‚Immanuel!‘ Ein zitternder König, ein müder Gott und der Klang von Weihnachten - Predigt zu Jes 7,10-17 von Matthias Rein
Jes 7,10-17: Das Zeichen des Immanuel und das Strafgericht durch die Assyrer
10 Und Gott, der Herr redete abermals zu Ahas, dem König, und sprach: 11 Fordere dir ein Zeichen vom Herrn, deinem Gott, es sei drunten in der Tiefe oder droben in der Höhe! 12 Aber König Ahas sprach: Ich will's nicht fordern, damit ich den Herrn nicht versuche. 13 Da sprach der Profet Jesaja: Wohlan, so hört, ihr vom Hause David: Ist's euch zu wenig, dass ihr Menschen müde macht? Müsst ihr auch meinen Gott müde machen? 14 Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel. 15 Butter und Honig wird er essen, bis er weiß, Böses zu verwerfen und Gutes zu erwählen. 16 Denn ehe der Knabe weiß, Böses zu verwerfen und Gutes zu erwählen, wird das Land verödet sein, vor dessen zwei Königen dir graut. 17 Der Herr wird über dich, über dein Volk und über deines Vaters Haus Tage kommen lassen, wie sie nicht gekommen sind seit der Zeit, da Ephraim sich von Juda schied, nämlich durch den König von Assyrien.
Liebe Gemeinde,
zum Weihnachtsfest gehören bestimmte Bilder, Klänge, Gerüche und Geschmacksrichtungen.
Ich lade Sie ein, den Klängen zu lauschen, den Weihnachtsklängen. In den Worten, die wir eben gehört haben, klingt Weihnachten. Aber: das klingt sehr verschieden.
König Ahas klingt ratlos und verzweifelt: „Lieber kein Zeichen von Gott.“
Der Prophet Jesaja klingt entrüstet und drohend: „Müsst ihr meinen Gott müde machen? Es kommen schlimme Tage.“
Ganz anders klingt Jesajas Prophezeiung: „Eine junge Frau wird schwanger. Sie bringt einen Sohn zur Welt. Sein Name: Immanuel.“
„Immanuel“ – wie klingt dieses Wort?
Es gehört zum Klang von Weihnachten.
In Weihnachtsliedern klingt es. Ein Beispiel:
„Ihr lieben Christen, freut euch nun, bald wird erscheinen Gottes Sohn,
der unser Bruder worden ist, das ist der lieb Herr Jesus Christ.
Du treuer Heiland Jesu Christ, dieweil die Zeit erfüllet ist,
die uns verkündet Daniel, so komm, lieber Immanuel.“
So dichtet der Schüler Martin Luthers Erasmus Alber im Jahr 1546.
„Immanuel“, liebe Gemeinde, ein heller, freundlicher, schöner Klang. „I-ma-nu-el“.
Was aber heißt das?
Und: Was hat das Wort „Immanuel“ mit Weihnachten zu tun?
Zu „Immanuel“ gehören zwei Kindergeschichten.
Die erste Geschichte handelt von einem zitternden König, einem müden Gott und einem wundersamen Kindernamen.
Ahas war König in Israel im Jahre 740 Jahre vor Christus.
Er zitterte vor Angst. Das kleine Land Israel wurde bedroht. Ein Kriegsherr im Norden. Ein Kriegsherr im Süden.
Was soll Ahas tun? Kämpfen? Taktieren? Stillhalten? Starke Verbündete suchen?
König Ahas zittert und zaudert. König Ahas hat Angst. Zu Recht.
Jesaja, der Prophet, kommt zum König.
Er sagt: „Bitte Gott, den Gott Israels, um ein Zeichen. Er wird dir ein Zeichen senden. Das zeigt, was Du tun sollst.“
Der König hört und - zögert. „Nein, lieber kein Zeichen, ich will Gott nicht behelligen. Ich will Gott nicht nötigen. Ich muss diese Sache ohne Gott regeln.“
Jesaja hört diese Worte. Er ist fassungslos.
„Dieser König macht die Menschen müde. Er macht unseren Gott müde! Gott will ein Zeichen schicken: Hilfe, Klärung, Wegweisung. Und Ahas will das Zeichen nicht. Unglaublich!“
Und dann sendet Gott das Zeichen.
Eine junge Frau wird schwanger. Sie bringt ein Kind zur Welt. Einen Sohn. Sie gibt dem Kind einen Namen: „I-ma-nu-el“. Auf deutsch: Gott ist mit uns.
Gott ist mit uns. In dieser Bedrohung. In dieser ausweglosen Lage.
Da ist er - der schöne Klang: Hoffnung. Hilfe. Beistand.
So bekommen der zitternde König und sein Volk das Zeichen.
Die Botschaft lautet:
„Habt keine Angst! Vertraut Gott! Gott ist bei euch.
Gott ist bei euch in der Zeit der Not. In der Zeit der Bedrängnis. Schaut auf den Jungen mit Namen „Immanuel“. Dieses Kind zeigt euch: „Gott ist mit uns.“
Und nun die zweite Kindergeschichte.
Auch hier geht es um Zeichen und Namen.
Maria, die Jungfrau, bringt ein Kind zur Welt.
Und es geschehen Zeichen. Die Menschen sehen die Zeichen. Sie verstehen sie. Sie handeln so, wie die Zeichen weisen.
Maria bringt das Kind in einem Stall zur Welt. Sie legt es in eine Krippe.
Das ist das Zeichen für die Hirten. „Ihr findet ein Kind in einer Futterkrippe, in Windeln gewickelt. Daran erkennt ihr: Es ist das besondere Kind, der Messias, der Heiland.“
Die Hirten verstehen dieses Zeichen. Sie suchen das Kind in der Krippe. Sie finden es. Sie erkennen es. Sie beten es an.
Und dazu kommen weitere Zeichen:
Die alte Frau Elisabeth bekommt ein Kind, unverhofft und so schön.
Die betagte Elisabeth und die junge Maria treffen sich und Marias Kind hüpft vor Freude im Bauch der Mutter.
Josef und die Weisen bekommen Zeichen und sie tun das Richtige.
Und dann der Namen des Kindes: „Du sollst ihm den Namen Jesus geben“. Übersetzt: Gott rettet.
Das Kind bekommt noch einen zweiten Namen. Den alten, den von Jesaja. Es heißt auch: „Immanuel“. Das bedeutet: Das Kind in der Krippe, Jesus - das ist unser Immanuel. Dieses Kind zeigt: Gott ist mit uns.
Liebe Gemeinde,
ein zitternder König,
eine einfache, völlig überraschte Frau,
ein Gott, der Zeichen gibt,
und die Botschaft: Gott ist mit uns.
Was sagt uns das heute?
Gott spricht durch die Kinder, liebe Gemeinde.
Immanuel bei Jesaja, Jesus bei Maria und Josef.
Den Kindern gehört das Reich Gottes, sagt Jesus.
Was ist das Besondere an den Kindern? Wie erscheint da Gott?
Kinder leben unmittelbar, offenherzig, unbekümmert.
Sie fordern Nähe und sie schenken Nähe. Sie leben Beziehung. Sie leben in die Zukunft. Sie sind Zukunft.
Und Kinder sind wach. Sie wecken uns auf. Wenn wir müde werden. „Hallo, wach!“
Gott hat ein kleines Gesicht, sagt Martin Luther. Gott selbst wird Mensch, wird Kind.
Gott spricht durch die Kinder.
Ein Zweites:
„Gott ist mit uns!“ – Woran erkennen wir das? Gibt es dafür ein Zeichen, das Zeichen? Kann ich es sehen und verstehen?
Mir ist der zitternde König Ahas nahe, liebe Gemeinde.
Was erwartet uns? Woran können wir uns festhalten in dieser schwankenden Welt? Wo sind Hoffnung, Hilfe, Beistand?
Wir sind müde und Gott scheint auch müde zu werden.
Und doch, ich entdecke die Zeichen des Immanuel, des „Gott mit uns“.
Ich entdecke die sanftmütige Pflegerin,
den barmherzigen Vorgesetzten,
die Frieden stiftende Nachbarin,
den Richter, der gerecht urteilt,
die Witwe, die Leid trägt,
den Gottsucher, der reinen Herzens ist,
das Kind, das lacht und betet.
Sie alle sind Zeichen dafür, dass Gott mit uns ist.
Und wir erleben, dass sich die Leute trösten und vertragen und nicht übelnehmen. Dass sie nichts nachtragen. Das erleben wir manchmal. Ein Stück Himmel auf Erden.
„Vom Himmel hoch, da komm ich her“ – so klingt Weihnachten. Haben Sie die Melodie von Luthers Weihnachtslied im Ohr? Auf diese Melodie passt folgender Liedtext von Paul Gerhardt aus dem Jahr 1653:
„Wir singen dir, Immanuel, du Lebensfürst und Gnadenquell,
du Himmelsblum und Morgenstern, du Jungfraunsohn, Herr aller Herrn.
Nun du bist hier, da liegest du, hältst in dem Kripplein deine Ruh,
bist klein und machst doch alles groß, bekleidst die Welt und kommst doch bloß.“
Möge das schöne Wort „Immanuel“ in Ihnen klingen in diesen Weihnachtstagen!
Amen
Empfehlung für das Predigtlied:
Wir singen dir, Immanuel (T: Paul Gerhardt, 1653, M: Vom Himmel hoch, da komm ich her, in: EG, Ausg. für Bayern und Thüringen, Nr. 543)
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mir stehen engagierte Besucher eines festlichen und musikalisch schön gestalteten Gottesdienstes am 2. Weihnachtsfeiertag in einer der großen gotischen Kirchen in Erfurt vor Augen. Die Gottesdienstbesucher sind erfahrene und aufmerksame Predigthörerinnen, offen für Überraschungen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mich beflügeln der Klang von Worten, spannungsvolle Geschichten, die Erfahrung der Gottesgegenwart.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Für mich diesmal spannend: Kurze Sätze. Prägnante Sprache. Klingende Sprache. Zerrissenheit und doch Beistand.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Bei dieser Predigt: längere Mediation über die gute Botschaft für heute. Zuspitzung im Stil. Orientierung an den Seligpreisungen.
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Lieber Jesaja... - Predigt zu Jes 63,15 - 64,3 von Wolfgang Vögele
Der Predigttext für den 2.Advent steht in Jes 63,15-64,3:
„So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, Herr, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name. Warum lässt du uns, Herr, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind! Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten. Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde. Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten, und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! Von alters her hat man es nicht vernommen, kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.“
Ach, lieber Jesaja, diese Worte kommen mir nahe. So schön hast du das geschrieben, weil du dich nicht blenden läßt. Ergriffen bin ich davon. Deine großen Worte hallen nach, lassen uns Hörer nicht allein. Deine Bilder atmen Gelassenheit und Schönheit, sie malen das große Panorama aus und rufen den biblischen Gott herbei, bringen ihn und die traurigen, verzweifelten Menschen zusammen. Lieber Jesaja, du schaffst es, mit deinen Worten Bedrückung zu überwinden und Neuanfänge zu bahnen. Du verwandelst die Tatsachen, die so bitter schmecken, mit einem Funken Glauben in neue Hoffnung. Lieber Jesaja, du bist ein Adventsprediger! Du weckst große Erwartungen, weil du gerade nicht von Kerzen und Lebkuchen und schön eingepackten Geschenken redest.
Liebe Schwestern und Brüder, ich will Sie einladen, dem sanften Weg Jesajas aufmerksam zu folgen. Kommen Sie bitte mit auf eine Pilgerstrecke, die erst einmal die glitzernde Weihnachtszeit abstreift. In einer ersten Pause erhellt sich der wahre Sinn des Advents, dann beginnt ein abgebrochenes Gespräch von neuem. Und am Ende entdeckt Jesaja im Warten auf Gott den notwendigen Funken Hoffnung, den wir dringend nötig haben.
Am Anfang werden alle Adventslichter gelöscht: Bienenwachskerzen auf dem Adventskranz, elektrische Lichterketten im Fensterrahmen, Sternenbeleuchtung in der Fußgängerzone. Die Dudelmusik wird ausgeschaltet: keine plärrenden Adventslieder aus den unsichtbaren Lautsprechern der Kaufhäuser und Weihnachtsmarktstände. Adventslichter und -lieder sollen Dunkelheit und Stille der kalten Jahreszeit aufhellen, aber manchmal muß man beides aushalten. Jetzt, da sich von neuem die Pandemie ausbreitet, gebietet auch der Respekt vor der Gesundheit der anderen den Verzicht auf Glitzer und große Menschenansammlungen.
Früher, in anderen Zeiten grassierten schlimmere Seuchen. Und trotzdem herrschte im Advent größere Gelassenheit. Ungepackte Geschenke schlugen nicht auf den Magen. Aufgeschobene Vorbereitungen lösten keine Nervosität aus. In der Adventszeit widmeten sich die Glaubenden der Aufgabe, Buße zu tun. Sie hielten inne, beteten und meditierten; sie beschäftigten sich mit der Frage, wieso die Welt erlöst werden muss. Das kleine Baby in der Krippe war nicht in süßen Kitsch eingepackt. Schon im Baby sah man den gefolterten Erlöser am Kreuz. Und dieses Neugeborene überwand die Dunkelheit des Winters und genauso die schwarze Farbe der Sünde. In Weihnachten lag schon ein Unterton von Karfreitag.
Wer dem tröstlichen Jesaja folgt, kann erst einmal solche Dunkelheit anerkennen. Es ist hohe Zeit, die Scheinwerfer und die grellen Blitzlichter auszuschalten. Sie haben die Aufgabe, mit künstlichem Licht das Leben zu verschönern und schwarze Seelen aufzuhellen. Jesaja riskiert stattdessen einen intensiven Blick auf die Landschaften der eigenen Niederlagen. Und er beobachtet genau die umgebende Dunkelheit.
Den Blick in die Dunkelheit werfen: In der Gegenwart sind schemenhaft die Versatzstücke globaler Krisen zu erkennen: Millionen Plastikfetzen, die an den Strand geschwemmt werden, Beatmungsgeräte für Corona-Patienten auf den Intensivstationen, Stapel abgeholzter Baumstämme aus dem gerodeten Wald, wabernde Wolken von Smog, zusammengesetzt aus Autoabgasen und der verschmutzten Abluft von Kohlekraftwerken. Dunkel bleibt das alles, weil wir die Folgen fürchten, die sich dennoch klar am Horizont abzeichnen. Die Aufzählung ist eine Zumutung. Wissenschaftler versuchen mühsam, Ursachen und Wirkungen zu ordnen. Sie leiten daraus Maßnahmen ab, die eine überforderte Politik nicht richtig auf den Weg bringen will, wegen der Diplomatie, wegen der Interessen von Lobbyvertretern, wegen der fehlenden Akzeptanz in der Bevölkerung. Jetzt, in der Dunkelheit der Befürchtungen und Sorgen, wäre der richtige Zeitpunkt, über die Verbindung zum Glauben nachzudenken.
Jesaja kannte selbstverständlich noch keine Klimakrise. Jesaja sah die zerstörten Mauern Jerusalems und das besetzte Israel, den Tempel als Ruine, den Abtransport der Bevölkerung Israels nach Babylon, die gnadenlose Herrschaft der unbarmherzigen Besatzungs- und Großmacht. Und er fragte sich: Kann dieser Gott, der mit seinem geliebten Volk Israel einen Bund geschlossen hat, solche schrecklichen Verhältnisse zulassen? Kann dieser vormals gnädige Gott seine Augen schließen, obwohl er seinen nachhaltigen Segen auf Israel legte und seine Barmherzigkeit nie abbrechen lassen wollte? Treibt Gott ein hinterhältiges Spiel mit den Menschen? Können sich die Glaubenden auf seine Zusagen und Verheißungen nicht mehr verlassen? Auf diese drängenden Fragen passen keine einfachen Antworten.
Jesaja antwortete - mit seinem Gottesglauben. Diesen hält er für so wichtig, daß er ihm einen entscheidenden Einfluß auf die Verhältnisse der Welt zutraut: auf politische Verhältnisse, auf die Klimapolitik, auf Krieg und Frieden. Glaube ersetzt für ihn nicht Wissenschaft und Politik, aber er gibt beiden eine neue Grundlage.
Wir würden Gott gar zu gerne auf das Gute, was geschieht, festlegen. Dann wäre er ein Schönwettergott. Dann aber stellt sich die Frage nach dem Ursprung des Bösen nur um so drängender. Genauso wenig scheint es mir möglich zu sagen: Das Gute, das Gott tut, steht im Vordergrund. Aber im Hintergrund, im Verborgenen, ist er mit seinem geheimnisvollen ‚Walten‘ beschäftigt, über das niemand, der glaubt, so richtig Bescheid weiß. Eine dritte Antwort lautet: Für alle Zufälle und verheerenden Entwicklungen auf der Erde sind die Menschen verantwortlich; Gott kann die Verantwortung der Menschen nicht angerechnet werden. Das wäre eine Ausflucht. Aber auch das halte ich für eine Antwort, die zu kurz greift.
Jesaja bringt die Widersprüche von Glauben und Leben eindringlich auf den Punkt: „Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.“ Das ist der Abgrund, den alle, die versuchen zu glauben, aushalten müssen, über die Schreie der Klage und der Verzweiflung hinaus. Böses und Gutes lassen sich nicht so einfach auf Ursachen zurückführen. Es gibt keinen Schnellweg zwischen dem eigenen Denken und Handeln und den jeweiligen Folgen. Die Automatismen eines naiven Gottesglaubens bleiben fragwürdig: Wer nachhaltig den Nächsten hilft, wird ein schönes Leben haben, von Gott geschenkt. Wer nicht nach dem Willen Gottes handelt, den wird er bestrafen. Wer also krank wird, der muß wahrscheinlich gesündigt haben, ohne daß die anderen davon wissen. So einfach macht es sich Jesaja nicht. Denn er weiß sehr genau um die Dunkelheit der Verhältnisse: Manchmal triumphiert die Ungerechtigkeit. Die, die es nicht verdient haben, tragen den Sieg davon. Viel zu häufig werden diejenigen, die die Umwelt bewahren wollen, die ihre Mitmenschen respektieren, einfach überfahren.
Aus den Worten des Jesaja wird die Einsicht deutlich: Solche Ungerechtigkeit, solche Dunkelheit müssen glaubende Menschen aushalten. Dabei weiß er: Dauerhaft wird das Leiden an einem solchen Widerspruch nur in das führen, was er altmodisch „Verstockung“ nennt. Wenn es bei dieser Einsicht bliebe, wäre der Glaube eine bedrückende Form von Ergebung in das Schicksal. Jesaja hält den Widerspruch zwischen Wirklichkeit und barmherzigem Gott aus und zieht daraus die Konsequenz, ein Gespräch mit Gott anzufangen. Das ist keine Verhandlung unter gleichberechtigten Partnern. Wer mit Gott sprechen will, schlägt Jesaja vor, sollte beten.
Nun kommt es darauf an, zu welchem Gott sich die Menschen wenden. Aus dem, was Jesaja sagt, wird deutlich: Einige beten zu Göttern, die sie sich selbst gemacht haben. Sie stellen sich vor die Skulpturen, die sie selbst erschaffen haben; es sind die Standbilder von Götzen. Das Gebetsgespräch des Jesaja richtet sich an den lebendigen Gott, der sich anreden läßt in Klage, Bitte und Dank. Im Gebet findet der Widerspruch zwischen der Dunkelheit von Welt und Seelen und dem barmherzigen, verzeihenden Gott seinen Ort. Glaubende Menschen blicken nicht als stumme, ergebene Fische zu ihrem Schöpfer auf. Glaubende Menschen trauen sich. Sie haben Mut. Sie sprechen an, sprechen aus, führen eine freie Rede. Jesaja führt dieses Ansprechen der Dunkelheiten im Gebet ganz sanft ein. Und die Betenden sehen den ersten Lichtblick in der Dunkelheit. Erbarme dich: Damit, nicht mit den Wunderkerzen, beginnt Advent.
Daraus ergibt sich eine zweite Frage: Was antwortet der angesprochene Gott? Es macht die theologische Größe Jesajas aus, daß er Gott nicht für eine Maschine hält, die Fehler und Defizite von Menschen korrigiert. Gott ist nicht der Staubsauger, der sämtliche Mißstände, Tumore, Treibhausgase, Trennungen, einfach beseitigt. Gott antwortet auf Gebete, aber nicht immer so, wie wir Glaubenden das erwarten.
Deswegen steht am Ende dieser Trostrede Jesajas ein wichtiges Wort, das nicht oft genug unterstrichen werden kann: Harret aus. Das ist ein altmodisches Wort und bedeutet im Grunde nichts anderes als Warten. Aber in diesem Warten ist so etwas wie ein Funke versteckt. Im Harren verbinden sich Warten und Hoffen. Hoffen auf einen gnädigen Gott. Das Harren/Warten rechnet mit beidem. Es rechnet mit der Barmherzigkeit Gottes, den die Dunkelheit der Welt nicht gleichgültig läßt. Und es rechnet mit der Entschlossenheit der glaubenden Menschen, etwas zu tun, zum Beispiel das Gemeindehaus CO²-neutral umzugestalten, für das Wohlergehen derer zu sorgen, die der Hilfe bedürfen und in unserer unmittelbaren Nähe leben. Ich denke an Kleiderkammern und Vesperkirchen im Winter und an vieles andere.
Handeln Gottes und Handeln der Menschen lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Beides kann sich auf wunderbare Weise ergänzen. Und es ist ein großer Segen, wenn das geschieht. Auf diesem Warten, so Jesaja am Ende seiner Rede, liegt die barmherzige Verheißung Gottes. Der Prophet wirbt bei den Menschen für Geduld und Gelassenheit und erinnert Gott an die Erfüllung der gegebenen Verheißungen. Das Harren und Warten löst die Widersprüche dieser Welt nicht auf. Es betrachtet diese Widersprüche in einem anderen, neuen Blickwinkel. Aus dieser Haltung wächst Gottvertrauen. Gottesglaube stiftet einen neuen Blickwinkel, genau wie ein neugeborenes Kind die Verhältnisse in einer Familie erweitert und verändert. So verändert auch das Baby in der Krippe von Bethlehem den Blickwinkel des Glaubens. Harret - wartet und hofft. Gerade diese Worte Jesajas erinnern an das Baby, mit dem und in dem Gott diese Welt erlösen wird.
Lieber Jesaja, wir danken dir für diese Worte. Wir danken dir, daß du uns im Advent sanft und tröstend einen Weg aus der Dunkelheit zeigst. Er hilft uns ganz vorsichtig, Ängste und Befürchtungen nicht Überhand nehmen zu lassen. Er hilft uns, in der Dunkelheit doch noch ein Licht des Advents zu sehen, unabhängig von allen glitzernden und ablenkenden Lichtern. Dieses Licht zeigt jedem Glaubenden einen Weg durchs Leben.
Danke, Jesaja.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mir stehen Menschen vor Augen, die in der Corona-Situation – gleich ob Christen oder nicht – darüber nachdenken, wie sie nun Advent feiern sollen: mit Weihnachtsmarkt oder ohne, mit Geschenken, mit Familientreffen an Weihnachten oder ohne. Es ist eine Zeit, die von der Normalität der Adventszeit abweicht.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Fasziniert war ich von der Sprache Jesajas, die mich ein weiteres Mal auf eine Weise beflügelt hat, wie ich das jenseits dessen, was ich sonst im Advent an Üblichem erlebe, nie erwartet hätte. Ich habe schon öfter – auch bei anderen Predigttexten – auf den Gedanken des Advents als Fastenzeit Bezug genommen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Biblisch ergibt sich aus den Worten Jesajas ein Gottesbild, das die Grenzen konventioneller Theologie überschreitet.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Es war gut, die Predigt nach drei Wochen ein zweites Mal zur Hand zu nehmen. Es war auch, weil die Predigt aus Gründen der Arbeitsbelastung schon vor einiger Zeit entstand, gut, noch einige Anspielungen auf die neue, aber nicht überraschende Epidemiesituation einzufügen.
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Manchmal muss Leben neu gedeutet werden - Predigt zu Jes 65,17-25 von Bernd Giehl
Liebe Gemeinde!
Es ist eigenartig. Immer wieder taucht in Seelsorgegesprächen die Frage auf: „Warum hat Gott das zugelassen?“ Wir brauchen einen, den wir für das Leid verantwortlich machen können, das uns zugestoßen ist. Manche Dinge passieren einfach, wir können sie nicht verhindern. Um beim Totensonntag zu bleiben, den wir heute begehen: Menschen sterben und oft genug sind die Zurückbleibenden einfach fassungslos. Der oder die Verstorbene kann doch nicht einfach weg sein. Bei einem Unfall beispielsweise können wir die Verantwortlichen benennen. Das macht es scheinbar einfacher. Wir können den Schuldigen hassen oder ihm wenigstens alle Verantwortung in die Schuhe schieben. Oft ist die Schuld nicht so eindeutig. Hat vielleicht auch das ausschweifende Leben, das er führte, dazu beigetragen, dass er mit vierzig Jahren starb? Aber letztendlich möchten wir einen haben, der nicht nur einen Teil der Verantwortung trägt, sondern dem wir die ganze Verantwortung zuschieben können. Und da kommt Gott ins Spiel. Bist du nicht allmächtig, Gott? Warum hast du das dann nicht verhindert?
So fragen wir. Wir brauchen eine Erklärung, damit uns die Welt nicht auseinanderfällt. So argumentieren auch die, die nicht an Gottes Allmacht glauben. Denen er längst fraglich geworden ist. Es ist eine eher neuzeitliche Frage. Anders als wir wussten die Menschen zu Zeiten des Alten Testaments durch ihre Propheten, wer verantwortlich ist. Wenn ihr Land durch andere Mächte erobert und zerstört worden war, wenn sie selbst als Kriegsgefangene im fremden Land leben mussten, dann wussten sie: Es war nicht die Macht der Feinde, die sie besiegt hatte, vielmehr war es Gott, der den Feinden Macht über sie gegeben hatte. Aber war Gott der Letztverantwortliche für ihr Unglück? An der Stelle haben sie wahrscheinlich anders geantwortet, als wir heutigen Menschen das tun würden. Sie würden wahrscheinlich antworten: Gott hatte uns gewarnt. Wir sollten nicht mehr die falschen Götter anbeten. Wir sollten uns um unsere Mitmenschen kümmern. Wir sollten Barmherzigkeit üben. So haben die Propheten gepredigt. Aber wir haben nicht auf sie gehört. All das, was sie von uns forderten, haben wir nicht getan. Also hat Gott die Strafe über uns kommen lassen, die er angekündigt hatte. Die Babylonier eroberten unser Land. Sie zerstörten den Tempel, raubten unsere heiligen Schriftrollen und die heiligen Geräte und führten uns weg in ihr fremdes Land. Immerhin konnten wir dort leben. Wir konnten sogar unsere eigene Sprache sprechen. Aber heimisch wurden wir nicht. Unsere Sehnsucht galt einem fernen Land, das die Jüngeren nie gesehen hatten.
Aber Sie selbst waren doch noch Kinder, als es geschah, wende ich ein. Viele waren noch nicht einmal geboren. Was konnten Sie dafür, was die Generationen vor Ihnen getan hatten? Dafür waren doch nicht Sie verantwortlich? Die Gefragten zucken die Achseln. Es gibt eine Solidarität der Generationen, antworten sie. Aus der kommen wir nicht heraus.
Aber da höre ich einen anderen widersprechen: „Was können wir dafür, was unsere Väter und Großväter getan haben? Dafür sind wir doch nicht verantwortlich. Dennoch müssen wir die Suppe auslöffeln. Das ist doch nicht gerecht. So kann Gott doch nicht handeln, dass er die Sünden der Eltern an den Kindern bestraft.
Manchmal müssen andere die Suppe auslöffeln, aber die Gerechtigkeit Gottes darf nicht in Frage stehen. Das ist nicht leicht zu begreifen. So kann es passieren, dass Wahrheiten, die anderen das Leben gedeutet haben, der nächsten Generation nichts mehr nützen. Dann muss man sie wegwerfen und etwas Neues suchen. Gewiss ist das nicht so leicht. Menschen sind nun einmal Gewohnheitstiere. So leicht trennen sie sich nicht von alten Gewohnheiten oder Deutungen, mit denen sie einmal gelebt haben. Da ist immer die Angst, dass das Leben jeden Sinn verliert, wenn man die alten Deutungen in den Müll wirft. Aber jeder braucht eine Geschichte, in die er das, was ihm passiert ist, einordnen kann. Anders ist es kaum zu ertragen. Wenn sich von jetzt auf gleich alles ändern kann, wenn sich plötzlich ein Riss in der Erde auftun und einen verschlingen kann, dann muss man irgendwie damit umgehen.
Natürlich könnte man immer noch sagen: Es gibt keine höhere Macht, die unser Leben bestimmt. Es ist doch sowieso alles nur Zufall. Natürlich gibt es Leute, die das behaupten. Aber die Frage bleibt, ob sie wirklich so stoisch, so tapfer sind, wie sie tun, oder ob sie das nur behaupten.
Wenn die alten Geschichten brüchig geworden sind, müssen sie neu erzählt werden.
Aber nicht nur im Leben eines Individuums ist das so. Auch im Leben eines Volkes kann es passieren, dass die alten Deutungen nichts mehr taugen. Wer ein Beispiel aus der neuesten Zeit braucht, der denke nur an das Thema der Klimaerwärmung, das plötzlich alles, was als sicher gegolten hat, in Frage stellt. Es scheint so, als müsste von einem Augenblick auf den anderen alles auf den Prüfstand gestellt werden, was früher als unbestreitbar galt. Man kann es leugnen, aber man muss sich dazu verhalten. Am Thema vorbeimogeln kann man sich jedenfalls nicht.
In der Zeit des babylonischen Exils hatte ein Mann, dessen Namen wir nicht kennen, den Gefangenen in Babylon eine glanzvolle Rückkehr in die Heimat vorausgesagt. Ihr ganzes Leben würde neu werden. Die Rückkehr werde so triumphal sein, dass sie alles was bis dahin passiert sei, in den Schatten stelle. Ein paar Jahre später hatten sie tatsächlich in ihr Land zurückkehren können. Die Perser hatten die Babylonier besiegt und die neuen Machthaber hatten den Gefangenen erlaubt, in ihr Land zurückzukehren. Aber die Rückkehr war alles andere als glanzvoll gewesen. Seitdem die Generation der Eltern und Großeltern nach Babylon weggeführt worden war, schien die Zeit im Gelobten Land stehengeblieben zu sein. Es waren Menschen im Land zurückgeblieben, aber die hatten keine Kraft gehabt, etwas Neues aufzubauen. Sie hatten nicht einmal die Kraft gehabt, die Trümmer wegzuräumen. Wenn die Alten noch gelebt hätten, hätten sie wohl gesagt: Genauso sah es aus, als wir fortmussten.
Wie kann man in dieser Situation von Hoffnung sprechen? Wie kann einer da überhaupt noch wagen Prophet zu sein und das Schicksal der Menschen zu deuten? Der Prophet, der hier spricht, wahrscheinlich eine Generation nach dem Propheten, der die Heimkehr vorausgesagt hatte und dessen Namen wir ebenfalls nicht kennen, dieser Prophet versucht es mit einem radikalen Neuanfang. Er kann nicht mehr von triumphaler Rückkehr sprechen, denn die war ja schon geschehen, nur eben nicht in Schönheit und überwältigendem Glanz. Also spricht er nicht mehr vom Volk als Ganzem, sondern vom Einzelnen. Gott, so sagt er, will die Bedingungen, unter denen menschliches Leben stattfindet, ändern. Sie sollen nicht mehr scheitern können. Weinen und Klagen soll aufhören auf der Erde. Eltern sollen nicht mehr den Tod ihrer Kinder betrauern müssen. Menschen sollen alt und lebenssatt sterben. Die Menschen sollen auch weiterhin arbeiten, aber ihre Arbeit soll sie glücklich machen und sie sollen nicht mehr um die Früchte ihres Tuns betrogen werden.
Das ist vielleicht noch nicht das Ewige Leben, wie wir es uns vorstellen und wie das Neue Testament es uns verkündet, aber dennoch ist es noch einmal etwas anderes als die Vorstellung der älteren Propheten, die sich das Glück des Einzelnen nur in der Gesamtheit des Volkes vorstellen konnten.
Leben muss gedeutet werden, damit es sinnvoll erscheint. Und manchmal helfen einem die alten Deutungen nichts mehr. Dann muss man sich umwenden und den Blick auf etwas anderes richten. So erging es Israel nach seiner Rückkehr aus Babylonien in das Land, das einmal Heimat ihrer Vorfahren gewesen war und das ihnen nun fremd und abweisend erschien.
Vielleicht ist es Ihnen in der letzten Zeit oder früher in ihrem Leben auch so gegangen. Ein Mensch, den man geliebt hat, stirbt und die Zeit bleibt stehen. Die Gedanken kreisen nur noch um den Verlust. Wie weiterleben, wenn die Verstorbene nicht mehr da ist? Die Gedanken wandern zurück, man erinnert sich an dieses oder jenes Erlebnis mit der Verstorbenen, und manchmal kreisen sie auch oder bleiben stecken. Gut möglich, dass man das Gefühl hat, die anderen seien weit entfernt. Es scheint so, als ob das Leben ohne uns stattfinde. Man tut seine Pflicht, aber es fühlt sich an, als sei man ein Automat.
Es kann ein langer Prozess werden. Die Angehörigen müssen herausfinden, was der oder die Verstorbene für ihr Leben bedeutet und sie müssen erst einmal mit der Trauer fertigwerden. Sie haben die Verstorbene doch geliebt. Ihr Verlust ist an jeder Ecke spürbar. Vielleicht ist es am Anfang ein geradezu unerträglicher Gedanke, dass das Leben weitergehen muss, auch wenn der oder die Verstorbene nicht mehr da ist.
Und irgendwann fragt man sich: War’s das jetzt?
Vielleicht ist das ja genau die Frage, die uns weiterbringt. Das Gefühl: Das kann doch noch nicht alles gewesen sein. Wohin denn nun mit all der Liebe, die wir noch zu geben haben? Wem noch sagen, was zu sagen ist?
Unser Predigttext sagt: Schaut nicht zurück. Wendet euren Blick nicht mehr in die Vergangenheit. Schaut lieber auf das Neue, das Gott schaffen will. Schaut auf den neuen Himmel und die neue Erde. Von daher kommt euch Heil.
Das sind große Worte. Vielleicht zu groß für uns. Aber vielleicht hören wir eines Tages wieder die Vögel im Garten zwitschern. Oder wir stellen fest, wie schön es ist, wenn das Laub sich färbt. Wir gehen spazieren und am Ende genießen wir einen Wein in einer gemütlichen Gastwirtschaft mit dem Blick auf eine schöne Landschaft. Und vielleicht können wir dann auch den Worten des Neuen Testaments glauben, das sagt: Eure Toten sind nicht in der Erde, wo sie zu Staub zerfallen. Sie sind jetzt bei Gott. Sie können Gott schauen und Gott vollendet ihr Leben. Es ist nicht mehr wichtig, was ihnen geglückt oder woran sie gescheitert sind. Wichtig ist nur noch, dass sie bei Gott sind.
Eines Tages wird auch euer Leben vollendet sein und auch ihr werdet Gott schauen dürfen. Und dann werdet ihr auch die wiedersehen, die euch in eurem Leben viel bedeutet haben. Dann werden eure Fragen beantwortet sein.
Das kann uns Hoffnung geben. Wir alle werden sterben; sowohl die Menschen, die wir geliebt haben, als auch wir selbst. Aber unser Leben wird nicht umsonst gewesen sein, wenn wir unsere Hoffnung auf Gott setzen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Der letzte Sonntag im Kirchenjahr. Anschließend an den Gottesdienst gehen die Menschen auf den Friedhof und schmücken die Gräber ihrer Angehörigen. Manche kommen, wie die Angehörigen der im zu Ende gehenden Jahr Gestorbenen, weil ihre Namen im Gottesdienst verlesen werden. Andere weil sie in früheren Jahren einen Angehörigen oder Freund verloren haben.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Es war der Gedanke: „Manchmal muss Leben neu gedeutet werden“, den ich auch in der Überschrift genannt habe, dem ich nachgehen wollte. Manchmal müssen die alten Deutungen durch neue ersetzt werden. So wie es auch im Predigttext passiert.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich finde es spannend, dass auch in der Bibel Deutungen menschlichen Lebens nicht für alle Ewigkeit gelten müssen, sondern ersetzt werden können, wenn die Situation es erfordert.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Coach machte mich auf verschiedene Formulierungen aufmerksam, die ihr nicht seelsorgerlich genug erschienen. Das empfand ich als hilfreich und habe es geändert.
Link zur Online-Bibel
09.10.2022 - 17. Sonntag nach Trinitatis
18.09.2022 - 14. Sonntag nach Trinitatis
09.01.2022 - 1. Sonntag nach Epiphanias
05.12.2021 - 2. Sonntag im Advent
Der Lebensfaden, der nicht reißt - Predigt zu Jes 38,9-20 von Anke Fasse
Den ganzen Nachmittag schon sitzt sie in der Kapelle des Krankenhauses. Die Kerzen am Lichterbaum brennen. Sie hält einen bunten Faden in den Händen, den sie immer wieder betrachtet, befühlt, ihn irgendwie ausmisst. Ich sitze einige Reihen hinter ihr. Dann wendet sie sich zu mir um, blickt mich an und sagt: „Wie ist das eigentlich mit dem Lebensfaden? Ich denke schon den ganzen Nachmittag darüber nach.“
Das eigene Leben, wie ein bunter Faden. Individuell die Farben, das Material, die Stärke der Einzelfäden, die zusammenkommen und auch die Länge. Wie ist das eigentlich mit dem Lebensfaden? – als Krankenhausseelsorgerin ist diese Frage für mich allgegenwärtig.
Ich denke an einen Besuch auf der Palliativstation, an die Worte einer Patientin: „Mein Lebensfaden wird bald abgeschnitten. Schnipp schnapp, einfach so.“ Traurig und resigniert liegt die schmale, blasse Frau im Bett. „Es gibt keine Hoffnung mehr. Keine Therapieoption“, fährt sie fort. „Warum?“ fragt sie? „Warum passiert mir das? Hätte ich das gewusst… so gerne würde ich … ist das gerecht? Wie kann Gott das zulassen … wo ist er überhaupt?“ Die Klage einer schwerkranken Frau, die ihren Tod vor Augen hat und so gern noch leben würde. Die Klage, die Bitte, der Schrei hin zu Gott – so alt wie die Menschheit. Biblisch, wenn Hiskia betet:
In der Mitte meines Lebens muss ich dahinfahren, zu des Totenreichs Pforten bin ich befohlen für den Rest meiner Jahre. Ich sprach: Nun werde ich nicht mehr sehen den Herrn, ja, den Herrn im Lande der Lebendigen, nicht mehr schauen die Menschen, mit denen, die auf der Welt sind. Meine Hütte ist abgebrochen und über mir weggenommen wie eines Hirten Zelt. Zu Ende gewebt hab ich mein Leben wie ein Weber; er schneidet mich ab vom Faden. Tag und Nacht gibst du mich preis; bis zum Morgen schreie ich um Hilfe; aber er zerbricht mir alle meine Knochen wie ein Löwe; Tag und Nacht gibst du mich preis. Ich zwitschere wie eine Schwalbe und gurre wie eine Taube. Meine Augen sehen verlangend nach oben: Herr, ich leide Not, tritt für mich ein! Was soll ich reden und was ihm sagen? Er hat’s getan! Entflohen ist all mein Schlaf bei solcher Betrübnis meiner Seele. (Jes 38, 10b-15)
(Lied, wenn möglich von Kantor*in gesungen: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibst. Um Frieden, um Freiheit, um Hoffnung, bitten wir. In Sorge, im Schmerz, sei da, sei uns nahe Gott. Ergänzungsheft zum EG 24, 1)
Ich erinnere mich an einen anderen Besuch: „Ich weiß, dass mein Leben nach dem Unfall am seidenen Faden hing“, das sagt der Patient immer wieder. Seit über drei Monaten liegt er nun hier im Krankenhaus. Mühsam lernt er gerade wieder laufen. Sprechen und schreiben kann er schon wieder. Es liegt noch ein langer Reha-Weg vor ihm. Und er weiß auch, dass er in sein altes Leben so nie wieder zurückkehren kann und wird. Die alte körperliche und geistige Fitness wird er nicht wieder erreichen. Und doch ist er voll des Glücks, der Dankbarkeit über diese unverdiente zweite Chance, wie er sie selbst nennt. „Und die nutze ich, diese zweite Chance, jeden Tag, da können sie sicher sein!“ Ja, da bin ich mir sicher, so wie er mich anstrahlt. Dieser Mann hat Heilung erfahren – und er erzählt dies weiter, quasi als Loblied, den Menschen und auch Gott. Auch das ist biblisch. Ich lese das Gebet des Hiskia weiter:
Herr, davon lebt man, und allein darin liegt meines Lebens Kraft: Du lässt mich genesen und am Leben bleiben. Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe; denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück. Denn die Toten loben dich nicht, und der Tod rühmt dich nicht, und die in die Grube fahren, warten nicht auf deine Treue; sondern allein, die da leben, loben dich so wie ich heute. Der Vater macht den Kindern deine Treue kund. Der Herr hat mir geholfen, darum wollen wir singen und spielen, solange wir leben, im Hause des Herrn. (Jes 38, 16-20)
Mein Handy klingelt. Es ist meine Freundin. „Hast Du Lust heute ein bisschen zu feiern?“, fragt sie. Ich bin etwas überrumpelt. „Wieso? Was gibt es denn zu feiern?“ „Das Leben“, sagt sie ganz schlicht. Und sie fügt hinzu: „Ich war heute bei der Krebsvorsorge. Und vorher hatte ich wieder diese scheiß Angst. Dieses Gefühl, es könnte alles einfach ganz schnell zu Ende sein und ich kann nichts machen. Aber: Alles ist gut! Ist das kein Grund zu feiern?“ Ja, wir feiern das Leben, einfach so, weil es nicht selbstverständlich ist. Was für ein schöner, fröhlicher Abend mit Lachen und Reden, mit Brot und Wein.
(Lied, wenn möglich von Kantor*in gesungen: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibst. Um Einsicht, Beherztheit, um Beistand bitten wir. In Ohnmacht, in Furcht, sei da, sei uns nahe Gott. Ergänzungsheft zum EG 24, 2)
Wie ist das mit dem Lebensfaden? Wer entscheidet über seine Länge?
Das Bändchen in meinem Gesangbuch ist – vielleicht gar nicht so zufällig – bei Psalm 90. Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. Ja, wir wissen, dass wir irgendwann sterben werden. Ja. Auch Hiskia, der das biblische Loblied singt und Heilung erfahren hat. Auch der Patient, der so glücklich und dankbar ist, dass sein seidener Lebensfaden wieder fest wurde. An dem Abend mit meiner Freundin, da haben wir es bedacht und dabei und deswegen das Leben gefeiert, bewusst, bei Brot und Wein.
Die Endlichkeit bedenken, beim Feiern, in Gesundheit, in Krankheit und im Gebet. Und darauf zu vertrauen, dass Gott mich hört, mich erhört. Aus Erfahrung, nicht nur von der Palliativstation, wissen wir, dass Erhörung nicht bedeutet etwa eine Krebserkrankung zu heilen. Aber ist Erhörung nicht auch Kraft, Trost, Halt, Geborgenheit, Vertrauen, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist? Es ist die Sehnsucht da, dass aus der Klage vor dem Tod das Vertrauen in das Leben werden kann.
(Lied, wenn möglich von Kantor*in gesungen: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibst. Um Heilung, um Ganzsein, um Zukunft bitten wir. In Krankheit, im Tod, sei da, sei uns nahe Gott. Ergänzungsheft zum EG 24, 3)
Wie ist das mit dem Lebensfaden? Ich habe immer nur einen Teil des Lebensfadens in der Hand, nicht den Anfang und auch nicht das Ende. Mit diesem Teil kann ich etwas machen. Diesen kann ich befühlen, ertasten, etwas hineinweben, herausreißen, an etwas anknüpfen. Der rote Faden bei all den offenen Fragen ist der Liebesfaden Gottes zu uns. Dieser kennt keinen Anfang und kein Ende. In ihn hineingewebt sind alle unsere individuellen, bunten Lebensfäden.
Meine Gedanken gehen wieder zurück zu der Frau in der Krankenhauskapelle. Der Faden, den sie in ihren Händen befühlte, den hatte sie aus dem Taufbecken genommen. Diese Worte sind darin eingraviert: Fürchte Dich nicht. Ich habe dich erlöst! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein! (Jes 43, 1)
Wie ist das eigentlich mit dem Lebensfaden? Meine Antwort an die Frau in der Kapelle ist: Ich vertraue darauf, dass unser Lebensfaden in Gottes Händen gut aufgehoben ist – und deswegen auch niemals reißt oder abgeschnitten wird, egal was passiert. Ja, unser Lebensfaden ist bei Gott in guten Händen – und so vertraue ich bei und in allem auf sein „Fürchte Dich nicht!“ Amen.
(Lied, wenn möglich von Kantor*in gesungen: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibst. Dass du, Gott, das Sehnen, den Durst stillst, bitten wir. Wir hoffen auf dich, sei da, sei uns nahe Gott. Ergänzungsheft zum EG 24, 4)
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mein Predigtort ist die Kapelle des Krankenhauses. Meine Gemeinde sind eine kleine Zahl von Patient*innen, die ich in der Regel vorher nicht persönlich kenne. Auch wird der Gottesdienst per Video in die Zimmer übertragen. Ich feiere Gottesdienst mit und für Menschen, die sich im Krankenhaus in einer Ausnahmesituation befinden. Ein Gespür für die Kostbarkeit und Unverfügbarkeit des Lebens liegt oft in der Luft, ebenso wie die Frage nach Sinn und Ziel des Lebens sowie angesichts von schweren Diagnosen die Frage des „Warum“.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Bild des Lebensfadens zu skizzieren und auszugestalten hat mir großen Spaß gemacht. Dieses Bild aus dem Predigttext aufzunehmen, es in den Ort Krankenhaus mit den Lebensgeschichten und -fragen der Menschen hineinzutragen und mit der Geschichte Gottes zu verbinden – eine Komposition, die mich beflügelt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wie ist das mit dem Lebensfaden? Eine existentielle Frage heute genauso wie zu biblischen Zeiten. Allein mit dem auf Gott vertrauenden „Fürchte dich nicht“ kann ich diese Frage für mich und mein Gegenüber aushalten.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Fokussierung im Bild des Lebensfades und die Zentralisierung auf den vertrauenden klaren Schluss.
Link zur Online-Bibel
Gottesknecht gegoogelt. Karfreitagscollage - Predigt zu Jesaja 52, 13-53,12 von Jürgen Kaiser
[Pfarrer/in:]
Prolog.
Karfreitag. Der Tag, an dem der Sohn Gottes starb. Was soll er uns sagen, dieser Tag – dieser Tod? Viele Zeitalter, nachdem er geschehen?
Viele Zeitalter, bevor er geschehen, sagt Gott zu Israel dies:
[Sprecher/in 1:]
Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. Wie sich viele über ihn entsetzten – so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch und seine Gestalt nicht wie die der Menschenkinder –, so wird er viele Völker in Staunen versetzen, dass auch Könige ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn was ihnen nie erzählt wurde, das werden sie nun sehen, und was sie nie gehört haben, nun erfahren.
[Pfarrer/in:]
Gibt es noch etwas, das noch nie erzählt wurde? Können wir noch etwas erfahren, was wir noch nie gehört haben? Was könnte uns noch in Staunen versetzen?
[Sprecher/in 1:]
Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und an wem ist der Arm des Herrn offenbart?
***
[Pfarrer/in:]
Gottesknecht gegoogelt eins: hässlich.
[Sprecher/in 2:]
„Ich bin ein 27-jähriger Mann und sehr hässlich. Mein ganzes Leben lang wurde ich wegen meinem Aussehen gemobbt und runtergemacht. Viele Leute haben mir persönlich gesagt, ich sei das hässlichste Lebewesen, das je existiert hat. Außerdem sagten mir einige Menschen, manchmal sogar vor der ganzen Klasse, dass ich Selbstmord machen sollte, weil mein Aussehen unerträglich ist. […] Bei der Arbeit gab es mal eine Situation, wo einer sein Handy rausnahm, um mich zu filmen, dabei sagte er: "Boah ist der hässlich". […] Menschen wie ich sollten gar nicht erst existieren. Ich bin der Untermensch. Ich hatte noch nie wirkliche Freunde und noch nie eine Beziehung zu einer Frau. Mit 27 Jahren bin ich immer noch eine Jungfrau. Außerdem wurde ich von 2 Prostituierten abgelehnt. Nicht mal Prostituierte wollen was mit mir zu tun haben.
Zu meiner Person: 191cm, 95kg, dunkelbraune Haare, braune Augen, komisches hässliches Gesicht.“ [https://www.hilferuf.de/thema/ich-bin-haesslich-und-denke-oft-ueber-sui…]
[Sprecher/in 1:]
Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.
***
[Pfarrer/in:]
Gottesknecht gegoogelt zwei: krank.
[Sprecher/in 2:]
„Oberarzt Stefan Münster hat gerade einen 24-Stunden-Dienst und ist nassgeschwitzt, weil er in voller Schutzmontur einer Covid-19-Patientin die Lungenmaschine angeschlossen hat. […] Da kommt eine Pflegerin ins Arztzimmer und drückt ihm ein Telefon in die Hand, ein Angehöriger ist dran. Er fragt Münster, ob der Zeit für ein Gespräch hätte. Draußen piepen die Maschinen, durch die geöffnete Tür sieht man Pfleger hin- und hereilen, hört die Assistenzärzte reden. […] Er sagt: „Klar habe ich Zeit.“
Der Anrufer […] sitzt mit dem kleinen Sohn allein daheim. Den Mann quält die Angst um seine Frau. Es folgt ein langes Gespräch, an dessen Ende Münster sagt: „Heute war kein guter Tag. Aber morgen ist ein neuer Tag.“
Die Ärzte und Pfleger hier betonen oft, sie könnten nicht mit jedem „mitsterben“. Sie haben gelernt, sich emotional abzuspalten, um trotz der vielen Erfolge nicht an den unvermeidlichen Niederlagen kaputtzugehen. Das Gespräch mit dem Mann, sagt Münster später, werde er dennoch „mit nach Hause nehmen“. Solange die Fallzahlen draußen nicht sinken, gibt es hier drinnen nur eine Möglichkeit, dem Mann, dessen Frau er das Leben retten soll, in die Augen zu blicken: Wenn die Frau im Sterben liegt. Es ist die einzige Ausnahme, wegen der Angehörige die Intensivstationen betreten dürfen.“ [https://www.geo.de/wissen/gesundheit/23067-rtkl-pandemie-um-leben-und-t…]
[Sprecher/in 1:]
Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn.
[Pfarrer/in:]
Sie können nicht mit jedem mitsterben. Sie müssen sich emotional abspalten. Wie weit kann man mit einem anderen mitgehen? Wie weit kann man überhaupt mit einem anderen mit-leiden und mit-sterben? Wer kann das schon? Man muss doch selbst irgendwie am Leben bleiben – physisch und psychisch und emotional. Das ist ja auch nicht leicht – in diesen Tagen. Das Mitleiden und das Mitsterben muss sich einer erstmal leisten können! Man muss vieles abspalten in den Tagen der Pandemie, das viele Leid, die vielen Toten und das Warum?
Abgespalten haben wir auch die Frage, was das mit Gott zu tun hat. Ob das Virus eine Strafe Gottes sei. Abspalten und wegdrücken muss man diese Frage, sonst wird man an Gott verrückt. Wen sollte denn Gott damit strafen wollen? Die, die gestorben sind? Uns alle? Zu was soll denn diese Frage führen außer zu absurden Schuldzuweisungen? Und zu einem kranken Glauben an einen giftigen Gott.
Und doch ist die Frage da. Sie lässt sich nicht so einfach unter den Teppich kehren. Sie nagt weiter. Trotz theologisch-kirchlichem Frageverbot. Irgendwo ist immer ein schlechtes Gewissen und dann ist die Frage, die man nicht stellen soll, wieder da: Bekommen wir jetzt die Rechnung für unsere Sünden? Ist das fitte und flexible Virus Gottes Rache für unseren fortgesetzten Frevel an seiner Schöpfung?
Ist heute der Tag, an dem diese Frage mal gestellt werden darf? Weil sie schon beantwortet wurde? Mit der unglaublichsten alle unmöglichen Antworten? Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. […] Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten.
[Sprecher/in 1:]
Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und an wem ist der Arm des Herrn offenbart?
***
[Pfarrer/in:]
Gottesknecht gegoogelt drei: stumm.
[Sprecher/in 2:]
„Wer in Berlin Plötzensee im Namen des Volkes vom Leben zum Tode gebracht wurde, dem zeigte sich der Staat in aller Macht und Herrlichkeit. Der Henker im Cut, seine drei Knechte im schwarzen Anzug. Der Herr Kammergerichtsrat in roter Rohe, der Staatsanwalt und der Pfarrer im schwarzen Talar, die Justizbeamten im jagdgrünen Tuch, der Anstaltsarzt im weißen Kittel, die Gäste in Uniform. Auf dem Tisch ein Kruzifix, an der Wand zwei hohe Kandelaber. […] An diesem Todesort herrschten Recht und Ordnung, war jeder Schritt durch eine Vorschrift festgelegt. Für die Gäste gab es Eintrittskarten und den Hinweis: "An der Richtstätte wird der deutsche Gruß vermieden." Vom Opfer erwarteten die Beamten, daß es sich dem Protokoll gemäß verhalte, "ruhig und gefaßt" Nur selten fiel einer aus der Rolle. "Ich erinnere mich an keinen, der geweint hat, geschrien oder sich gewehrt", sagt mir der evangelische Pfarrer Hermann Schrader, 80, der damals ein dutzendmal dabeisein mußte. "Mancher war auch dadurch beruhigt, daß man ihm sagen konnte: Ich stehe hinter Ihnen, bis das Fallbeil fällt."“ [https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40351220.html]
[Sprecher/in 1:]
Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.
***
[Pfarrer/in:]
Gottesknecht gegoogelt vier: nicht mehr im Lande der Lebendigen.
[Sprecher/in 2:]
„Beyan* sieht gut aus. Schlanke weiße Hände, melancholischer Künstlerblick, perfekt sitzende Lederjacke. Keine Narbe durchzieht das glatte Gesicht, der 25-Jährige lächelt verhalten. Beyan könnte Bankangestellter sein oder Berater, freundlich und zuvorkommend, einer von Millionen Zugereisten, die sich in Deutschland eine Existenz aufgebaut haben.
Doch der junge Mann aus Syrien […] hat ein Problem: Er kann seine Haustür in Berlin nicht aufschließen, weil das Geräusch des sich drehenden Schlüssels ihn in Panik versetzt. Er hat Angst vor Autos, vor seinen Gedanken und Erinnerungen, Angst vor seinem eigenen Schatten.
"Sie waren wie die Wölfe", beginnt Beyan seinen Bericht. "Sie" - die Männer mit den Masken, die Männer mit der Macht, die Folterknechte des syrischen Militärgeheimdienstes in Damaskus. Im März 2006, sagt Beyan, habe er auf einer Gedenkfeier für die Opfer eines Massakers in der Stadt Qamischli im Nordosten Syriens Gedichte vorgetragen. …
Fragen habe man ihm gestellt, endlos wiederholte Fragen, auf die er keine Antwort wusste: "Sie schleppten mich in eine Zelle, wo ich mich ausziehen musste", sagt er leise. […] "Sie banden meine Arme und Füße an eine Eisenstange. Dann schlugen sie mich, immer wieder, von allen Seiten." […] Auch Elektroschocks seien an der Tagesordnung, sagt Beyan: "Wenn sie den Strom anschalten, kannst du nicht mehr reden und bist total wehrlos. Danach bist du so erschüttert, dass du mit dir selbst nicht mehr klarkommst", sagt er und verbirgt sein Gesicht in den Händen. "Sie haben mich so fertiggemacht, dass ich das Vertrauen in die Menschen verloren habe."“ [https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/folteropfer-in-deutschland…]
[Sprecher/in 1:]
Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wen aber kümmert sein Geschick? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat seines Volks geplagt war. Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist.
***
[Pfarrer/in:]
Epilog.
Karfreitag. Der Tag, an dem der Sohn Gottes starb.
Gibt es noch etwas, das noch nie erzählt wurde? Können wir noch etwas erfahren, was wir noch nie gehört haben? Was könnte uns noch in Staunen versetzen?
Christus, der gestorben ist, ist der junge Mann, so hässlich, dass er nicht mehr leben will. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.
Christus, der gestorben ist, ist die Frau, mit der der Arzt nicht mitsterben konnte, weil er weiter Leben retten muss. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen.
Christus, der gestorben ist, ist der, der nicht geweint hat, nicht geschrien hat und sich nicht gewehrt hat, als man ihn nach Recht und Ordnung und Protokoll gemäß hinrichtete, … wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer.
Christus, der gestorben ist, ist Beyan, der Syrer, den sie so fertiggemacht haben, dass er das Vertrauen in die Menschen verloren hat. Wen aber kümmert sein Geschick?
Christus stirbt jeden Tag.
[Sprecher/in 1:]
Aber der Herr wollte ihn also zerschlagen mit Krankheit. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und lange leben, und des Herrn Plan wird durch ihn gelingen. Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden. Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben dafür, dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.
[Pfarrer/in:]
Karfreitag. Der Tag, an dem der Sohn Gottes starb.
Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und an wem ist der Arm des Herrn offenbart?
„Heute war kein guter Tag. Aber morgen ist ein neuer Tag.“
…und des Herrn Plan wird durch ihn gelingen.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Bildungsbürgerlich geprägte, kulturell interessierte Gemeinde mit historischem Migra-tionshintergrund (Hugenotten) und hohem Akademikeranteil, darunter einige Theo-log/inn/en und Ruhestandgeistliche. Es gibt keine traditionelle „Karfreitagsfrömmig-keit“, die Karfreitagsgottesdienste sind im Unterschied zu den gut besuchten Ostergot-tesdiensten kaum besser besucht als normale Sonntagsgottesdienste.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich war erstaunt, wie schnell man in Internet Beispiele für die verschiedenen existenti-ellen Leiderfahrungen findet, die im Gottesknechtslied angesprochen und auf die Fi-gur des „Gottesknechts“ bezogen werden, und wie leicht sie von sich aus – also ohne vermittelnde Auslegung – den Bezug zum Bibeltext zeigen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das Motiv der stellvertretenden Sühneleistung hat mich ermutigt, den theologisch heiklen Themenkomplex: Corona-Virus – Schuld – Strafe Gottes anzusprechen, ohne ihn detailliert zu erörtern. Das Kreuz und der Karfreitag geben theologisch unlösbaren Fragen Ort und Stunde, an dem sie gestellt werden und zu ihrem Recht kommen dür-fen, ohne dass ihre Unauflöslichkeit uns dauerhaft belastet.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
An dem oben unter 3. benannten Punkt wurde ich gebeten nochmal nachzudenken. Das hat zu klareren Formulierungen geführt. Durch die Einführung von mitzuspre-chenden Zwischenüberschriften wurde die vorher nicht klare Zuordnung von Beispiel-text und Predigttext deutlicher.