Hoffnungslieder. Zungen und Ohren - Predigt zu Jes 50,4-9 von Manfred Wussow

Hoffnungslieder. Zungen und Ohren - Predigt zu Jes 50,4-9 von Manfred Wussow
50,4-9

Hoffnungslieder

Hoffnungslieder! Die suche ich. Die will ich singen. Lieder, die mutig sind!

Ein Lied wird uns heute geschenkt. Gereimt wurde es noch nicht, es hat aber einen melodischen Klang. Ein Komponist wurde auch noch nicht gefunden. Aber dieses Lied können wir ohne Noten singen. Ein Hoffnungslied. Mutig. Nicht tot zu kriegen.
Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben.
Mit den Müden zu reden, weiß ich jetzt. 
Gott weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr.
Wie Jünger hören, höre ich jetzt.
Er hat mir das Ohr geöffnet, Gott, der Herr!
Ich spiele mit meiner Zunge. Sie ist in meinem Mund. Sie ist sehr beweglich. Sie ist eine Alleskönnerin! Sie kann schmecken, Süßes und Bitteres, Heißes und Kaltes. Sie kann fühlen, tasten, streicheln, küssen – und sie kann Worte formen. Harte, verletzende – und beglückende, befreiende. Ich möchte einen anderen Menschen aufbauen, ich möchte ihm eine neue Welt erschließen!
Eine Zunge, die das kann, wünsche ich mir.
Viele Menschen sind müde. Nicht nur von der Arbeit. Nicht nur von einer Krankheit. Sie sind müde geworden, weil ihnen die Hoffnungen abhandengekommen sind. Wenn ein Mensch müde ist, funktioniert auch das Funktionieren nicht mehr.
Ich schaue auf die Ohren. Dafür brauche ich einen Spiegel. Ich kann sie auch in die Hände nehmen. Schön ist es, die Ohren eines lieben Menschen in den Händen zu bergen. Kunstvoll sind sie im Inneren. Mit einer Paukenhöhle, den Gehörknöchelchen und der Ohrtrompete – und noch weiter im Inneren gibt es ein Labyrinth mit der Schnecke und den Bogengängen. Dass ich das Gleichgewicht behalte und im Gleichgewicht bleibe, liegt tief in meinem Ohr.
Manchmal bin ich „ganz Ohr“. Zwei Ohren erschließen mir die Welt. Mal laut, wild durcheinander, hasserfüllt – mal ganz zärtlich, freundlich und neugierig. Ich möchte zuhören, ich möchte verstehen, ich möchte Hoffnungen aufnehmen. Ohren, die das können, wünsche ich mir.
Viele Menschen werden nicht mehr gehört. Sie reden, treffen aber auf Schweigen. Sie können sich nicht verständlich machen. Viele Menschen wollen auch nichts mehr hören. Sie haben genug mit sich.
Gott hat mir eine Zunge gegeben …
Er weckt mir das Ohr!

Hoffnungslieder! Die suche ich. Die will ich singen. Lieder, die mutig sind!

Das Lied vom Knecht

Das Hoffnungslied von einem Menschen, der die richtige Zunge und das richtige Ohr hat, hat Jesaja überliefert. Er erzählt von einem Menschen, der in trostloser und angespannter Situation Mut macht, sich auf Gott zu verlassen. 
Damals – 2.500 Jahre sind es her – haben die Babylonier mit ihrer brutalen Übermacht die „heilige“ Stadt Jerusalem verwüstet, den Tempel – immerhin die Wohnung Gottes – verbrannt und den größten Teil der Bevölkerung rücksichtslos nach Babylon deportiert. Israel soll von der Landkarte, aus den Erinnerungen und aus der Geschichte verschwinden. Gott auch. 
Das letzte Wort in dieser Geschichte ist freilich nicht gesprochen. Gott fängt mit seinem Volk neu an.
Jetzt muss auch der Mensch auftreten, der genau dafür eine neue Zunge bekommen hat und ein offenes, aufgewecktes Ohr.
Er wird als Knecht Gottes bezeichnet. Auf dem ersten Blick eine geheimnisvolle Gestalt, die Träume und Hoffnungen auf sich vereint, auf dem zweiten Blick ein Mensch, der einfach da ist. 
Mit den Müden zu reden, weiß ich jetzt …
Wie Jünger hören, höre ich jetzt …
Etwas Neues beginnt.
Wir fangen neu an.
In Babylon sind viele Menschen aus dem Volk Israel müde geworden. Sie wussten nicht mehr, was sie glauben konnten. Vertrautes ist untergegangen. Dabei ist viel geredet worden. Immer um die Runde. Mit jedem Wort ist die Müdigkeit gewachsen, die Enttäuschung, die Gleichgültigkeit.
Der Knecht Gottes, so erzählt Jesaja, ist den Menschen nahe, er ist für sie „ganz Ohr“. Er ist der erste Seelsorger. Diskret. Das laute Wort ist nicht sein Ding. Es sind viele Geschichten, die ab jetzt zu erzählen sind. Von Neuanfängen. Von Mut. Von Wegen, die auf einmal offen sind. Nicht in alten Geschichten unterzugehen, ist eine sehr trotzige Botschaft!

Hoffnungslieder! Die suche ich. Die will ich singen. Lieder, die mutig sind!

Knecht Gottes

Was ist das für eine Figur, die Hoffnung verbreitet, müde Menschen aufrichtet und ein offenes Ohr hat?
Schauen wir uns einmal eine Gegenfigur an. Einen – Hassprediger!
Conrad Felixmüller hat 1920 das Bild eines Agitators gemalt (Bild: Conrad Felixmüller, Der Agitator. Otto Rühle spricht https://www.bildindex.de/document/obj02510748 "Er war wirklich ein Mann der Massen, der am Tage zwei, drei Reden vor großen Versammlungsmassen ... sprach. Dann war er absolut nur Muskelpartie, das ganze Gesicht war in höchster Anspannung. Sein Schädel war gespannt, und seine Fäuste waren geballt...“). Damals, vor 100 Jahren, wurden Wortschlachten erst in Sälen ausgetragen, dann auf den Straßen. Die Zeiten waren aus den Fugen geraten. Der Körper des Redners ist eine einzige Rede. Wirr. Hasserfüllt. Aufstachelnd. Dann erst das Gesicht! Weit nach vorne geschoben das Kinn, der Mund zugekniffen und aufgerissen zugleich, die großen Augen wie leere Löcher. Die Welt muss Angst bekommen!
Der Agitator schreit sich müde, er hört nicht zu. Seine Reden sind Peitschen, seine Worte schlagen und töten. Seine Ohren sind zugedröhnt.
Groß aufgerissene Mündern und wilde Tiraden begegnen uns auch heute. Die Botschaft wird eingehämmert, dass die Welt neu geordnet werden müsse. Vom Frieden ist allenthalben die Rede, gemeint sind aber Unterdrückung und Unterwerfung. Die Wahrheit ist schon verraten.
Ich höre viele Menschen, die versteckt oder auch offen darüber reden, wie müde und abgeschlagen sie sich fühlen. Wenn Menschen nur noch etwas erleiden, ziehen sie sich verängstigt zurück. 

Jesaja sieht den Knecht Gottes. 
Seine Zunge steht für Recht und Gerechtigkeit ein,
sein Ohr nimmt das Schreien der Unterdrückten auf.
Hoffnungslieder! Die suche ich. Die will ich singen. Lieder, die mutig sind!

Der Einzug Jesu

Heute feiern wir den Palmsonntag. Mit ihm beginnt die Karwoche. Mit Gründonnerstag, Karfreitag, Osternacht und Ostermorgen. Heute hören wir, wie Jesus in Jerusalem einzieht. Einzieht! Das hört sich groß an. Aber Jesus reitet nicht mit einer Kohorte ein. Das königliche Ross ist nicht sein Reittier. Ein Esel ist’s – das Tier, das Lasten trägt, unentwegt, über Stock und Stein. Die Leute, die das sehen, reißen Palmzweige herunter und legen ihre Klamotten auf den Weg. Sie rufen die Worte der Verheißung: Hosianna, dem Sohn Davids! Hosianna! Hochgelobt sei, der da kommt, im Namen des Herren! Wir singen das beim Abendmahl. 
Es kommt – ein Knecht. Der Knecht Gottes. Der Evangelist hat Jesus die Züge des Knechtes Gottes gegeben. Ihm ist eine Zunge gegeben, die Müden aufzurichten, Schuldige freizusprechen und den Mächtigen die Unschuld zu nehmen. Ihm ist ein Ohr gegeben, das leise Weinen, verstummte Stimmen, verlorene Hoffnungen zu hören. Er geht seinen Weg in das Leiden, in das Leiden der Menschen.

Von dem Knecht Gottes heißt es in dem von Jesaja überlieferten Lied:

Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.

Ich sehe da Jesus vor mir. Er hält stand. Vor dem Hohen Rat, vor Pilatus. Vor den Spöttern, den Hetzern. Vor den Gleichgültigen, den Enttäuschten. Er tut das auch für mich. 

Hoffnungslieder! Die suche ich. Die will ich singen. Lieder, die mutig sind!

Ein Morgenlied

Das Lied von dem Knecht hat Eingang gefunden in unser Gesangbuch. Eine wundersame Wendung deutet sich an: Ich bekomme die Zunge, müde Menschen aufzurichten. Ich bekomme das Ohr, eine neue Welt zu hören. Ich werde nicht zuschanden!
Das hat Jochen Klepper,  1903 geboren, 1938 in ein Morgenlied gefasst:

„Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr.
Gott hält sich nicht verborgen, führt mir den Tag empor,
dass ich mit seinem Worte begrüß das neue Licht.
Schon an der Dämmrung Pforte ist er mir nah und spricht.“

Angst und Klage schweigen. Jochen Klepper formuliert: „Das Wort der ewgen Treue, die Gott uns Menschen schwört, erfahre ich aufs Neue so, wie ein Jünger hört“
Da ist es wieder, das Bild von dem hörenden Jünger!

Wir wissen sogar den Tag, an dem das Lied entstanden ist. Es ist der 12. April 1938. Jochen Klepper bezieht sich auf die Tageslosung dieses Tages:

Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre wie ein Jünger. Der Herr hat mir das Ohr geöffnet; und ich bin nicht ungehorsam und gehe nicht zurück. Denn ich weiß daß ich nicht zuschanden werde. Er ist nahe, der mich gerecht spricht. (Jes 50,4–8)

Das ist unser Predigttext!
Klepper vertraut seinem Tagebuch an:

„Weicher, glänzender Tag. Meine kleinen Osterbesorgungen für Mutter, Frau und Töchter. In unserem alten Garten in der Seestraße blühen die alten Kirschbäume so schön. […] Ich schrieb heute ein Morgenlied über Jesaja 50, 4.5.6.7.8, die Worte, die mir den ganzen Tag nicht aus dem Ohr gegangen waren.“

Wenn Worte nicht mehr aus dem Ohr gehen (wir nennen sie auch Ohrwürmer), dann ist das Ohr hellwach. So hellwach, dass die vielen anderen Stimmen und Stimmungen, Töne und Misstöne sich nicht mehr dazwischen drängen können.
Ich höre Gottes Zusage, sein schöpferisches Wort, ich sehe sein – Licht!
Es war eine gute Idee, das Lied vom Knecht Gottes in ein Morgenlied zu verwandeln. Es lässt sich sogar noch – oder schon - am Abend singen. Ich werde geweckt! Mit Gottes Wort. 

 „Er will mich früh umhüllen mit seinem Wort und Licht,
verheißen und erfüllen, damit mir nichts gebricht …“

Im Knecht-Gottes-Lied heißt es:

Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! 
Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! 
Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen? 
Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen.

Hoffnungslieder! Wir singen sie! Lieder, die mutig machen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Manfred Wussow

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Umbrüche und Aufbrüche tauchen überall auf. Meistens verunsichernd und angstbesetzt. Die Gesellschaft driftet auseinander. In dieser Entwicklung steht die Kirchengemeinde mittendrin. Aber sie ist sehr mit sich, ihren Strukturen und Finanzen beschäftigt. Leuchtturm und Refugium ist sie nicht und traut es sich auch nicht zu.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Text! Die vielen Zugänge! Die vielen Geschichten im Hintergrund!  Ein besonderer Mensch ist da für mich Jochen Klepper mit seinem Morgenlied. Aber der Propagandist der 20er Jahre fügt sich ein, wenn auch nicht freiwillig

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Der Text, überhaupt die Knecht Gottes Lieder, werden mich weiter begleiten. So manche Linie habe ich noch nicht ausgezogen. Ich möchte am liebsten mit der Gemeinde selber ein Hoffnungslied schreiben! Die Aufgabe, auch mit den Menschen außerhalb der Gemeinde „Hoffnungen“ auf die Spur zu kommen, gehört zum „Evangelium“ des Propheten.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der Predigtcoach gesellt sich als Gesprächspartner dazu und übernimmt die Rolle des „Erstlesers“. Die An- und Rückfragen habe ich abgewogen und so gut es mir möglich war in der „letzten“ Fassung der Predigt berücksichtigt. Der „Erstleser“ hat die Funktion übernommen, für die Gemeinde zu sprechen, die die Predigt noch nicht gehört hat. Das ist ein tolles Unterfangen. DANKE!

Perikope
13.04.2025
50,4-9

Prüft alles und behaltet das Gute - Predigt zu Jes 51,4-6 von Elke Markmann

Prüft alles und behaltet das Gute - Predigt zu Jes 51,4-6 von Elke Markmann
51,4-6

I Mit der Liebe zurück blicken

Alles, was Ihr tut, geschehe in Liebe! 
Das zu Ende gehende Jahr stand unter der Jahreslosung: Alles, was Ihr tut, geschehe in Liebe! Haben Sie nach diesem Grundsatz gelebt? Konnte diese Jahreslosung es in Ihren Alltag schaffen? Was heißt das konkret, alles in Liebe zu tun? 
Die Liebe kann ein guter Maßstab sein. Aber sie muss präzisiert werden. Denn die Liebe ist ja selten eindeutig. Paulus schrieb diesen Satz damals an die Gemeinde in Korinth, um damit aufzuzeigen, welche Beweggründe all ihren Entscheidungen zu Grunde liegen sollten. Wenn es um konkrete Entscheidungen geht, muss das konkrete Handeln aus Liebe entfaltet und präzisiert werden. Das gilt für Gemeinden und Gruppen, aber auch für Einzelne. 
Der Predigttext für den heutigen Altjahresabend hat mich auf eine Spur gebracht. Dort ist von Gerechtigkeit die Rede. Dieses Wort ist genauso vieldeutig wie Liebe. Für mich hängt beides zusammen. 

II Lesung von Jesja 51, 4-5: Nahe ist meine Gerechtigkeit! - ?

Im Buch des Propheten Jesaja heißt es:

Hört mir gut zu, mein Volk und meine Nation, hört her auf mich! Denn Weisung geht von mir aus und mein Recht mache ich im Nu zum Licht der Völker. Nahe ist meine Gerechtigkeit, bereits losgezogen ist mein Heil. Meine Arme werden die Völker richten. Auf mich hoffen die Inseln und auf meinen Arm warten sie. 
Hebt eure Augen zum Himmel und blickt nach unten auf die Erde: Denn der Himmel wird wie Rauch verwehen und die Erde wie ein Kleid zerschlissen werden und die auf ihr wohnen wie Stechmücken sterben. 
Aber mein Heil wird für immer bleiben und meine Gerechtigkeit wird nicht zerstört. (Jes 5, 4-6 BigS)

III Das Verhältnis von menschlicher Liebe und Gottes Gerechtigkeit

Gerechtigkeit und Liebe. Sie gehören zusammen. Es geht darum, dass Menschen je nach ihren Bedürfnissen und Begabungen von anderen geliebt und gerecht behandelt werden. Das ist ein hoher Anspruch. Liebe und Gerechtigkeit sollen beide in unserem Fokus bleiben. Ich kann mich immer wieder hinterfragen, wie viel Liebe und Gerechtigkeit in meinem Alltag Platz finden. Aber es ist keine individuelle Frage. Und es ist auch keine Schlussfolgerung: Wenn ich nur richtig lieb bin, wird die Welt gerecht. 
Gottes Gerechtigkeit hat noch eine ganz andere Dimension. Gottes Gerechtigkeit und Gottes Heil gehen über unser menschliches Tun und Lassen hinaus. Es geht nicht um mich. Es geht um die Menschen, um die Völker und die Inseln. 

IV Wo ist Gerechtigkeit, Recht und Heil?

Ich blicke zurück auf ein Jahr, in dem Vieles geschehen ist. Und vieles ist nicht den Weg hin zu einer besseren liebevolleren Welt gegangen.
Meine Gedanken wandern nach Vanuatu. Das Land stellte sich der weltweiten Christenheit 2021 durch den Weltgebetstag vor. Vanuatu liegt mitten im Süd-Pazifik und besteht aus vielen Inseln. Dieses Land droht unterzugehen. Der steigende Meeresspiegel bedroht Menschenleben und ganze Länder. Bei der Klimakonferenz im November 24 kämpften Staaten wie Vanuatu um eine Zukunft und um Unterstützung. Sie haben verschwindend wenig Unterstützung bekommen. Vanuatu klagt aktuell vor dem Internationalen Gerichtshof mehr Klimaschutz ein. Ihnen bleibt keine Wahl: Sie müssen alle Wege gehen, um sich selbst zu retten. 
„Auf mich hoffen die Inseln und auf meinen Arm waren sie!“ Es reicht nicht aus, allein auf Gott zu vertrauen oder auf das Wohlwollen und die Einsicht anderer Staaten. Vanuatu und viele andere Länder klagen nun. Sie klagen bei weltlichen Gerichten Gerechtigkeit ein. 
Ich fürchte, dass Vanuatu und andere Inseln nicht stark genug sind. Ich fürchte, dass sie Ähnliches erleben wie bei der Klimakonferenz: Die anderen sind mächtiger und leben auf Kosten der Inseln. 
Was ist dann mit Gottes Gerechtigkeit? Lässt sich Gottes Gerechtigkeit mit menschlicher Gerechtigkeit vergleichen? In vielen biblischen Texten lesen wir, dass das eine nicht unbedingt mit dem anderen zu tun hat. 

V keine guten Aussichten

Bei Jesaja heißt es: Hebt eure Augen zum Himmel und blickt nach unten auf die Erde: Denn der Himmel wird wie Rauch verwehen und die Erde wie ein Kleid zerschlissen werden und die auf ihr wohnen wie Stechmücken sterben. (Jes 51, 6 a BigS)

Keine guten Aussichten! Das, was dann kommt, hört sich nach Apokalypse und Weltuntergang an. 
Und mir kommen Bilder aus den Nachrichten von Rauchschwaden über Flächenbränden in den Sinn. Sie sind nur schwer zu bekämpfen. Menschen müssen ganze Orte verlassen. Malibu ist ein Opfer der Flammen geworden. (aktuelle Nachrichten einfügen)
Wie bei vielen apokalyptischen Texten in der Bibel habe ich auch hier das Gefühl, dass dort direkt von unserer Zeit die Rede ist. Ein düsteres Bild für einen festlich-fröhlichen Abend! Und wirklich keine guten Aussichten für das neue Jahr!

VI Was bleibt!

Und dann bleibe ich am letzten Satz unseres Predigtwortes hängen: Aber mein Heil wird für immer bleiben und meine Gerechtigkeit wird nicht zerstört. 
Dieser Satz macht mich nachdenklich.
Ich spüre, dass ich mich immer wieder auf einen ähnlichen Weg begebe wie der Predigttext: Am Anfang steht mein festes Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit. Dann fällt mein Blick auf die vielen Orte und Zeiten, wo und wenn alles schief geht. Aber dann wird die Hoffnung und das Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit wieder stark. Am Ende bleibt: Aber mein Heil wird für immer bleiben und meine Gerechtigkeit wird nicht zerstört. 
Ich vertraue darauf, dass Gott größer ist als all unser Tun und Lassen. Gottes Heil und Gerechtigkeit scheinen immer wieder auf in dieser Welt. Sie werden sich durchsetzen. 

VII Prüft alles und behaltet das Gute!

Mein Blick fällt auf die Jahreslosung 2025: „Prüft alles und behaltet das Gute!“ (1. Thess 5,21)
Also beginne ich von vorn: Ich prüfe und sichte alles, was ich lese und höre. Ich bedenke die aktuellen Ereignisse der Welt, die Nöte und Sorgen der Menschen, die nicht nur unter dem Klimawandel, sondern auch unter Krieg und Aufständen, Unruhen und Hunger leiden. Ich bedenke mein eigenes Leben und Handeln und meine Entscheidungen – konkret in diesem Jahr. 
Und: Ich behalte das Gute:
Ich behalte die Erzählungen von Menschen, die in den Überflutungsgebieten in Spanien unaufgefordert kommen und anfassen. 
Ich behalte die Schiffe, die geflüchtete Menschen auf dem Mittelmeer vor dem Tod retten.
Ich behalte die Ehrenamtlichen in unserer Kirche, die ihre Ideen einbringen und durch die Kirche lebendig ist.
Ich sehe Schwestern, Pfleger, Ärztinnen und Hebammen, die sich oft weit über das von ihnen Geforderte für Patientinnen und Patienten einsetzen. 
Ich sehe Erzieherinnen, die in den Tageseinrichtungen mit viel zu dünner Personaldecke intensiv mit den Kindern spielen, singen, basteln, ihnen vorlesen und sie trösten. 
Ich sehe Lehrerinnen und Lehrer, die Kindern und Jugendlichen auf ihrem Weg ins Leben helfen. 
Ich prüfe und sehe mich an. Ich blicke auf das, was ich in diesem Jahr getan habe.
Ich prüfe und schaue noch einmal auf unser Predigtwort: Und behalte, was es mir verspricht, für das, was war und ist und werden wird. Gott spricht: mein Heil wird für immer bleiben und meine Gerechtigkeit wird nicht zerstört.

Prüft alles und behaltet das Gute! (1. Thess 5,21)

Ich weiß nicht, wie Sie diesen Silvester-Tag ausklingen lassen werden. Ich lade Sie ein zu einer kleinen Übung: Schreiben Sie auf, an welche guten 100 Ereignisse Sie sich aus diesem Jahr erinnern! Es können kleine gute Ereignisse sein und große. Es braucht dazu etwas Übung und Anlauf, aber dann strömen die guten Erinnerungen. Prüft alles und behaltet das Gute für das kommende Jahr. Denn das gibt Kraft für das, was kommt.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Euch alles Gute für das neue Jahr! 
Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrerin Elke Markmann

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich werde meine Predigt in einer Gemeinde halten, in der kein Gottesdienst zum Neujahrstag geplant ist. Da dies in vielen Gemeinden mittlerweile normal ist, nehme ich auch schon die Jahreslosung 2025 in den Blick. 
Mir selbst ist der Blick zurück am Altjahresabend sehr wichtig. Den möchte ich stärken, ohne den Blick nach vorn völlig aus dem Blick zu verlieren. 

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Als erste Idee stand die Klammer aus den beiden Jahreslosungen rund um den Predigttext. Zugleich sind die Bilder der letzten Klimakonferenz sehr präsent und die aktuelle Meldung der Klage Vanuatus vor dem internationalen Gerichtshof. Zukunftsängste und Gottvertrauen stehen in den Texten und im Alltag in unseren Kirchen in Spannung. 
Ich werde beim Gottesdienst die Karte zur Jahreslosung von Susanne Niemeyer verteilen, in der die beiden Worte „Alles Gute“ groß und fett gedruckt ins Auge fallen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Hoffnung wird oft enttäuscht. Wichtig ist, dass am Ende die Hoffnung auf Gottes Gerechtigkeit stärker bleibt.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Struktur und Aussagekraft. Danke! 

Perikope
31.12.2024
51,4-6

Es ist gut? - Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Frank Nico Jaeger

Es ist gut? - Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Frank Nico Jaeger
9,1-6

Im Jahr 1804 bleiben Schnee und Frost bis in den März. Es ist ein kalter Winter, der viele Menschenleben fordert. Auch am 12. Februar ist es kalt. In einer Königsberger Wohnung liegt Immanuel Kant in seinem Bett und wartet auf den Tod. Zeitlebens hat der Philosoph sich gefragt, was man glauben darf. Was man hoffen kann.
In seinen letzten Stunden ist ein Pfarrer bei ihm und als der Philosoph nach einem Glas Wasser verlangt, nimmt er dieses mit den Worten „Es ist gut.“ Es sind die letzten Worte des großen Denkers. 
Ob er damit das Wasser meint, eine Zusammenfassung seines Lebens formuliert oder einfach den Moment des nahen Sterbens beschreibt, bleibt offen. 

300 Jahre nach der Geburt des Königsbergers fragt sich die Welt immer noch: Was darf ich hoffen? Was ist realistisch? Was hätte Immanuel Kant zu dieser Zeit gesagt? Ein „Es ist gut“ käme mir angesichts des dunklen Jahres nicht über die Lippen. Zu viele Rück- und Tiefschläge hat die Welt einstecken müssen. Es ist gut? Ich denke nicht. 
Aber gute Hoffnungen gibt es trotzdem viele. Eine Frau, die das erlebt hat, feiern wir heute. Maria hat auch nicht aufgegeben. Hat den Kopf nicht in den Sand gesteckt. Ist nicht auf halber Strecke umgedreht. 
Also geht es doch und am Ende eines harten, teilweise erschütternden Jahres fragt man zu Recht, was darf die Welt hoffen? Was darf ich hoffen?

Auf Frieden möchte ich hoffen. Auf die Niederlage des Aggressors. Das ist auch eine gute Hoffnung. Und ich hoffe gleich mit, dass Syrien nicht im Chaos versinkt. Dass sich die Inflation in Luft auflöst und ein halbes Pfund Butter nicht mehr 2,09 Euro kostet. Ich wünsche mir, dass Demonstrationen nicht zum Hass aufrufen und Frieden herrscht unter allen Völkern. Ich hoffe, wer Ordnung und Recht, wer Frieden und Freiheit bejaht, muss Unordnung, Unrecht, Unterdrückung und Krieg verneinen. 
Die Zuversicht ist eben nicht klein zu kriegen.

Gott hat einst extra das Licht angemacht. Damit es in die traurigsten Ecken scheint. Heute auch und Kant sagt: Die Hoffnung ist nicht dumm oder naiv. Und ich denke: Vielleicht können wir doch aus Fehlern lernen?

Über das Wetter im Jahr 733 v. Chr. wissen wir wenig, aber schon damals redet ein Mensch ein bisschen wie Kant über die Hoffnung. Verbreitet Zuversicht. Sagt seinem Volk, was man hoffen darf. Was realistisch ist. Gut ist es nämlich auch damals nicht.
Jesaja heißt der Prophet und er spart nicht mit großen Worten.
Das mag daran liegen, dass die schönen Farben der Schöpfung längst nicht mehr hell strahlen, grässliche Klänge durch die Welt hallen und Blut die Kleider färbt. Die Zeiten sind dunkel. 
Aber Jesaja prophezeit, dass der Schrei eines Neugeborenen die leidende Welt erlösen wird. Dass das Grau in Grau verschwindet. Dass wieder geerntet und geteilt wird. Dass alles Militärische den Flammen übergeben wird. Dass die Welt sich erneuern wird. 
Jesajas Worte tun gut – auch in dieser Zeit. Darum sagt er, richtet euch nicht ein im Dunklen. Nehmt den Ernst der Lage wahr, aber ergebt ihm euch nicht. Die Welt erscheint dunkel und verbraucht. Wohl wahr, ein tödlicher Egoismus hat sich in ihr breit gemacht, der die guten Strukturen bedroht. Die Demokratie ist gefährdet, Falschmeldungen machen die Runde und an zu vielen Ecken auf der Welt regieren das Gewehr und die Gewalt. 

Natürlich wählt Jesaja große Worte für eine Welt, die sich verlassen wähnt. Die Wüste wächst und das Licht der Hoffnung scheint spärlicher. Es ist dem Propheten hoch anzurechnen, dass er trotzdem ein Hoffnungsbild malt. Nicht als Placebo, nicht als Vertröstung. Der Trost, den Jesaja verheißt, ist konkret. Und schreit. Durchdringend und laut.
Die Nacht ist klar und kalt. Die Szenerie ist nüchtern. Aber die Hoffnung lebt. 

All das klingt dieser Tage ein wenig merkwürdig – nicht nur rund um dieses Weihnachtsfest. Aber mit Kant setze ich auf die Aufgeklärten, die guten Kräfte und mit Jesaja setze ich auf die Hoffnung, dass die Dinge sich grundlegend verändern lassen. 
Mit der Welt hoffe ich, dass das Blöde nicht gewinnt, weil das immer zum Bösen führt. Weil das Böse die Blöden braucht, so ‚wie der Sonnenkönig das Solarium‘.

300 Jahre nach der Geburt des Königsberger Philosophen Immanuel Kant und fast dreitausend Jahre nach dem Propheten Jesaja fragt die Welt immer noch: Was darf ich hoffen? Was ist realistisch? 
Irgendwo schreit ein Kind und zerreißt die Starre. Dieses Kind ist das Licht, das in der Dunkelheit stört. Eben noch im Tal des Todes, jetzt auf dem Weg zum Fest. Das ist kein Zweckoptimismus, das ist ein realistischer Weg. Eine Möglichkeit. 

Weil ich glaube, dass wir aus Fehlern lernen können – langsam, aber immerhin! 
Weil ich glaube, dass das bisschen Vernunft, das wir haben, uns besser macht, weitsichtiger. Rücksichtsvoller, freundlicher, menschlicher. 
Weil ich glaube, dass diese Welt und alles, was darinnen ist, mehr verdient hat. Gott hat diese Welt nicht aufgegeben. Und das feiern wir heute. 

Im Dezember 2024 mag das Wetter unentschieden sein. Die Lage in der Welt ist es nicht. Existenzangst liegt vielerorts mit unterm Baum. Und da ist die Sorge darum, wie es weitergeht. Wird es Frieden geben? Was wird aus den USA kommen? Die Tafeln haben nicht genug Lebensmittel, um alle versorgen zu können. Die Verschnaufpausen für uns, für die Welt werden weniger. Es steht nicht gut um uns. 
Also. Was darf ich hoffen? Was ist realistisch? 

Der Heilige Abend, die Weihnachtszeit ist die Zeit der Wunder und Wünsche. Und mein Wunschzettel sieht so aus: Ich wünsche mir mehr Rücksicht. Weniger Hass. Mehr Nachdenken, weniger Urteilen. Weniger Extremismus und mehr Bereitschaft zuzuhören. 
Möglicherweise ist das naiv und unrealistisch. Von einem „es ist gut“ bin ich mindestens 2,09 Euro entfernt, aber wie sagte einst ein großer jüdischer Denker: „Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist.“ In diesem Sinne: Frohe Weihnachten!

Amen. 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Frank Nico Jaeger

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Heiligabend. Die Stadtkirche ist gut gefüllt. Im Halbdunkel sitzen die Ungeübten neben denen, die vertraut sind mit Liturgie und Tag. Gemein haben alle diesen Ort, den sie für diesen Abend ausgewählt haben. Das ist für diesen Moment ihrer aller Kirche. Und so ist es auch mit der Geschichte. 

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ein Päckchen Butter kostet aktuell 2,09 Euro, VW will Menschen in großer Zahl entlassen, die Ukraine erlebt den dritten Kriegswinter, Immanuel Kant fragt, was darf man hoffen und in dieser Dunkelheit einer gefallenen und erschöpften Welt macht Gott das ganz große Licht an. 

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wunder gibt es immer wieder. 

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der Kollege hat seinen Auftrag sehr ernst genommen und maßgeblich zum Schliff beigetragen.

Perikope
24.12.2024
9,1-6

Die Steppe wird blühen! - Predigt zu Jes 35,3-10 von Manfred Wussow

Die Steppe wird blühen! - Predigt zu Jes 35,3-10 von Manfred Wussow
35,3-10

1 Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien. 
2 Sie wird blühen und jubeln in aller Lust und Freude. Die Herrlichkeit des Libanon ist ihr gegeben, die Pracht von Karmel und Scharon. Sie sehen die Herrlichkeit des Herrn, die Pracht unsres Gottes. 
3 Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! 4 Sagt den verzagten Herzen: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.«
5 Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. 6 Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. 7 Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen.
8 Und es wird dort eine Bahn sein und ein Weg, der der heilige Weg heißen wird. Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen; auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren. 9  Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen. 10 Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.

[Vorbemerkung
Als Lied vor oder nach der Predigt schlage ich das Lied „Die Steppe wird blühen“ (Nr. 11 aus „Lieder zwischen Himmel und Erde“ ) vor. Es kommt aus der Feder von Huub Oosterhuis, von Diethard Zils ins Deutsche übertragen und komponiert von Antoine Oomen. Möglich ist auch, die drei Strophen „in“ der Predigt zu singen anstatt sie zu zitieren.
Die niederländische Originalfassung „De steppe zal bloeien“  ist zu hören unter:
Trijntje Oosterhuis (Tochter von Huub Oosterhuis)
https://www.youtube.com/watch?v=RrlaSwKQrJc
Lenny Kuhr
https://www.youtube.com/watch?v=hptIyJ6Vd7o
Wer mehr wissen will:
https://kerkliedwiki.nl/De_steppe_zal_bloeien
http://www.tweeofdriebijeen.nl/de-steppe-zal-bloeien/
Die Predigt versucht, Jes. 35 mit einem Lied, das aus Jes. 35 entwickelt wurde, zu verbinden.
Es ist eine „Liedpredigt“.  Die Linienführung von Huub Oosterhuis ist nicht eins zu eins bei Jesaja  zu finden, legt auf eigenständige Weise aber den vorgegebenen Text aus. Das Lied ist ein „Schriftlied“.
Als Lesung schlage ich vor: Mt. 11,1-6 oder Lk. 7,18-23.]
 

Predigt
Lilien in der Wüste
„Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien.“ 
Ein furioser Auftakt!
Wüste, Einöde und Steppe wissen sich vor Freude nicht mehr zu halten!
Die Schakale trollen sich!
Müde Hände packen wieder zu,
wankende Knie richten sich auf.
Seht, da ist euer Gott!

Blinde sehen! Taube hören! Lahme gehen!
Verstummte brechen in Jubel aus!
Wasser brechen in der Wüste hervor,
Quellen sprudeln in der Dürre!
Eine Oase!
Für Menschen, für Völker.
Seht, da ist euer Gott!

Dann ein Weg.
Unberührt von den Schindern,
von den Despoten.
Ein Weg
für die Erlösten,
für die von Gott geliebten Menschen.
Sie kommen nach Hause.
Schmerz und Seufzen entfliehen.
Seht, da ist euer Gott!
Ein furioser Auftakt! Die Bilder überschlagen sich förmlich, die Worte überbieten sich. Wir sehen in das Paradies.

Das Volk Israel hat sich auf lange Wege einstellen müssen. Endlose Wege. Geröll, Sand – die Schakale heulen. Die Höllenhunde, die Boten des Totenreiches. Wenn die Nacht hereinbricht, wenn Kälte sich unter die Decke schleicht, sitzen Menschen dicht aneinander gedrängt und reden über verlorene Hoffnungen, vertane Tage und über die Angst vor der Zukunft. Stille und laute Wut gibt’s auch. Überall Wüste, Steppe, Einöde – soweit das Auge reicht. Verdorrt, trocken ist alles. Die Gegend, die Herzen, die Träume.

Und dann:
Wüste, Einöde und Steppe wissen sich vor Freude nicht mehr zu halten!
Die Schakale trollen sich!
Müde Hände packen wieder zu,
und wankende Knie richten sich auf.
Seht, da ist euer Gott!

Die Steppe wird blühen

Heute, am 2. Advent, wollen wir uns einmal auf diese Vision einlassen. So manches ist für uns auch nur endlos, vertrocknet und sinnlos. Viele Geschichten, die bei uns hochkommen, atmen den Geist der Verzagtheit. Wir sehnen uns danach, hoffnungsvoll in die Zukunft, in unsere Zukunft, in die Zukunft der Welt schauen zu können. Gerade jetzt in der Adventszeit. Eine Zeit der Erwartung, des Wartens. Seht, Gott kommt!

Vor vielen Jahren hat Huub Oosterhuis, ein niederländische Dichter und ehemaliger kath. Priester – er lebte von 1933 bis 2023 –, ein Lied geschrieben. Es trägt den Titel: Die Steppe wird blühen. Wörtlich: Die Steppe soll blühen. Huub Oosterhuis hat sich ausdrücklich auf Jesaja bezogen, auf unseren Predigttext.  
(Wir haben dieses Lied gerade gesungen / wir werden dieses Lied gleich noch singen)

Die erste Strophe geht so:
Die Steppe wird blühen, die Steppe wird lachen und jauchzen.
Die Felsen voll Wasser seit den Tagen der Schöpfung,
doch sie halten es fest. Die Felsen zerspringen.
Das Wasser wird strömen, das Wasser wird funkeln und strahlen.
Durstige kommen und trinken.
Die Steppe wird trinken. Die Steppe wird blühen,
die Steppe wird lachen und jauchzen.

Dass eine Steppe zur Oase wird, ist so ungewöhnlich nicht. Das Wasser, das Wasser ist das Wunder! Durstige kommen und laben sich. Die Steppe -  verwandelt  in einen Lebensraum, in einen Garten, in das Paradies. 

Für viele Menschen sind Wasserstellen weit weit entfernt. Frauen tragen auf ihren Köpfen Krüge. Malerisch sind nur die Kleider. Versiegt und verseucht sind viele Brunnen. Reines, sauberes Wasser ist an vielen Orten ein Traum. Eine Sehnsucht. Bomben und Drohnen nehmen keine Rücksicht. Wasser kann auch sterben. 

Wir sehen aber auch, dass Wasser aus den Fugen gerät. Kleine idyllische Bäche entwickeln sich zu reißenden Strömen. Sie reißen alles mit, ziehen alles in den Schmutz. Erinnerungen und Existenzen gehen unter. Wasser entpuppt sich als Unheil. Geht es zurück, lässt es Menschen zurück, die neu anfangen müssen. 
Dass dann, umgekehrt, an vielen Stellen Lebensräume versteppen, Wüsten wachsen und Menschen fliehen müssen vor der Dürre – wir haben auch das in diesem Jahr oft gesehen. Wasser fehlt! Brände breiten sich aus, fressen Wälder und legen Siedlungen in Schutt und Asche. Manchmal helfen Menschen sogar nach, wenn sie sich Grundstücke und Ländereien unter den Nagel reißen wollen.
Wasser: Lebenselixier. Doch Wasser kann sich in Tod verwandeln. Bleibt Wasser aus, sterben Landschaften. Wasser soll Wasser bleiben! Lebenswasser!

Huub Oosterhuis hat sich die Verheißung des Propheten Jesaja zu eigen gemacht. Die Verheißung, dass die Steppe zu leben beginnt. Dass Menschen leben können. Dass Menschen glücklich sind. Ich höre Lachen und Jauchzen. 
Frisch und lebendig läuft Wasser über die staubigen Köpfe, über müde Füße, über eine verschwitzte Haut. Die Welt erlebt einen Neuanfang! Funkelnd und strahlend. Eine Hoffnung.

Flüchtlinge kommen nach Hause

Huub Oosterhuis hat sich in ein Gespräch mit Jesaja verwickelt. Steppen- und Wüstenerfahrungen, Bedrohungen und Ängste gibt es unter uns auch. Aber es gibt auch Bilder der Hoffnung, wachsendes Vertrauen und neue Wege in unwegsamen Geländen.
Das besingt die zweite Strophe:

Die Flüchtlinge kommen nach Hause mit leuchtenden Garben.
Die gingen in Trauer bis ans Ende der Erde, 
hoffnungslos, und allein, sie kommen in Scharen.
Wie Bäche voll Wasser, wie Bäche voll rauschenden Wassers, 
stürzend herab von den Bergen,
wie Lachen und Jauchzen.
Die säten in Tränen, sie kommen und lachen und jauchzen.

Huub Oosterhuis nimmt Flüchtlinge in den Blick. In anderen Übersetzungen ist auch von Verbannten die Rede. Im Wort „Verbannte“ kommt noch stärker heraus, dass Menschen von Menschen verbannt werden, dass Menschen Menschen verbannen. Im Bild: Verbannte werden in die Wüste geschickt. Ihre Hände sollen nichts festhalten, ihre Schritte nicht fest sein – sie sollen verstummen. Klein gemacht. Kein Lachen – betretenes Schweigen.

Huub Oosterhuis hat im 126. Psalm Worte gefunden:

„Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, 
so werden wir sein wie die Träumenden.
Dann wird unser Mund voll Lachens
und unsere Zunge voll Rühmens sein…
Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen
und kommen mit Freuden
und bringen ihre Garben“

Als Huub Oosterhuis sein Lied schrieb, gab es noch keine Massenmigration, auch noch keine Diskussionen um ungeregelte Migration, auch kein Geraune über Remigration. Durch unsere Gesellschaft verläuft gerade ein tiefer Riss. Das Lied hat aber eine große Kraft, mit den biblischen Verheißungen Menschen in den Blick zu nehmen – und nicht nur Zahlen und Statistiken, nicht nur Bedrohungen und Ängste vor Verlust.

Die Flüchtlinge kommen nach Hause mit leuchtenden Garben.
Die gingen in Trauer bis ans Ende der Erde, 
hoffnungslos, und allein, sie kommen in Scharen.

Ein Bild hat es mir besonders angetan: die leuchtenden Garben! Garben stehen für Ernte, für den Reichtum des Lebens, für Sattwerden und glücklich sein. Um Garben lässt es sich fröhlich tanzen. Dass Flüchtlinge etwas mitbringen, soll heute wieder neu entdeckt werden.
Viele Fragen sind offen und müssen von uns politisch beantwortet werden. Dass wir bei allen Überlegungen einen Blick auf die Garben haben können – das befreit und ermutigt. 

Viele Menschen erzählen auch bei uns, woher sie, ihre Familien, einmal gekommen sind.
Ostpreußen, Pommern, Schlesien – und Polen, Italien, Spanien – und aus der Türkei. Viele Geschichten sind Geschichten von Vertriebenen, Flüchtlingen und Heimatlosen, auch die Geschichten von Gastarbeitern, die eine Heimat gefunden haben.

Die gingen in Trauer bis ans Ende der Erde, 
hoffnungslos, und allein, sie kommen in Scharen.
Wie Bäche voll Wasser, wie Bäche voll rauschenden Wassers, 
stürzend herab von den Bergen.

Flüchtlinge hat der Prophet Jesaja tatsächlich nicht erwähnt – oder doch? Jesaja spricht sein Volk, er spricht Menschen an, die vor Gewalt und Unterdrückung geflohen sind! Die alles hinter sich gelassen haben! Die mit immer weniger doch dem Gefühl erliegen, nie anzukommen. Irgendwann sind die Hände schlaff, die Knie geben nach und die Augen sind leer. In den Ohren rauscht es. Nirgendwo ein gutes Wort. Keine Verheißung. Keine Liebeserklärung. Nirgendwo.

Der Tote wird leben

Die 3. Strophe seines Liedes hat Huub Oosterhuis als Lied eines Aufbruchs gestaltet. 

Der Tote wird leben, die Tote wird hören: jetzt Leben.
Zu Ende gegangen, unter Steinen begraben:
Toter, Tote, steh auf, ein ganz neuer Morgen.
Es winkt eine Hand uns, es ruft eine Stimme:
Ich öffne Himmel und Erde und Abgrund.
Und wir werden hören, und wir werden aufstehen
Und lachen und jauchzen und leben.

Aufstehen! Toter, Tote, steh auf!
Wer ist eigentlich tot? Wie ist das, tot zu sein? Was macht das mit Menschen, tot zu sein? Zum Schweigen gebracht?
Viele Menschen sind – innerlich – tot. Sie können nichts mehr hoffen. Sie sind verstummt. Sie haben keine Worte. Für sich nicht, für die Dinge nicht, für andere Menschen auch nicht. Für Gott schon mal gar nicht. Aber sie schlagen oft um sich, sie sind aggressiv, sie geben die Welt auf. Sie geben die Welt auf, die nicht so ist, wie sie sie haben wollen. Sie geben Menschen auf, die nicht so sind, wie sie sich formen. Sie geben Geschichten auf, die nicht so sind, wie sie sie erzählen wollen.
Aufstehen! Toter, Tote, steh auf!

Bei Jesaja heißt es:
„Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!  Sagt den verzagten Herzen: 
»Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!“

Es winkt eine Hand uns, es ruft eine Stimme:
Ich öffne Himmel und Erde und Abgrund.
Und wir werden hören, und wir werden aufstehen
Und lachen und jauchzen und leben.

Nicht wir – ER öffnet Himmel und Erde und Abgrund. ER – er kommt!
Abgrund ist übrigens die Hölle, das Totenreich, das Reich der Schakale. Ihr Markenzeichen ist das Geheul. Schakal heißt: der Heulende.

Ein Protest

Genau genommen ist das Lied von Huub Oosterhuis nicht als Adventslied geschaffen worden. Es ist bewusst ein Protestlied! Doch alle Adventslieder sind Protestlieder. Gegen Dürre, Verlorenheit und Verlogenheit, gegen Angst, Fremdheit und Tod. Seht, da ist euer Gott.
Jesus hat auf eine Anfrage an ihn so geantwortet:
Sagt, was ihr hört und was ihr seht! Redet!

„Blinde sehen und Lahme gehen,
Aussätzige werden rein und Taube hören,
Tote stehen auf,
und Armen wird das Evangelium gepredigt“
(Mt. 11,5)

Noch einmal Jesaja, erstes und letztes Wort:
„Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien. Sie wird blühen und jubeln in aller Lust und Freude. 
Wir sehen die Herrlichkeit des Herrn, die Pracht unsres Gottes.“

Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Manfred Wussow

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich nehme in meiner Umgebung – geht über Gemeinde hinaus – wahr, dass für viele Menschen Hoffnungen vertrocknet sind, die aktuellen Geschehnisse („multiple Krisen“) Angst machen oder auch zur Lethargie verführen, andererseits Widerstand provozieren, der aber an vielen Stellen Zerrissenheit verstärkt. Der 2. Advent hat mit Jes 35 einen erfrischenden Blick, der von Gott aus eine Zukunftsperspektive öffnet. 

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt hat mich bei der Predigtvorbereitung ein Gedicht von Huub Oosterhuis, das, zum Lied geworden, den Predigttext „singbar“ macht. Die Predigt versucht, Linien auszuziehen, die Huub Oosterhuis freilegt, dabei die Textebene aber auch verlässt. Die Predigtvorbereitung kämpft aber auch damit, der Bilderflut und der Assoziationen Herr zu werden. Die Predigt will ein „Schriftlied“ vorstellen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass Huub Oosterhuis bei uns, mit wenigen Liedern im Gesangbuch vertreten, noch zu entdecken ist.  Ich lebe im Grenzgebiet zu den Niederlanden. Mit der Gemeinde möchte ich  einmal ein „Seminar“ veranstalten mit Huub Oosterhuis und Kurt Marti als Bezugspersonen und Zeitgenossen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Coach, „Erstleser“, hat mich auf einige Ungereimtheiten aufmerksam gemacht und wichtige Rückfragen gestellt. Ich habe sie alle abgewogen, aber nicht alle aufgreifen können. Wenn ich noch mehr Zeit hätte, würde ich weiter an dem Text feilen. Die abschließende Bearbeitung kam einem Gespräch gleich, das kein Gegenüber hatte, ein Gegenüber aber auch nicht mehr brauchte. Das war spannend und inspirierend. Dem Coach ein herzliches Dankeschön! 

Perikope
08.12.2024
35,3-10

Rückreise durchs Niemandsland - Predigt zu Jesaja 29,17-24 von Henning Kiene

Rückreise durchs Niemandsland - Predigt zu Jesaja 29,17-24 von Henning Kiene
29,17-24

17Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. 18Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; 19und die Elenden werden wieder Freude haben am Herrn, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels. 20Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, 21welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen.22Darum spricht der Herr, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen. 23Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – ihre Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten. 24Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.

 

Wir Geschwister saßen auf der Rückbank unseres Autos. Die Ferien gingen zu Ende. Hinter uns lagen freie Wochen und der Familienurlaub. Wir waren an der Ostsee. „Am Meer“, sagten wir. Mittags nach langem letztem Frühstück ging es los, „nach Hause“. Ich wusste schon jetzt, der Sand und die Muscheln in den Hosentaschen würden noch wochenlang wehmütige Erinnerungen wachhalten. Ich sah das nette Gesicht mit den Grübchen, das Mädchen gefiel mir und die Fußballstunden auf dem Bolzplatz waren klasse. Das lag nun hinter mir. Im Auto fuhren wir durch ein graues Niemandsland. In solchen Momenten sagte mein Vater: „Wird alles wieder gut werden, Ihr werdet schon sehen.“ Seine Stimme klang optimistisch. Dann nannte er die Namen der besten Freunde, auf die ich mich freuen könne. Sogar die Vorzüge der Schule wusste er zu benennen. Und ich stimmte mit ein und wir Geschwister begannen erste Pläne zu schmieden.

Mein Vater war kein Prophet. Aber in grauen Momenten, in diesem Niemandsland zwischen den Zeiten, wusste er die Zukunft anzusagen, das ist Lebenskunst. Es ist Lebenskunst, den Horizont mit Bildern, die optimistisch stimmen, auszumalen. Vater sprach nicht in den vielen Grautönen, die er zweifellos auch ahnte. Er schürte die Vorfreude auf das, was gelingen will. Wir Kinder profitierten von seinem Optimismus und vertrauten ihm. Unser Vater war Kriegskind, er wusste genau, wie schwer die Gegenwart drücken kann. Er lebte lange Jahre hungrig im grauen Niemandsland. Aber er hatte auch erlebt, dass das Bedrückende überwunden wird.

Der Prophet Jesaja spricht im Grau der Gegenwart und wählt hellbunte Farben. In der Zeit gefährlicher Bedrohung, auch durch Krieg, spricht der Prophet vom Heil und malt es in kräftigen Farben an den Horizont. Er sorgt dafür, dass die Gefahren – wenigstens für eine gewisse Zeit – in den Hintergrund treten. Ich höre heute: „Es wird ein Ende haben mit den Tyrannen.“ Und darauf freue ich mich. Ich denke an die Verächter unserer Demokratie und sehe, dass ihre grau-schwarzen Bilder einer müden Einheitswelt ohne Zukunft sein werden. Und mein Herz springt vor Freude, wenn ich in solcher Ödnis höre: „Die Elenden werden wieder Freude haben am Herrn, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.“ So macht der Prophet Mut für den Schritt in die Zukunft.

Dann sitze ich auf der Hinterbank im Rückreiseverkehr, muss den Feriensommer hinter mir lassen, grüble über all das, was kommen wird, zweifele leise in mich hinein. Und am Steuerrad sitzt einer der sagt: „Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden.“ Und die Stimmung wird gehoben.

Jesaja, der Prophet, spricht präzise und zeigt konkrete Bilder. Er spricht von den tauben Ohren, die hören, den blinden Augen, die sehen werden, von den Elenden, die sich freuen, von den Tyrannen, die vertilgt werden, vom Gericht und dem Ende der Scham. Das sind scharf gestochene Bilder, die zeigt er schon jetzt. Es geht aber nicht nur um die Gehörgänge und das Trommelfell und die Iris und die Pupille, es geht um einen Blick in die Zukunft. Die soll nicht denen gehören, die nur sehen wollen, was kaputt sein könnte, und nur noch hören möchten, was sowieso überall genörgelt wird. Es gibt so viele endlose Schleifen, die durch graues Niemandsland führen. Es geht um die Achtung vor den anderen Menschen, um eine Ahnung von dem herannahenden Heil, das heute offene Augen und weite Ohren braucht. Denn es braucht einen wachen Blick für die Worte des Propheten.  

Der Prophet sitzt auf dem Fahrersitz, hält das Lenkrad, er führt sicher durch das Niemandsland einer „alles wird immer schlechter“ Stimmung. Er spricht nicht vom Unheil, das droht, sondern er weitet den Blick in eine lichte Zukunft. Er sagt allerdings auch, dass Gott möglicherweise anders handeln könnte. Gott könnte den Blick auf die Zukunft versiegeln, er könnte die Menschen im Dunkeln sitzen lassen. Das wäre im wahrsten Sinn des Wortes der Weg, der in das Tal der Ahnungslosen führt. Gott könnte uns tatsächlich einen grauen Schleier vor die Augen ziehen und einen Packen Ohropax in die Ohren stecken. Aber Jesaja spricht von dem Heil, das in einer kurzen Weile kommen wird.

Die Federn des Autositzes bohrten sich in die Beine. „Nicht so lange anhalten. Bitte nur eine kurze Pause,“ baten wir auf dem Parkplatz, jetzt wollten wir nach Hause. Ich weiß noch, wie ich einmal – ich war schon etwas älter – mit kräftigem Klopfen den Sand und kleine Muschelreste aus der Hosentasche auf den Parkplatz beförderte. Ich freute mich auf die alten Freunde, den ersten Brief von dem Mädchen mit den lustigen Grübchen. Dass ich mich sogar auf die erste Deutschstunde freute, mochte ich mir selbst nicht so richtig eingestehen.

Propheten ziehen graue Vorhänge, die die Wehmut schließt, beiseite, sie suchen wegweisende Worte und malen Bilder in bunten Farben. Und das neue Schuljahr erschien mir im helleren Licht und gewann schon an Farbe. Meine Gedanken wanderten vom herrlich blauen Meer, dem Strand, den Ferienfußballfreunden und dem Mädchen mit den lustigen Grübchen in den Alltag zurück. Und da tauchte da plötzlich die Verheißung auf, die der Zauber des neuen Schuljahres versprach. Die lange Fahrt mit dem Auto führte durch das Niemandsland, das zwischen all dem Schönen der letzten Woche und den neuen Herausforderungen liegt. Abends kamen wir an, voller Wehmut und voll mit Erwartung.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastor Henning Kiene

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ende des Sommerferien. Alle kommen an diesem Wochenende zurück. Montag beginnt die Schule!

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Gedanke, dass Jesaja – Protojesaja (!) – eine Heilsansage im Sound der Heilsprophetie wagt, obwohl die Fakten gegen ihn stehen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Geschichtliche Fakten sind das eine. Die Heilsgeschichte setzt am anderen Ende an. Manches werde ich von hinten lesen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mir fehlt das Coaching. Schade.
[Hinweis der Redaktion: Im Moment muss die üblich Begleitung der Prediger:innen des Portals durch ausgebildete Predigtcoaches aus organisatorisch-personellen Gründen leider entfallen.]

Perikope
27.08.2023
29,17-24