Altes Lied mit neuem Klang - Predigt zu Jes 49,1-6 von Elisabeth Tobaben
Liebe Gemeinde,
„By the waters of Babylon, there we sat down, there we wept and we remembered Zion ...“ an den Wassern Babylons saßen wir und weinten und dachten an Zion.
Die Gruppe Bonnie M. landete vor Jahren einen riesen Hit mit den alten Worten aus Psalm 137. Vielen dürfte die Melodie noch immer im Ohr sein. „Sie wollen ein Lied von uns“, heißt es weiter, „aber wie sollen wir Gott in der Fremde ein Loblied singen?“
Eine spannende Geschichte steckt hinter diesem Song: Der babylonische Feldherr Nebukadnezar hatte 587 vor Christi Geburt Jerusalem erobert und die Stadt und den Tempel in Schutt und Asche gelegt. Damals waren viele Juden, vor allem die gut ausgebildeten Fachkräfte, von den Siegermächten verschleppt worden, in die babylonische Gefangenschaft. Eigentlich ging es ihnen dort gar nicht so schlecht, im Zweistromland von Euphrat und Tigris. Sie durften sich Häuser bauen, konnten eigene Felder bestellen, sie durften weiter ihren Gott Jahwe verehren, durften mitten zwischen den Gottesdiensten der fremden Religion der Sieger ihre eigenen Feste feiern, ihre religiösen Riten vollziehen. Was fehlte, war der Tempel! Der Ort, an dem sie ihre Opfer darbringen konnten. Den Ort, von dem sie wussten: Hier ist uns Gott besonders nahe, den gab es nicht mehr! Und so schwebte über allem die Frage: Sollen wir uns integrieren? Als Heimatvertriebene, hier wo wir jetzt leben müssen, einheimische Partner*innen heiraten, ein Haus bauen, die Sprache lernen, versuchen, die fremde Religion zu verstehen? Oder sollen wir uns vielleicht doch besser abgrenzen, unter uns bleiben, und damit die Hoffnung auf Rückkehr und Wiederaufbau lebendig halten? Das Heimweh jedenfalls war geblieben, nach Jerusalem, nach dem Berg Zion. Auch wenn sie wussten, dass dort alles kaputt war, nichts mehr so aussah, wie sie es in Erinnerung hatten: Trotzdem sehnten sie sich zurück. An den Wassern Babylons saßen wir und weinten und erinnerten uns an dich, Zion, die Heimat, das Zuhause, den Tempelberg in Jerusalem.
Singen wir es in der Kanonfassung von Don McLean und Lee Hayes.
„Lieder zwischen Himmel und Erde“ Nr. 23 By the waters of Babylon
Einer der Verschleppten ist der Prophet Jesaja. Auch er singt, er findet offenbar in einem alten Lied seine derzeitige Stimmung besonders gut ausgedrückt. Er singt:
1 Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merket auf! Der Herr hat mich berufen von Mutterleib an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war
2 Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt.
3 Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will.
4 Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz, wiewohl mein Recht bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott ist.
5 Und nun spricht der Herr, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde, – darum bin ich vor dem Herrn wertgeachtet, und mein Gott ist mein Stärke –.
6 Er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen; sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde.
Jesaja erzählt von seinem Auftrag, es scheint ihm äußerst schwer gefallen zu sein, ihn zu erfüllen. Er klingt resigniert: „Ich aber dachte, ich arbeite vergeblich und verzehre meine Kraft umsonst und unnütz!“ Das klingt nach Erschöpfungsdepression, wir würden sagen: Der Prophet leidet womöglich am Burnout-Syndrom, er ist ausgebrannt und leer, nichts geht mehr, alles wird zu viel, die Wogen schlagen über ihm zusammen. Das Gefühl, völlig erfolglos zu sein mit seiner Arbeit, zieht ihn herunter. Er denkt sich: Es interessiert eigentlich keinen, was ich hier mache; keiner hört mir wirklich zu, Israel lässt sich nicht sammeln. Seine Trostversuche laufen ins Leere, er kommt nicht an. Er kann nicht mehr. Dass Jesaja seine Landsleute weinend an den Wassern Babylons sitzen sieht, trägt sicher dazu bei, dass die depressive Grundstimmung auf ihn überspringt. Das kann ja manchmal sehr schnell gehen.
Doch halt – das alles liegt jetzt ja längst in der Vergangenheit! Als er das Lied singt, hat Jesaja seine Krise bereits überwunden! Die große Frage ist – und das könnte für uns heute ja auch interessant sein – wie hat er das denn eigentlich geschafft? Was hat geholfen? Wie ist er wieder herausgekommen aus dem dunklen Loch?
Er erinnert sich. „Was hat denn früher schon einmal geholfen?“, ist die entscheidende Frage und der Weg, die eigenen Ressourcen in den Blick zu bekommen. „Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht“, sagt Jesaja. Ich vermute, er war ein scharfzüngiger Redner, der die Dinge auf den Punkt zu bringen wusste. Eine besondere Begabung! Er erkennt: Es geht gar nicht um enorme Anstrengungen, die ich unternehmen soll... Jesaja weiß: Er hat es mit dem Gott zu tun, „der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht berufen hat...“ Er weiß sich beauftragt, ist nicht aus eigenem Antrieb unterwegs. „Ich habe dich zum Licht gemacht für die Heiden“, sagt ihm Gott, zum Licht für die ganze damals bekannte Welt. Eine entscheidende Eigenschaft des Lichtes ist: Es breitet sich aus, einfach so, ist schon von weitem zu sehen, auch wenn es noch so klein ist. Die Leuchtfeuer an unseren Küsten machen sich das zu nutze, sie warnen Schiffe mit ihren Lichtzeichen davor, der Küste oder den vorgelagerten Sandbänken zu nahe zu kommen.
Dass die Inseln im Text vorkommen, das mag uns heute morgen hier auf der Insel Juist besonders erfreuen. Was es heißt, ein bisschen abgelegen und tidenabhängig schwer erreichbar zu sein, davon können wir ein Lied singen! Diese Inseln vor der Mittelmeerküste, die der Prophet direkt anspricht, stehen allerdings als besonders abgelegene Gegenden für den Rand der damals bekannten Welt. So weit, bis an die Enden der Erde, bis zu den fernsten Völkern und sogar auf die Inseln, soll das Wort des Propheten gelangen, und damit das göttliche Licht. Jesajas Auftrag wird erweitert: Er soll nicht nur die Zerstreuten Israels wieder zusammenbringen, sondern auch noch Licht sein für die Heiden, also auch den Nichtjuden das Heil bringen und die Liebe Gottes.
Für die Verschleppten gibt es plötzlich wider Erwarten doch ein Hoffnungszeichen: Die Perser hatten die Babylonier geschlagen, und der Perserkönig Kyros hatte ein Edikt herausgegeben, das den Jerusalemern im Exil die Rückkehr ermöglichen sollte. So, und als da Jesaja auftritt, nennt man ihn den Tröster, übrigens auch, um ihn von anderen Kollegen mit demselben Namen zu unterscheiden. Er soll seine Leute ermutigen, die Chance zu ergreifen und zurückzukehren nach Jerusalem. „Tröstet, tröstet mein Volk“, mit diesem Zitat beginnen die Aufzeichnungen über ihn. Später wird sich seine Spur verlieren, Jesaja 2. ist offenbar nicht mit den anderen nach Jerusalem zurückgekehrt, es gibt sogar Spekulationen darüber, ob er vielleicht im Exil umgebracht worden sei.
Bis an die Enden der Erde ... Dass das Licht, das von Gott kommt, auch die erreichen kann, die so weit weg sind, das ist das eigentliche Wunder. Manchmal geschieht das einfach, wenn alte Texte plötzlich lebendig werden, alte Lieder ganz neu zu klingen beginnen.
Es ist der 10. November 1989. Ich bin mit meinem Auto unterwegs vom Weserbergland Richtung Duderstadt im Eichsfeld, die Stadt lag damals noch direkt an der Grenze zur DDR. Ich wollte dort JS Bachs h-Moll-Messe mitsingen. Die Straßen sind völlig verstopft, jede Menge Trabis kommen mir entgegen, die Fahrer halten alle die Hand mit dem V-Zeichen aus dem Fenster. Parkplätze gibt es überhaupt nicht mehr, ich muss die letzten gut 5 km zu Fuß zurücklegen, und komme natürlich viel zu spät und mit brennenden Füßen in die Probe. Als ich versuche, mich durch die völlig überfüllte St.-Servatiuskirche auf meinen Platz im Chor durchzukämpfen, intoniert die Kantorei gerade: „Et in in terra pax“ - „Und Friede auf Erden...“ Ich lasse vom Podest aus meinen Blick über die Kirche schweifen, überall sehe ich völlig aufgelöste, tränenüberströmte Menschen, die in genau diesem Text ihre eigenen Hoffnungen entdecken, Frieden und Freiheit. Das gibt es manchmal, dass ein Text, eine Musik aus alter Zeit genau den Nerv der Gegenwart treffen, zum Trost wird und Hoffnung weckt. Friede auf Erden und Freiheit, das war die Sehnsucht der Menschen um die Wendezeit. Und in Duderstadt fanden sie ihre Gefühle und ihre Träume wieder in einer damals etwa 250 Jahre alten Musik!
Es soll ein Licht aufgehen für alle Menschen, und Gottes Heil soll die Enden der Erde berühren. Damit bekommt Jesajas Lied zum Schluss eine ganz große Weite. Ein altes Lied beginnt neu zu klingen.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich denke an die Insel- und Urlaubergemeinde auf der Insel Juist. Viele der Gäste sind zu Hause kirchlich engagiert und oft auch theologisch gebildet. Daneben gibt es aber auch Gäste mit einer schwierigen kirchlichen Vergangenheit, die es hier mit der Kirche „noch einmal versuchen“ wollen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Idee, dass es sich bei Jesaja 49 um ein Lied handelt, auch da ich selber gerne singe; und die Idee, das alte Lied durchsichtig werden zu lassen für gegenwärtige Erfahrungen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die eröffnete Weite, die sich als verbindendes Thema auch in anderen Texten dieses Sonntags wiederfindet.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Vor allem die Anregung meines Predigtcoaches, die einzelnen Teile der Predigt gegenüber dem Entwurf noch einmal umzustellen, hat mich besonders inspiriert.
Link zur Online-Bibel
Ein Lied, das keine Schnulze sein will - Predigt zu Jes 12,1-6 von Frank Nico Jaeger
Zornig im Wald.
Bevor der Tag richtig heiß wird, habe ich mich auf den Weg gemacht. Mein Ziel ist der kühle Wald. Noch schnell ein bisschen Sport, bevor die Hitze kommt. Vor meinem Aufbruch eine Tasse Kaffee und ein schneller Blick in die aktuelle Tageszeitung. Das Titelbild zeigt brennende Bäume. Darüber steht: Höchste Waldbrandgefahr.
Oben im Wald treffe ich dann auf zwei rauchende Frauen. Die beiden sind vertieft in ihr Gespräch und aschen automatisch die verbrannten Teile ihrer Zigaretten auf den ausgetrockneten Waldboden.
Was ist denn hier los? Hinter mir ist eine dritte Frau aufgetaucht und baut sich jetzt vor den Raucherinnen auf. Ob diese nicht wüssten, dass man im Wald nicht rauchen soll. Erwischt! Eine versucht noch, etwas zur Ehrenrettung zu stammeln. Bloß, es nützt nichts. Die unbekannte Frau ist schon wieder auf dem Rückweg, sagt laut etwas von „unverantwortlich“ und „so dumm kann kein Mensch sein“ und schüttelt dabei energisch mit dem Kopf. Als sie an mir vorbeigeht, ruft sie, ich bin eigentlich nicht so, aber ich kann auch anders.
Ich bin eigentlich nicht so.
Mit mehr Wucht hätte der Tag nicht beginnen können. Meine Sympathie gehört der zornigen Frau, die so schön geschimpft hat, morgens im Wald. Ich mag den Wald. Schon immer und die aktuelle und anhaltende Trockenheit macht mir Sorgen. Schwer nur zu ertragen die großen Schneisen, die die letzten Dürrejahre in ihn hineingefressen haben. Die Bilder von brennenden Wäldern überall auf der Welt machen es nicht besser. Es gibt eigentlich nur noch drei Jahreszeiten, schreibt einer auf Twitter: Winter, Frühling, Feuer. Das Lachen bleibt mir im Hals stecken.
Und jetzt diese Frau, im morgendlichen Wald, die das ausspricht, was ich denke. Klar hätte sie das netter sagen können, freundlichere Worte wählen können, ruhiger im Auftreten sein können. Aber wozu?
Ich bin beeindruckt: Der offen zur Schau getragenen Achtlosigkeit der Menschen kann man nicht mit Gleichmut begegnen. Und wenn die Vernunft gehört werden soll, dann wird sie laut sein müssen. Zornig werden müssen. Vielleicht sind die Vernünftigen einfach zu leise. Nicht nur in unserer Zeit.
Ich danke dir, HERR, dass du zornig gewesen bist.
Das sind Worte des Propheten Jesaja ben Amoz. Er hat in seinem Leben einige Krisen und Katastrophen erlebt. Hat sie auch alle kommentiert und immer wieder gewarnt. Mal freundlich und leise, mal zornig und laut. Aber nichts hat sich verändert. Jetzt hat er darüber sogar ein Lied geschrieben und singt eine Einladung zum Handeln: Stellt euch vor, wie es sein wird, wenn wir jetzt was ändern.
Und zum Handeln gibt es allen Grund. Die Zeiten sind schlecht: Es droht Unheil aus der Richtung des Großreichs Assyrien, die Menschen machen sich Sorgen: um Haus und Hof, um Hab und Gut, um das Leben selbst. Das Volk steckt fest im Würgegriff des Schicksals.
Aber Jesaja glaubt fest daran, dass die Geschichte trotzdem gut ausgeht. Dass sich das Blatt wendet und es doch einen Ausweg aus dem ganzen Schlamassel gibt. Genau davon handelt sein Lied.
Danken für den Zorn?
Und zu dieser Handlung gehört auch der Dank für Gottes Zorn. Wenn ich bete, danke ich Gott für alles, was er für mich und meine Lieben getan hat. Ich bitte um Schutz und Bewahrung, hoffe auf einen milden Verlauf und darauf, dass mein Tagwerk gelingen möge, bete für Frieden und selbstverständlich habe ich Gott auch schon gedankt, aber noch nie für seinen Zorn. Jesaja ben Amoz schon.
Es gibt eine Geschichte im Neuen Testament, die alle vier Evangelisten beschreiben: Der zornige Jesus im Tempel stößt wütend Tische um. Anfang dreißig randaliert der Gottessohn im Heiligtum, weil er es nicht erträgt, wie die Menschen mit dem Tempel, dem Wohnzimmer Gottes, umgehen. Wessen Tisch durch die Luft fliegt, darf sich getrost provoziert fühlen.
Und Jesus? Der ist verärgert, enttäuscht, wütend über die Uneinsichtigkeit. Ihn ärgert die Unbeweglichkeit, mit der Teile des Volkes auf die altbekannte Botschaft reagieren.
Nicht nach der eigenen Verantwortung und Schuld fragen?
Möglichst immer einen Schuldigen parat haben, der die Prügel kassiert?
Von Nächstenliebe faseln, aber die syrische Familie für den Bus zahlen lassen?
Vor all diesen Problemen steht Gott, zuckt die Schultern und merkt, wie der Zorn in ihm wächst. Was hat er nicht alles versucht. Am Ende hat er sogar mal einen Regenborgen in die Welt gepflanzt, als Zeichen seines guten Willens. Aber auch das geriet bald wieder in Vergessenheit. Dabei ist es nicht seine Schuld, dass Wälder oder Häuser brennen. Er ist nicht schuld an den Kriegen auf dieser Welt und er holzt auch nicht den Regenwald ab. Er ist zornig, weil die Menschen es besser wissen könnten. Verdienen Geld mit Spekulationen auf Grundnahrungsmittel und bauen lieber Sprit statt Getreide auf den Feldern an. Verplempern Trinkwasser in Gartenpools oder aschen gedankenlos auf staubtrockenen Waldboden.
Da soll man nicht zornig werden?
Für Jesaja, den singenden Propheten, ist Gottes Zorn Ausdruck seiner Liebe. Eine Art Wachrütteln, wie ein umgestoßener Tisch im Tempel oder ein lauter Anschiss morgens früh im Wald.
Jesaja ben Amoz ist Realist. Selbstverständlich singt er darüber, dass Gott zornig sein kann. Sein Lied ist keine Schnulze. Sein Lied beschreibt eine andere Seite Gottes. Sein Lied kennt einen Gott, der auch anders kann.
Und Jesaja schreibt ein Lied
Jesus wütet, Gott zürnt und Jesaja singt mit geliehener Hoffnung darüber, dass es besser werden kann.
Dass sich was ändert.
Dass die Vernunft zurückkehrt und sich durchsetzt.
Dass Menschen einsichtig sind und Fehler korrigieren wollen und bei sich selbst damit anfangen.
Und wenn Menschen im dritten Hitzesommer nacheinander achtlos in den Wald aschen, darf man trotzdem die Hoffnung nicht fahren lassen.
Dann darf man auch mal aus der Haut fahren und schimpfen.
Und dabei an Gott denken, der auch zornig werden kann.
Und der eigentlich gar nicht so ist, aber eben auch anders kann.
AMEN.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Am 14. Sonntag nach Trinitatis sind die großen Ferien vorbei und der Sommer klingt aus. Das Freibad hat noch geöffnet, ein großes Volksfest steht endlich wieder vor der Tür. Die, die an diesem Tag kommen, bilden die Kerngemeinde ab. Ein paar Tourist*innen setzen bunte Farbsprenkler in das ansonsten überwiegend beige Grundrauchen. Es wird ein typischer Sonntag sein, Mitte September.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Wald brennt. In Europa, Amerika und Asien. Zeitgleich laufen Menschen durch die Welt und aschen auf den staubtrockenen Boden. Ich begreife das nicht und spüre Wut, Zorn. Irgendwann muss sich doch was ändern.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Jesaja singt mit geliehener Hoffnung. Er zapft Gott an, der ist ein Hoffnungsspeicher.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Konzentration und Kürzung.
Link zur Online-Bibel
Worauf du achtest - Predigt zu Jesaja 42,1-9 von Peter Meyer
Jesaja 42,1-9 (im Gottesdienst als Lesung)
Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung. So spricht Gott, der Herr, der die Himmel schafft und ausbreitet, der die Erde macht und ihr Gewächs, der dem Volk auf ihr den Atem gibt und Lebensodem denen, die auf ihr gehen: Ich, der Herr, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand. Ich habe dich geschaffen und bestimmt zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden, dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker. Ich, der Herr, das ist mein Name, ich will meine Ehre keinem andern geben noch meinen Ruhm den Götzen. Siehe, was ich früher verkündigt habe, ist gekommen. So verkündige ich auch Neues; ehe denn es sprosst, lasse ich’s euch hören.
Um diese Zeit im Jahr. Die meisten Christbäume haben jede Festlichkeit verloren. Sie türmen sich neben den Glascontainern auf dem Ablageplatz. Zweige zeigen ins Nirgendwo. Kümmerlich nasses Holz, als vergösse es nadelnd Tränen.
Aber nur so lange, bis ein vergessener Strohstern meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Von feinem, rotem Garn zusammengehaltene Strohstrahlen. Am goldenen Band, das eine Hand erwartungsvoll über die Nadeln schob. Ein vergessener Stern genügt. Schon sehe ich den ganzen Baum wieder dastehen. Wie sie in einem Wohnzimmer vor ihm saßen. Satt vergnügt. Oder sattsam melancholisch. Meine Phantasie ist nicht mehr zu bremsen: Jeder Baum auf dem wilden Haufen Bote einer fremden Welt.
Vielleicht liegt es an mir: Wenn ich durch eine fremde Ortschaft spaziere, blitzen manchmal ganz ähnliche Gedanken auf. Besonders im Dunkeln. Wenn die leuchtende Wärme der Fenster ringsum das einfache Geheimnis illuminiert: Dass hinter jedem Fenster die gleiche Heimatbedürftigkeit wohnt. Meine Phantasie geht dann oft noch weiter. Wie es wohl wäre, auch hier zu leben. In dieser Stadt mit ihren Brücken. Es ist nicht so, dass ich dann gleich meinen Umzug plante. In mir erwacht nur die sachte Ahnung von einer fremden Welt.
Um diese Zeit im Jahr liegen solche Phantasien in der Luft. Du musst kein Typ sein, der Neujahrsvorsätze fasst. Es genügt schon, dass es Dir etwas schwerfällt, Dich an diese dritte 2 zu gewöhnen, wenn Du ein Formular ausfüllst: 2-0-2-2. Es liegt in der Luft, weil die Kalenderrücken noch ganz glatt sind und alle Termine noch pure Möglichkeit. Es liegt etwas in der Luft, von ungelebtem Leben. Von der Macht unserer Erwartungen, von schwebender Aufmerksamkeit.
Die jung gestorbene amerikanische Kinderbuchautorin Amy Krouse Rosenthal hat ihre Bedeutung in einem Tweet auf den Punkt gebracht: „An alle, die herausfinden möchten, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen: Achte darauf, worauf du achtest. Pay attention to what you pay attention to. Das enthält so ziemlich alle Informationen, die du brauchst.“
Es ist von Belang, was ich erwarte. Für welche Möglichkeiten ich Phantasie entwickele.
Jesaja liefert Worte für Gottes klare Vorstellung davon, welche Möglichkeit die entscheidende ist. Eine höchstpersönliche Vorstellung. Die Vorstellung einer Person, die wir in der Lesung hörten:
Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter. Er wird nicht schreien noch rufen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen. In Treue trägt er das Recht hinaus.
Klar, dass Christinnen und Christen diese große Möglichkeit, diesen göttlichen Traum vom Knecht Gottes, gleich mit dem Krippenkind gleichsetzten. Mit dem mächtig sanftmütigen Christus. Aber durch diese klare Identifikation geht auch etwas verloren. Schwindet die Phantasie. Die schwebende Aufmerksamkeit dafür, wie die Vorstellung dieses Knechtes eine weltverändernde Kraft freisetzt.
Dabei ist sie so nötig. Jedenfalls kann ich das von mir sagen. Und wir haben zwar unter unterschiedlichen Bäumen gefeiert und wohnen hinter unseren eigenen Fenstern. Aber ich glaube doch, dass wir uns darin gar nicht so sehr unterscheiden. In der Frage, worauf wir normalerweise vor allem achten. Von wem wir etwas erwarten. Das Entscheidende erwarten. Wenn es drauf ankommt.
Sicher: Der eine liest zum Frühstück die MZ, die andere in der Mittagspause BILD. Du in Reihe vier vielleicht permanent Spiegel Online. Aber auf Schlagzeilen sind die meisten gepolt.
Die eine hört gerne jemandem bei YouTube zu und der andere Radio. Aber wir alle hängen an den Lippen von Menschen. Meistens den Eloquenten, Schönen, Klugen. Auch den Lauten. Ich nerve mich selbst damit – aber es wäre gelogen, wenn ich sagte, ich überhöre sie souverän.
Wir warten gespannt, was die neue Regierung so zuwege bringt. Lassen uns beeindrucken, von geistreichen Sätzen. Und kommen nicht drumherum, wenn montags welche mit ihrer Wut lauthals „spazieren gehen“, auch direkt vor dieser Kirche.
Ja, kann ich nur seufzen: Achte darauf, worauf du achtest!
Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. […] und die Inseln warten auf seine Weisung.
Die Worte Jesajas sind zu geheimnisvoll, um sie schnell mal abzuhaken. Wie fremd-vertraute Möglichkeiten eines neuen Jahrs. Wie das vertraute völlig Unbekannte eines erleuchteten Fensters. Wie – und so stimmt es dann doch – der Weg, den Jesus geht. Sie sind ja für diesen Planeten gesagt. Für diese Zeit. Für Euch. Für die Frage, worauf Ihr achtet. Wovon ich etwas erwarte. Und von wem Du. Was ich, was Du als Macht begreifst. Was Dich überzeugt.
Denn so stellen es diese Gottesworte ja vor: Keine Alternative zur Macht. Sondern: Einen schüchterleisen Machtmenschen. Keinen Inbegriff von Ohnmacht. Sondern: Herrschaft im Dienst des wundflatternden Lebens, der Tränenzeiten.
Achte nur mal darauf!
Als virtuose Pianistin hat Hélène Grimaud höchste Auszeichnungen erhalten. Sie spielt auf den ganz großen Bühnen. Man kann in ihr ein Musterbeispiel für Erfolg, Karriere, Leben im Scheinwerferlicht sehen. Aber fragt man sie selbst, wo die Größe ihrer Kunst herkommt, sagt sie Sätze wie: „Ich werde eins mit der Musik, mit dem Werk, und ganz klein. […] Ich […] fühle ich mich wie ein Staubkorn im Universum. Und das ist ein sehr angenehmes Gefühl. Es ist nämlich überhaupt nicht demütigend, sich klein und unbedeutend zu fühlen, sondern wundervoll. […] Es ist manchmal eine Gratwanderung – zwischen dem Selbstvertrauen, das man braucht, um da rauszugehen, sich hinzusetzen und zu spielen, und der Unsicherheit, ob man auch stark genug ist.“
Achtet darauf!
Aber – geht davon Macht aus, auf diesem Planeten? Desmond Tutu, der am zweiten Weihnachtstag gestorbene Erzbischof von Kapstadt, scheute die klaren Worte nie. Dem rassistischen Regime Südafrikas gegenüber. Aber auch, als die einst Unterdrückten Regierungsverantwortung übernahmen. Zäh mahnte Tutu Recht an, das zuerst die Schwächsten schützt. Nach dem Schlüsselmoment seines Lebens befragt, erzählte er von dem Tag, an dem er als Neunjähriger mit seiner Mutter die Straße entlanglief. Apartheid war die zum Himmel schreiende Normalität. Dazu gehörte: Von Menschen schwarzer Hautfarbe wurde selbstverständlich erwartet, in die Gosse zu treten, wenn Weiße entgegenkamen – und den Kopf zu senken. An diesem Tag aber kam ein Mann entgegen, ein „Weißer“, der selbst Platz machte, die Hand zum Gruß an seinen Hut legte. „Das ist ein Mann Gottes“, sagte Tutus Mutter. Das entschied die Sache für Tutu: Auch ein Mann Gottes werden zu wollen. Ja, die Geste dessen, der zurückweicht, verändert die Welt!
So besehen schwingt noch eine geheimnisvolle Offenheit mit, in den Worten von Gottes Knecht.
Ich, der HERR, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand. Ich habe dich geschaffen und bestimmt zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden, dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker.
Diese Worte können das ganze Volk Israel meinen. Ein Volk, in dem Gottes Zuwendung Gestalt annimmt, eine Einladung an die weite Welt. Der lang erwartete Messias kann gemeint sein. Oder für uns Christenmenschen: Der in der Krippe zur Welt gekommene Jesus. Diese Worte können aber genauso gut eine zeitlose Möglichkeit in die Luft legen.
Die Möglichkeit, dass das ein und dasselbe ist: Darauf zu achten, wo die Sorge für den glimmenden Docht den Maßstab gibt, für Macht und Recht. Die Sorge ums Leben am seidenen Faden. Am Sauerstoffgerät. Und: Eine Phantasie für Gottes Gerechtigkeit zu entwickeln.
Dass es ein und dasselbe ist: Darauf zu achten, wo das große Wort der Freiheit zuerst gefragt ist. Unter den Eingekerkerten. Unter ängstlichen Gotteskindern, steif gefroren im Grenzstreifen. Und: Eine Phantasie für Gott zu entwickeln, der befreien wird.
Dass es ein und dasselbe ist: Den Knecht Gottes zu erwarten. Und: Seiner Herrschaft Raum zu geben. Der Sinn fürs noch ungelebte Leben, gerade um diese Zeit im Jahr. Und: Offene Augen haben.
Ja, es kann tatsächlich sein! Achte darauf: Die meisten Christbäume haben alle Festlichkeit verloren. Sie türmen sich neben den Glascontainern auf dem Ablageplatz. Zweige zeigen ins Nirgendwo. Aber der Weihnachtsstern geht auf, über aller Zeit.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt halte ich in der Schlosskirche in Lutherstadt Wittenberg. Am Tag vor Schulbeginn nach den Weihnachtsferien, im Übergang in den 'normalen Takt' des beginnenden Jahres also, soweit das die Pandemie zulässt. In den Wintermonaten sind wenige Tourist:innen in der Stadt und ihren beiden Reformations-Kirchen. Ich finde, dass die (im 19. Jh. gemäß dem preußischen Verständnis von Reformationsgedenken) üppig ausgestattete Schlosskirche gerade dann Akzente von Weichheit, Berührbarkeit benötigt.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt hat mich eine im Grunde meditative Übung: Für den Moment auszublenden, dass die Gottesknecht-Texte des Jesaja-Buches so oft unter der Frage der Identifikation ("Wer ist damit gemeint?") behandelt wurden. Um dann selbst auf die Suche nach Spuren der Haltung und Wirklichkeit zu gehen, für die diese Skizze von einem "Knecht" steht. Wo Zartheit als Machtfaktor vorkommt, zum Beispiel. Ich habe dann versucht, diese Form der meditativen Phantasie durch die Predigt hindurch spürbar zu machen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Als kritische Rückfrage an mich selbst: Wem schenke ich eigentlich Gehör? Auf wessen Stimme gebe ich etwas? Woran orientiere ich mich, wenn es darauf ankommt? Gewiss keine bahnbrechend neue Entdeckung, aber in dieser Zuspitzung eine Lebensfrage. Ich glaube, ziemlich kompatibel mit der gut evangelischen Idee: Das strengt am Ende gar nicht an. Sondern befreit.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Vor allem ein Gedanke zur Struktur: Figuren "auf der Spur des Gottesknechtes" sind das eine. Und die Möglichkeit, daraus eine inspirierende Haltung für uns alle zu machen, ein Zweites. Auch, wenn es gedanklich eng verbunden ist: Gut zu hören ist es erst, wenn ich es klar benenne. Und, wie immer: schmerzhafte, notwendige Trennung von einigen Seiten- und Lieblingsgedanken.
Link zur Online-Bibel
Pflegetermin für Klagefreudige - Predigt zu Jes 49,13-16 von Markus Kreis
13 Jauchzet ihr Himmel; freue Dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der Herr hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden. 14 Zion aber sprach: Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen. 15 Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. 16 Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir.
Das kannste getrost vergessen! Manchem geht es so, wenn er Texte aus der Bibel hört. Und fängt an, missmutig Däumchen zu drehen, seine Hände anzuschauen. Liest lieber in den in die Haut des Handtellers gravierten Furchen und Sprengsel von Linien. Als stünden da Buchstaben, die zusammen einen Sinn ergeben könnten. Das kannste getrost vergessen!
„Vergessen das Vergessen!“, spricht Gott. Denn er entsinnt sich eines jeden Menschen. In die Hände habe ich Dich gezeichnet. Bei diesem Satz ist mir eingefallen: Gott macht das so ähnlich wie ich und Mitschüler in der dritten, vierten Klasse. Es gab ja noch keine Handys mit Notizfunktion oder Adressbuch. Etwas Ähnliches aus Papier hatten wir Kinder nicht auf dem Plan, geschweige denn parat. Auch viele Eltern damals nicht. Wenn wir mündlich eine wichtige Info bekamen, die wir unbedingt behalten wollten, dann haben wir uns das kurzerhand mit dem Kuli auf den Handteller gekrakelt. Dessen Farbe hat nämlich eine ganz schön lange Zeit gehalten, viel Schweiß und Dreck beim Spielen überstanden und die erste Ladung Wasser und Seife beim Händewaschen. Das in die Hand krakeln hat bedeutet, dass man sich dem Absender irgendwie verpflichtet fühlte. Ärger mit ihm vermeiden wollte. Sei es aus Gehorsam, um seinen Aufgaben nachzukommen. Oder sei es aus Zuneigung, um wie bei einem Freund dessen Anliegen zu verfolgen. Gott hat uns in die Hände gezeichnet: Er entsinnt sich eines jeden Menschen, er kommt konsequent dem Dienst nach, den er sich mit uns gestellt hat. Und weil er uns mag.
Gott vergisst uns unser Vergessen. Denn Gott entsinnt sich eines jeden Menschen. Wie hat sich Jesaja Gottes Entsinnen vorgestellt? In die Hände habe ich Dich gezeichnet, heißt es. Gott schaut also auf seine Handteller. Und zwar ohne, dass da etwas aufliegt. Kein Buch und erst recht kein Handy. Irgendwie bin ich beim Nachdenken auf einen Priester gekommen. Einen Priester, der steht und betet und dabei auf seine Handteller schaut. Ähnlich wie in der katholischen Messe bei der Wandlung.
Gott ist wie einer, der dasteht und spricht und indessen auf seine offenen Handteller schaut. Da sieht er uns Menschen samt unseren Mauern im Verfall. Und tatsächlich, schaut man auf seine Handteller, entdeckt man in deren Mitte zwei fast parallele waagrechte Linien. Wie eine Mauerflucht, rechter Hand von links nach rechts, linker Hand von rechts nach links. Unter der unteren Linie, dem Mauerfuß, bis zur Handwurzel hinab, das Feld vor der Mauer. Oberhalb der oberen Linie, der Mauerkante, bis zum Fingeransatz hinauf der offene Himmel. Eine Mauer, die an den Handkanten jäh abbricht und eine Lücke macht. Eine wenig wehrhafte Mauer. Und je nachdem, wie man die Hand bewegt, eine, die man beliebig zu Wülsten stauchen oder glatt überdehnen kann. Ob die bei ordentlich Druck stabil bleibt?
Gott steht und spricht und schaut dabei auf seine offenen Handteller. Mit dieser Geste spricht er ein Machtwort. Installiert damit eine neue Wirklichkeit. So wie sich Gaben auf einem Altar durch Worte und Gesten verändern, zu besonderen Gaben werden. Gott spricht uns zu, was uns fehlt. So gerät neue, gute Bedeutung in unser Leben. Das haben wir manchmal bitter nötig, denn uns Menschen kann es Böse ergehen. Wir gehen unter im Hagel der Ereignisse, die unser Leben angreifen. Eben noch lief es uns leicht aus den Händen. Dann geht uns die Fassung verloren. Uns kommt abhanden, wohin es mit unserem Leben geht. Wir treten auf der Stelle, schwerfällig statt leichtfüßig.
Schöne Überraschung! Vielleicht dunkel geahnt. Haut aber trotzdem und erst recht rein. In Ausflüchten verirrt man sich da nur, jede Zuflucht verstellt sich. Überall kein Ort, nirgends. Eines vergisst man nicht in so einer Lage: Da drängt sich einem auf, da entsinnt man sich einer Sache, manchmal nur insgeheim: Nämlich dessen, was man selber schon Böses erlebt hat. Sei es selbst erlitten oder selbst anderen angetan. Und zu dem gehört, dass wir ahnen: Wir haben Gott überhört. Lagen uns mit allem möglichen anderen Kram in den Händen und vor den Füßen, in den Ohren und vor den Augen. Gott ist uns aus dem Sinn gekommen. Der uns nur Gutes getan hat, auch wenn uns manches zuerst nur Böse erschien.
Wie gehen Menschen damit um, Gott trotz seiner Güte vergessen zu haben? Sich unterordnen, ignorieren und zurückschlagen, so lauten die Stichworte. Sich unterordnen, eigentlich die einzige Wahl, wenn man an Gottes Gnade und Vergebung glaubt. Sich das Vergessen einzugestehen, Gott um Geduld und Vergebung bitten. Selber geduldig sein. Spannungen aushalten. Den Widerspruch annehmen zwischen dem, was ich gerade als böse Wendung erlebe und dem, was mir als gute Wendung zugesagt ist. Das fällt schwer. Dann wählen viele Menschen lieber was anderes, sie verdrängen zum Beispiel, ignorieren. Verdrängen heißt hier: das Ahnen des Vergessens schnell wieder zu vergessen. So tun, als wär´ da nix gewesen. Fortgesetzte geistliche Zerstreutheit. Nichts leichter als das Überspielen. Is´ ja auch irgendwie peinlich, das Ganze. Das Leben geht weiter. Oder Menschen schlagen zurück. Werden klagefreudig. Kehren den Vorwurf um. Kreiden Gott das Vergessen an. Gott hat sein Gedächtnis verloren! Gott hat meiner vergessen. So sagten und dachten es im alten Jerusalem die Menschen. Duckten sich zwischen die Mauertrümmer und Gebäuderuinen der von den Siegern zerstörten Stadt. Alles leere Versprechungen, die neuen Mauern und Gebäude. In Aussicht: Kein Ort, nirgends. Vergessen, dass Gottes Güte sie aus Babylon hierher zurückgeführt hat.
Gott vergisst uns Vergessen und Klagefreude. Denn er reagiert auf Gegenangriff und Verdrängung wie die Mutter aller Mütter. Ja, besser noch als jedwede Mutter. Gottes Pflege verwandelt Freude am Klagen zu Freude an Freude. Bringt ins Glucksen und macht leichthändig. Aus lauter Liebe nimmt er den Pflegedienst auf sich. Und erfüllt ihn gehorsam, also konsequent seinem Willen entsprechend. Gott nimmt uns in seinem Pflegedienst unser Vergessen nicht krumm. Er macht sich krumm. Er macht die Finger krumm. Macht sie sich schmutzig, wo andere sich ekeln vor der Drecksarbeit. Auf unser I don´t care antwortet Gott mit Care Arbeit, Hand- und Fußpflege. In die Hände habe ich dich gezeichnet. Deine Mauern stehen vor mir. Ich bringe dich wieder in gute Fassung. Chaos lichtet sich. Freude am Klagen wird zu Freude an Freude. Meine Handpflege bringt ins Glucksen, beflügelt und macht leichthändig.
Gott vergisst uns unser Vergessen. Manches vergisst sich dann wie von alleine. Und schafft so Platz für neues Leben. Ja, es gibt ein gutes Vergessen. Weil es Freude am Klagen in Freude an Freude verwandelt. Weil es einen ins Glucksen bringt, beflügelt und leichthändig macht. Weil man nur so auf Neues kommt.
Leid vergessen, das einem widerfahren ist. Das vergesse ich Dir nie! Das prägt sich ein, wenn jemandem von einem wichtigen Menschen sehr weh getan worden ist. Darauf kehrt man immer wieder leicht zurück. Das führt dazu, dass man in allem nur noch Drohungen sieht. Egal, was sich auch an Gutem ereignet, egal, was einem die Mitmenschen an Gutem entgegenbringen. Das Gefühl, ein Opfer zu sein, vergessen dank Gott. Ein Gefühl, das einem erwachsen kann, wenn alles nur noch drohend wirkt, dieses Selbstmitleid. Auch den Wunsch nach Rache, vergessen dank Gott, die blinde Wut. Rachewunsch, Wut und Opfersein, alles Gedanken, mit denen sich die gefühlte Drohung lindern lässt. All das vergessen, dank Gott, und statt sich zu rächen, dem anderen vergeben. All das vergessen, dank Gott. Und statt sich zum Opfer zu machen, sich seine Schwäche gestehen und vergeben.
Leid vergessen, welches man selbst in Gang gesetzt hat. Das vergesse ich Dir nie! Das prägt sich ein, wenn jemand das von einem wichtigen Menschen gesagt bekommt. Auf das kehrt man immer wieder leicht zurück. Das führt dazu, dass man bei allem nur noch seine Schuld sieht und verzweifelt. Egal, was man auch an Gutem sonst tut, egal, wofür einem die Mitmenschen an Gutem danken. Ein gutes Verhältnis ist ausgeschlossen! Dank Gott dieses Gefühl vergessen, das einen bis zur Verzweiflung packen kann. Auch den Wunsch nach billigem Trost vergessen. Oder den Wunsch, dem Kläger blind zu folgen, um so auf verquere Art die Schuld wieder gut zu machen. Alles Gedanken, mit denen sich die gefühlte Verzweiflung stillstellen lässt. Verzweiflung vergessen Gottseidank, und statt sich ewig schuldig zu fühlen, sich von ihm vergeben zu lassen. Verzweiflung vergessen statt in blinden Gehorsam zu verfallen. Den billigen Trost verwerfen. Auf Gottes Machtwort hoffen, das neue Bedeutung ins Leben bringt. Das Freude am Klagen in Freude an Freude verwandelt. Das ins Glucksen bringt, beflügelt und leichthändig macht.
Vergessen, dass einem die Texte aus der Bibel stumm geblieben sind. So dass man missmutig lieber auf die in die Haut des Handtellers gravierten Furchen und Sprengsel von Linien schaut. Als stünden da Buchstaben, die einen Sinn ergeben könnten. Das kannste getrost vergessen.
Freude am Klagen wird zu Freude an Freude. Bringt ins Glucksen, beflügelt und macht leichthändig. Gottes Pflegedienst verändert die Wirklichkeit. In die Hände habe ich Dich gezeichnet, ich bringe Dich auf neue Gedanken, so dass Du wieder gut ins Leben findest. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Zur Zeit des Jahreswechsels passt das Widerspiel von Vergessen und Entsinnen, inne werden. Das im Jesajatext thematisierte Vergessen Gottes und seiner Heilstaten bzw. dessen trotzdem unermüdliches Heilswirken hat mich vor allen Dingen in Bezug auf den historischen israelischen Adressaten beschäftigt. Der Übertrag in die Gegenwart zeigt sich in der Predigt und ist allgemein menschlich, weil ich den Text ohne Gottesdienstauftrag nur für das Portal geschrieben habe.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Dass neben der allseits thematisierten und sicher wichtigen Rolle der Achtsamkeit auch das Vergessen seinen Platz im Glaubensleben hat und einnehmen darf. Dass Gott mit seiner Carearbeit dem menschlichen I don´t care entgegenwirkt - möge dies aus Resignation oder Schadenfreude gedacht, gesprochen, getan werden.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das Bild des in-die-Hand-Zeichnens mit seinem lebensweltlichen Sitz in der Kindheit, das damit anthropomorphisierte Verhalten Gottes, der ein Machtwort spricht; die in der Predigt nicht explizit ausgeführte Bedeutung, dass sein Machtwort Hände von Menschen zum Schaffen bringt und diese dann durch die jeweilige Arbeit wie auch immer gezeichnet sind.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Dank der Rückmeldung habe ich einige Fremdwörter und zwei Bilder aussortiert, die zwar eindrücklich, aber aufs Ganze der Predigt gesehen wohl eher randständig gewesen sind: Gebranntes Kind scheut das Feuer und lernt trotzdem wieder den Umgang damit. Eltern, die ihr schlafendes Kleinkind beim Einkaufen im geparkten Auto vergessen (trauma extinction). Außerdem hatte ich Gottes priesterliches Wort zuerst als Fürbitte und nicht als Heilsorakel konzipiert.