durch ihn gelingen.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Bildungsbürgerlich geprägte, kulturell interessierte Gemeinde mit historischem Migra-tionshintergrund (Hugenotten) und hohem Akademikeranteil, darunter einige Theo-log/inn/en und Ruhestandgeistliche. Es gibt keine traditionelle „Karfreitagsfrömmig-keit“, die Karfreitagsgottesdienste sind im Unterschied zu den gut besuchten Ostergot-tesdiensten kaum besser besucht als normale Sonntagsgottesdienste.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich war erstaunt, wie schnell man in Internet Beispiele für die verschiedenen existenti-ellen Leiderfahrungen findet, die im Gottesknechtslied angesprochen und auf die Fi-gur des „Gottesknechts“ bezogen werden, und wie leicht sie von sich aus – also ohne vermittelnde Auslegung – den Bezug zum Bibeltext zeigen.

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das Motiv der stellvertretenden Sühneleistung hat mich ermutigt, den theologisch heiklen Themenkomplex: Corona-Virus – Schuld – Strafe Gottes anzusprechen, ohne ihn detailliert zu erörtern. Das Kreuz und der Karfreitag geben theologisch unlösbaren Fragen Ort und Stunde, an dem sie gestellt werden und zu ihrem Recht kommen dür-fen, ohne dass ihre Unauflöslichkeit uns dauerhaft belastet.

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
An dem oben unter 3. benannten Punkt wurde ich gebeten nochmal nachzudenken. Das hat zu klareren Formulierungen geführt. Durch die Einführung von mitzuspre-chenden Zwischenüberschriften wurde die vorher nicht klare Zuordnung von Beispiel-text und Predigttext deutlicher.

Perikope
02.04.2021
52, 13-53,12

Ein etwas anderes Liebeslied… zu singen bei einem Becher Wein… - Predigt zu Jesaja 5, 1-7 von Sven Evers

Ein etwas anderes Liebeslied… zu singen bei einem Becher Wein… - Predigt zu Jesaja 5, 1-7 von Sven Evers
5, 1-7

Jakob liebt es, auf dem Markt herum zu schlendern.

Das Stimmengewirr, das ihm jedes Mal erscheint wie ein einziger großer Klangteppich voller Leben.

Die vielen Farben, die Gerüche, die Klänge, das so bunte Leben - wie schön, ein Teil davon zu sein. Wie schön, hier einfach einzutauchen und sich treiben zu lassen. Und neben den vielen Buden und Wagen, an denen es die außergewöhnlichsten Dinge zu kaufen gibt, die vielen Darbietungen von Gauklern und Artisten, von Liedermachern und….

Das ist doch dieser Jesaja da hinten an der Ecke, denkt Jakob. Dem war er schon mal begegnet. Ein ausgemergelter Mann mit einem Blick, in dem so viel Wissen und so viel Wahrheit und auch so viel Leben liegt, dass Jakob auf Anhieb fasziniert war. Jakob drängelt sich durch die Menge und hört gerade noch die Ankündigung eines Liedes

Ein Lied von meinem Freund will ich Euch singen. Es ist das Lied von meinem Freund und seinem Weinberg.

Jakob kennt Weinberge. Er hat sie von klein auf besucht, gemeinsam mit seinem Vater.

Draußen vor der Stadt. Sanft auf Hügeln gelegen, der Sonne zugewandt, wachsen dort die schönsten Trauben. Süß und saftig.

Und sie schimmern in der Sonne. Und es perlt im Becher, wenn sie nach der Lese gekeltert werden und die Winzer probieren, ob sie gelungen sind oder nicht.

Kritisch lassen sie dann den Saft im Becher kreisen, riechen, schmecken, schlürfen mit der Zunge und schauen konzentriert drein. Und wenn dann mit einem zufriedenen Nicken der Becher weiter gereicht wird, dann ist die Freude groß, und Jakob ließ sich gerne anstecken von dieser Freude und schmeckte auch von dem frischen Saft.

Ja er weiß, wie viel Arbeit in einem Becher Wein steckt. Die Trauben, die einzeln gelesen werden an Weinstöcken, die immer wieder beschnitten werden müssen und gewässert und vom Ungeziefer befreit und und und… Da gehört viel Arbeit zu und viel Geduld und ganz viel Liebe.

Und er weiß, wie kostbar so ein Weinberg ist - mit Mauern gesichert, dieser kostbare Besitz, in dessen gelungener Ernte das Leben liegt und das Überleben derer, die daran arbeiten - während Missernten ganze Familien in Hunger und Not stürzen können.

 

Die erste Strophe

Mein Freund hatte einen Weinberg

auf einem fruchtbaren Hügel.

Er grub ihn um, entfernte die Steine

und bepflanzte ihn mit den besten Weinstöcken.

Mittendrin baute er einen Wachturm.

Auch eine Kelter zum Pressen der Trauben hob er aus.

Dann wartete er auf eine gute Traubenernte.

aber der Weinberg brachte nur schlechte Beeren hervor.

 

Jakob glaubt, sich verhört zu haben. Schlechte Beeren? Was ist denn das für ein Liebeslied? Was ist denn das für ein Reim, den der Prophet da macht? Was sind das für Klänge und für Worte, die sich da auf einmal in seinen Vortrag schleichen? Jakob ist in Gedanken noch bei fruchtigem Wein, bei sich im Becher spiegelndem Sonnenlicht, bei Tanz und Fröhlichkeit, wie er sie von den Weinfesten kennt, die im Herbst gefeiert werden. Und nun das?

 

Die zweite Strophe

Jetzt urteilt selbst,

ihr Einwohner von Jerusalem und ihr Leute von Juda!

Wer ist im Recht - ich oder mein Weinberg?

Habe ich irgendetwas vergessen?

Was hätte ich für meinen Weinberg noch tun sollen?

Ich konnte doch erwarten, dass er gute Trauben trägt.

Warum hat er nur schlechte Beeren hervorgebracht?

 

Jakob schaut sich um. Die Menschen um ihn herum schauen ähnlich empört drein wie er selbst. Es ist nur ein Lied - aber dieser Jesaja versteht es, Menschen zu berühren und mit hineinzunehmen in das Geschehen, das muss er ihm lassen. Als ginge es um sie selber schauen die Menschen, und auch Jakob ist ganz außer sich. Was für ein Weinberg! Natürlich hat der Besitzer alles getan - das weiß er aus den Erzählungen derer, die selber Weinberge haben und aus den vielen Besuchen dort. So viel Arbeit, so viel Mühe, so viel Zeit und so viel Geld steckt da drin. Alles hat der Weinbergbesitzer getan, alles hat er geopfert, alles hat er auf eine Karte gesetzt - und dann so etwas! Wenn es irgendeinen Sinn machen würde, Weinberge zu verurteilen: Natürlich ist der Weinberg im Unrecht und natürlich ist der Freund im Recht. Wie groß muss die Enttäuschung sein, wenn nach so viel Einsatz und Mühe nur schlechte Beeren übrigens bleiben. Wie groß muss die Wut sein, wenn all die Arbeit umsonst ist und die Liebe, die darinnen steckt und das Bemühen, das den Weinberg behandelt hat fast als wäre er nicht nur ein Garten mit einer Mauer drumherum, sondern ein guter und geliebter Freund, dessen Liebe und Frucht man doch erwarten darf nach allem, was man für ihn getan. Ich würde… denkt Jakob … ich würde….

 

Die dritte Strophe

Ich will euch sagen,

was ich mit meinem Weinberg tun werde:

Die Hecke um ihn herum werde ich entfernen

und seine Schutzmauer niederreißen.

Dann werden die Tiere ihn kahl fressen und zertrampeln.

Ich werde ihn völlig verwildern lassen:

Die Reben werden nicht mehr beschnitten

und der Boden nicht mehr gehackt.

Dornen und Disteln werden ihn überwuchern.

Den Wolken werde ich verbieten,

ihn mit Regen zu bewässern.

 

Ja, genau das würde ich auch tun, denkt Jakob wütend und stampft geradezu mit dem Fuß auf. Was für ein Weinberg! Was für eine Unverschämtheit. Alles, wirklich alles hat man für ihn getan - und dann so was! Da ist es ja wohl verständlich, dass der Besitzer wütend wird?! Dass er zornig und außer sich Mauern ein und Hecken ausreißt. Hat er doch nicht anders verdient, der Garten mit diesen unnützen Trauben…!

 

Jakob kennt das irgendwie.

Als Kind war es ihm mit seinem Lieblingsspielzeug mal ähnlich ergangen. Er hatte sich alle Mühe geben, es zu verstehen, doch es wollte und wollte nicht funktionieren - bis er es dann wütend in die Ecke warf. Wobei… war es nur Wut, überlegt Jakob? War es nicht eine Mischung aus Wut und aus Trotz und aus Enttäuschung und aus …. Liebe? War nicht vielleicht mancher Wutausbruch des Vaters, der ihm im Nachhinein Leid getan hatte, auch nichts anderes als Enttäuschung darüber, dass er mit seiner Liebe bei Jakob ja durchaus nicht immer das erreichte, was er sich vielleicht erhoffte? Und hatte er selber das nicht auch schon erlebt, dass Wut und Enttäuschung gerade da am größten waren, wo auch die Liebe am größten ist? Wo mir der oder die Andere eben nicht egal ist…? Könnte es am Ende sein…. dass dieses Lied gar nicht nur von Weinbergen, sondern von ganz anderem….

 

Die vierte Strophe

Wer ist dieser Weinberg?

Der Weinberg des Herrn Zebaoth,

das sind die Bewohner von Israel.

Die Leute von Juda,

sie sind sein Lieblingsgarten.

Der Herr wartete auf Rechtsspruch,

doch seht her, da war Rechtsbruch.

Er wartete auf Gerechtigkeit,

doch hört nur, wie der Rechtlose schreit.

 

Jakob hatte es ja gerade geahnt. Manche um ihn herum wohl auch. Betreten schauen sie drein und stellen fest, dass sie in ihrer Wut über den Weinberg gerade sich selber das Urteil gesprochen haben. Ihr seid es - funkelt der Prophet die Menge aus klaren Augen an! Ihr seid es, die Gott, der Herr, geliebt hat von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all seiner Kraft! Aus der Gefangenschaft in die Freiheit hat er euch geführt. Das Land hat er euch gegeben und Frieden und Brot und sein gutes Wort und alles, was ihr zum Leben braucht. Und was tut Ihr? Schaut, wie ihr seine Liebe mit Füßen tretet! Schaut, wie ihr umgeht mit euren Mitmenschen - eure Schwestern und Brüder. Schimpft nicht über den Weinberg, der schlechte Früchte gibt. Weinberge können nicht hören! Seht die Tränen der enttäuschten Liebe eures Gottes und schaut in Eure eigenen Gesichter. Der Weinberg Gottes, sein Lieblingsgarten - Ihr seid es. Und was habt Ihr daraus gemacht!

 

Jakob steht stumm. Die Menschen stehen stumm.  Sie schauen zu Boden. Wütend manche und kopfschüttelnd. Betreten und betroffen andere. Langsam dreht Jakob sich um und geht davon. Fühlt den Blick des Propheten auf sich. Hört nicht mehr das Stimmengewirr um sich herum - nimmt sie nur noch verschwommen wahr: die Geräusche und die Farben und die Gerüche… Ein merkwürdiges Lied auf den Lippen. Ein Lied, das ihm so schnell nicht aus dem Kopf gehen wird.

Epilog - oder: Die letzte Strophe

Die letzte Strophe gibt es nicht.

Jedenfalls nicht im Jesajabuch.

Wie würde das Lied weiter gehen?

Wie würde Jakob es weiter erzählen?
Wie ich?

Wie Gott?

Wie kann ich die Rede von Wut und Zerstörung aus Enttäuschung über nicht erwiderte Liebe mit meinem Bild von Gott zusammen denken?

Andererseits: Laufe ich nicht Gefahr, Liebe zu Beliebigkeit verkommen zu lassen, wenn ich angesichts meines und unseres Handelns Menschen und auch Gott gegenüber nicht auch von Enttäuschung, von Wut, von Gericht spreche?

Und wieder: Wir sind heute hier.

Weil Zerstörung und eingerissene Mauern und zertrampelte Gärten eben nicht das letzte sind.

Weil Gott immer wieder neu anfängt, immer wieder neu pflanzt und pflegt und hegt.

Trotz allem, was wir sind.

Wie gerne würde ich mich darüber mit Jakob austauschen. Ich bin sicher wir hätten einander so vieles zu erzählen und so vieles zu fragen…. am liebsten bei einem guten Becher Wein …

 

Amen.

 

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Dr. Sven Evers

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
„Meine“ Landgemeinde – Menschen aus dem Dorf, alt und jung; Konfirmandinnen, die so mittelmäßig gerne kommen; manche Erwachsene, die kommen, weil zu Corona-Zeiten außer Gottesdiensten nichts stattfindet; Stammgäste – überwiegend geübte Predigthörer*innen, für die allerdings manch interne Diskussion um die Textzusammenstellung zu diesem Sonntag (Jes 5 gg. Mk 12) und die damit gegebene Thematik möglichen Anti-Judaismus überhaupt keine Rolle spielt.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Jakob – in früheren Predigten der „kleine Jakob“ ist mir schon lange lieb, um mich und die Hörer*innen in die Welt der alten Propheten mit hinein zu nehmen. Sich im Eintauchen in die Geschichte selber neu zu verstehen – von der Geschichte verstehen lassen gewissermaßen – das finde ich immer wieder reizvoll. Von daher auch relativ wenig Übertragung nach dem Motto „Was uns das ganze heute sagen will“. Ich vertraue auf das Verstehen, das sich im Mit-Gehen ereignet.

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
„Der Zorn Gottes ist das Brennen seiner Liebe“ – so oder so ähnlich hat es Karl Barth gesagt. Ich mag das nicht mit vollziehen. Andererseits: Das Handeln der Menschen – und auch meines – hat Konsequenzen, ist nicht egal. Das immer wieder zu betonen und den „lieben Gott“ nicht zum Deppen zu machen, der nicht „lieb“, sondern beliebig ist – darüber werde ich sicher weiter nachdenken. Und die Hörer*innen vielleicht ja auch.

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich danke meiner Coachin Beate Schmidtgen ganz herzlich für das tolle Feedback!! Ich habe nicht jede ihrer Anregungen aufgenommen. Vor allem aber die Idee, den kleinen Jakob ein paar Jahre älter werden zu lassen und so ganz neue Identifikationsmöglichkeiten für Hörende zu schaffen, habe ich gerne aufgenommen. Nicht nur dafür ganz herzlichen Dank!

Perikope
28.02.2021
5, 1-7

Ein Hügel im Morgenrot - Predigt zu Jesaja 58, 1-9a von Manfred Wussow

Ein Hügel im Morgenrot - Predigt zu Jesaja 58, 1-9a von Manfred Wussow
58, 1-9a

Rufe laut, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden! Sie suchen mich täglich und wollen gerne meine Wege wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie wollen, dass Gott ihnen nahe sei.

»Warum fasten wir und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib und du willst’s nicht wissen?«

Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter.

Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit oder seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der Herr Wohlgefallen hat?

Ist nicht das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.

Predigt

Der unbekannte Zaungast

Pssst! Da schleicht sich doch ein Mensch ins Bild! Während alle Blicke auf Amanda Gorman gerichtet sind und sogar Tränen fließen, hat sich ein unbekannter Zaungast an den Rand gestellt. Niemand hat ihn kommen sehen. Nicht einmal die Soldaten, die den neuen amerikanischen Präsidenten, J. Biden, bei seiner Einführung und Amtsübernahme schützen. Was waren das vorher für turbulente Zeiten! Sie erinnern sich? Sogar das Capitol wurde gestürmt. Schlagzeilen, Bilder,  Befürchtungen! Rund um die Uhr. Jetzt sind viele Fahnen aufgestellt für die die vielen Menschen, die nicht kommen dürfen. Ein Fahnenmeer in Coronazeiten.

Und Amanda Gorman, eine junge Frau, in leuchtend gelbem Mantel und rotem Haarband, trägt gerade ihr Gedicht vor:

The Hill We Climb1

Der Hügel, den wir erklimmen

„Der Morgen graut, und wir fragen uns, wo nur, in diesen endlosen Schatten, finden wir Licht? Da sind Verluste, die wir mitschleppen, die See, die wir durchwaten müssen. Die gierige Bestie, ihr haben wir getrotzt, gelernt, dass Ruhe nicht wirklich Frieden heißt, dass die Normen, die Vorstellungen, das was just ist, nicht immer auch recht ist. Der Morgen aber gehört uns und das, noch bevor wir's wussten. Wir schaffen das, irgendwie….“

Der Morgen graut. Die Nacht geht zu Ende. Aber wir fragen uns, „wo nur, in diesen endlosen Schatten finden wir Licht?“  Es ist von Verlusten die Rede, die wir mitschleppen, und von der See, die wir durchwaten. Jede, jeder von uns hat jetzt auch eigene Erfahrungen im Kopf und im Herzen. Albträume am Morgen? Bleiern? Danach ist das Aufstehen eine Befreiung.

Amanda Gorman gibt dann auch die Antwort: „Der Morgen aber gehört uns, und das, noch bevor wir’s wussten.“ In dem Bild vom Morgengrauen liegt eine große Gewissheit: So beginnt der neue Tag.

Wir haben gelernt, dass Ruhe – oder auch Stille – nicht wirklich schon Friede ist. Ein ansteckender Satz: „Aber wir schaffen das, irgendwie.“ Merkwürdig: die Offenheit tut gut.

Amanda Gorman soll angeblich dem Präsidenten die Show gestohlen haben. Es wird von bewegenden Momenten erzählt. Viele Gefühle. Und viel Beschwörung. In einer zerbrechlichen Situation.  Ein riesiges Land ist zerrissen. Verschwörungstheorien versprechen einfache Antworten. Die sozialen Klüfte und Verwerfungen sind in Straßenbildern sichtbar und allgegenwärtig. Viele, zu viele Menschen sind an Corona gestorben. Das ist nicht nur in  Amerika so.

Im Gedicht heißt es: „Da ist das versprochene Licht, da der Hügel im Licht, den wir erklimmen, nur den Mut müssen wir finden.“

Das Wörtchen „nur“ fällt auf. „Nur“? Aber – schaut - da ist doch der Mann, der sich eingeschlichen hat! Niemand hat ihn vorher gesehen. Als er nach seinem Namen gefragt wird, sagt er nur: Jesaja. So, als ob ihn alle kennen müssten. Oder kennen würden?

 

Morgenröte

Die Überraschung ist perfekt! Du hier? Aber ich weiß doch, dass Jesaja in einer Predigt gesagt hat:

Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten,  und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen.“

Morgenröte! Nur ein anderes Wort für „der Morgen graut“? Oder doch eine Nuance heller?

Ein Übergang ist markiert, am Anfang eines Tages. Die Nacht schwindet, der Tag zieht herauf und taucht alles in sein morgendliches Licht. Unverbraucht und unbelastet. Im Lied heißt es: „Morgenlicht leuchtet, rein wie am Anfang.“  Jesaja sieht es  aber nicht nur hell werden. Er sieht unser Licht hervorbrechen wie die Morgenröte. Unser Licht! Wir werden Licht!

In den großen Schritten, die du tust, wird heil, was krank, zerstört und zerrissen ist. Schau, deine Gerechtigkeit eilt dir voraus. Sie gleicht einem Boten, der dich ankündigt.  Und wenn du dann zurückschaust, siehst du die Herrlichkeit Gottes. Seine Schönheit. Seine Gegenwart.

Mal schauen wir nach vorne, mal hinter uns. Was sehen wir? Eine neue Welt! Vor uns – und hinter uns. Es hat keinen Sinn mehr, das Dunkle zu beklagen, zu beschwören oder auch zu beschweigen. Während wir aufbrechen, geht Gott hinter uns her und leuchtet unsere Wege aus. Vor uns wächst die Hoffnung. Mit jedem Schritt. Morgenröte! Tolle Bilder! Typisch Jesaja!

Dass Amanda Gorman in seinen Spuren ihr  Gedicht vortragen konnte, konnte Jesaja nicht ahnen. Er ist Zaungast und mehr als das. Zeuge. Vorläufer. Garant. Mit ihm erklimmen wir tatsächlich einen Hügel. Es könnte auch ein Berg sein. Amanda Gorman weiß das gerade noch nicht.

Aber hatte Jesaja nicht gesagt: „Dann wird dein Licht hervorbrechen wir die Morgenröte“? Dann? Wann?

 

Ein hängender Kopf und eine gottlose Faust

Gehen wir doch einmal von Washington nach Babylon. Einen Ort kann ich Ihnen leider nicht nennen. Babylon ist ein Weltreich. Riesige Weiten. Hohe Kultur. Und Wissenschaft vom Feinsten.

Jesaja hat sich gerade hingestellt. Eigentlich Jesaja III.  Er ist Zeitgenosse, Leidensgenosse und Hoffnungsträger in einem. Als Prophet ist er berühmt geworden. Er legt die Heilige Schrift aus, er verkündet Gottes Willen. Die Zeit ist aufgewühlt. Heute predigt er über hängende Köpfe und gottlose Fäuste.

Die Menschen, die Jesaja umringen, sind alles andere als freiwillig hier. Ihre Familien wurden einmal verbannt! Jerusalem, der Tempel, die Stadt Gottes sind zerstört. Ein ganzes Volk wurde einfach weggeführt. Gefragt wurde keiner. Jetzt ist Jerusalem weit weg, die Heimat, ein Sehnsuchtsort und – fast – schon Himmel. Inzwischen sind Jahrzehnte vergangen. Die Alten sind gestorben, die Enkel halten die Nase in den Wind. Auch in der Fremde geht das Leben weiter. Mit schmerzhaften Erinnerungen, Wut im  Bauch und einem großen Trotz. Warum hatte Gott geschwiegen? Warum lässt er sich so verjagen? Warum räumt er dem Feind das Feld?

In der Fremde halten die Menschen fromm und gewissenhaft nach allen Regeln ihre alten Gebräuche und Ordnungen hoch. Das gehört zum Überleben in feindlicher Umwelt. Davon erzählen die Menschen. Sie geben es weiter. Von Generation zu Generation. So, wie sie fasten, fasten die Leute in  Babylon nicht! Das macht auch ein bisschen stolz. Wir sind anders. Nein, wir sind besser. Dabei wollen sie zeigen, wie sie sich an Gott klammern.  An ihren Gott.. Aber sie haben das Gefühl, von Gott nicht gesehen, nicht wahrgenommen zu werden. Du, Gott, sagen sie, siehst nicht an, was wir machen.

Der hängende Kopf ist für Gott …

Jesaja beobachtet, wie sich die Menschen mit ihrer Situation abfinden oder auch anfreunden. Er ist Seelsorger. Schon lange. Er kennt die Namen und die Gesichter, die Geschichten und die Konflikte. Er sieht aber auch die Show, die die Menschen abziehen. Stellt ihr euch nicht selbst dar? Mit frommen abgesenkten Augen, mit hängenden Köpfen bleibt ihr doch ganz unter euch. Ihr übertrumpft euch gegenseitig. Die anderen Menschen – auch in eurer Umgebung - sollen verwundert zuschauen und über euch staunen. Aber was sehen sie? Ihr bedrückt alle eure Arbeiter! Jesaja sagt doch tatsächlich: alle. Ihr nutzt sie aus. Ihr macht Geschäfte, gute Geschäfte, auf dem Rücken von Menschen! Wenn es darauf ankommt, ist euch nichts heilig. Außer euren Gewinnen. Ihr wollt den Markt beherrschen. Ihr wollt euch unliebsame Konkurrenten vom Leib halten. Ihr wollt wissen, wer ihr seid! Abgesenkte Augen? Schaut euch doch an!

Die Faust ist für den Nachbarn …

Aber – was lässt sich mit Faustrecht erzwingen? Eine Hoffnung? Ein Mensch? Gott?

Ist nicht das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“

Wie zufällig geraten wir in diese Predigt. Klar, die Enttäuschung verstehen wir: Wir machen doch alles – aber du,Gott, siehst es nicht. Ist vielleicht die gottlose Faust daran schuld?  Jesaja hat den Vorwurf, Nestbeschmutzer zu sein, schon gehört, ihn aber ignoriert: Es gibt nur einen Weg: Loslassen! Freigeben! „Die du mit Unrecht gebunden hast“, sagt Jesaja. Überdeutlich. Diplomatisch ist das nicht. Mehr: Brich dem Hungrigen dein Brot! Führe die, die im Elend sind, in dein Haus! Dein Brot und dein Haus! Israel ist zwar in der Fremde, aber längst angekommen und arriviert.  Die Frömmigkeit ist ein Stück Folklore, ein Stück Nostalgie geworden. Jesaja ist sogar so verwegen, in seiner Predigt zu sagen, dass wir einfach nur Menschen sind und miteinander verwandt. „Entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut“! Jetzt ist das Brot zu teilen und das Haus zu öffnen. Wir nennen das Solidarität und Gerechtigkeit, Gott nennt es Liebe.

Jesaja hat die hohle Frömmigkeit, die entleere Tradition, die religiöse Selbstdarstellung kritisiert. Genauer: die Selbstgenügsamkeit. Die Selbstzufriedenheit.

Der Kopf ist zu erheben!

Jesaja hat eine Perspektive, eine Zukunft eröffnet mit sozialer Verantwortung und menschlicher Würde. Viele Menschen sind abgeschlagen, zurückgewiesen und ungehört. Die große und kleine Geschichte geht über sie hinweg. Wenn Lebensgrundlagen schwinden.

Die Hand ist zu reichen!

Dabei hat Jesaja nichts anderes gemacht, als sich an Gottes Willen zu orientieren. So hat Gott uns Menschen geschaffen! So geht Gott mit uns durch Dick und Dünn. Mit Brot, das geteilt, mit einem Haus, das geöffnet wird. Das Brot und das Haus – sie werden zu Lichtblicken. Morgenröte eben. Man kann sie schmecken, man kann sie betreten. Man kann sich in sie bergen, in ihr eine Heimat finden. Eine Heimat gewähren!

Jesaja lässt jetzt tatsächlich die Sonne aufgehen, die Morgenröte:  „Dann wird dein Licht hervorbrechen wir die Morgenröte“. Dann!  Gott hat sein Volk nicht verlassen. Sein erstes Wort war: Es werde Licht – und siehe: es ward Licht. Es ist auch sein letztes Wort. In Jesus verbürgt. Er ist das Licht der Welt. Er bricht das Brot. Er ist die Tür. Im Vaterhaus sind viele Wohnungen.

 

Alles andre als geschliffen

Wir schauen nach Washington, wir schauen nach Babylon. Wir schauen unsere Stadt, unser Dorf an. Da sehnen sich Menschen nach Gott und verlieren ihn unbemerkt.  Da lassen sie ihre Köpfe hängen und setzen ihre Fäuste ein.  Da träumen sie von Zukunft und verspielen sie.

Amanda Gorman hat in ihrem Gedicht bei der Einführung des 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten,  vor den Augen der Welt, die unbändige Hoffnung auf eine neue Zukunft für alle Menschen in Worte gefasst.

 „Und, gewiss, wir sind alles andre als geschliffen, alles andre als makellos. Das aber heißt nicht, dass wir uns mühten, eine Gemeinschaft zu schmieden, die perfekt ist. Um eine Gemeinschaft vielmehr mühen wir uns, die Ziel hat und Zweck. Ein Land wollen wir bauen, das allen Kulturen verpflichtet ist, allen Farben, Charakteren und Weisen des Menschseins. Drum richten wir unsere Blicke nicht auf das, was zwischen uns, auf das vielmehr, was vor uns steht.“

Eine Kritikerin des Gedichtes bemäkelte die Euphorie. Es sei zu einfach, kitschig und nicht wahrhaftig genug, was die junge Frau da zu Papier gebracht habe2. Mag sein, doch Jesaja lächelt seiner jungen Kollegin – darf ich das so sagen? –ermunternd  zu. Können wir denn nicht ohne Bedenken, Einreden und politischer Korrektheit von einer „anderen“ Welt reden, die wir nicht nur träumen,  sondern auch in Händen haben? Seht, da ist doch der Hügel, den wir erklimmen können! Und Jesaja zeigt uns das „Morgenrot“.

Amanda Gorman fängt den Ball auf, den ihr Jesaja zuspielt. Es fällt ihr nicht schwer, in Englisch zu sagen, was in Hebräisch zum ersten Mal erklang:

Der Tag wird kommen, und wir treten heraus aus dem Schatten, entflammt und ohne Furcht. Der neue Morgen strahlt, wenn wir ihn befreien. Denn immer ist Licht, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen, nur mutig genug, es zu sein. Mit diesen Worten endet das Gedicht.

Sie hätten noch gerne etwas Konkreteres? Ich weiß nicht, wo ich anfangen, auch nicht, wo ich aufhören könnte. Aber die Vorstellung, für andere Menschen ein  Morgenrot zu werden, gefällt mir so gut, dass ich jeden Tag neu aus Gottes Hand nehmen und geben möchte.

Dann erklimmen wir Hügel. Dann wird dein Licht hervorbrechen. Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

 

2 I Pauline Voss, NZZ 04.02.2021:“ Eine gründliche Lektüre zeigt: Die Zeilen gleichen einer ideologischen Kampfansage“  https://www.nzz.ch/feuilleton/gormans-gedicht-zu-bidens-vereidigung-hae… (04.02.2021)

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Manfred Wussow

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Den Gottesdienst am Sonntag feiern wir mit ZOOM. Ich denke aber auch an Gemeinden, die sich am Sonntag leibhaftig treffen. Mit den bekannten Einschränkungen, an die man sich eigentlich nicht gewöhnen kann. Über Corona zu sprechen, ist aber inzwischen einfallslos. Wir feiern Gottesdienst, unabhängig davon, was Zahlen sagen oder nicht. Der Predigttext legt nahe, in die Morgenröte zu gehen und – mit dem Gedicht von Amanda Gorman – einen Hügel zu erklimmen.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt hat mich, Jesaja mit einer jungen Dichterin in ein Gespräch zu bringen: Amanda Gorman. Sie hat bei der Einführung des neuen amerikanischen Präsidenten vor ein paar Tagen ein Gedicht vortragen können, das kongenial Bilder und Motive aus der prophetischen Überlieferung aufgreift: The Hill We Climb.

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Für mich war es eine Entdeckung, dass Israel nicht nur getröstet wird (s. Jes. 40), sondern auf seine Verantwortung angesprochen wird, die auch unter den Bedingungen der „Fremde“ Gottes Verheißungen aufgreift und übersetzt. Babylon ist – in mehr als einer Hinsicht – auch für Israel die Entdeckung einer weltumspannenden eigenen Identität, die sich in der Diaspora entwickeln muss (und kann).

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Predigt hatte keine/n Coach. Ich habe mit zwar vorgestellt, dass noch ein Mensch mitliest, aber einen Austausch konnte es nicht geben. Manche – möglichen – Einwände habe ich aber zu adaptieren versucht.

 

Perikope
14.02.2021
58, 1-9a

Kommt auf den grünen Zweig! - Predigt zu Jesaja 11, 1-10 von Frank Muchlinsky

Kommt auf den grünen Zweig! - Predigt zu Jesaja 11, 1-10 von Frank Muchlinsky
11, 1-10

Liebe Gemeinde, im Jahre 587 vor Christus beginnt die schlimmste Krisenzeit, die das Volk Israel bis dahin erlebte. Das Land ist zerstört und erobert worden. Der Tempel steht nicht mehr. Gottesdienst kann nicht mehr so stattfinden, wie man es gewohnt ist. Gute Freunde und Nachbarn wurden verschleppt. Das Land liegt am Boden. In dieser Situation tritt Jesaja auf, ein Prophet Gottes. In Gottes Namen sagt er diese Worte:

Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN.
Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften.
Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein kleines Kind wird seine Hand ausstrecken zur Höhle der Natter. Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des HERRN, wie Wasser das Meer bedeckt. Und es wird geschehen zu der Zeit, dass die Wurzel Isais dasteht als Zeichen für die Völker. Nach ihm werden die Völker fragen, und die Stätte, da er wohnt, wird herrlich sein.

Jesaja 11,1-10

2600 Jahr später sind Jesajas Worte unser Predigttext. Wieder ist Krise, wieder sind wir von Menschen getrennt, die wir lieben, wieder können wir Gottesdienst nicht wie gewohnt feiern. Ich will Ihnen sagen, wie ich die alten Worte an diesem Heiligabend 2020 höre. Denn ich glaube, dass es gute Worte für uns sind.

Euer Unglück wird ein Ende haben! ihr denkt vielleicht, es geschieht nichts, weil es zu langsam für eure Augen geschieht. Aber auch Pflanzen wachsen, ohne dass ihr ihnen dabei zuschauen könnt. Die Erlösung, auf die ihr wartet, wächst auf die gleiche Art wie ein grüner Zweig, der sich aus einem trockenen Stamm hervorschiebt: Grün, zart und am Anfang noch zerbrechlich, aber voller Leben! An solchen neuen Zweigen können auch wieder Früchte wachsen.

Vielleicht zweifelt ihr, aber ich sage euch, es wächst bereits! Kommt auf den grünen Zweig!

Eure Erlösung ist schon auf dem Weg, weil Gott längst eingegriffen hat. Woher haben Menschen denn ihre Ideen für Impfstoffe? Woher haben wir unseren Verstand und unser Mitgefühl, die uns verantwortlich handeln lassen? Es ist Gottes Geist, der in uns atmet! Wenn ihr den Eindruck habt, es gäbe nur noch Dummheit, Unrecht und Egoismus, dann schärft euren Blick. Macht die Augen auf für jedes Aufblitzen von Gottes Geist in der Welt! Es ist da und wird größer werden, denn Gott lässt wachsen! Wie ein Kind groß wird, werden Verstand und Einsicht zunehmen in das, was Gott will.

Schaut auf den grünen Zweig, die nächste Genration! Hört ihnen zu, denn sie sehen anders als ihr. Sie sehen, was nötig ist. Sie erkennen, was Gott und seiner Schöpfung dient! Und das ist ihr Antrieb. Sie lassen sich nicht beruhigen, wenn die Welt droht zu verbrennen und das Meer droht, die Küsten zu überfluten. Sie erkennen, was gerecht ist und was nicht, weil sie sich nicht vormachen lassen, eine Hauptfarbe oder ein Geschlecht seien besser als andere.

Eure Erlösung hat begonnen. Gebt acht, dass ihr sie nicht hemmt! Ich weiß, dass Gerechtigkeit weh tut. Aber sie tut denen weh, die von der Ungerechtigkeit profitieren, nicht denen, die unter ihr leiden. Frieden macht denen Schmerzen, die vom Krieg profitieren. Armut ist eine Schande, nicht für Armen, sondern für euch Reiche. Gott wird seine Gerechtigkeit reif werden lassen wie eine Frucht an dem neuen Zweig. Dann hat das Elend endgültig ein Ende.

Wenn die Gerechtigkeit groß wird, werden die Gewalttäter auf die Gewalt verzichten müssen. Die Kriegstreiber werden ohne Rüstung nackt dastehen wie ein neugeborenes Kind. Die Reichen werden lernen, sich daran zu freuen, wie es für alle reicht. Die Unterdrückten werden Gründe sammeln, ihren ehemaligen Unterdrückern zu verzeihen.

Eure Erlösung liegt vor euch. Sie ist in Windeln gewickelt, in Gerechtigkeit und Treue. Seid ebenfalls treu! Hegt und pflegt den neuen Zweig! Hofft nicht allein auf das, was vielleicht morgen möglich ist, sondern lasst der Zukunft Zeit zu wachsen. Vertraut Gottes Verheißung, dann werdet ihr feststellen, dass alles möglich werden kann. Erlaubt Gottes Geist das Stoßlüften in euren Köpfen und Herzen! Denkt euch das Schönste und Unwahrscheinlichste und fangt an, darauf zu hoffen!

Stellt euch vor: Der Neonazi zieht beim Migranten ein. Im Nahen Osten herrscht Frieden! Autokraten kümmern sich um andere, Rüstungsfirmen bauen Windräder, keine Frau muss mehr Angst vor ihrem Mann haben, Hautfarben sind einfach schön!

Ihr dürft euch freuen! Schaut, wie die Erlösung grünt und wächst! Der alte Stamm treibt einen neuen Zweig aus, Ein Kind ist geboren. Gott hat euch alles gegeben, was ihr jemals braucht. ihr könnt dabeistehen und warten, bis diese Erkenntnis höher steigt als der Meeresspiegel, oder ihr könnt anfangen euch zu freuen und zu helfen, dass es wächst. Macht mit beim Frieden! Überall gibt es gute Initiativen, die dem Frieden dienen. Schließt euch der Wahrheit an! Überall wo Propaganda geschieht, werden auch gute Argumente vorgetragen. Schafft Gerechtigkeit! Überall kann man auch Waren kaufen, die gerecht produziert werden. Gebt ab! Brot für die Welt braucht Eure Spende in diesem Jahr mehr denn je. Hört auf Eure Kinder! Überall gibt es Demos, auf die ihr sie begleiten könnt. Verzichtet auf jeden Tag Fleisch, verzichtet niemals auf die Liebe!

Amen

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Frank Muchlinsky

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
In diesem Jahr werden die Präsenz-Weihnachtsgottesdienste kleiner, kürzer und kälter sein. Die Predigten sollten darum schnell auf den Punkt kommen. Ich selbst werde die Predigt voraussichtlich zu Hause aufzeichnen und dann im Internet veröffentlichen. Zuhören werden darum vermutlich vor allem die Abonnent:innen meines "Zuversichtsbriefes", den ich wöchentlich seit Beginn der Coronakrise per E-Mail versende.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Beschreibung des "Friedensreiches" in dem Jesajatext ist so schön, dass ich am liebsten mich gleich zwischen Wolf und Lamm legen und mitkuscheln möchte. Die Vorstellung, dass solch ein Frieden möglich ist, dass wir auf so etwas tatsächlich hoffen, hat mich dazu gebracht, eine Übertragung der Prophezeiung zu schreiben. Gerade angesichts der Corona-Krise möchte ich zu Heiligabend sagen, dass das gute Ende nah und da ist.

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich mag die Idee, dass de Formulierung "Auf einen grünen Zweig kommen" von Jesaja stammt.

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich konnte ein paar vermeintlich besonders pfiffige Formulierungen loswerden, was der Predigt sicher hilft. Ich habe außerdem ausführen und präzisieren können, wo es nötig war.
Ich hoffe, dass die Predigt dadurch noch einladender und weihnachtlicher werden konnte.

Perikope
24.12.2020
11, 1-10