Worauf du achtest - Predigt zu Jesaja 42,1-9 von Peter Meyer

Worauf du achtest - Predigt zu Jesaja 42,1-9 von Peter Meyer
42,1-9

Jesaja 42,1-9 (im Gottesdienst als Lesung)
Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung. So spricht Gott, der Herr, der die Himmel schafft und ausbreitet, der die Erde macht und ihr Gewächs, der dem Volk auf ihr den Atem gibt und Lebensodem denen, die auf ihr gehen: Ich, der Herr, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand. Ich habe dich geschaffen und bestimmt zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden, dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker. Ich, der Herr, das ist mein Name, ich will meine Ehre keinem andern geben noch meinen Ruhm den Götzen. Siehe, was ich früher verkündigt habe, ist gekommen. So verkündige ich auch Neues; ehe denn es sprosst, lasse ich’s euch hören.
 

Um diese Zeit im Jahr. Die meisten Christbäume haben jede Festlichkeit verloren. Sie türmen sich neben den Glascontainern auf dem Ablageplatz. Zweige zeigen ins Nirgendwo. Kümmerlich nasses Holz, als vergösse es nadelnd Tränen.
Aber nur so lange, bis ein vergessener Strohstern meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Von feinem, rotem Garn zusammengehaltene Strohstrahlen. Am goldenen Band, das eine Hand erwartungsvoll über die Nadeln schob. Ein vergessener Stern genügt. Schon sehe ich den ganzen Baum wieder dastehen. Wie sie in einem Wohnzimmer vor ihm saßen. Satt vergnügt. Oder sattsam melancholisch. Meine Phantasie ist nicht mehr zu bremsen: Jeder Baum auf dem wilden Haufen Bote einer fremden Welt.

Vielleicht liegt es an mir: Wenn ich durch eine fremde Ortschaft spaziere, blitzen manchmal ganz ähnliche Gedanken auf. Besonders im Dunkeln. Wenn die leuchtende Wärme der Fenster ringsum das einfache Geheimnis illuminiert: Dass hinter jedem Fenster die gleiche Heimatbedürftigkeit wohnt. Meine Phantasie geht dann oft noch weiter. Wie es wohl wäre, auch hier zu leben. In dieser Stadt mit ihren Brücken. Es ist nicht so, dass ich dann gleich meinen Umzug plante. In mir erwacht nur die sachte Ahnung von einer fremden Welt.

Um diese Zeit im Jahr liegen solche Phantasien in der Luft. Du musst kein Typ sein, der Neujahrsvorsätze fasst. Es genügt schon, dass es Dir etwas schwerfällt, Dich an diese dritte 2 zu gewöhnen, wenn Du ein Formular ausfüllst: 2-0-2-2. Es liegt in der Luft, weil die Kalenderrücken noch ganz glatt sind und alle Termine noch pure Möglichkeit. Es liegt etwas in der Luft, von ungelebtem Leben. Von der Macht unserer Erwartungen, von schwebender Aufmerksamkeit.

Die jung gestorbene amerikanische Kinderbuchautorin Amy Krouse Rosenthal hat ihre Bedeutung in einem Tweet auf den Punkt gebracht: „An alle, die herausfinden möchten, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen: Achte darauf, worauf du achtest. Pay attention to what you pay attention to. Das enthält so ziemlich alle Informationen, die du brauchst.“
Es ist von Belang, was ich erwarte. Für welche Möglichkeiten ich Phantasie entwickele.

Jesaja liefert Worte für Gottes klare Vorstellung davon, welche Möglichkeit die entscheidende ist. Eine höchstpersönliche Vorstellung. Die Vorstellung einer Person, die wir in der Lesung hörten:

Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter. Er wird nicht schreien noch rufen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen. In Treue trägt er das Recht hinaus.

Klar, dass Christinnen und Christen diese große Möglichkeit, diesen göttlichen Traum vom Knecht Gottes, gleich mit dem Krippenkind gleichsetzten. Mit dem mächtig sanftmütigen Christus. Aber durch diese klare Identifikation geht auch etwas verloren. Schwindet die Phantasie. Die schwebende Aufmerksamkeit dafür, wie die Vorstellung dieses Knechtes eine weltverändernde Kraft freisetzt.

Dabei ist sie so nötig. Jedenfalls kann ich das von mir sagen. Und wir haben zwar unter unterschiedlichen Bäumen gefeiert und wohnen hinter unseren eigenen Fenstern. Aber ich glaube doch, dass wir uns darin gar nicht so sehr unterscheiden. In der Frage, worauf wir normalerweise vor allem achten. Von wem wir etwas erwarten. Das Entscheidende erwarten. Wenn es drauf ankommt.
Sicher: Der eine liest zum Frühstück die MZ, die andere in der Mittagspause BILD. Du in Reihe vier vielleicht permanent Spiegel Online. Aber auf Schlagzeilen sind die meisten gepolt.
Die eine hört gerne jemandem bei YouTube zu und der andere Radio. Aber wir alle hängen an den Lippen von Menschen. Meistens den Eloquenten, Schönen, Klugen. Auch den Lauten. Ich nerve mich selbst damit – aber es wäre gelogen, wenn ich sagte, ich überhöre sie souverän.
Wir warten gespannt, was die neue Regierung so zuwege bringt. Lassen uns beeindrucken, von geistreichen Sätzen. Und kommen nicht drumherum, wenn montags welche mit ihrer Wut lauthals „spazieren gehen“, auch direkt vor dieser Kirche.

Ja, kann ich nur seufzen: Achte darauf, worauf du achtest!

Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. […] und die Inseln warten auf seine Weisung.

Die Worte Jesajas sind zu geheimnisvoll, um sie schnell mal abzuhaken. Wie fremd-vertraute Möglichkeiten eines neuen Jahrs. Wie das vertraute völlig Unbekannte eines erleuchteten Fensters. Wie – und so stimmt es dann doch – der Weg, den Jesus geht. Sie sind ja für diesen Planeten gesagt. Für diese Zeit. Für Euch. Für die Frage, worauf Ihr achtet. Wovon ich etwas erwarte. Und von wem Du. Was ich, was Du als Macht begreifst. Was Dich überzeugt.
Denn so stellen es diese Gottesworte ja vor: Keine Alternative zur Macht. Sondern: Einen schüchterleisen Machtmenschen. Keinen Inbegriff von Ohnmacht. Sondern: Herrschaft im Dienst des wundflatternden Lebens, der Tränenzeiten.

Achte nur mal darauf!

Als virtuose Pianistin hat Hélène Grimaud höchste Auszeichnungen erhalten. Sie spielt auf den ganz großen Bühnen. Man kann in ihr ein Musterbeispiel für Erfolg, Karriere, Leben im Scheinwerferlicht sehen. Aber fragt man sie selbst, wo die Größe ihrer Kunst herkommt, sagt sie Sätze wie: „Ich werde eins mit der Musik, mit dem Werk, und ganz klein. […] Ich […] fühle ich mich wie ein Staubkorn im Universum. Und das ist ein sehr angenehmes Gefühl. Es ist nämlich überhaupt nicht demütigend, sich klein und unbedeutend zu fühlen, sondern wundervoll. […] Es ist manchmal eine Gratwanderung – zwischen dem Selbstvertrauen, das man braucht, um da rauszugehen, sich hinzusetzen und zu spielen, und der Unsicherheit, ob man auch stark genug ist.“

Achtet darauf!

Aber – geht davon Macht aus, auf diesem Planeten? Desmond Tutu, der am zweiten Weihnachtstag gestorbene Erzbischof von Kapstadt, scheute die klaren Worte nie. Dem rassistischen Regime Südafrikas gegenüber. Aber auch, als die einst Unterdrückten Regierungsverantwortung übernahmen. Zäh mahnte Tutu Recht an, das zuerst die Schwächsten schützt. Nach dem Schlüsselmoment seines Lebens befragt, erzählte er von dem Tag, an dem er als Neunjähriger mit seiner Mutter die Straße entlanglief. Apartheid war die zum Himmel schreiende Normalität. Dazu gehörte: Von Menschen schwarzer Hautfarbe wurde selbstverständlich erwartet, in die Gosse zu treten, wenn Weiße entgegenkamen – und den Kopf zu senken. An diesem Tag aber kam ein Mann entgegen, ein „Weißer“, der selbst Platz machte, die Hand zum Gruß an seinen Hut legte. „Das ist ein Mann Gottes“, sagte Tutus Mutter. Das entschied die Sache für Tutu: Auch ein Mann Gottes werden zu wollen. Ja, die Geste dessen, der zurückweicht, verändert die Welt!

So besehen schwingt noch eine geheimnisvolle Offenheit mit, in den Worten von Gottes Knecht.

Ich, der HERR, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand. Ich habe dich geschaffen und bestimmt zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden, dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker.

Diese Worte können das ganze Volk Israel meinen. Ein Volk, in dem Gottes Zuwendung Gestalt annimmt, eine Einladung an die weite Welt. Der lang erwartete Messias kann gemeint sein. Oder für uns Christenmenschen: Der in der Krippe zur Welt gekommene Jesus. Diese Worte können aber genauso gut eine zeitlose Möglichkeit in die Luft legen.

Die Möglichkeit, dass das ein und dasselbe ist: Darauf zu achten, wo die Sorge für den glimmenden Docht den Maßstab gibt, für Macht und Recht. Die Sorge ums Leben am seidenen Faden. Am Sauerstoffgerät. Und: Eine Phantasie für Gottes Gerechtigkeit zu entwickeln.
Dass es ein und dasselbe ist: Darauf zu achten, wo das große Wort der Freiheit zuerst gefragt ist. Unter den Eingekerkerten. Unter ängstlichen Gotteskindern, steif gefroren im Grenzstreifen. Und: Eine Phantasie für Gott zu entwickeln, der befreien wird.
Dass es ein und dasselbe ist: Den Knecht Gottes zu erwarten. Und: Seiner Herrschaft Raum zu geben. Der Sinn fürs noch ungelebte Leben, gerade um diese Zeit im Jahr. Und: Offene Augen haben.

Ja, es kann tatsächlich sein! Achte darauf: Die meisten Christbäume haben alle Festlichkeit verloren. Sie türmen sich neben den Glascontainern auf dem Ablageplatz. Zweige zeigen ins Nirgendwo. Aber der Weihnachtsstern geht auf, über aller Zeit.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfr. Dr. Peter Meyer

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt halte ich in der Schlosskirche in Lutherstadt Wittenberg. Am Tag vor Schulbeginn nach den Weihnachtsferien, im Übergang in den 'normalen Takt' des beginnenden Jahres also, soweit das die Pandemie zulässt. In den Wintermonaten sind wenige Tourist:innen in der Stadt und ihren beiden Reformations-Kirchen. Ich finde, dass die (im 19. Jh. gemäß dem preußischen Verständnis von Reformationsgedenken) üppig ausgestattete Schlosskirche gerade dann Akzente von Weichheit, Berührbarkeit benötigt.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt hat mich eine im Grunde meditative Übung: Für den Moment auszublenden, dass die Gottesknecht-Texte des Jesaja-Buches so oft unter der Frage der Identifikation ("Wer ist damit gemeint?") behandelt wurden. Um dann selbst auf die Suche nach Spuren der Haltung und Wirklichkeit zu gehen, für die diese Skizze von einem "Knecht" steht. Wo Zartheit als Machtfaktor vorkommt, zum Beispiel. Ich habe dann versucht, diese Form der meditativen Phantasie durch die Predigt hindurch spürbar zu machen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Als kritische Rückfrage an mich selbst: Wem schenke ich eigentlich Gehör? Auf wessen Stimme gebe ich etwas? Woran orientiere ich mich, wenn es darauf ankommt? Gewiss keine bahnbrechend neue Entdeckung, aber in dieser Zuspitzung eine Lebensfrage. Ich glaube, ziemlich kompatibel mit der gut evangelischen Idee: Das strengt am Ende gar nicht an. Sondern befreit.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Vor allem ein Gedanke zur Struktur: Figuren "auf der Spur des Gottesknechtes" sind das eine. Und die Möglichkeit, daraus eine inspirierende Haltung für uns alle zu machen, ein Zweites. Auch, wenn es gedanklich eng verbunden ist: Gut zu hören ist es erst, wenn ich es klar benenne. Und, wie immer: schmerzhafte, notwendige Trennung von einigen Seiten- und Lieblingsgedanken.

Perikope
09.01.2022
42,1-9

Pflegetermin für Klagefreudige - Predigt zu Jes 49,13-16 von Markus Kreis

Pflegetermin für Klagefreudige - Predigt zu Jes 49,13-16 von Markus Kreis
49,13-16

13 Jauchzet ihr Himmel; freue Dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der Herr hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden. 14 Zion aber sprach: Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen. 15 Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. 16 Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir.

Das kannste getrost vergessen! Manchem geht es so, wenn er Texte aus der Bibel hört. Und fängt an, missmutig Däumchen zu drehen, seine Hände anzuschauen. Liest lieber in den in die Haut des Handtellers gravierten Furchen und Sprengsel von Linien. Als stünden da Buchstaben, die zusammen einen Sinn ergeben könnten. Das kannste getrost vergessen!
„Vergessen das Vergessen!“, spricht Gott. Denn er entsinnt sich eines jeden Menschen. In die Hände habe ich Dich gezeichnet. Bei diesem Satz ist mir eingefallen: Gott macht das so ähnlich wie ich und Mitschüler in der dritten, vierten Klasse. Es gab ja noch keine Handys mit Notizfunktion oder Adressbuch. Etwas Ähnliches aus Papier hatten wir Kinder nicht auf dem Plan, geschweige denn parat. Auch viele Eltern damals nicht. Wenn wir mündlich eine wichtige Info bekamen, die wir unbedingt behalten wollten, dann haben wir uns das kurzerhand mit dem Kuli auf den Handteller gekrakelt. Dessen Farbe hat nämlich eine ganz schön lange Zeit gehalten, viel Schweiß und Dreck beim Spielen überstanden und die erste Ladung Wasser und Seife beim Händewaschen. Das in die Hand krakeln hat bedeutet, dass man sich dem Absender irgendwie verpflichtet fühlte. Ärger mit ihm vermeiden wollte. Sei es aus Gehorsam, um seinen Aufgaben nachzukommen. Oder sei es aus Zuneigung, um wie bei einem Freund dessen Anliegen zu verfolgen. Gott hat uns in die Hände gezeichnet: Er entsinnt sich eines jeden Menschen, er kommt konsequent dem Dienst nach, den er sich mit uns gestellt hat. Und weil er uns mag.

Gott vergisst uns unser Vergessen. Denn Gott entsinnt sich eines jeden Menschen. Wie hat sich Jesaja Gottes Entsinnen vorgestellt? In die Hände habe ich Dich gezeichnet, heißt es. Gott schaut also auf seine Handteller. Und zwar ohne, dass da etwas aufliegt. Kein Buch und erst recht kein Handy. Irgendwie bin ich beim Nachdenken auf einen Priester gekommen. Einen Priester, der steht und betet und dabei auf seine Handteller schaut. Ähnlich wie in der katholischen Messe bei der Wandlung.
Gott ist wie einer, der dasteht und spricht und indessen auf seine offenen Handteller schaut. Da sieht er uns Menschen samt unseren Mauern im Verfall. Und tatsächlich, schaut man auf seine Handteller, entdeckt man in deren Mitte zwei fast parallele waagrechte Linien. Wie eine Mauerflucht, rechter Hand von links nach rechts, linker Hand von rechts nach links. Unter der unteren Linie, dem Mauerfuß, bis zur Handwurzel hinab, das Feld vor der Mauer. Oberhalb der oberen Linie, der Mauerkante, bis zum Fingeransatz hinauf der offene Himmel. Eine Mauer, die an den Handkanten jäh abbricht und eine Lücke macht. Eine wenig wehrhafte Mauer. Und je nachdem, wie man die Hand bewegt, eine, die man beliebig zu Wülsten stauchen oder glatt überdehnen kann. Ob die bei ordentlich Druck stabil bleibt?   

Gott steht und spricht und schaut dabei auf seine offenen Handteller. Mit dieser Geste spricht er ein Machtwort. Installiert damit eine neue Wirklichkeit. So wie sich Gaben auf einem Altar durch Worte und Gesten verändern, zu besonderen Gaben werden. Gott spricht uns zu, was uns fehlt. So gerät neue, gute Bedeutung in unser Leben. Das haben wir manchmal bitter nötig, denn uns Menschen kann es Böse ergehen. Wir gehen unter im Hagel der Ereignisse, die unser Leben angreifen. Eben noch lief es uns leicht aus den Händen. Dann geht uns die Fassung verloren. Uns kommt abhanden, wohin es mit unserem Leben geht. Wir treten auf der Stelle, schwerfällig statt leichtfüßig. 
Schöne Überraschung! Vielleicht dunkel geahnt. Haut aber trotzdem und erst recht rein. In Ausflüchten verirrt man sich da nur, jede Zuflucht verstellt sich. Überall kein Ort, nirgends. Eines vergisst man nicht in so einer Lage: Da drängt sich einem auf, da entsinnt man sich einer Sache, manchmal nur insgeheim: Nämlich dessen, was man selber schon Böses erlebt hat. Sei es selbst erlitten oder selbst anderen angetan. Und zu dem gehört, dass wir ahnen: Wir haben Gott überhört. Lagen uns mit allem möglichen anderen Kram in den Händen und vor den Füßen, in den Ohren und vor den Augen. Gott ist uns aus dem Sinn gekommen. Der uns nur Gutes getan hat, auch wenn uns manches zuerst nur Böse erschien.

Wie gehen Menschen damit um, Gott trotz seiner Güte vergessen zu haben? Sich unterordnen, ignorieren und zurückschlagen, so lauten die Stichworte. Sich unterordnen, eigentlich die einzige Wahl, wenn man an Gottes Gnade und Vergebung glaubt. Sich das Vergessen einzugestehen, Gott um Geduld und Vergebung bitten. Selber geduldig sein. Spannungen aushalten. Den Widerspruch annehmen zwischen dem, was ich gerade als böse Wendung erlebe und dem, was mir als gute Wendung zugesagt ist. Das fällt schwer. Dann wählen viele Menschen lieber was anderes, sie verdrängen zum Beispiel, ignorieren. Verdrängen heißt hier: das Ahnen des Vergessens schnell wieder zu vergessen. So tun, als wär´ da nix gewesen. Fortgesetzte geistliche Zerstreutheit. Nichts leichter als das Überspielen. Is´ ja auch irgendwie peinlich, das Ganze. Das Leben geht weiter. Oder Menschen schlagen zurück. Werden klagefreudig. Kehren den Vorwurf um. Kreiden Gott das Vergessen an. Gott hat sein Gedächtnis verloren! Gott hat meiner vergessen. So sagten und dachten es im alten Jerusalem die Menschen. Duckten sich zwischen die Mauertrümmer und Gebäuderuinen der von den Siegern zerstörten Stadt. Alles leere Versprechungen, die neuen Mauern und Gebäude. In Aussicht: Kein Ort, nirgends. Vergessen, dass Gottes Güte sie aus Babylon hierher zurückgeführt hat.

Gott vergisst uns Vergessen und Klagefreude. Denn er reagiert auf Gegenangriff und Verdrängung wie die Mutter aller Mütter. Ja, besser noch als jedwede Mutter. Gottes Pflege verwandelt Freude am Klagen zu Freude an Freude. Bringt ins Glucksen und macht leichthändig. Aus lauter Liebe nimmt er den Pflegedienst auf sich. Und erfüllt ihn gehorsam, also konsequent seinem Willen entsprechend. Gott nimmt uns in seinem Pflegedienst unser Vergessen nicht krumm. Er macht sich krumm. Er macht die Finger krumm. Macht sie sich schmutzig, wo andere sich ekeln vor der Drecksarbeit. Auf unser I don´t care antwortet Gott mit Care Arbeit, Hand- und Fußpflege. In die Hände habe ich dich gezeichnet. Deine Mauern stehen vor mir. Ich bringe dich wieder in gute Fassung. Chaos lichtet sich. Freude am Klagen wird zu Freude an Freude. Meine Handpflege bringt ins Glucksen, beflügelt und macht leichthändig.

Gott vergisst uns unser Vergessen. Manches vergisst sich dann wie von alleine. Und schafft so Platz für neues Leben. Ja, es gibt ein gutes Vergessen. Weil es Freude am Klagen in Freude an Freude verwandelt. Weil es einen ins Glucksen bringt, beflügelt und leichthändig macht. Weil man nur so auf Neues kommt.
Leid vergessen, das einem widerfahren ist. Das vergesse ich Dir nie! Das prägt sich ein, wenn jemandem von einem wichtigen Menschen sehr weh getan worden ist. Darauf kehrt man immer wieder leicht zurück. Das führt dazu, dass man in allem nur noch Drohungen sieht. Egal, was sich auch an Gutem ereignet, egal, was einem die Mitmenschen an Gutem entgegenbringen. Das Gefühl, ein Opfer zu sein, vergessen dank Gott. Ein Gefühl, das einem erwachsen kann, wenn alles nur noch drohend wirkt, dieses Selbstmitleid. Auch den Wunsch nach Rache, vergessen dank Gott, die blinde Wut. Rachewunsch, Wut und Opfersein, alles Gedanken, mit denen sich die gefühlte Drohung lindern lässt. All das vergessen, dank Gott, und statt sich zu rächen, dem anderen vergeben. All das vergessen, dank Gott. Und statt sich zum Opfer zu machen, sich seine Schwäche gestehen und vergeben.
Leid vergessen, welches man selbst in Gang gesetzt hat. Das vergesse ich Dir nie! Das prägt sich ein, wenn jemand das von einem wichtigen Menschen gesagt bekommt. Auf das kehrt man immer wieder leicht zurück. Das führt dazu, dass man bei allem nur noch seine Schuld sieht und verzweifelt. Egal, was man auch an Gutem sonst tut, egal, wofür einem die Mitmenschen an Gutem danken. Ein gutes Verhältnis ist ausgeschlossen! Dank Gott dieses Gefühl vergessen, das einen bis zur Verzweiflung packen kann. Auch den Wunsch nach billigem Trost vergessen. Oder den Wunsch, dem Kläger blind zu folgen, um so auf verquere Art die Schuld wieder gut zu machen. Alles Gedanken, mit denen sich die gefühlte Verzweiflung stillstellen lässt. Verzweiflung vergessen Gottseidank, und statt sich ewig schuldig zu fühlen, sich von ihm vergeben zu lassen. Verzweiflung vergessen statt in blinden Gehorsam zu verfallen. Den billigen Trost verwerfen. Auf Gottes Machtwort hoffen, das neue Bedeutung ins Leben bringt. Das Freude am Klagen in Freude an Freude verwandelt. Das ins Glucksen bringt, beflügelt und leichthändig macht.

Vergessen, dass einem die Texte aus der Bibel stumm geblieben sind. So dass man missmutig lieber auf die in die Haut des Handtellers gravierten Furchen und Sprengsel von Linien schaut. Als stünden da Buchstaben, die einen Sinn ergeben könnten. Das kannste getrost vergessen.

Freude am Klagen wird zu Freude an Freude. Bringt ins Glucksen, beflügelt und macht leichthändig. Gottes Pflegedienst verändert die Wirklichkeit. In die Hände habe ich Dich gezeichnet, ich bringe Dich auf neue Gedanken, so dass Du wieder gut ins Leben findest. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an OStR Markus Kreis

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Zur Zeit des Jahreswechsels passt das Widerspiel von Vergessen und Entsinnen, inne werden. Das im Jesajatext thematisierte Vergessen Gottes und seiner Heilstaten bzw. dessen trotzdem unermüdliches Heilswirken hat mich vor allen Dingen in Bezug auf den historischen israelischen Adressaten beschäftigt. Der Übertrag in die Gegenwart zeigt sich in der Predigt und ist allgemein menschlich, weil ich den Text ohne Gottesdienstauftrag nur für das Portal geschrieben habe.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Dass neben der allseits thematisierten und sicher wichtigen Rolle der Achtsamkeit auch das Vergessen seinen Platz im Glaubensleben hat und einnehmen darf. Dass Gott mit seiner Carearbeit dem menschlichen I don´t care entgegenwirkt - möge dies aus Resignation oder Schadenfreude gedacht, gesprochen, getan werden.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das Bild des in-die-Hand-Zeichnens mit seinem lebensweltlichen Sitz in der Kindheit, das damit anthropomorphisierte Verhalten Gottes, der ein Machtwort spricht; die in der Predigt nicht explizit ausgeführte Bedeutung, dass sein Machtwort Hände von Menschen zum Schaffen bringt und diese dann durch die jeweilige Arbeit wie auch immer gezeichnet sind.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Dank der Rückmeldung habe ich einige Fremdwörter und zwei Bilder aussortiert, die zwar eindrücklich, aber aufs Ganze der Predigt gesehen wohl eher randständig gewesen sind: Gebranntes Kind scheut das Feuer und lernt trotzdem wieder den Umgang damit. Eltern, die ihr schlafendes Kleinkind beim Einkaufen im geparkten Auto vergessen (trauma extinction). Außerdem hatte ich Gottes priesterliches Wort zuerst als Fürbitte und nicht als Heilsorakel konzipiert.

Perikope
02.01.2022
49,13-16

‚Immanuel!‘ Ein zitternder König, ein müder Gott und der Klang von Weihnachten - Predigt zu Jes 7,10-17 von Matthias Rein

‚Immanuel!‘ Ein zitternder König, ein müder Gott und der Klang von Weihnachten - Predigt zu Jes 7,10-17 von Matthias Rein
7,10-17

Jes 7,10-17: Das Zeichen des Immanuel und das Strafgericht durch die Assyrer

10 Und Gott, der Herr redete abermals zu Ahas, dem König, und sprach: 11 Fordere dir ein Zeichen vom Herrn, deinem Gott, es sei drunten in der Tiefe oder droben in der Höhe! 12 Aber König Ahas sprach: Ich will's nicht fordern, damit ich den Herrn nicht versuche. 13 Da sprach der Profet Jesaja: Wohlan, so hört, ihr vom Hause David: Ist's euch zu wenig, dass ihr Menschen müde macht? Müsst ihr auch meinen Gott müde machen? 14 Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel. 15 Butter und Honig wird er essen, bis er weiß, Böses zu verwerfen und Gutes zu erwählen. 16 Denn ehe der Knabe weiß, Böses zu verwerfen und Gutes zu erwählen, wird das Land verödet sein, vor dessen zwei Königen dir graut. 17 Der Herr wird über dich, über dein Volk und über deines Vaters Haus Tage kommen lassen, wie sie nicht gekommen sind seit der Zeit, da Ephraim sich von Juda schied, nämlich durch den König von Assyrien.


Liebe Gemeinde,

zum Weihnachtsfest gehören bestimmte Bilder, Klänge, Gerüche und Geschmacksrichtungen.
Ich lade Sie ein, den Klängen zu lauschen, den Weihnachtsklängen. In den Worten, die wir eben gehört haben, klingt Weihnachten. Aber: das klingt sehr verschieden.

König Ahas klingt ratlos und verzweifelt: „Lieber kein Zeichen von Gott.“
Der Prophet Jesaja klingt entrüstet und drohend: „Müsst ihr meinen Gott müde machen? Es kommen schlimme Tage.“
Ganz anders klingt Jesajas Prophezeiung: „Eine junge Frau wird schwanger. Sie bringt einen Sohn zur Welt. Sein Name: Immanuel.“

„Immanuel“ – wie klingt dieses Wort?
Es gehört zum Klang von Weihnachten.
In Weihnachtsliedern klingt es. Ein Beispiel:

„Ihr lieben Christen, freut euch nun, bald wird erscheinen Gottes Sohn,
der unser Bruder worden ist, das ist der lieb Herr Jesus Christ.
Du treuer Heiland Jesu Christ, dieweil die Zeit erfüllet ist,
die uns verkündet Daniel, so komm, lieber Immanuel.“

So dichtet der Schüler Martin Luthers Erasmus Alber im Jahr 1546.

„Immanuel“, liebe Gemeinde, ein heller, freundlicher, schöner Klang. „I-ma-nu-el“.
Was aber heißt das?
Und: Was hat das Wort „Immanuel“ mit Weihnachten zu tun?
Zu „Immanuel“ gehören zwei Kindergeschichten.

Die erste Geschichte handelt von einem zitternden König, einem müden Gott und einem wundersamen Kindernamen.

Ahas war König in Israel im Jahre 740 Jahre vor Christus.
Er zitterte vor Angst. Das kleine Land Israel wurde bedroht. Ein Kriegsherr im Norden. Ein Kriegsherr im Süden.
Was soll Ahas tun? Kämpfen? Taktieren? Stillhalten? Starke Verbündete suchen?
König Ahas zittert und zaudert. König Ahas hat Angst. Zu Recht.

Jesaja, der Prophet, kommt zum König.
Er sagt: „Bitte Gott, den Gott Israels, um ein Zeichen. Er wird dir ein Zeichen senden. Das zeigt, was Du tun sollst.“
Der König hört und - zögert. „Nein, lieber kein Zeichen, ich will Gott nicht behelligen. Ich will Gott nicht nötigen. Ich muss diese Sache ohne Gott regeln.“

Jesaja hört diese Worte. Er ist fassungslos.
„Dieser König macht die Menschen müde. Er macht unseren Gott müde! Gott will ein Zeichen schicken: Hilfe, Klärung, Wegweisung. Und Ahas will das Zeichen nicht. Unglaublich!“

Und dann sendet Gott das Zeichen.
Eine junge Frau wird schwanger. Sie bringt ein Kind zur Welt. Einen Sohn. Sie gibt dem Kind einen Namen: „I-ma-nu-el“. Auf deutsch: Gott ist mit uns.
Gott ist mit uns. In dieser Bedrohung. In dieser ausweglosen Lage.
Da ist er - der schöne Klang: Hoffnung. Hilfe. Beistand.

So bekommen der zitternde König und sein Volk das Zeichen.
Die Botschaft lautet:
„Habt keine Angst! Vertraut Gott! Gott ist bei euch.
Gott ist bei euch in der Zeit der Not. In der Zeit der Bedrängnis. Schaut auf den Jungen mit Namen „Immanuel“. Dieses Kind zeigt euch: „Gott ist mit uns.“

Und nun die zweite Kindergeschichte.
Auch hier geht es um Zeichen und Namen.
Maria, die Jungfrau, bringt ein Kind zur Welt.
Und es geschehen Zeichen. Die Menschen sehen die Zeichen. Sie verstehen sie. Sie handeln so, wie die Zeichen weisen.

Maria bringt das Kind in einem Stall zur Welt. Sie legt es in eine Krippe.
Das ist das Zeichen für die Hirten. „Ihr findet ein Kind in einer Futterkrippe, in Windeln gewickelt. Daran erkennt ihr: Es ist das besondere Kind, der Messias, der Heiland.“
Die Hirten verstehen dieses Zeichen. Sie suchen das Kind in der Krippe. Sie finden es. Sie erkennen es. Sie beten es an.

Und dazu kommen weitere Zeichen:
Die alte Frau Elisabeth bekommt ein Kind, unverhofft und so schön.
Die betagte Elisabeth und die junge Maria treffen sich und Marias Kind hüpft vor Freude im Bauch der Mutter.
Josef und die Weisen bekommen Zeichen und sie tun das Richtige.

Und dann der Namen des Kindes: „Du sollst ihm den Namen Jesus geben“. Übersetzt: Gott rettet.
Das Kind bekommt noch einen zweiten Namen.  Den alten, den von Jesaja. Es heißt auch: „Immanuel“. Das bedeutet: Das Kind in der Krippe, Jesus - das ist unser Immanuel. Dieses Kind zeigt: Gott ist mit uns.

Liebe Gemeinde,
ein zitternder König,
eine einfache, völlig überraschte Frau,
ein Gott, der Zeichen gibt,
und die Botschaft: Gott ist mit uns.

Was sagt uns das heute?

Gott spricht durch die Kinder, liebe Gemeinde.
Immanuel bei Jesaja, Jesus bei Maria und Josef.
Den Kindern gehört das Reich Gottes, sagt Jesus.

Was ist das Besondere an den Kindern? Wie erscheint da Gott?
Kinder leben unmittelbar, offenherzig, unbekümmert.
Sie fordern Nähe und sie schenken Nähe. Sie leben Beziehung. Sie leben in die Zukunft. Sie sind Zukunft.
Und Kinder sind wach. Sie wecken uns auf. Wenn wir müde werden. „Hallo, wach!“
Gott hat ein kleines Gesicht, sagt Martin Luther. Gott selbst wird Mensch, wird Kind.
Gott spricht durch die Kinder.

Ein Zweites:
„Gott ist mit uns!“ – Woran erkennen wir das? Gibt es dafür ein Zeichen, das Zeichen? Kann ich es sehen und verstehen?
Mir ist der zitternde König Ahas nahe, liebe Gemeinde.
Was erwartet uns? Woran können wir uns festhalten in dieser schwankenden Welt? Wo sind Hoffnung, Hilfe, Beistand?
Wir sind müde und Gott scheint auch müde zu werden.

Und doch, ich entdecke die Zeichen des Immanuel, des „Gott mit uns“.
Ich entdecke die sanftmütige Pflegerin,
den barmherzigen Vorgesetzten,
die Frieden stiftende Nachbarin,
den Richter, der gerecht urteilt,
die Witwe, die Leid trägt,
den Gottsucher, der reinen Herzens ist,
das Kind, das lacht und betet.

Sie alle sind Zeichen dafür, dass Gott mit uns ist.
Und wir erleben, dass sich die Leute trösten und vertragen und nicht übelnehmen. Dass sie nichts nachtragen. Das erleben wir manchmal. Ein Stück Himmel auf Erden.

„Vom Himmel hoch, da komm ich her“ – so klingt Weihnachten. Haben Sie die Melodie von Luthers Weihnachtslied im Ohr? Auf diese Melodie passt folgender Liedtext von Paul Gerhardt aus dem Jahr 1653:

„Wir singen dir, Immanuel, du Lebensfürst und Gnadenquell,
du Himmelsblum und Morgenstern, du Jungfraunsohn, Herr aller Herrn.

Nun du bist hier, da liegest du, hältst in dem Kripplein deine Ruh,
bist klein und machst doch alles groß, bekleidst die Welt und kommst doch bloß.“

Möge das schöne Wort „Immanuel“ in Ihnen klingen in diesen Weihnachtstagen!

Amen


Empfehlung für das Predigtlied:

Wir singen dir, Immanuel (T: Paul Gerhardt, 1653, M: Vom Himmel hoch, da komm ich her, in: EG, Ausg. für Bayern und Thüringen, Nr. 543)
 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Dr. Matthias Rein

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mir stehen engagierte Besucher eines festlichen und musikalisch schön gestalteten Gottesdienstes am 2. Weihnachtsfeiertag in einer der großen gotischen Kirchen in Erfurt vor Augen. Die Gottesdienstbesucher sind erfahrene und aufmerksame Predigthörerinnen, offen für Überraschungen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mich beflügeln der Klang von Worten, spannungsvolle Geschichten, die Erfahrung der Gottesgegenwart.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Für mich diesmal spannend: Kurze Sätze. Prägnante Sprache. Klingende Sprache. Zerrissenheit und doch Beistand.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Bei dieser Predigt: längere Mediation über die gute Botschaft für heute. Zuspitzung im Stil. Orientierung an den Seligpreisungen.

 

Perikope
26.12.2021
7,10-17

Lieber Jesaja... - Predigt zu Jes 63,15 - 64,3 von Wolfgang Vögele

Lieber Jesaja... - Predigt zu Jes 63,15 - 64,3 von Wolfgang Vögele
63,15-64,3

Der Predigttext für den 2.Advent steht in Jes 63,15-64,3:

„So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, Herr, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name. Warum lässt du uns, Herr, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind! Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten. Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde. Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten, und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! Von alters her hat man es nicht vernommen, kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.“

Ach, lieber Jesaja, diese Worte kommen mir nahe. So schön hast du das geschrieben, weil du dich nicht blenden läßt. Ergriffen bin ich davon. Deine großen Worte hallen nach, lassen uns Hörer nicht allein. Deine Bilder atmen Gelassenheit und Schönheit, sie malen das große Panorama aus und rufen den biblischen Gott herbei, bringen ihn und die traurigen, verzweifelten Menschen zusammen. Lieber Jesaja, du schaffst es, mit deinen Worten Bedrückung zu überwinden und Neuanfänge zu bahnen. Du verwandelst die Tatsachen, die so bitter schmecken, mit einem Funken Glauben in neue Hoffnung. Lieber Jesaja, du bist ein Adventsprediger! Du weckst große Erwartungen, weil du gerade nicht von Kerzen und Lebkuchen und schön eingepackten Geschenken redest.

Liebe Schwestern und Brüder, ich will Sie einladen, dem sanften Weg Jesajas aufmerksam zu folgen. Kommen Sie bitte mit auf eine Pilgerstrecke, die erst einmal die glitzernde Weihnachtszeit abstreift. In einer ersten Pause erhellt sich der wahre Sinn des Advents, dann beginnt ein abgebrochenes Gespräch von neuem. Und am Ende entdeckt Jesaja im Warten auf Gott den notwendigen Funken Hoffnung, den wir dringend nötig haben.

Am Anfang werden alle Adventslichter gelöscht: Bienenwachskerzen auf dem Adventskranz, elektrische Lichterketten im Fensterrahmen, Sternenbeleuchtung in der Fußgängerzone. Die Dudelmusik wird ausgeschaltet: keine plärrenden Adventslieder aus den unsichtbaren Lautsprechern der Kaufhäuser und Weihnachtsmarktstände. Adventslichter und -lieder sollen Dunkelheit und Stille der kalten Jahreszeit aufhellen, aber manchmal muß man beides aushalten. Jetzt, da sich von neuem die Pandemie ausbreitet, gebietet auch der Respekt vor der Gesundheit der anderen den Verzicht auf Glitzer und große Menschenansammlungen.
Früher, in anderen Zeiten grassierten schlimmere Seuchen. Und trotzdem herrschte im Advent größere Gelassenheit. Ungepackte Geschenke schlugen nicht auf den Magen. Aufgeschobene Vorbereitungen lösten keine Nervosität aus. In der Adventszeit widmeten sich die Glaubenden der Aufgabe, Buße zu tun. Sie hielten inne, beteten und meditierten; sie beschäftigten sich mit der Frage, wieso die Welt erlöst werden muss. Das kleine Baby in der Krippe war nicht in süßen Kitsch eingepackt. Schon im Baby sah man den gefolterten Erlöser am Kreuz. Und dieses Neugeborene überwand die Dunkelheit des Winters und genauso die schwarze Farbe der Sünde. In Weihnachten lag schon ein Unterton von Karfreitag.

Wer dem tröstlichen Jesaja folgt, kann erst einmal solche Dunkelheit anerkennen. Es ist hohe Zeit, die Scheinwerfer und die grellen Blitzlichter auszuschalten. Sie haben die Aufgabe, mit künstlichem Licht das Leben zu verschönern und schwarze Seelen aufzuhellen. Jesaja riskiert stattdessen einen intensiven Blick auf die Landschaften der eigenen Niederlagen. Und er beobachtet genau die umgebende Dunkelheit. 
Den Blick in die Dunkelheit werfen: In der Gegenwart sind schemenhaft die Versatzstücke globaler Krisen zu erkennen: Millionen Plastikfetzen, die an den Strand geschwemmt werden, Beatmungsgeräte für Corona-Patienten auf den Intensivstationen, Stapel abgeholzter Baumstämme aus dem gerodeten Wald, wabernde Wolken von Smog, zusammengesetzt aus Autoabgasen und der verschmutzten Abluft von Kohlekraftwerken. Dunkel bleibt das alles, weil wir die Folgen fürchten, die sich dennoch klar am Horizont abzeichnen. Die Aufzählung ist eine Zumutung. Wissenschaftler versuchen mühsam, Ursachen und Wirkungen zu ordnen. Sie leiten daraus Maßnahmen ab, die eine überforderte Politik nicht richtig auf den Weg bringen will, wegen der Diplomatie, wegen der Interessen von Lobbyvertretern, wegen der fehlenden Akzeptanz in der Bevölkerung. Jetzt, in der Dunkelheit der Befürchtungen und Sorgen, wäre der richtige Zeitpunkt, über die Verbindung zum Glauben nachzudenken.

Jesaja kannte selbstverständlich noch keine Klimakrise. Jesaja sah die zerstörten Mauern Jerusalems und das besetzte Israel, den Tempel als Ruine, den Abtransport der Bevölkerung Israels nach Babylon, die gnadenlose Herrschaft der unbarmherzigen Besatzungs- und Großmacht. Und er fragte sich: Kann dieser Gott, der mit seinem geliebten Volk Israel einen Bund geschlossen hat, solche schrecklichen Verhältnisse zulassen? Kann dieser vormals gnädige Gott seine Augen schließen, obwohl er seinen nachhaltigen Segen auf Israel legte und seine Barmherzigkeit nie abbrechen lassen wollte? Treibt Gott ein hinterhältiges Spiel mit den Menschen? Können sich die Glaubenden auf seine Zusagen und Verheißungen nicht mehr verlassen? Auf diese drängenden Fragen passen keine einfachen Antworten.
Jesaja antwortete - mit seinem Gottesglauben. Diesen hält er für so wichtig, daß er ihm einen entscheidenden Einfluß auf die Verhältnisse der Welt zutraut: auf politische Verhältnisse, auf die Klimapolitik, auf Krieg und Frieden. Glaube ersetzt für ihn nicht Wissenschaft und Politik, aber er gibt beiden eine neue Grundlage.

Wir würden Gott gar zu gerne auf das Gute, was geschieht, festlegen. Dann wäre er ein Schönwettergott. Dann aber stellt sich die Frage nach dem Ursprung des Bösen nur um so drängender. Genauso wenig scheint es mir möglich zu sagen: Das Gute, das Gott tut, steht im Vordergrund. Aber im Hintergrund, im Verborgenen, ist er mit seinem geheimnisvollen ‚Walten‘ beschäftigt, über das niemand, der glaubt, so richtig Bescheid weiß. Eine dritte Antwort lautet: Für alle Zufälle und verheerenden Entwicklungen auf der Erde sind die Menschen verantwortlich; Gott kann die Verantwortung der Menschen nicht angerechnet werden. Das wäre eine Ausflucht. Aber auch das halte ich für eine Antwort, die zu kurz greift.

Jesaja bringt die Widersprüche von Glauben und Leben eindringlich auf den Punkt: „Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.“ Das ist der Abgrund, den alle, die versuchen zu glauben, aushalten müssen, über die Schreie der Klage und der Verzweiflung hinaus. Böses und Gutes lassen sich nicht so einfach auf Ursachen zurückführen. Es gibt keinen Schnellweg zwischen dem eigenen Denken und Handeln und den jeweiligen Folgen. Die Automatismen eines naiven Gottesglaubens bleiben fragwürdig: Wer nachhaltig den Nächsten hilft, wird ein schönes Leben haben, von Gott geschenkt. Wer nicht nach dem Willen Gottes handelt, den wird er bestrafen. Wer also krank wird, der muß wahrscheinlich gesündigt haben, ohne daß die anderen davon wissen. So einfach macht es sich Jesaja nicht. Denn er weiß sehr genau um die Dunkelheit der Verhältnisse: Manchmal triumphiert die Ungerechtigkeit. Die, die es nicht verdient haben, tragen den Sieg davon. Viel zu häufig werden diejenigen, die die Umwelt bewahren wollen, die ihre Mitmenschen respektieren, einfach überfahren.

Aus den Worten des Jesaja wird die Einsicht deutlich: Solche Ungerechtigkeit, solche Dunkelheit müssen glaubende Menschen aushalten. Dabei weiß er: Dauerhaft wird das Leiden an einem solchen Widerspruch nur in das führen, was er altmodisch „Verstockung“ nennt. Wenn es bei dieser Einsicht bliebe, wäre der Glaube eine bedrückende Form von Ergebung in das Schicksal. Jesaja hält den Widerspruch zwischen Wirklichkeit und barmherzigem Gott aus und zieht daraus die Konsequenz, ein Gespräch mit Gott anzufangen. Das ist keine Verhandlung unter gleichberechtigten Partnern. Wer mit Gott sprechen will, schlägt Jesaja vor, sollte beten.
Nun kommt es darauf an, zu welchem Gott sich die Menschen wenden. Aus dem, was Jesaja sagt, wird deutlich: Einige beten zu Göttern, die sie sich selbst gemacht haben. Sie stellen sich vor die Skulpturen, die sie selbst erschaffen haben; es sind die Standbilder von Götzen. Das Gebetsgespräch des Jesaja richtet sich an den lebendigen Gott, der sich anreden läßt in Klage, Bitte und Dank. Im Gebet findet der Widerspruch zwischen der Dunkelheit von Welt und Seelen und dem barmherzigen, verzeihenden Gott seinen Ort. Glaubende Menschen blicken nicht als stumme, ergebene Fische zu ihrem Schöpfer auf. Glaubende Menschen trauen sich. Sie haben Mut. Sie sprechen an, sprechen aus, führen eine freie Rede. Jesaja führt dieses Ansprechen der Dunkelheiten im Gebet ganz sanft ein. Und die Betenden sehen den ersten Lichtblick in der Dunkelheit. Erbarme dich: Damit, nicht mit den Wunderkerzen, beginnt Advent.

Daraus ergibt sich eine zweite Frage: Was antwortet der angesprochene Gott? Es macht die theologische Größe Jesajas aus, daß er Gott nicht für eine Maschine hält, die Fehler und Defizite von Menschen korrigiert. Gott ist nicht der Staubsauger, der sämtliche Mißstände, Tumore, Treibhausgase, Trennungen, einfach beseitigt. Gott antwortet auf Gebete, aber nicht immer so, wie wir Glaubenden das erwarten.
Deswegen steht am Ende dieser Trostrede Jesajas ein wichtiges Wort, das nicht oft genug unterstrichen werden kann: Harret aus. Das ist ein altmodisches Wort und bedeutet im Grunde nichts anderes als Warten. Aber in diesem Warten ist so etwas wie ein Funke versteckt. Im Harren verbinden sich Warten und Hoffen. Hoffen auf einen gnädigen Gott. Das Harren/Warten rechnet mit beidem. Es rechnet mit der Barmherzigkeit Gottes, den die Dunkelheit der Welt nicht gleichgültig läßt. Und es rechnet mit der Entschlossenheit der glaubenden Menschen, etwas zu tun, zum Beispiel das Gemeindehaus CO²-neutral umzugestalten, für das Wohlergehen derer zu sorgen, die der Hilfe bedürfen und in unserer unmittelbaren Nähe leben. Ich denke an Kleiderkammern und Vesperkirchen im Winter und an vieles andere.
Handeln Gottes und Handeln der Menschen lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Beides kann sich auf wunderbare Weise ergänzen. Und es ist ein großer Segen, wenn das geschieht. Auf diesem Warten, so Jesaja am Ende seiner Rede, liegt die barmherzige Verheißung Gottes. Der Prophet wirbt bei den Menschen für Geduld und Gelassenheit und erinnert Gott an die Erfüllung der gegebenen Verheißungen. Das Harren und Warten löst die Widersprüche dieser Welt nicht auf. Es betrachtet diese Widersprüche in einem anderen, neuen Blickwinkel. Aus dieser Haltung wächst Gottvertrauen. Gottesglaube stiftet einen neuen Blickwinkel, genau wie ein neugeborenes Kind die Verhältnisse in einer Familie erweitert und verändert. So verändert auch das Baby in der Krippe von Bethlehem den Blickwinkel des Glaubens. Harret - wartet und hofft. Gerade diese Worte Jesajas erinnern an das Baby, mit dem und in dem Gott diese Welt erlösen wird.

Lieber Jesaja, wir danken dir für diese Worte. Wir danken dir, daß du uns im Advent sanft und tröstend einen Weg aus der Dunkelheit zeigst. Er hilft uns ganz vorsichtig, Ängste und Befürchtungen nicht Überhand nehmen zu lassen. Er hilft uns, in der Dunkelheit doch noch ein Licht des Advents zu sehen, unabhängig von allen glitzernden und ablenkenden Lichtern. Dieses Licht zeigt jedem Glaubenden einen Weg durchs Leben.

Danke, Jesaja.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Dr. Wolfgang Vögele

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mir stehen Menschen vor Augen, die in der Corona-Situation – gleich ob Christen oder nicht – darüber nachdenken, wie sie nun Advent feiern sollen: mit Weihnachtsmarkt oder ohne, mit Geschenken, mit Familientreffen an Weihnachten oder ohne. Es ist eine Zeit, die von der Normalität der Adventszeit abweicht.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Fasziniert war ich von der Sprache Jesajas, die mich ein weiteres Mal auf eine Weise beflügelt hat, wie ich das jenseits dessen, was ich sonst im Advent an Üblichem erlebe, nie erwartet hätte. Ich habe schon öfter – auch bei anderen Predigttexten – auf den Gedanken des Advents als Fastenzeit Bezug genommen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Biblisch ergibt sich aus den Worten Jesajas ein Gottesbild, das die Grenzen konventioneller Theologie überschreitet.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Es war gut, die Predigt nach drei Wochen ein zweites Mal zur Hand zu nehmen. Es war auch, weil die Predigt aus Gründen der Arbeitsbelastung schon vor einiger Zeit entstand, gut, noch einige Anspielungen auf die neue, aber nicht überraschende Epidemiesituation einzufügen.

Perikope
05.12.2021
63,15-64,3

Manchmal muss Leben neu gedeutet werden - Predigt zu Jes 65,17-25 von Bernd Giehl

Manchmal muss Leben neu gedeutet werden - Predigt zu Jes 65,17-25 von Bernd Giehl
65,17-25

Liebe Gemeinde!

Es ist eigenartig. Immer wieder taucht in Seelsorgegesprächen die Frage auf: „Warum hat Gott das zugelassen?“ Wir brauchen einen, den wir für das Leid verantwortlich machen können, das uns zugestoßen ist. Manche Dinge passieren einfach, wir können sie nicht verhindern. Um beim Totensonntag zu bleiben, den wir heute begehen: Menschen sterben und oft genug sind die Zurückbleibenden einfach fassungslos. Der oder die Verstorbene kann doch nicht einfach weg sein. Bei einem Unfall beispielsweise können wir die Verantwortlichen benennen. Das macht es scheinbar einfacher. Wir können den Schuldigen hassen oder ihm wenigstens alle Verantwortung in die Schuhe schieben. Oft ist die Schuld nicht so eindeutig. Hat vielleicht auch das ausschweifende Leben, das er führte, dazu beigetragen, dass er mit vierzig Jahren starb? Aber letztendlich möchten wir einen haben, der nicht nur einen Teil der Verantwortung trägt, sondern dem wir die ganze Verantwortung zuschieben können. Und da kommt Gott ins Spiel. Bist du nicht allmächtig, Gott? Warum hast du das dann nicht verhindert?

So fragen wir. Wir brauchen eine Erklärung, damit uns die Welt nicht auseinanderfällt. So argumentieren auch die, die nicht an Gottes Allmacht glauben. Denen er längst fraglich geworden ist. Es ist eine eher neuzeitliche Frage. Anders als wir wussten die Menschen zu Zeiten des Alten Testaments durch ihre Propheten, wer verantwortlich ist. Wenn ihr Land durch andere Mächte erobert und zerstört worden war, wenn sie selbst als Kriegsgefangene im fremden Land leben mussten, dann wussten sie: Es war nicht die Macht der Feinde, die sie besiegt hatte, vielmehr war es Gott, der den Feinden Macht über sie gegeben hatte. Aber war Gott der Letztverantwortliche für ihr Unglück? An der Stelle haben sie wahrscheinlich anders geantwortet, als wir heutigen Menschen das tun würden. Sie würden wahrscheinlich antworten: Gott hatte uns gewarnt. Wir sollten nicht mehr die falschen Götter anbeten. Wir sollten uns um unsere Mitmenschen kümmern. Wir sollten Barmherzigkeit üben. So haben die Propheten gepredigt. Aber wir haben nicht auf sie gehört. All das, was sie von uns forderten, haben wir nicht getan. Also hat Gott die Strafe über uns kommen lassen, die er angekündigt hatte. Die Babylonier eroberten unser Land. Sie zerstörten den Tempel, raubten unsere heiligen Schriftrollen und die heiligen Geräte und führten uns weg in ihr fremdes Land. Immerhin konnten wir dort leben. Wir konnten sogar unsere eigene Sprache sprechen. Aber heimisch wurden wir nicht. Unsere Sehnsucht galt einem fernen Land, das die Jüngeren nie gesehen hatten.
Aber Sie selbst waren doch noch Kinder, als es geschah, wende ich ein. Viele waren noch nicht einmal geboren. Was konnten Sie dafür, was die Generationen vor Ihnen getan hatten? Dafür waren doch nicht Sie verantwortlich? Die Gefragten zucken die Achseln. Es gibt eine Solidarität der Generationen, antworten sie. Aus der kommen wir nicht heraus.
Aber da höre ich einen anderen widersprechen: „Was können wir dafür, was unsere Väter und Großväter getan haben? Dafür sind wir doch nicht verantwortlich. Dennoch müssen wir die Suppe auslöffeln. Das ist doch nicht gerecht. So kann Gott doch nicht handeln, dass er die Sünden der Eltern an den Kindern bestraft.

Manchmal müssen andere die Suppe auslöffeln, aber die Gerechtigkeit Gottes darf nicht in Frage stehen. Das ist nicht leicht zu begreifen. So kann es passieren, dass Wahrheiten, die anderen das Leben gedeutet haben, der nächsten Generation nichts mehr nützen. Dann muss man sie wegwerfen und etwas Neues suchen. Gewiss ist das nicht so leicht. Menschen sind nun einmal Gewohnheitstiere. So leicht trennen sie sich nicht von alten Gewohnheiten oder Deutungen, mit denen sie einmal gelebt haben. Da ist immer die Angst, dass das Leben jeden Sinn verliert, wenn man die alten Deutungen in den Müll wirft. Aber jeder braucht eine Geschichte, in die er das, was ihm passiert ist, einordnen kann. Anders ist es kaum zu ertragen. Wenn sich von jetzt auf gleich alles ändern kann, wenn sich plötzlich ein Riss in der Erde auftun und einen verschlingen kann, dann muss man irgendwie damit umgehen.
Natürlich könnte man immer noch sagen: Es gibt keine höhere Macht, die unser Leben bestimmt. Es ist doch sowieso alles nur Zufall. Natürlich gibt es Leute, die das behaupten. Aber die Frage bleibt, ob sie wirklich so stoisch, so tapfer sind, wie sie tun, oder ob sie das nur behaupten.
Wenn die alten Geschichten brüchig geworden sind, müssen sie neu erzählt werden.

Aber nicht nur im Leben eines Individuums ist das so. Auch im Leben eines Volkes kann es passieren, dass die alten Deutungen nichts mehr taugen. Wer ein Beispiel aus der neuesten Zeit braucht, der denke nur an das Thema der Klimaerwärmung, das plötzlich alles, was als sicher gegolten hat, in Frage stellt. Es scheint so, als müsste von einem Augenblick auf den anderen alles auf den Prüfstand gestellt werden, was früher als unbestreitbar galt. Man kann es leugnen, aber man muss sich dazu verhalten. Am Thema vorbeimogeln kann man sich jedenfalls nicht.

In der Zeit des babylonischen Exils hatte ein Mann, dessen Namen wir nicht kennen, den Gefangenen in Babylon eine glanzvolle Rückkehr in die Heimat vorausgesagt. Ihr ganzes Leben würde neu werden. Die Rückkehr werde so triumphal sein, dass sie alles was bis dahin passiert sei, in den Schatten stelle. Ein paar Jahre später hatten sie tatsächlich in ihr Land zurückkehren können. Die Perser hatten die Babylonier besiegt und die neuen Machthaber hatten den Gefangenen erlaubt, in ihr Land zurückzukehren. Aber die Rückkehr war alles andere als glanzvoll gewesen. Seitdem die Generation der Eltern und Großeltern nach Babylon weggeführt worden war, schien die Zeit im Gelobten Land stehengeblieben zu sein. Es waren Menschen im Land zurückgeblieben, aber die hatten keine Kraft gehabt, etwas Neues aufzubauen. Sie hatten nicht einmal die Kraft gehabt, die Trümmer wegzuräumen. Wenn die Alten noch gelebt hätten, hätten sie wohl gesagt: Genauso sah es aus, als wir fortmussten.
Wie kann man in dieser Situation von Hoffnung sprechen? Wie kann einer da überhaupt noch wagen Prophet zu sein und das Schicksal der Menschen zu deuten? Der Prophet, der hier spricht, wahrscheinlich eine Generation nach dem Propheten, der die Heimkehr vorausgesagt hatte und dessen Namen wir ebenfalls nicht kennen, dieser Prophet versucht es mit einem radikalen Neuanfang. Er kann nicht mehr von triumphaler Rückkehr sprechen, denn die war ja schon geschehen, nur eben nicht in Schönheit und überwältigendem Glanz. Also spricht er nicht mehr vom Volk als Ganzem, sondern vom Einzelnen. Gott, so sagt er, will die Bedingungen, unter denen menschliches Leben stattfindet, ändern. Sie sollen nicht mehr scheitern können. Weinen und Klagen soll aufhören auf der Erde. Eltern sollen nicht mehr den Tod ihrer Kinder betrauern müssen. Menschen sollen alt und lebenssatt sterben. Die Menschen sollen auch weiterhin arbeiten, aber ihre Arbeit soll sie glücklich machen und sie sollen nicht mehr um die Früchte ihres Tuns betrogen werden.
Das ist vielleicht noch nicht das Ewige Leben, wie wir es uns vorstellen und wie das Neue Testament es uns verkündet, aber dennoch ist es noch einmal etwas anderes als die Vorstellung der älteren Propheten, die sich das Glück des Einzelnen nur in der Gesamtheit des Volkes vorstellen konnten.

Leben muss gedeutet werden, damit es sinnvoll erscheint. Und manchmal helfen einem die alten Deutungen nichts mehr. Dann muss man sich umwenden und den Blick auf etwas anderes richten. So erging es Israel nach seiner Rückkehr aus Babylonien in das Land, das einmal Heimat ihrer Vorfahren gewesen war und das ihnen nun fremd und abweisend erschien.

Vielleicht ist es Ihnen in der letzten Zeit oder früher in ihrem Leben auch so gegangen. Ein Mensch, den man geliebt hat, stirbt und die Zeit bleibt stehen. Die Gedanken kreisen nur noch um den Verlust. Wie weiterleben, wenn die Verstorbene nicht mehr da ist? Die Gedanken wandern zurück, man erinnert sich an dieses oder jenes Erlebnis mit der Verstorbenen, und manchmal kreisen sie auch oder bleiben stecken. Gut möglich, dass man das Gefühl hat, die anderen seien weit entfernt. Es scheint so, als ob das Leben ohne uns stattfinde. Man tut seine Pflicht, aber es fühlt sich an, als sei man ein Automat.
Es kann ein langer Prozess werden. Die Angehörigen müssen herausfinden, was der oder die Verstorbene für ihr Leben bedeutet und sie müssen erst einmal mit der Trauer fertigwerden. Sie haben die Verstorbene doch geliebt. Ihr Verlust ist an jeder Ecke spürbar. Vielleicht ist es am Anfang ein geradezu unerträglicher Gedanke, dass das Leben weitergehen muss, auch wenn der oder die Verstorbene nicht mehr da ist.
Und irgendwann fragt man sich: War’s das jetzt?
Vielleicht ist das ja genau die Frage, die uns weiterbringt. Das Gefühl: Das kann doch noch nicht alles gewesen sein. Wohin denn nun mit all der Liebe, die wir noch zu geben haben? Wem noch sagen, was zu sagen ist?
Unser Predigttext sagt: Schaut nicht zurück. Wendet euren Blick nicht mehr in die Vergangenheit. Schaut lieber auf das Neue, das Gott schaffen will. Schaut auf den neuen Himmel und die neue Erde. Von daher kommt euch Heil.

Das sind große Worte. Vielleicht zu groß für uns. Aber vielleicht hören wir eines Tages wieder die Vögel im Garten zwitschern. Oder wir stellen fest, wie schön es ist, wenn das Laub sich färbt. Wir gehen spazieren und am Ende genießen wir einen Wein in einer gemütlichen Gastwirtschaft mit dem Blick auf eine schöne Landschaft. Und vielleicht können wir dann auch den Worten des Neuen Testaments glauben, das sagt: Eure Toten sind nicht in der Erde, wo sie zu Staub zerfallen. Sie sind jetzt bei Gott. Sie können Gott schauen und Gott vollendet ihr Leben. Es ist nicht mehr wichtig, was ihnen geglückt oder woran sie gescheitert sind. Wichtig ist nur noch, dass sie bei Gott sind.
Eines Tages wird auch euer Leben vollendet sein und auch ihr werdet Gott schauen dürfen. Und dann werdet ihr auch die wiedersehen, die euch in eurem Leben viel bedeutet haben. Dann werden eure Fragen beantwortet sein.
Das kann uns Hoffnung geben. Wir alle werden sterben; sowohl die Menschen, die wir geliebt haben, als auch wir selbst. Aber unser Leben wird nicht umsonst gewesen sein, wenn wir unsere Hoffnung auf Gott setzen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer i.R. Bernd Giehl

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Der letzte Sonntag im Kirchenjahr. Anschließend an den Gottesdienst gehen die Menschen auf den Friedhof und schmücken die Gräber ihrer Angehörigen. Manche kommen, wie die Angehörigen der im zu Ende gehenden Jahr Gestorbenen, weil ihre Namen im Gottesdienst verlesen werden. Andere weil sie in früheren Jahren einen Angehörigen oder Freund verloren haben.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Es war der Gedanke: „Manchmal muss Leben neu gedeutet werden“, den ich auch in der Überschrift genannt habe, dem ich nachgehen wollte. Manchmal müssen die alten Deutungen durch neue ersetzt werden. So wie es auch im Predigttext passiert.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich finde es spannend, dass auch in der Bibel Deutungen menschlichen Lebens nicht für alle Ewigkeit gelten müssen, sondern ersetzt werden können, wenn die Situation es erfordert.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Coach machte mich auf verschiedene Formulierungen aufmerksam, die ihr nicht seelsorgerlich genug erschienen. Das empfand ich als hilfreich und habe es geändert.

Perikope
21.11.2021
65,17-25