Predigt zu Johannes 6,1-15 von Eberhard Schwarz

Predigt zu Johannes 6,1-15 von Eberhard Schwarz
6,1-15

1 Danach fuhr Jesus weg über das Galiläische Meer, das auch See von Tiberias heißt.
2 Und es zog ihm viel Volk nach, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat.
3 Jesus aber ging auf einen Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern.
4 Es war aber kurz vor dem Passa, dem Fest der Juden.
5 Da hob Jesus seine Augen auf und sieht, dass viel Volk zu ihm kommt, und spricht zu Philippus: Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben?
6 Das sagte er aber, um ihn zu prüfen; denn er wusste wohl, was er tun wollte. 7 Philippus antwortete ihm: Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder ein wenig bekomme.
8 Spricht zu ihm einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus:
9 Es ist ein Kind hier, das hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische; aber was ist das für so viele?
10 Jesus aber sprach: Lasst die Leute sich lagern. Es war aber viel Gras an dem Ort. Da lagerten sich etwa fünftausend Männer.
11 Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie denen, die sich gelagert hatten; desgleichen auch von den Fischen, soviel sie wollten.
12 Als sie aber satt waren, sprach er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrigen Brocken, damit nichts umkommt.
13 Da sammelten sie und füllten von den fünf Gerstenbroten zwölf Körbe mit Brocken, die denen übrig blieben, die gespeist worden waren.
14 Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll.
15 Als Jesus nun merkte, dass sie kommen würden und ihn ergreifen, um ihn
zum König zu machen, entwich er wieder auf den Berg, er selbst allein. 


Einer ist reich
und einer ist arm,
einer erfriert
und einer hat's warm.

Einer stiehlt
und einer kauft,
einer schwimmt oben
und einer ersauft.

Einer riecht gut
und einer stinkt,
einer fährt weg
und einer winkt.

Einer hat Überfluss
und einer hat Sorgen,
einer kann schenken
und einer muss borgen.

Einer hat Hunger
und einer hat Brot.
Einer lebt noch
und einer ist tot.

Auszählreime der österreichischen Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger, liebe Gemeinde. Kinderverse, die nichts als die Wahrheit sagen in einer Welt, in der tagtäglich ausgezählt wird und ausgesondert.

Einer ist reich
und einer ist arm,
einer erfriert
und einer hat's warm.

Heute, an diesem Morgen ist das nicht so. An diesem 7. Sonntag nach Trinitatis wird nicht ausgezählt; heute wird nicht sortiert. Heute, so Johannes, haben alle Brot. Heute sind wir einander keine Fremdlinge, sondern Mitbürgerinnen und Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen. Heute hören wir eine Erzählung, in der der lebendige Gott selber zu Tisch bittet. Und alle werden satt. Und keiner hat Hunger. Und keiner ist tot.

Es ist eine wundersame Geschichte vom Lebendigsein, die uns das Johannesevangelium erzählt: Satt werden – von so gut wie nichts. Fünftausend zehren von dem, was ein Kind in seinen Händen hält: zwei „Fischlein“ – „Opsaria“ auch im Griechischen eine Verkleinerungsform.

Zwei winzige Fische und fünf Gerstenbrote. Das Billigste vom Billigen. Und trotzdem: aus diesem ‚Fast-Nichts‘ quillt förmlich der Überfluss. Fünftausend werden satt. Zwölf Körbe brechend voll bleiben übrig. Sie könnten stehen für so vieles: für zwölf Jünger, für zwölf Stämme, für das ganze Volk, sie könnten stehen für die Gemeinschaft der Menschen, für dieses große ‚Alle‘. Und sie tun es auch! Und aus der Ferne weht zu uns herüber die uralte Melodie zum Lob des großen Hirten: „Du bereitest vor mir einen Tisch … und schenkest mir voll ein“.

Liebe Gemeinde,
das Johannesevangelium nennt diese Wundergeschichte ein Zeichen. Sieben solcher Zeichen gibt es im vierten Evangelium. Zeichen, das sind Signale, die wie im Straßenverkehr auf etwas Anderes hinweisen. Sie wollen sagen: Sieh genau hin und du wirst sehen: durch dieses Brot- und Fischvermehrungswunder hindurch siehst Du ein anderes, größeres, elementareres Wunder.

Die Menschen, die mit Jesus am See und auf dem Berg sind, ahnen das sehr wohl! Sie spüren, dass es etwas Großes ist, als sie miteinander essen; als alle satt werden, als alle leben. Als keiner aussortiert ist. Und sie sagen auch, was sie empfinden: „Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll“.

Nur: sie sehen nicht weit genug. Sie deuten dieses Zeichen zu klein. Und Jesus entzieht sich ihrer Deutung. Er entweicht auf den Berg, er selbst allein.

Was meint „Zeichen“ bei Johannes? Bereits das erste Zeichen, das Weinwunder zu Kana, beginnt mit einem Paukenschlag. Es ist nicht weniger als der Auftakt der messianischen Zeit, die Ermöglichung der Hochzeit, des Lebensfestes, des Überflusses an Gabe und zugleich die Vorwegnahme des Ostermorgens. Seht ihr nicht? Begreift ihr nicht? Versteht ihr, wer da ist, der Wasser in Wein wandelt, der mit Freude füllt? Der Schöpfer kommt in die Zeit. Der Logos hat sich inkarniert. Mit seiner schöpferischen Fülle und Freiheit ist er menschlich bei euch und mitten unter euch. Er heilt, er macht sehend, er macht satt, er weckt vom Tod auf!

In diesen alltäglichen Begegnungen, in diesen Menschengesten, in diesem zerbrechlichen Leben Jesu von Nazareth erscheint das wahre und große Leben, geschieht Ungeheuerliches, erscheint die schöpferische Freiheit Gottes selber.

Es war Goethe auf seiner italienischen Reise, der modernen Bildungsreise schlechthin, der in der Kirche San Giorgio in Rom mitleidigst und staunend zugleich vor zwei riesigen Wänden stand: beide je 30 Fuß lang und 20 Fuß hoch. Und auf der einen Wandseite war die Speisung mit Manna aus dem ersten Teil der Bibel abgebildet.

Und auf der anderen diese Zeichenerzählung von den fünf Broten und den zwei Fischen. Diese großen Bilder, meint Goethe, seien zwar wunderbar ausgeführt.
Aber was seien das bloß für Motive!? Warum bloß so kleinkarierte  Geschichten: Wie hungrige Menschen über ein bisschen Brot herfallen. Es müsse wohl eine Folter für diese großen Künstler gewesen sein, solche banalen Armseligkeiten zu malen und bedeutsam zu machen.

Einer hat Überfluss
und einer hat Sorgen,
einer kann schenken
und einer muss borgen.

Aber Johannes lehrt uns: gerade in diesen banalen Armseligkeiten begegnet der Herr des Lebens.

Philippus, der Jünger Philippus, steht in unserer Geschichte für die Perspektive des reisenden Goethe. ‚Es kostet unglaublich viel, diese Menschen satt zu bekommen‘, sagt er zu Jesus: „Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder auch nur ein wenig bekomme“. So viel haben wir nicht. Es ist völlig aussichtslos. Und es ist Andreas, der Bruder des Simon Petrus, der das bestätigt: Das, was wir haben, zwei kleine Fische und fünf Gerstenbrote, reicht nirgendwo hin.

Einer hat Hunger
und einer hat Brot.
Einer lebt noch
und einer ist tot.

So ist das eben. … Nein, so ist es eben nicht!

Bei Johannes lesen wir, dass in dieser Begegnung, keiner aussortiert wird und keiner tot ist. Und die Sorge, der alte Dämon, wird sprachlos. Und da sind Menschen, die haben gefunden, was sie nährt und satt macht. Mehr noch: was sie verbindet. Und sie ahnen: das ist der, den sie am liebsten ergreifen und festhalten möchten, um ihn zum Brotkönig zu machen. Er macht sie satt!

Aber er entzieht sich, er geht auf den Berg, weil sie nicht verstehen, wofür dieses Brotwunder, wofür er selber steht.

"Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von dem Brot gegessen habt und satt geworden seid," (Joh 6,26) wird er wenig später zu ihnen sagen. Ihr begreift nicht, wer euch in mir begegnet: Nicht die Gabe, sondern der Geber selber in seiner Größe und Freiheit.  

Zwei Jahrhunderte nach Goethe, beschreibt der ungarische Jude und Nobelpreisträger Imre Kertész, wie eine Brot-Armseligkeit durchsichtig werden kann auf ein Großes hin. In einer seiner Erzählungen, die immer wieder um seine Erfahrungen als Junge in Buchenwald kreisen, erinnert er sich an den Moment, an dem er zu essen bekommt. Oder genauer, an den Moment, in dem er todkrank und auf einer Bahre liegend bei der Essensverteilung im Lager übergangen wird. Warum sollte man einem sterbenden Kind noch etwas geben? Sinnlos.

Ein anderer bekommt seine Ration. Im Lager nennen sie ihn den „Herrn Lehrer“. Und das sterbende Kind sieht, dass der Herr Lehrer jetzt eine doppelte Chance hat zu überleben. Und dass es selber von den anderen aufgegeben ist.

Einer stiehlt
und einer kauft,
einer schwimmt oben
und einer ersauft.

Aber dann tut dieser Lehrer etwas völlig Unvernünftiges und Gefährliches: Er tritt noch einmal heraus aus den Reihen der Häftlinge unter den Augen der SS und unter der Gefährdung seines eigenen Lebens. Und er gibt diesem Jungen seine Ration zurück. Und niemand versteht es. Und alle halten ihn für verrückt. Warum macht er das? Warum rettet er nicht seine eigene Haut? Warum verdoppelt er nicht seine eigenen Lebenschancen. Und Kertész sagt: Es gibt für diese Tat keine andere Erklärung außer der des Wunders und der Freiheit.

Sehen wir, welches Große sich darin zeigt?

Sehen die Menschen, wer ihnen in Jesus begegnet?

Was sollen sie sehen? Was sollen wir sehen? Einer der Ausleger des Johannesevangeliums hat erklärt, dieses ganze Buch mit seinen Reden und Geschichten, sei so etwas wie ein Palimpsest. Ein Palimpsest ist ein Papyrus oder eine Buchseite, die früher schon einmal beschrieben war und die man abgewaschen oder abgeschabt hat, um sie dann wieder neu zu beschreiben. Papyrus ist kostbar. Aber trotz dieses Wiederbeschreibens erkennt man noch den darunter liegenden alten Text.

Und so ist es auch hier. Unter dieser Brot- und Fischvermehrungsgeschichte liegen andere bedeutende biblische Texte, die wir heute mithören und mitlesen können. Einer davon ist die alte Wüstenerzählung Israels vom Himmelsbrot, vom Manna. Gott befreit sein Volk. Gott ernährt sein Volk in der Wüste. Er verlässt Israel nicht.

Und wieder ein Text ist die Abendmahlserzählung der anderen Evangelien – sie schimmert hindurch: Und Jesus nahm die Brote, dankte und gab sie ihnen … Und wir hören den 23. Psalm wie die Hintergrundmelodie des Ganzen: Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. ‚Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser‘.

„Es war aber viel Gras an dem Ort“, sagt das Johannesevangelium wie beiläufug. Aber es ist nicht nebensächlich. Ja, da ist viel Gras: wir sind auf einer grünen Aue. Dorthin führt uns Jesus.

Er führt uns dorthin, wo die Welt voller Wunder ist. In den Raum der Freiheit Gottes. Wo auf felsigem Boden Wein wächst, wo aus Sand Butter und Brot wird, wo aus einem Stück Materie ein Mensch wird. Wo wir dem Geheimnis des Lebens begegnen. Wo die Vernunft ins Stocken gerät. Und wo, genau besehen, alles Staunen ist.

Mehr noch: diese Zeichengeschichte führt uns allem voran zu einem Menschen, der mit seinem ganzen Wesen Überfluss ist und Geschenk. Sie führt uns zu einem, in dem wir Gott selber begegnen. Und der deshalb nicht etwa nur ein Brotkönig oder ein Prophet einer besseren Welt ist, sondern der den Menschen selber Brot ist. Fünftausend werden satt! Dieser Mensch verkörpert leibhaftig die biblischen Verheißungen von der Güte und Nähe Gottes. Er ist das wahre Überflusswunder.

Er ist es, weil er uns unseres Lebens und Gottes gewiss macht. Weil er uns gegen die Vernunft, die uns sagt: ihr werdet sterben, seinerseits sagt: Ihr werdet leben. Mehr noch: Weil er die Kraft hat, uns jetzt und alle Tage an Hoffnung reich zu machen und lebendig zu halten.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Literatur:
Christine Nöstlinger, Auszählreime (http://www.lyrikline.org/de/gedichte/auszaehlreime-1420#.VaJhavm3q2s)
Imre Kertesz, Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, Berlin 1992

 

Perikope
19.07.2015
6,1-15

Predigt in vier Bruchstücken - zu Johannes 6,1-15 - von Christine Hubka

Predigt in vier Bruchstücken - zu Johannes 6,1-15 - von Christine Hubka
6,1-15

Predigt in vier Bruchstücken

Vorbemerkung:
Ich nehme auf die Kanzel ein Fladenbrot mit und breche es während der Predigt in vier Stücke.

Möglich wäre, zwischen den „Bruchstücken“ kurz Musik zu spielen

1In jenen Tagen fuhr Jesus weg über das Galiläische Meer, das auch See von Tiberias heißt.
2Und es zog ihm viel Volk nach, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat.
3Jesus aber ging auf einen Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern.
4Es war aber kurz vor dem Passa, dem Fest der Juden.
5Da hob Jesus seine Augen auf und sieht, dass viel Volk zu ihm kommt, und spricht zu Philippus: Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben?
6Das sagte er aber, um ihn zu prüfen; denn er wusste wohl, was er tun wollte.
7Philippus antwortete ihm: Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder ein wenig bekomme.
8Spricht zu ihm einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus:
9Es ist ein Kind hier, das hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische; aber was ist das für so viele?
10Jesus aber sprach: Lasst die Leute sich lagern. Es war aber viel Gras an dem Ort. Da lagerten sich etwa fünftausend Männer.
11Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie denen, die sich gelagert hatten; desgleichen auch von den Fischen, soviel sie wollten.
12Als sie aber satt waren, sprach er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrigen Brocken, damit nichts umkommt.
13Da sammelten sie und füllten von den fünf Gerstenbroten zwölf Körbe mit Brocken, die denen übrig blieben, die gespeist worden waren.
14Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll.
15Als Jesus nun merkte, dass sie kommen würden und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen, entwich er wieder auf den Berg, er selbst allein. Joh 6,1-15
***

Das Brot wird gebrochen. In viele Stücke.
Bruchstücke von Brot machen satt.
Ich nehme diese Geschichte und ihre Botschaft so wie das Brot
in die Hand, breche sie und reiche euch die Bruchstücke.
Gebe Gott, dass sie satt machen, wie das gebrochene Brot im Evangellium.

Das erste Stück

Bevor man etwas anfängt, ist es ist gut, die Kosten zu überschlagen.
Der Apostel Philippus kann rechnen und hat es durchkalkuliert:

Geschätzte 200 Silbergroschen, also 200 Tageslöhne, wären nötig,
um diesen vielen ein Abendessen zu geben.

Man kann das auch anders ausrechnen:
200 Menschen von diesen geschätzten 5000 Anwesenden müssten jeweils
einen Tageslohn zur Verfügung stellen.
Oder
400 Menschen von diesen geschätzten 5000 müssten jeweils
einen halben Tageslohn zur verfügung stellen.
Oder
800 Menschen von diesen geschätzten 5000 müssten jeweils
einen viertel Tageslohn zur Verfügung stellen.
Oder
1600 Menschen einen achtel Tageslohn.
Oder
3200 Menschen einen sechzehntel Tageslohn.

Aber niemand von denen, die anwesend sind,
haben irgend etwas, so scheint es, in ihren Taschen.
Weder einen ganzen Tageslohn noch einen sechzehntel Tageslohn.
Der Kollektenteller bleibt leer.

Das zweite Bruchstück

Da ist ein Kind.
Das Kind hat keinen Tageslohn, es ist wohl noch nicht im arbeitsfähigen Alter.
Aber es hat 5 Brote und 2 Fische.

Wieso hat das Kind etwas in seiner Tasche und alle die anderen,
die vielen Erwachsenen, haben nichts?
Wer ist dieses Kind, das im Vergleich zu allen anderen so unsäglich reich ist?

Als ich ein Kind war, haben wir uns unterhalten über unser Taschengeld.
Wie viel bekommst du?
Wie viel kriegst du?
Wir haben verglichen und geschaut, gestaunt über viel und wenig.
Wir waren auch ein bisschen neidig,
wenn jemand doppelt oder dreimal so viel bekommen hat.
Was musst du dafür kaufen? Ach so, da sind die Schulsachen dabei.
Da muss man natürlich anders rechnen,
als wenn das Taschengeld nur für Vergnügungen auszugeben ist.

Als ich ein Kind war, wusste ich nicht, wieviel mein Vater verdient.
Meine Mutter wusste es auch nicht.
Das bestgehütete Geheimnis meiner Großmütter, die im gleichen Haushalt lebten,
war die Höhe ihrer kleinen Witwenrente.
Nie und nimmer hätten sie jemandem verraten,
welchen Betrag der Geldbriefträger ihnen am Monatsersten ins Haus bringt.

Wer etwas hat, sei es Geld oder Besitz, spricht nicht darüber.
Die anderen könnten ihn oder sie sonst für reich halten.
Niemand will reich sein in diesem Land.
Reich sein macht Angst.
Die anderen könnten neidig werden.
Sie könnten versuchen, mir das Meine wegzunehmen.

Kinder freuen sich über das, was sie haben:
Schau, ich habe eine neue Uhr.
Die hat mir die Oma zum Geburtstag geschenkt.
Ich habe ein neues Handy für mein Zeugnis bekommen.
Die Freude an dem, was ein Kind hat, steigt, wenn andere es zu sehen bekommen.
Wenn eines meiner Enkelkinder, sagen wir, eine Tafel Schokolade bekommt,
kommt automatisch die Frage: Kriegen die anderen auch eine,
oder muss diese hier für uns drei reichen?
Je nachdem, wie die Antwort ausfällt, geht es mit der Schokolade weiter.

„Wer hat etwas mit, das wir zusammenlegen können?“
So stelle ich mir vor, haben die Jünger in die Menge hinein gefragt.
Und das Schweigen, das auf diese Frage antwortete, stell ich mir auch vor.
Verlegen schauen die Leute zu Boden.
Manche zucken leicht mit den Schultern.
Manche tun so, als hätten sie nicht verstanden.
Sie stehen ja ganz  hinten, da muss man nicht jedes Wort verstehen.
Der Wind verweht ja das eine und das andere Wort.
Da wird wohl mancher reflexartig die Hände in den Hosensack gesteckt haben,
und sein Kleingeld oder auch das große fest umklammert haben.

Und dann eine kleine helle Stimme:
Ich hab was. Fünf Brote und zwei Fische.
Das vorlaute Kind. Naseweis ist es. Es muss noch viel lernen.
Es muss lernen so zu tun, als würde es nicht merken,
was jetzt nötig ist.
Es muss noch lernen, zu denken und zu sagen:
Wieso gerade ich?
Wieso soll gerade ich in diese Situation etwas einbringen?
Da sind doch so viele andere.
Die sollen erst einmal was tun. Vielleicht mache ich dann mit.
 
Ich breche das 3. Stück ab

Es geht sich nicht aus.
Es kann sich nicht ausgehen.
Die Vernunft sagt es uns. Die Erfahrung lehrt es uns.
Wer es nicht glaubt, kann ja nachrechnen:

Fünf Brote. Zwei Fische. Geteilt durch ganz viele.
Durch fünftausen oder fünfhundert.
Das geht einfach nicht. Da hat dann keiner mehr was davon.
Oder meinetwegen nur durch fünfzig geteilt.
Das geht sich auch nicht aus.
Bei fünf kann man darüber reden:

Fünf Brote, zwei Fische. Da werden fünf schon satt.
Festmahl ist es dann aber immer noch nicht.
Denn wir fünf essen dann mehr trockenes Brot als saftigen Fisch.
Weil das Saftige, das Gschmackige das ist ja nur bescheiden vorhanden.
Zwei Fische für fünf Leute. Spärlich, spärlich ist das.
Eigentlich gehört zu einer anständigen Mahlzeit pro Person ein Brot und ein Fisch.

Also: Wir haben selber nicht genug, wir fünf, wenn man das genau betrachtet.
Darum nehmen wir jetzt die fünf Brote und die zwei Fische und schauen,
dass wir weiter kommen.
Wir ziehen uns irgendwohin zurück, wo die anderen nicht so schnell nachkommen.
Dort werden wir dann unser kärgliches Mahl einnehmen.
Niemand hat etwas davon, wenn auch wir hungrig bleiben.

Viertes und letztesBruchstück

Am Ende des Gottesdienstes werden wir gebeten,
etwas in die Kollekte zu geben.
Für das eine oder das andere Projekt österreichweit.
Das ist die sogenannte Pflichtkollekte.
Für die Arbeit der eigenen Gemeinde, das ist die freie Kollekte.

Beim Schlusslied oder beim Orgelnachspiel kramen wir in unseren Taschen.
Wieviel gebe ich in die Kollekte?
Bei mir hängt es schon davon ab, was damit geschehen wird.
Für manches mag ich mehr geben.
Für manches gebe ich weniger.

Schaut einmal euch selber und anderen zu, wie wir das machen,
Geld in die Kollekte werfen.
Wir halten den Schein oder die Münzen verborgen in der Hand.
Möglichst unauffällig legen wir sie ins Körbchen ein.
Niemand soll sehen, wie viel oder wie wenig ich diesmal gebe.

Vor kurzem habe ich einen Gottesdienst gemeinsam mit der Ghanaischen Gemeinde mitgefeiert.
Dort in Afrika wird Kollekte ganz anders gegeben.
Mitten im Gottesdienst wurde ein Tischchen mit eine Korb vor den Altar gestellt.
Die Leute, wir alle, haben uns in einer langen Reihe aufgestellt.
Unter Musik – der Chor hat gesungen - sind wir durch die Kirche getanzt.
Vorbei an dem Tischchen mit dem Korb.
Ganz offen und vor aller Augen haben wir unsere Gabe in den Korb gelegt.
Dann sind wir zurück auf unsere Plätze – natürlich im Tanzschritt.

Das ganze hat bei der vollen Kirche eine gute viertel Stunde gedauert.
Danach war die Atmosphäre energiegeladen, fröhlich, voller Kraft.
Alles wäre möglich gewesen nach diesem Gottesdienst.
Jeder Hilfsbedürftige hätte bekommen, was er braucht.
Wir haben uns reich gefühlt.
Gemeinsam sind wir reich.

So stelle ich mir vor, ist es damals dort am Ufer des Sees auch gewesen.
Irgend wer hat das Eis gebrochen.
Da lag ein großes Tuch am Boden,
die Leute sind vorbeigegangen, vielleicht haben sie ja auch getanzt,
und haben ihren Beitrag auf das Tuch gelegt.

Am Ende war da genug für alle.
Und wenn ihr mich fragt, wäre dieses Ende der Geschichte,
das nachhaltigere Wunder.
Denn kein Hungriger wird heute davon satt,
dass Jesus damals einen Brotzauber gemacht hat.
Wenn er aber einen Herzenszauber, ein Herzenswunder gemacht hat,
dann kann er das unter uns täglich wieder machen.

Und dafür sei Gott Lob und Preis in Ewigkeit.

 

Perikope
19.07.2015
6,1-15

Predigt zu Johannes 6,1-15 von Andreas Pawlas

Predigt zu Johannes 6,1-15 von Andreas Pawlas
6,1-15

Jesus fuhr weg über das Galiläische Meer, das auch See von Tiberias heißt. Und es zog ihm viel Volk nach, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat. Jesus aber ging auf einen Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern. Es war aber kurz vor dem Passa, dem Fest der Juden. Da hob Jesus seine Augen auf und sieht, dass viel Volk zu ihm kommt, und spricht zu Philippus: Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben? Das sagte er aber, um ihn zu prüfen; denn er wusste wohl, was er tun wollte. Philippus antwortete ihm: Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder ein wenig bekomme. Spricht zu ihm einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus: Es ist ein Kind hier, das hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische; aber was ist das für so viele? Jesus aber sprach: Lasst die Leute sich lagern. Es war aber viel Gras an dem Ort. Da lagerten sich etwa fünftausend Männer.
Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie denen, die sich gelagert hatten; desgleichen auch von den Fischen, soviel sie wollten. Als sie aber satt waren, sprach er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrigen Brocken, damit nichts umkommt. Da sammelten sie und füllten von den fünf Gerstenbroten zwölf Körbe mit Brocken, die denen übrig blieben, die gespeist worden waren.
Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll. Als Jesus nun merkte, dass sie kommen würden und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen, entwich er wieder auf den Berg, er selbst allein.

Liebe Gemeinde!

Wenn heutzutage Menschen diesen Bericht von Jesus hören, dann bleiben deren Gedanken vielfach an der rein technischen Frage hängen, wie das wohl funktionieren kann, dass Jesus eine solche große Volksmenge mit fünf Broten und zwei Fischen speisen konnte - immerhin 5000 Mann, Frauen und Kinder nicht dazugerechnet. Und am Schluss konnte davon dann ja sogar noch soviel übrig bleiben! Unglaublich! Ja, im wahrsten Sinne des Wortes unglaublich finden viele dieses Ereignis heute. Allerdings muss das nicht an diesem Ereignis selbst liegen, sondern eher daran, dass es gerade gegenwärtig - im Gegensatz zu anderen Zeiten unserer Weltgeschichte - nicht populär ist, an Wunder zu glauben. Und darum verwendet man viel Ideen darauf, diese Geschichte vernünftig zu erklären. Das soll nicht gehen? Aber bitte schauen wir doch einmal auf einen solchen Versuch: So könnte man ja z.B. sagen, dass die Leute damals, als sie sahen, dass der kleine Junge wirklich begann, alles auszuteilen, was er mit hatte, ihre Vorräte, die sie selbstverständlich mitgebracht hatten, genauso auszupacken und genauso miteinander zu teilen. Und nach solcher rein vernünftigen Erklärung wäre dann an dem Speisungs-Bericht überhaupt nichts physikalisch Unerklärliches und Wunderbares – oder in gewisser Hinsicht etwa doch? Denn könnte man das nicht vielleicht doch als ein Wunder ansehen, wenn man in einer so großen Volksmenge das Essen tatsächlich miteinander teilte? Heute wäre so etwas auf jeden Fall ein Wunder, wenn endlich alle auf der Welt miteinander teilen würden, die Satten und die Hungrigen. Denn oft kann man lesen, dass es offenbar Nahrungsmittel genug gibt auf dieser Welt. Ja, bei uns manchmal sogar so viel, dass jährlich Tonnen über Tonnen weggetan werden. Wenn darum alle das Mitgebrachte teilten, dann könnte das einerseits ganz vernünftig klingen, aber andererseits könnte dabei doch etwas Wunderbares hindurchschimmern zur Sättigung der Hungrigen.

Aber merkwürdigerweise ist nun bei Johannes gar nicht die Rede von Hungersnot oder Armut und schon gar nicht davon, dass ich etwa nur ein rechter Christ sein kann, wenn ich die Weltnahrungsmittelversorgung durch allgemein verordnetes Teilen oder auf andere Weise organisiere.

Aber wie könnte das auch nur etwas daran ändern, dass das eine so wichtige Aufgabe ist, die Welt mit Brot zu versehen, die Leute ausreichend mit Nahrung zu versorgen, in unserer Zeit, wo ein Drittel der Menschheit hungert! Und uns kommt dabei natürlich sofort die segensreiche Arbeit von „Brot für die Welt“ vor Augen!

Aber es geht ja nicht nur um solche weltweite Perspektive. Denn widmen wir nicht wirklich zu Recht viel Zeit unseres Lebens der Aufgabe, durch richtige Berufsausübung für uns und unsere Familie den Lebensunterhalt zu verdienen und dann vielleicht sogar noch anderen helfen und beistehen zu können? Also: was für ein wichtiges Thema ist das tägliche Brot für uns alle!

Und dennoch ist im Bericht des Evangelisten weder von diesem Mühen um das tägliche Brot die Rede und schon gar nicht von Hungersnot oder Armut. Denn die Menge, die mit Jesus gezogen ist, hätte ja in die Dörfer und Gehöfte gehen können, um sich Unterkunft und Verpflegung zu beschaffen. Oder vielleicht hätte man ja auch einfach einmal das Abendbrot ausfallen lassen können. Manchmal wird das sogar ärztlich empfohlen und schadet überhaupt nichts. Und wegen eines ausgefallenen Abendbrotes nun ein so gewaltiges Wunder? Wäre das nicht ein Bisschen überzogen? Und hätte nicht sogar mancher auch denken können: „Will ich mir etwa diese heilige Stunde mit unserem Herrn und Heiland Jesus Christus mit Gedanken an das Essen entweihen?“ oder „Wie kann ich jetzt an Essen denken, wo jetzt in dieser wunderbaren Stunde alles, was mich krank macht, bedrückt oder quält, durch Gottes heilsame Nähe gut wird? oder „Wie kann ich an Essen denken, wenn ich jetzt ganz nahe bei Jesus Christus erfahre, wie alle Tränen abgewischt werden, wie Trauer und Todesfurcht ein Ende haben und alle Sehnsucht erfüllt wird?“ –

Und ich finde das keine abwegigen Gedanken. Aber warum hat Jesus Christus ihnen dennoch Speise gereicht und sie gesättigt? Ob das damit zu tun hat, dass Jesus genau weiß, dass ich so manches Gute und Wichtige zwar gut hören und sehen kann, dass ich es aber erst so richtig begreife, wenn ich hautnahe Erfahrungen mit ihm gesammelt habe, wenn ich es also hautnah mit meinen Fingern begriffen und betastet mit Lippen und Zunge gefühlt und geschmeckt habe, wohl etwa so wie ein kleines Kind, das ja auch alles erst mit seinen Fingern und mit Lippen und Zunge begreifen und betasten muss, damit es richtig versteht?

Ja, ich denke, es kann wirklich helfen, allen Trost, alle Erlösung vom Leid von Jesus Christus zu erwarten, wenn ich tatsächlich auf der Zunge spüre und im Magen fühle, wie gut er es mit mir meint! Welche große Bedeutung hat es daher in der Christenheit, miteinander das Hl. Abendmahl zu feiern. Und bitte jetzt nicht vergessen, dass dieser Bericht von der Speisung der 5000 kurz vor dem Passafest handelt, also dem Urbild der Abendmahlsfeier.

Ja, es hilft uns wirklich in unserem Glauben, wenn wir erfahren dürfen, wie wir von Christus nicht nur seelisch erbaut und aufgerichtet, sondern auch körperlich gestärkt werden. Und das alles nicht sparsam, sondern in Überfülle geschenkt, ohne dass es verdient worden oder notwendig wäre, ohne irgendein Anspruch darauf - eben genauso wie bei der Speisung der 5000. Und außerdem hätte es doch sein können, dass bei der Fülle der Menschen, die sich um Jesus herumdrängten, viele ihn selbst gar nicht sehen oder hören konnten. Jedoch dieses kleine Zeichen des liebevoll weitergereichten Brotes das dürfte sicherlich jeder als Zeichen der Verkündigung Jesu von der überwältigenden Macht der Liebe Gottes verstehen.

Es kann natürlich sein, dass uns manches einfach zu klein oder zu banal ist, um dort Gottes Wirken entdecken zu wollen oder um dort Christus um Hilfe zu bitten. Jedoch, wenn ich es noch nicht einmal in kleinen Dingen übe, mich auf Christus zu verlassen, und dass mir in ihm Gottes Güte wirklich nahe ist, wie will ich das dann in großen Dingen tun, wenn es tatsächlich um Leben oder Tod geht? Nein, Glauben lebt nicht nur von der Gewissheit, am Ende aller Zeiten von Christus empfangen und getröstet, gehalten und vollendet zu werden, sondern wir sollen und dürfen doch bereits jetzt mit Leib und Seele zu Christus zu gehören und bereits jetzt alle Bereiche unseres Lebens durch ihn erfüllen und wachsen lassen. Und wir dürfen uns fest darauf verlassen, dass das auch wirklich geschieht. Vielleicht nicht immer so, wie wir uns das erhoffen oder ausrechnen, aber in Gottes Namen geschieht es.

Muss es darum verwundern, dass die Leute damals von Jesus ganz fasziniert waren? Muss es darum verwundern, dass sich die Leute damals wohl sagten: Wenn wir diesen Jesus immer bei uns hätten, wenn wir diesen Jesus zu unserem König machen würden, zum Präsidenten oder Kanzler, dann würde es uns gut gehen! Dann hätten wir ausgesorgt! Und wirklich, was sollte daran wohl verkehrt sein? Und dennoch geht alles ganz anders aus als erwartet.

Denn was man hätte erwarten können, nicht nur von jedem Volkstribun, sondern von jedem verantwortlichen Politiker, wenn ihn da mit einem Male eine breite Strömung des Volkes für sich haben wollte, wenn man ihn da an die Spitze setzen, ihn eben zum König machen wollte? Man hätte doch erwarten können, dass Jesus sich da wie ein normaler Politiker freuen würde und sagen: Das ist meine Chance! Jetzt habe ich es geschafft!

Aber was tut da Jesus Merkwürdiges? Wir lesen bei Johannes: Als Jesus nun merkte, dass sie kommen würden und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen, entwich er wieder auf den Berg, er selbst allein.

Aber warum tut er das denn? Denn wenn man ihn zum König machen wollte und nicht irgendeinen üblen Scharlatan, so wäre das doch eine Riesen-Chance! Was könnte er da nicht alles erreichen - zum Wohl der Menschen genauso wie auch zur Ehre Gottes! Aber warum zieht er sich trotzdem zurück? Etwa aus tugendhafter Bescheidenheit? Wie rein menschlich klingt das! Oder will er damit ausdrücken, dass Brot, Macht und Ansehen grundsätzlich nicht alles auf dieser Welt sind? Das kann ich mir nicht vorstellen, denn natürlich bleiben wir als Menschen auf dieser Welt auf Brot, Macht und Ansehen angewiesen. Und unsere christliche Aufgabe bleibt es allemal, hungernden Menschen Brot zu geben.

Aber offenbar ist der, der von Gott her kommt, und offenbar ist das Heilige, das von Gott her kommt, mehr und ganz anderes als Brot, Macht und Ansehen.

Vielfach dürfen wir davon etwas ahnen, wenn wir uns genauso wie Jesus im ganz persönlichen Zwiegespräch mit unserem Gott zurückziehen. Vielfach dürfen wir davon etwas ahnen, wenn wir genauso wie Jesus alle Dinge dieser Welt, die uns bewegen und fesseln wollen, hinter uns lassen und allein auf Gott schauen – um dann zu erfahren, wie uns Gottes Güte ganz nah kommt und unsere Seele satt wird, und das nicht knapp und kärglich, sondern üppig und übermäßig, genauso wie bei der Speisung der 5000. Darum könnte doch diese überreiche Speisung durchaus verstanden werden als kleines, begrenztes Zeichen für Gottes weitaus reichere, überwältigende ewige Güte. Und von genau der hat Jesus gepredigt und genau die will uns einschließen, umhüllen und durchdringen jetzt und ewig. Gott sei Dank! Amen.
 

Perikope
19.07.2015
6,1-15

Predigt zu Johannes 3, 1-8+16 von Helmut Dopffel

Predigt zu Johannes 3, 1-8+16 von Helmut Dopffel
3,1-8+16

Liebe Gemeinde,

es ist eine der Nächte, die man nicht vergisst. Und manchmal habe ich das Gefühl, ich sei dabei gewesen und könne mich erinnern an die beiden Männer, die da nachts zusammensitzen, auf der Terrasse hinter dem Haus vielleicht oder auf dem Dach oder auf einer Bank im Garten, mit einem Glas Rotwein vor sich auf dem Tisch. Es ist lau, wie in einer Sommernacht in Italien, der Wind weht sanft und lässt ab und an ein paar Zweige rascheln, oder sind es die kleinen Tiere der Nacht? Der Mond wirft silbernes Licht, am Himmel glänzen die Sterne. Die beiden Männer reden. Nicht über das, worüber Männer üblicherweise reden, Alltag, Politik, Sport, Frauen, Geld, sie lästern nicht und spielen keine Machtspielchen. Es sind die großen Dinge, die Dinge hinter den Dingen, über die sie reden, sie wollen den Dingen auf den Grund gehen, woher komme ich und wohin gehe ich, wie gelingt mein Leben, wo ist die Liebe, wie kann ich mein Leben ändern, wie kommt der Mensch zum Leben, und vielleicht geht es da im Kern immer um dasselbe, um die eine große Frage des Lebens. Wo gibt es das, für uns, für uns Männer vor allem, wo haben die großen Dinge, die großen Themen, die großen Fragen, die großen Erfahrungen ihren Platz und ihren Ort in unserem Leben?

Es ist eine Nacht, die man nicht vergisst. Und wenn man viele Jahre später an diese Nacht zurückdenkt und sich erinnert, dann weiß man nicht mehr genau, was eigentlich geredet wurde. Aber dass es wichtig war, ungeheuer wichtig, das weiß man noch, als sei es gestern gewesen. Man erinnert sich an einzelne Worte und Bilder, die schwebend durchs ganze Leben mit einem gehen, wie der Wind. Und man erinnert sich an das Gefühl, das da war, wie ich mich gefühlt habe in jener Nacht, und dass das bis heute mich begleitet, eine Ahnung vom Leben hinter dem Leben, und dass damit etwas Neues begann.

Nikodemus ist nicht irgendwer. Er ist eine Führungspersönlichkeit, ein Gelehrter vielleicht, Mitglied des Obersten Gerichts, sicher sehr reich und angesehen, ein Promi. Er kommt zu Jesus in der Nacht. Will er nicht gesehen werden? Weiß er um die besondere Qualität der Nachtgespräche? Will er mit Jesus allein sein, ungestört und ohne Ablenkung reden können? Alles ist möglich. Er kommt zu Jesus in der Nacht, und er ist sympathisch offen und ehrlich und legt die Karten sofort auf den Tisch: Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen, denn sonst könntest du nicht die Zeichen tun, die du tust. Welche Zeichen? Heilungen, Wunder, Worte, Wirkungen? Das bleibt offen, wie so vieles in dieser Geschichte. Aber klar ist: Nikodemus legt die Karten auf den Tisch, er blufft nicht, er gibt Jesus die Ehre und Würde, die ihm zustehen, er anerkennt, dass Jesus etwas Besonderes ist und bringt, das er selbst nicht hat und ist. Von Gott. Diese Offenheit und Wertschätzung eröffnet das Gespräch, und das ist nicht nur klug, sondern führt direkt zum Kern der Sache.

Und nun reden sie, die beiden Männer in der Nacht über die großen Fragen. Diese Fragen haben es an sich, dass sie sich nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten lassen, mit So oder anders, plus oder minus. Sie sind sehr einfach, diese Fragen, und auch die Antworten sind am Ende sehr einfach, aber da liegt etwas dazwischen, und sind es überhaupt Antworten? Jemand sagt etwas Kluges, und wir denken: Ist alles richtig und nachvollziehbar, aber trifft es irgendwie nicht, liegt irgendwie daneben. Und eine andere Antwort lässt vieles offen, und doch spüren wir, wissen wir: Ja, darin liegt etwas, darin liegt Wahrheit, auch wenn ich sie nicht ganz verstehen. Das setzt mich auf eine Spur, das hilft mir weiter. Und dann, vielleicht erst später, sehe ich, verstehe ich, werden mir die Augen geöffnet.

An solchen Erfahrungen merken wir: es gibt verschiedene Arten der Wahrheit. Es gibt die Wahrheit des Faktischen, der Tatsachen, klar zu sagen, zu beweisen, zu zählen vielleicht, zu überprüfen. Und es gibt die Wahrheit des Lebens, die Wahrheit hinter den Fakten und Tatsachen und Dingen. Diese Wahrheit liegt im Verborgenen und muss ans Licht kommen, heraustreten, so dass wir plötzlich sehen, was wir bisher nicht gesehen haben, eine Erkenntnis, eine Einsicht, die plötzlich da ist, und wir wissen nicht so recht woher sie kommt und wohin sie führt. Aber ich sehe einen Menschen anders als vorher. Ich sehe mich selbst anders. Ich sehe einen Faden in meinem Leben, den ich bisher nicht sehen konnte. Ich sehe einen Weg vor mir. Ich spüre eine Liebe, für die ich bisher taub war. Es ist, als könnten wir den Wind plötzlich spüren. Und ich weiß, wenigstens in diesem Augenblick: Das ist die Wahrheit. Das ist das Leben.

Jesus antwortet dem Nikodemus:

„Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“

Ist das eine Antwort auf diese würdigende Gesprächseröffnung? Oder reden die beiden aneinander vorbei? Diesen Eindruck kann man ja schon haben, dass die beiden aneinander vorbeireden, dass sie verschiedene Sprachen sprechen, und mir geht es jedenfalls so, dass ich das beinahe quälend finde, wie schwer die beiden sich miteinander tun, oder besser: Wie schwer sich Nikodemus mit Jesus tut. Oder antwortet Jesus doch, zwar nicht direkt, aber dafür auf die heimliche, leise Frage, die in der Aussage des Nikodemus steckt, sozusagen die Frage in der Frage, und Jesus hört sie? Die Frage: Wenn du von Gott kommst und göttliche Zeichen in diese Welt setzt, wenn du ein Lehrer von oben bist – was wird denn nun anders? Wie veränderst du die Welt? Wie veränderst du mich? Wie und was lehrst du denn?

Denn: Wenn einer von Gott kommt, sozusagen Gott in diese Welt hineinträgt, dann muss die Welt doch anders werden! Dann muss diese dunkle, unverständliche, elende Welt doch hell, klar und glückselig werden? Dann muss ich zweifelhafte, abgründige, mir selbst oft unverständliche Gestalt doch hell, klar, liebevoll und glückselig werden!

Und da sind Nikodemus und Jesus nun ganz beieinander. Und ich glaube, wir sind da auch ganz nah dabei.

Jesus antwortet sehr wohl auf diese Frage in der Frage. Aber was für eine Antwort! Nur wer von neuem und von oben geboren wird kann das Reich Gottes sehen, kann also sehen und spüren und erfahren, wie Gott wirkt in dieser Welt, und was Gott an mir und für mich und – vielleicht - auch durch mich tut.

Von neuem geboren werden: Sozusagen von der Rückseite her können wir das ganz gut verstehen: Wir sind alt geworden – wir selbst, aber vielleicht auch unsere Gesellschaft, vielleicht sogar diese Welt. Der Lack ist ab. Wir haben viele Entscheidungen getroffen, die manches möglich und vieles unmöglich gemacht haben und unseren Lebensweg festlegen. Die Dinge sind nun wie sie sind, das Leben ist nun wie es ist, das Alter schreitet fort, die Zeit ist nicht umkehrbar und verschlingt am Ende alles. Gerade deshalb schießt immer wieder die Sehnsucht hoch, nochmals zurückgehen zu können an diesen und jenen Punkt und die Dinge anders zu machen. Vielleicht sogar ganz zurückkehren zu können, zum allerersten Anfang, zu unserer Geburt, und noch einmal neu anfangen können und alles neu machen, ja selbst ganz neu werden. Nochmals neu zu werden – wie ein Kind. Meint Jesus das? Von neuem geboren zu werden, das Leben noch einmal geschenkt zu bekommen, und alle Möglichkeiten vor sich?

Das geht nicht, sagt Nikodemus trocken. Das kann keiner. Das kann nicht einmal Gott. Und wenn, dann wäre das neue Leben doch wie das alte, nur anders.

Und es ist einfach richtig, dass wir das nicht können, so wenig wie wir die Antworten auf die großen Fragen nicht selbst geben, ja nicht einmal finden können. Denn wir sind Fleisch. Die Antwort heißt deshalb auch nicht: Du musst dich ändern, du musst dein Leben ändern. Die Antwort, die Jesus gibt, lautet: Ein Wind muss kommen, Feuer, Geist, und dich umfassen, vielleicht sogar packen und hinreißen. Du kannst die Antwort nicht finden, du kannst sie dir schon gar nicht geben, die Antwort muss dich finden, sie muss zu dir kommen. Und sie kommt zu dir. Denn das ist schon die Antwort: gefunden sein, berührt sein, das Sausen hören. Der Wind, der Geist, das Feuer ist da.

Jesus wird als Lehre angefragt. Was lehrt er? Keine Fakten über die Welt. Auch nicht theologisches Wissen. Auch keine geistlichen Wege und Übungen. Lehren geht ja, im heutigen Verständnis, weit über Fakten und Wissen und Üben hinaus. Die Leiterin einer Kindertagesstätte erklärte mir vor wenigen Tagen: Wenn die Kinder in die Schule kommen müssen sie nicht lesen können, nicht einmal Buchstaben. Aber sie müssen in der Lage sein, einen Vorgang selbst für sich zu organisieren. Selbstständigkeit, gar Selbstmächtigkeit sind die Schlüsselworte heute – und nicht erst heute, wenn wir die großen pädagogischen Texte der Vergangenheit lesen.

Jesus lehrt etwas anderes, und deshalb lehrt er anders: neu geboren werden, den Wind spüren, sein Sausen hören. Da geschieht etwas an mir, da widerfährt mir etwas. Man könnte beinahe von Passivität reden, wäre es nicht eine äußerst aktive Passivität. Es geschieht etwas, Menschen erfahren oder entdecken, dass ihr Leben ein Geschenk ist, dass sie es anderen verdanken; dass die Liebe, die uns trägt und aus der wir leben, ein Geschenk ist – und sogar die Liebe, die wir für andere haben. Dass all unsere Kraft und Energie und Dynamik, mit der wir das Leben gestalten, unser eigenes und das vieler anderer mitgestalten, dass das ein Geschenk ist. Fromm gesprochen: dass alles Güte und Gnade ist. Ich selbst bin ein Geschenk, von weit her. Die Menschen, die mich lieben, sind ein Geschenk. Und auch die Menschen, die mich herausfordern und mir widerstehen. Und aus diesem Stoff aus Güte und Gnade gestalten und verantworten wir das Leben und die Welt. Damit ist unserem Handeln bereits eine Richtung vorgegeben ist, und nur in dieser Richtung kann gedeihen, was wir tun.

Vielleicht ist das der größte Verlust unserer Kultur, dass wir die Widerfahrnisse nicht mehr schätzen, dass wir uns nichts mehr widerfahren und gefallen lassen, weil wir die Abhängigkeit fürchten, die damit verbunden ist, und dass wir auf andere und anderes angewiesen sind. Nur ändert das nichts an den Tatsachen. Aber wir verlieren den Schlüssel zu ihrer Bedeutung, zur Botschaft. Wer sich nichts gefallen lassen kann, kann weder Liebe noch Güte erfahren und schon gar nicht, wie wir Menschen durchs Leben getragen werden.

Das ist die Botschaft, die Jesus von Gott in diese Welt bringt; das ist die Botschaft, die Jesus selbst ist. Ein Blickwechsel, ein ganz neuer Blick auf mich und die Welt. Und in diesem Blick ändert sich die Welt. Wir kommen noch einmal und anders „zur Welt“, werden neu geboren, sozusagen mit dem Blick von oben. So kommt der Mensch zum Leben und zum Glauben. Das ist im Kern dasselbe. Und das ist die Botschaft, die wir in der Taufe vollziehen.

Jesus selbst ist ein solches Widerfahrnis. Es ist ein Wunder und unerklärlich, dass er da war, auf dieser Erde. Es ist ein Wunder und unerklärlich, dass er da ist, und bis heute uns berühren kann. Er ist selbst die Botschaft:

Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.

Nikodemus verschwindet aus dieser Geschichte, wie ein Mensch in der Nacht verschwindet. Später berichtet das Johannesevangelium, dass er sich immer wieder für Jesus eingesetzt hat. Und viel später erzählt die Legende, er habe sich von Petrus und Johannes taufen lassen. Wir wissen es nicht. Aber es würde passen zu dieser Geschichte von der Nacht, und der Gnade, und der Liebe.

Amen.

Perikope
31.05.2015
3,1-8+16

alles neu - Predigt zu Johannes 3,1–15 von Reiner Kalmbach

alles neu - Predigt zu Johannes 3,1–15 von Reiner Kalmbach
3,1-15

alles neu

Liebe Gemeinde,

heute beginnt ein neuer Abschnitt im Kirchenkalender. Nach Weihnachten, Passion, Ostern und Pfingsten, wichtige Stationen, die selbst nicht so eifrige Kirchgänger in der Regel nicht versäumen möchten. Heute beginnt Trinitatis. Während wir uns mit den traditionellen Festen leicht tun, schliesslich ist die Krippe etwas konkretes, auch das Kreuz ist für uns weit mehr als ein Symbol, hapert es mit der Vorstellung eines „dreieinigen Gottes“, ein Gott mit drei Gesichtern...? Das Thema ist eher etwas für diskussionsfreudige Philosophen oder Theologen.

Ach ja, wie gerne würde ich mal wieder eine Nacht lang „theologisieren“, mit einem lieben Freund und Kollegen und einer guten Flasche Roten..., so wie wir es früher öfter getan hatten. Nun sitze ich im fernen Patagonien, der nächste Kollege wohnt über 1500 km entfernt und ansonsten ist die nichtlutherische Kirchenlandschaft mit neopfingstlerischen und charismatischen Kirchen und Gruppen gepflastert, die eine Wohlstandstheologie verkünden, dass einem Angst und Bange wird.

Wenn man, so wie ich, in der „Diaspora“ lebt und dann auch noch „protestantisch“ lehren und predigen soll, wird einem die Tradition zu einer wichtigen Stütze: was mir einst meine pietistischen Grosseltern beigebracht haben, das Leben in der kleinen und ländlichen Gemeinde tief im Württembergischen, der Konfirmandenunterricht, später dann die Kirchentage, Friedensbewegung..., damals hatte ich mich oft gegen eben jene Tradition aufgelehnt, die mir heute so wichtig geworden ist.

Und gerade darin liegt auch eine Gefahr: man erhebt sie, ohne es zu wollen, zu einem Dogma, zu einer „Wahrheit“, bleibt in der Vergangenheit gefangen. So geht es auch manchen meiner Gemeindeglieder, sie verwechseln Tradition mit Glaube.

Allein schon deshalb sehne ich mich nach einer richtig erfrischenden theologischen Auseinandersetzung..., wie es uns Nikodemos und Jesus vormachen.

Textlesung: Johannes 3, 1 – 15

Wer ist denn dieser Nikodemus? Er ist der Vertreter des „offiziellen“ Judentums. Deshalb sollten wir uns nicht auf seine Person konzentrieren, sondern auf seine Funktion. Nikodemus vertritt die offizielle Lehrmeinung, d.h. die jüdische Tradition.

Auf den ersten Blick scheinen die beiden Lehrer aneinander vorbeizureden, sie argumentieren auf zwei verschiedenen Ebenen. Was für Nikodemus geschichtliche Wahrheit ist, das ist für Jesus gerade das Hindernis..., Hindernis weswegen? Es geht ums Heil, um das Reich Gottes und um die Frage des „wie“ (bekomme ich Zugang zum Heil). Was Jesus hier behauptet, sollte Nikodemus sich überzeugen lassen, würde das gesamte jüdische Traditionsgebäude zum Einsturz bringen: der Abstand zu Gott ist für alle Menschen gleich, Religiöse und Atheisten, dieser Abstand kann nur durch das von Gott selbst bewirkte Geistwunder aufgehoben werden. Deshalb kann man den Glauben nicht „begreifen“, man kann ihn nur „erfahren“...

1)      ...in einem neuen Anfang

Wir sind Zeugen eines Nachtgesprächs, und zwar unter „Fachleuten“: Nikodemus, „Lehrer Israels“ und Jesus, ein „Lehrer von Gott gekommen“, wie Nikodemus selbst anerkennend ausspricht. Er ist durch die „Zeichen“ auf ihn aufmerksam geworden, sie sind für ihn eine Art „göttliche Beglaubigung“. Jedoch: Jesus ist nicht der einzige Wanderprediger seiner Zeit, er steht damit nur für eine Linie einer bestimmten rabbinischen Tradition. Dennoch, so scheint es, muss es da noch etwas anderes geben, Jesus ist nicht nur..., sondern viel mehr..., und Nikodemus will der Sache auf den Grund gehen. Ohne Umschweife legt Jesus gleich den Finger in die Wunde: die Frage nach dem Reich Gottes, die wir über die ganzen Evangelien verstreut finden, etwa wenn, wie bei Lukas, die Jünger fragen „wann kommt das Reich Gottes?“, oder bei Matthäus „welches ist das vornehmste Gebot?“, und: „was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe...?“

Ohne es zu erwähnen, redet Jesus vom Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit. Ein tiefer Schnitt wird vollzogen zwischen der rabbinischen Tradition und dem was Jesus sagen will. Eigentlich gibt es gar keine Debatte. Für einen frommen Juden ist es die Aufgabe des Menschen das Reich Gottes herbeizuführen, durch strikte Gesetzesbefolgung und ständige Perfektionierung. Erinnern wir uns an die Frage bei Matthäus: „...das alles habe ich gehalten, was fehlt mir jetzt noch...?“

In Argentinien wachsen die neopfingstlerischen Kirchen und Gruppen wie die Pilze nach einem warmen Herbstregen. Um was geht es ihnen? Wer dazugehören will, der „tut“ bestimmte Dinge einfach nicht mehr, er wird sein persönliches und tägliches Leben einer bestimmten Moral unterordnen. Eine fundamentalistische Bibelauslegung ist die Grundlage dafür. So hat sich die Frau dem Manne unterzuordnen, schliesslich ist er das „Haupt“ der Ehe. So verzichtet sie bereitwillig auf das was ihr vom (weltlichen) Gesetz her zusteht. Und wenn „ihm“ dann mal die Hand ausrutscht, so wird sie es ihm verzeihen, immer und immer wieder...Mittlerweile haben wir uns daran gewöhnt, dass in Argentinien alle 32 Stunden eine Frau von ihrem wildgewordenen Ehemann, oder Ex zu Tode geprügelt wird.

Aber zurück zu unserem Nachtgespräch: was meint Jesus, wenn er sagt, dass „nur wer von neuem geboren wird, das Reich Gottes sehen kann? Ein heikles Thema, ein heisses Eisen, auch für unsere Volkskirche: sichert mir der Taufschein das ewige Leben?, die simple Zugehörigkeit zu einer Struktur und Tradition...?

Ob es uns gefällt, oder nicht: Jesus sagt mit seinem ersten Satz, dass wir alle, so wie wir sind, überhaupt nicht für das Reich Gottes geeignet sind. Da helfen uns auch keine noch so gut gemeinten Anstrengungen im rabbinischen Sinne. Niemand kann, so wie er ist, Gott finden, es sei denn, Gott selbst stellt diesen Kontakt her, Gott selbst schafft in uns einen radikalen Neuanfang, quasi von einem Nullpunkt aus.

Das ist ziemlich stark. Wollen wir Jesu Vorstellung vom Reich Gottes hier folgen, geht es auch bei uns nicht ohne ein „Erschrecken“. Denn er meint eben nicht einen neuen Anstrich unseres Glaubensgebäudes, sondern den kompletten Abbruch und Neuaufbau! Es geht um den Neuen Menschen, geboren aus Wasser und Geist. Es geht auch hier nicht um Symbolik, wie viele Christen ihre eigene Taufe verstehen. Mit Geist ist Gott selbst gemeint!, der Schöpfer!

Heute feiern wir Trinitatis, den Dreieinigen Gott. Jesus spricht also von jenem dritten der heiligen Angesichter Gottes. Gott selbst will Wohnung nehmen in uns. Es ist der Schöpfergott und die Schöpfung hat immer mit der Zukunft zu tun. Ist uns also der Geist gegeben, sind wir neue Geschöpfe. Der alte Mensch ist zwar noch da, und wir sehen, spüren und erleiden dies täglich, aber eigentlich lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir, wie es Paulus formuliert. Man könnte auch so sagen: der Geist macht den neuen Anfang, ich kann nichts dazutun, wer hat sich schon selbst geboren...?

Ich kann und soll das neue Leben annehmen, wenn Gott es mir gibt. Wie aber gibt er es?, mit Wasser, heisst es da, das weißt auf die Taufe. Also: Gott wirkt in uns durch die Taufe.

Noch einmal: wollen wir Jesu Rede ernst nehmen, wird ein Zusammenzucken, ein Unwohlsein, nicht ausbleiben. Jesu Rede ist reines Evangelium, das alles auf den Kopf stellt. Sie scheint uns den Atem zu nehmen, schenkt uns aber in Wirklichkeit befreites Aufatmen. Jesus stellt hier nicht unsere biologische Herkunft, unser biologisches Sein in Frage. Auch nicht unsere Fähigkeiten die Welt zu gestalten, zum Guten oder zum Bösen, es geht hier ganz einfach um unser Heil. Wiedergeburt meint „Vertauschung“ des „woher“, von oben geboren werden. Denn der Sünder (im Fleisch geboren) kann nur Sünde produzieren und der Lohn der Sünde ist der Tod. Altgewordene Begriffe, aber wir wissen nur zu gut, was sie bedeuten...In der Stunde unserer Geburt wird der Pfeil abgeschossen, der uns in der Stunde unsere Todes erreicht. Unsere Biologie hat den Tod zum Ziel. Gott aber das Leben!

2)      ...aus einem neuen Ursprung

Auf den „Ursprung“ kommt es an, aber, was ist das?, wie erkenne ich ihn? Wir sind von untern, d.h. wir haben nur unsere irdischen Fähigkeiten, die uns, - im Bezug auf das Reich Gottes – überhaupt nichts nützen. Das sollte ein Fachmann wie Nikodemus eigentlich wissen. Aber er kann nicht, denn dazu müsste er eben von „oben“ geboren sein. Und jetzt spitzt sich die ganze Sache auch noch zu: Jesus redet vom „wir“, wir reden und bezeugen, was wir gesehen haben..., es geht um die unverbrüchliche Zugehörigkeit zum Vater. Jesus allein ist, wenn es um Gott geht, der Fachmann. Weil er vom Vater kommt: sein Woher, sein Ursprung ist bei Gott!

Diesen neuen Ursprung kann ich nicht erzwingen, er kann auch nicht mit meiner Vernunft oder meinem Willen erfasst noch beeinflusst werden. Ich spüre ihn nur, ich weiss, dass der Wind existiert, dass er weht, aber ich kann ihn nicht sehen. Der Wind bewegt die Blätter am Baum vor meinem Fenster, er kann diesen Baum sogar entwurzeln, aber ich kann ihn weder sehen, noch schmecken, tasten...

Nun aber geschieht das „Unglaubliche“: wenn es so ist, dass Gottes Geist von oben kommt und in mir Wohnung nimmt, dann heisst das, dass Gott bei mir ist. Dass ich nicht alleine bin in dieser dunklen Welt, dass ich mich an ihn halten kann, dass ich, gegen mein ständiges Versagen und Verzweifeln auf sein Wort vertrauen darf, das Wort das mir zusagt, wie lieb ich ihm bin und wieviel Gefallen er um Christi willen an mir findet.

3)      ...in einem neuen Leben

Nun fehlt uns noch ein Element: Jesus redet, was er weiss, denn er stammt aus der Wirklichkeit Gottes. Seine Sendung beschränkt sich aber nicht darauf. Er ist kein besonders charismatischer Rabbi, der eben mehr weiss, als der grosse Lehrer Nikodemus.

In einer grösseren Stadt ganz in der Nähe (500 km entfernt) wird gerade eine neue Kirche gebaut. Der vollklimatisierte Innenraum soll einst 8500 Personen Platz geben, die beste Akustik im Land haben, ausgestattet mit der modernsten Technik. Rockbands werden das Volk anheizen, ein Fachmann in Beleuchtung wird die entsprechende Atmosphäre zaubern und dann wird der Showman in einem weissen Leinenanzug auf der Bühne erscheinen und viele werden bereits in Ohnmacht fallen. Was wird er predigen?, warum werden die Menschen ihm glauben und nicht „mir“ der doch auch sonntäglich das Evangelium verkündet...? Vielleicht ist das der Punkt: sie glauben an ihn, den charismatischen, gut aussehenden, erfolgreichen (und damit gesegneten!) Prediger. Ich dagegen kann nur hoffen und beten, dass die Menschen Jesus begegnen. hn, die beste Akustik im Land haizen, ein Fachmann in Beleuchtung wird die entsprechende Atmosphen, die beste Akustik im Land hJesus kommt mit Wasser und Geist und tut damit, wozu der Vater ihn gesandt hat: er holt uns in sein Reich! Aber damit hat er es schwer „ihr aber nehmt unser Zeugnis nicht an.“ Es ist schon merkwürdig: unsere Verschlossenheit gegen den Gott, bei dem wir doch das Leben haben könnten.

Der Abschnitt endet mit dem Hinweis auf Jesu Kreuz: der Menschensohn muss erhöht werden, er kam vom Himmel und wird nun von der Erde (buchstäblich) erhöht.

Und genau um das geht es: der Glaube kommt am Kreuz nicht vorbei!, es ist die Konsequenz unserer Abweisung, aber das bedeutet auch gleichzeitig: Glauben heisst „aufsehen auf den gekreuzigten Jesus“ und „erkennen“, „erfahren“: das hat er für mich getan!

Wenn Nikodemus wüsste, was ihm hier angeboten wird!

Amen.

Perikope
31.05.2015
3,1-15

Predigt zu Johannes 3,1-8 von Karl Hardecker

Predigt zu Johannes 3,1-8 von Karl Hardecker
3,1-8

Liebe Gemeinde,
Ihr seid Kinder des Lichts und Kinder des Tages, heißt es bei Paulus. Als Kinder des Tages seid ihr Menschen des Geistes. Die Amerikaner würden dazu sagen: ihr seid reborn, Wiedergeborene, wiedergeboren aus seinem Geist.

Wie soll das zugehen, fragt Nikodemus. Wie sollte ein Mensch zurück kriechen können in den Leib seiner Mutter, um noch einmal geboren zu werden? Dass das nicht geht, leuchtet jedem ein. Aber dass wir einen Geist brauchen, der uns belebt, der uns beseelt und der uns leichter macht, das leuchtet genauso ein. Und darum geht es, um diesen Geist.

Es ist ein Geist des Tages, ein Geist, der uns hilft uns zu öffnen, der uns Worte schenkt  und ein Ohr für den anderen, ein Geist, der unsere schwere Seele vom Boden erhebt, ein Geist, der unser Herz zu Gott erhebt, wie es so schön in der Messe heißt: Erhebet die Herzen! Wir haben sie beim Herrn.

Erhebend also die Wirkung dieses Geistes, erhebend vom Boden, der der Boden Kains ist, oft blutgetränkt, mit Rivalitäten überzogen, belastet von der Schuld Menschen verachtender Genozide und durchtränkt von tödlichen Pestiziden. Erhebend die Wirkung dieses Geistes, erhebend von dieser leidzerrissenen Erde, erhebend zu einer Freiheit, in der Menschen sich am Reichtum der Erde freuen und an ihrer Vielfalt nicht leiden.

So sollte es sein, lehrt Jesus seinen nächtlichen Gast Nikodemus. Denn dieser spürt genau: unser menschlicher Geist ist einfach zu wenig. Es ist zu wenig, dass wir unseren Geist einsetzen um zu planen und zu berechnen. Es ist zu wenig, dass wir unseren Geist benutzen, um uns zu sorgen und um zu taktieren. Intrigen und Machtspielchen sind zu wenig und eigentlich Geschöpfe der Nacht, - Nachtgestalten.

Nikodemus hat das Gespür, dass diese Nachtgestalten nicht zur Krone der Schöpfung gehören und er wird darin bestärkt, wenn er erleben wird, wie diesem Gerechten, diesem Jesus von Nazareth der Prozess gemacht werden wird, wie hierbei so vieles bei Nacht ablaufen wird, die Gefangenahme, das Verhör und die Folter und wie dann bei seinem Tod die Sonne sich verdunkelt und eine Finsternis über das Land kommen wird als Ausdruck größter Geistlosigkeit.

Das weiß er, das spürt er schon jetzt. Gewalt geschieht oft im Verborgenen, die Folterer haben ihre Kammern häufig im Keller und als Judas Jesus verrät, ist es Nacht, wie der Evangelist später markiert.

Dass dieses Gespräch bei Nacht stattfindet, ist sicher kein Zufall. Weil es den Geist bei Nacht besonders braucht, weil die Welt bei Nacht schwer wird und erdrückend sein kann, das wissen wir aus schlaflosen Nächten.

Nikodemus sucht nach etwas, das herausführt aus der Finsternis menschlicher Seelen und der Finsternis menschlicher Gewalt. Er sucht nach etwas Neuem. Und er hat einen hervorragenden Lehrer gefunden, einen, der ihm zeigt, was es heißt, neu geboren zu werden durch diesen Geist. Und dieser lehrt, dass der alte Mensch sterben muss, der Mensch, der nicht aus sich heraus findet, der seine Geschöpflichkeit verspielt, weil er sein Gegenüber verliert, weil er nicht mehr im Ich und Du lebt, sondern sich nur noch um sich selbst dreht, der Mensch, der damit aus einem offenen Feld herausfällt oder sich selbst heraus katapultiert. Dieser Mensch ist alt und erwartet auch nichts mehr, weder von sich noch von anderen noch von Gott als seinem Schöpfer. Dieser Mensch vermag auch keine Anerkennung mehr zu geben, - dazu fehlt ihm die Offenheit und das Interesse am anderen.

Aber wie soll eine Annäherung entstehen, wo sich Menschen und Staaten die Anerkennung versagen? Ohne Anerkennung bleibt der Mensch alt und bleibt die Erde alt und das Palästinenser-Problem bleibt auf ewig bestehen und ohne Anerkennung und Einbeziehung wird auch Russland auf lange hin der gekränkte Partner sein, der sich übergangen fühlt vom Westen.

Um also wieder auf das offene Feld heraus zu finden, wo Ich und Du sich begegnen, wo der eine sich freut an der Eigenart des anderen, wo beide leben im Bewusstsein, nur zusammen können wir diese Erde bestehen und nur zusammen können wir durch` s Leben gehen, müssen wir neu geboren werden.

Und immer wieder, wenn wir aus dem Wort fallen, wenn es uns die Sprache verschlägt und immer, wenn wir unseren Blick in uns kehren, aus Angst oder aus Selbstsorge, dann brauchen wir dringend den Geist Gottes, dann müssen wir neu geboren werden.

Nikodemus ist uns vertraut. Er ist uns nicht fremd. Wir kennen ihn. Er ist ein Mensch auf der Suche nach Geist, ein Mensch, der spürt und weiß, dass es mehr als alles geben muss, ein Mensch, der merkt, wie unser menschlicher Geist einfach zu wenig ist.

Nikodemus, ein Mensch, der mit uns leidet an der Schwere der Welt, an ihrem Gewicht und an ihrem Leid, ein Mensch, der leidet an den Eindrücken aus den Flüchtlingslagern in Jordanien und im Libanon, ein Mensch, der nicht mehr schlafen kann, nachdem er die Hinrichtungsvideos des IS gesehen hat im Netz. Und der sich dann aufmacht und zu Jesus kommt bei Nacht, selber ein Lehrer, der zu einem Lehrer geht, um auf das zu hören, was dieser zu sagen hat. Und Jesus lehrt über den Geist und darüber, dass er uns neu machen kann, dass wir neu geboren werden und als neu geborene wieder zurück finden in die Bestimmung, die uns unser Schöpfer mit auf den Weg gab: nicht unserer Angst zu gehorchen und uns nicht zu verkriechen, sondern aufzustehen, aufzubrechen im Vertrauen auf diesen Geist, uns vom Boden erheben zu lassen und zu spüren, dass das Licht unseres Schöpfers sich widerspiegelt auf dem Antlitz unseres Nächsten, hin zu finden in die Erhabenheit, die dieser Geist allein zu schaffen vermag, wo alles eine neue Würde bekommt und allem mit Achtung begegnet wird und Leid und Geschrei und Krieg ein Ende haben wird und die Welt voll sein wird seines Heiligen Geistes. Amen

Perikope
31.05.2015
3,1-8

Trinitatis-Christentum: Diskret, distanziert, aber nicht gleichgültig! - Predigt zu Johannes 3,1-8 von Ruth Conrad

Trinitatis-Christentum: Diskret, distanziert, aber nicht gleichgültig! - Predigt zu Johannes 3,1-8 von Ruth Conrad
3,1-8

Trinitatis-Christentum: Diskret, distanziert, aber nicht gleichgültig!

Der Predigttext für das heutige Fest der Dreieinigkeit, für den Sonntag Trinitatis, steht im Johannesevangelium, Kapitel 3, die Verse 1-8:
„Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, einer von den Oberen der Juden. (2) Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. (3) Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. (4) Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? (5) Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. (6) Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist. (7) Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von neuem geboren werden. (8) Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.

Unanschaulich,
liebe Gemeinde,
das Trinitatisfest steht im Ruf, genau dies zu sein: Unanschaulich.
Wer könne sich schon konkret vorstellen, was das bedeute: Gott als Drei in Einem?
Und was habe diese Lehre von der Dreieinigkeit Gottes mit dem menschlichen Leben, mit unserem Alltag zu tun?
Trinitatis – das sei ein „Ideenfest“, weit weg vom Alltag, vom Lebens des „normalen“ Menschen, wer auch immer das sei.
Trinitatis – das sei eine Kirchenjahrs-Spezialität für Theologen.
Ganz anders als Weihnachten, wo das kleine Kind uns alle daran erinnert, wie unser Leben ist:
geschenkt, nicht gemacht;
angewiesen auf Vertrauen und Liebe;
gefährdet, aber bewahrt.
Weihnachten hat Bilder, die an die Tiefen unsere Seele rühren:
ein Kind in der Krippe,
eine sorgende Mutter,
eine Familie auf der Flucht,
der offene Himmel über dem Hirtenfeld,
der Glanz einer anderen Welt,
der Engel, der Mut macht: Fürchtet euch nicht! Friede ist da!
Oder Ostern, wo der gekreuzigte und auferstandene Christus uns an die Bedingungen und Hoffnungen unseres Lebens erinnert:
Ein sinnloses Leiden und Sterben, aber genau darin die Hoffnung eines ungeheuerlichen Trostes, ohne den wir nicht zu leben vermögen, jedenfalls nicht, ohne zynisch zu werden – Gott hält die Sinnlosigkeit bis zum Ende mit uns aus.
Ein einsamer, verzweifelter Tod, inmitten von Verrätern, Mitläufern und Gaffern, aber darin die Kraft und die Spuren einer ganz und gar unfassbaren Liebe – Gott trägt sie alle und uns mit, hin zu einem neuen Anfang.
Auch Ostern hat Bilder, die an die Tiefen unsere Seele rühren:
der leidende Mensch,
der verzweifelte Schrei,
eine weinende Mutter,
doch eben auch der dritte Tag,
ein neuer Anfang,
das offene Grab,
der offene Himmel am Ort des Todes,
der Glanz einer anderen Welt,
der Engel, der Mut macht: Fürchtet euch nicht! Jesus ist auferstanden!
Ja, und auch Himmelfahrt und Pfingsten verbinden sich mit unserer Lebenserfahrung und erinnern uns an das, was wir zum Leben benötigen:
nämlich mehr als das Irdische – den Blick zum offenen Himmel;
mehr als das, was aus uns selbst kommt – die Inspiration und den Elan einer anderen Welt;
mehr als unsere kleine Kraft – die Kraft des himmlischen Geistes.
Auch Himmelfahrt und Pfingsten haben Bilder, die an die Tiefen unserer Seele rühren:
die Bewegung des Geistes,
die Energie von Feuerflammen,
die Dynamik von Wind,
die Gemeinschaft von Fremden mit Fremden,
der offene Himmel beim Abschied Jesu von seinen Jüngern,
der Glanz einer anderen Welt,
und auch hier der Engel, der Mut macht: Fürchtet euch nicht! Christus bleibt bei Euch, auch wenn ihr in nicht mehr seht.

Weihnachten, Ostern, Pfingsten – alle Feste des Kirchenjahres drücken elementare Erfahrungen und Hoffnungen unseres Lebens aus und haben Bilder, die uns Menschen unmittelbar und in unseren Gefühlen zugänglich sind.
Trinitatis aber scheint unanschaulich, spröde, unzugänglich.
Es gibt kein Brauch, der sich mit diesem Fest verbindet.
Es gibt keine großen Bilder, mit denen sich dieses Fest verknüpft hat.
Und dennoch, so behaupte ich, dennoch hat dieses Fest enorm viel mit unserem Alltag und mit unserem Glauben zu tun. Gerade weil es vordergründig so unanschaulich, so unaufgeregt, so spröde ist.
Mit Nikodemus, von dem der Predigttext erzählt, hat das Trinitatisfest ein Gesicht, und wir sehen hier das Gesicht eines höchst modernen Christentums. In Nikodemus begegnen wir einer zeitgenössischen, modernen Form des christlichen Glaubens, die uns vermutlich allen vertraut ist und die vielleicht auch unseren Glaubensalltag bestimmt. In Nikodemus begegnen wir unserem Glauben jenseits der großen Feste des Glaubens.

Was ist das Besondere an Nikodemus? Wofür steht seine Form des christlichen Glaubens, gewissermaßen sein „Trinitatis-Christentum“?
Ich glaube, es ist ein Doppeltes:
Der Glaube des Nikodemus ist diskret, distanziert, aber nicht gleichgültig.

Beginnen wir mit dem ersten:
Der Glaube des Nikodemus ist diskret, distanziert.
Er kommt bei Nacht zu Jesus.
Nun kann man sagen: In seiner Position, ein Pharisäer, einer von der gegnerischen Seite, der hatte einfach schlicht Angst.
Man kann das aber auch anders sehen:
Manche Menschen benötigen für den Glauben Diskretion, die Möglichkeit zur Distanz.
Nicht jeder will immer und überall über seine innersten religiösen Gefühle reden.
Nicht jeder will immer und überall ein öffentliches Bekenntnis ablegen.
Denn nicht jeder ist in Glaubensfragen immer ganz klar, völlig entschieden und eindeutig.
Manche brauchen für ihren Glauben ein gewisses Maß an Distanz.
Weil sie eher tastend, eher fragend, eher suchend unterwegs sind.
Weil Gefühle, zumal religiöse Gefühle sie beschämen und sie immer ein bisschen sprachlos machen.
Weil sie nicht richtig wissen, wie das geht: glauben und welche Worte passend sind.
Weil sie aber auch nicht immer belehrt werden wollen, darüber wie Glaube geht.
Weil sie selbst entscheiden wollen, wann sie über den Glauben reden, was genau sie dann reden wollen, wann sie welche Konsequenzen aus ihrem Glauben ziehen, wie stark sie sich in Institutionen einbinden lassen, wieviel Gemeinschaft sie brauchen und welche Gestalt sie ihrem Glauben geben. Der Glaube selbst ist immer auch der Diskretion bedürftig.
Für diese Form des diskreten, immer leicht distanzierten Christentums steht Nikodemus.
Er kommt in der Nacht.
Er geht in die Nacht.
Später wird er in einem Streit der Pharisäer, wie denn mit diesem Jesus zu verfahren sei, ein vermittelndes Wort für Jesus einlegen, dabei immer die Distanz wahren (7, 50-52).
Und nach Jesu Tod wird er helfen, Jesu Leichnam zu balsamieren, wieder im Verborgenen, wieder im Schutz des Unerkannten (19, 39f.).
Nikodemus bleibt in der Distanz.
Er wahrt diskret Abstand.
Dass er aber trotzdem einen dreifachen Platz im Evangelium hat, das erinnert alle, die im Glauben hochmotiviert und der Kirche engverbunden sind, daran: Distanz ist erlaubt. Diskretion zulässig. Distanzierter, diskreter Glaube ist kein minderwertiger Glaube. Daran erinnert Nikodemus am Trinitatis-Fest. Er rechtfertig die, die immer ein bisschen Abstand halten und mahnt die, die diesen Abstand gerne weg-bekehren möchten, den Anderen doch ihren Freiraum zu lassen und nicht immer vorzuschreiben, wie „richtiger“ Glaube geht.

Aber es gibt noch ein Zweites:
Nikodemus bleibt in der Nähe Jesu.
Sein Glaube ist diskret, distanziert, aber er ist nicht gleichgültig.
Manchmal wächst ja aus der Distanz die Gleichgültigkeit.
Da hat man den Glauben scheinbar lange nicht benötigt. Die Kirche schon gleich gar nicht. Und um kein Geld zu verlieren, tritt man sicherheitshalber aus. Und plötzlich merkt man: Auf die Dauer ist einem mehr abhanden gekommen als nur ein paar Euro. Es fehlt Orientierung, eine innere Heimat, ein Set an Bildern und Gedanken, die einem helfen, das Leben zu verstehen. Es fehlt Gott. Und jetzt weiß man nicht, wo und wie er zu finden ist. Man hat den Glauben verloren und jetzt weiß man nicht mehr, wie er geht.
Aus Gleichgültigkeit wird Ahnungslosigkeit, aus Ahnungslosigkeit Ratlosigkeit, aus Ratlosigkeit dann vielleicht Orientierungslosigkeit und im schlimmsten Fall Hoffnungslosigkeit.
Nikodemus aber scheint zu wissen:
Zum guten Leben gehört Religion, gehört der Glaube.
Und der Glaube, der bedarf der Pflege.
Man muss mit den Gegenständen, den Fragen und Inhalten des Glaubens im Gespräch bleiben, sie umtreiben, sonst verlernt man das.
Woher komme ich?
Wohin gehe ich?
Worauf hoffe ich?
Wofür stehe ich?
Das sind nämlich die Fragen, die Nikodemus mit Jesus diskutiert:
Komme ich als Mensch aus mir selbst oder aus Gott?
Wie kann ich als Mensch mit Gottes Kraft in Verbindung kommen?
Wie kann ich so „neu“ werden, dass diese göttliche Kraft mein Leben prägt?
Und wie kann ich Jesus, den Gott in Menschengestalt verstehen?
Wer ist dieser Jesus für mich?
Diese Fragen treiben Nikodemus zu Jesus.
Und er gibt sich nicht mit vordergründigen Antworten zufrieden.
„Zeichen“ genügen ihm nicht.
Er will verstehen.
Er will es nachvollziehen können.
Denn er weiß: So einfach ist das alles nicht. Auch nicht so einfach, wie manche Profis des Glaubens behaupten. „Neu“ zu werden, das ist schwierig. Alle sind wir eingebunden in unser Leben, in unsere Welt. Wir sind Teil dieser Welt. „Fleisch“ bleibt „Fleisch“. Wir kommen da nicht raus und der sonntägliche Kanzelappell, jetzt endlich „neu“ zu werden, ist auf die Dauer auch anstrengend.
Weil er es für sich selbst und sein Leben verstehen will, will Nikodemus mit Jesus im Gespräch bleiben.
Und zwar, ohne am Ende ein Bekenntnis abzulegen.
Nikodemus wird nicht bekehrt.
Er gibt die Distanz nicht auf.
Distanz halten, Fragen stellen, hier und dort Antworten ahnen, eine Geste des Glaubens wagen – das ist der Glaube des Nikodemus.
Hier begegnet uns kein unerschütterlicher Bekennermut.
Auch kein missionarisches Sendungsbewusstsein.
Die unbedingte Nachfolge der Jünger sieht anders aus.
Hier begegnet uns eine religiöse Mittellage,
ein Glaube der leisen, fragenden Töne.
Hier begegnet uns also womöglich der Alltag auch unseres Glaubens.
Denn – Hand aufs Herz:
Wer dreht schon jeden Tag am ganz großen Rad des Glaubens?
Wir leben alle einverwoben in unsere Zeit – angepasst und abgesichert, ein bisschen lauwarm.
Wir haben oft auch andere Sorgen als den Glauben: Die Kinder müssen in die Kita, das Auto in die Werkstatt, die Oma zum Arzt und man selbst ins „Meeting“.
Irgendwie sind wir alle Teil des Systems und für die großen religiösen Gefühle, für die Bilder, die unsere Seele in der Tiefe berühren, für die ganz großen Fragen, da haben wir an Weihnachten, Ostern und Pfingsten Zeit. Aber dazwischen und danach – da gibt es Alltag. Da fahren wir auf Distanz, bewältigen unser Pensum und hoffen, den Anschluss nicht zu verlieren.

Mit dem heutigen Sonntag endet die Festzeit des Kirchenjahrs, bis zum Ersten Advent.
Das Festjahr der Kirche schaltet auf Alltag.
Es entlässt uns gewissermaßen.
Jetzt wird es nüchtern, spröde, ohne große Bilder, irgendwie unanschaulich und unaufgeregt.
So wie unser Alltag eben ist, eingespannt zwischen Kita, Werkstatt, Meeting, Pflichten und Verpflichtungen, Sorgen und Banalitäten, Hetze und Anspannung, unser Leben wie es eben ist.
Dass wir in diesem Leben Gott und den Glauben nicht aus dem Blick verlieren, dass wir auf Sicht bleiben, auch daran erinnert Nikodemus.
Dass wir das Fragen nicht aufhören,
dass wir uns nicht zu sehr einrichten im Alltag,
dass wir uns nicht verlieren im Klein-Klein,
auch dafür steht Nikodemus an Trinitatis.
Er rechtfertigt also auch jene, die sagen: Das Leben ist mehr als Alltag und als Money, Money, Money. Das Leben ist größer. Die Fragen nach dem Geist, nach dem Reich Gottes, nach dem offenen Himmel, diese Fragen dürfen nicht verstummen. Wo Menschen oder eine ganze Gesellschaft gegenüber diesen Fragen gleichgültig werden, da verliert sie mehr als ein paar Euro. Da verliert sie Orientierung, eine innere Heimat, ein Set an Bildern und Gedanken, die einem helfen, das Leben zu verstehen. Irgendwann fehlt Gott, eine Hoffnung, die das eigene Leben in die Ewigkeit der Liebe und des Geistes einbindet. 

Liebe Gemeinde,
so also ist das mit dem scheinbarbar unanschaulichen Trinitatisfest. Es erzählt von unserem Glauben jenseits der großen Festtage, von unserem Alltagsglauben. Und das ist doch oft ein Glaube, der Distanz nimmt, der auf Diskretion setzt, eine mittlere Tonlage pflegt. Dieser Glaube aber ist nicht gleichgültig, sondern bleibt unsicher und fragend mit Jesus im Gespräch, fährt gewissermaßen auf Sicht. Distanziert, diskret, aber nicht gleichgültig – das ist das Trinitatis-Christentum. Und dann erfahren wir plötzlich in der Tiefe unsere Selle, dass es eben doch stimmt: „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren wird“. Wir wissen nicht, woher es kommt, aber es ist da. Unanschaulich, aber es ist Gott. Er ist da. In unserem Leben. Diese Erfahrung gebe er uns, der dreieinige Gott, Trinitatis-Christen, die wir ab heute sind.
Amen.

Anregungen fand ich bei Johann Hinrich Claussen, Religion ohne Gewissheit. Eine zeitdiagnostisch-systematische Problemanzeige, in: PTh 94 (2005), 439-454 und bei Kristian Fechtner, Diskretes Christentum: Volkskirche im Übergang, in: Zeitzeichen 12/H.10 (2011), 22-24.

 

Perikope
31.05.2015
3,1-8

Was beim Abschied gesagt werden kann... Predigt zu Johannes 14,23-27 von Wolfgang Vögele

Was beim Abschied gesagt werden kann... Predigt zu Johannes 14,23-27 von Wolfgang Vögele
14,23-27

Was beim Abschied gesagt werden kann...

"Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen. Wer aber mich nicht liebt, der hält meine Worte nicht. Und das Wort, das ihr hört, ist nicht mein Wort, sondern das des Vaters, der mich gesandt hat. Das habe ich zu euch geredet, solange ich bei euch gewesen bin. Aber der Tröster, der Heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe. Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht."

Liebe Gemeinde,

der sehr kluge, alltagsweise Philosoph Michel de Montaigne, der einen großen Teil seines Lebens in einem Bibliotheksturm verbracht hat, hat einmal gesagt: "Ein Abschied verleitet immer dazu, etwas zu sagen, was man sonst nicht ausgesprochen hätte." Genau das will ich jetzt verfolgen, beim Hören auf die Abschiedsworte Jesu.

Viele Menschen fürchten jede Art von Abschied. Denn Abschiede enthalten stets beides, Aufbruch und Trauer. Wenn die Bahn einmal nicht streikt, steht das junge Liebespaar eng umschlungen vor der offenen Wagentür des wartenden ICE und umarmt sich innig. Die Liebste fährt für mehrere Wochen zum wichtigen Praktikum in der übernächsten Großstadt, und der Liebste kann leider nicht mitfahren, weil ihn im Büro Stapel von zu bearbeitenden Akten erwarten. Der Zugchef hebt schon die grüne Seite der Signalkelle in die Höhe und schaut schon ganz unruhig: Wollen Sie nun mitfahren oder nicht? Für innige Worte ist jetzt keine Zeit mehr, die beiden Liebenden umarmen sich nur ein letztes Mal, dann reicht der Mann seiner Liebsten den vollgepackten Rucksack in den Zug. Wartende am Bahnhof, am Flughafen oder an der Bushaltestelle beobachten solche Szenen regelmäßig. Der Abschied fällt immer schwer, die Liebe bleibt hoffentlich. Übrigens nicht nur bei jungen Liebespaaren, sondern auch bei kleinen Enkeln und Großeltern oder bei heranwachsenden Söhnen, die nach dem Abitur für ein Jahr ein freiwilliges soziales Jahr ableisten. Abschied bildet eine Schwelle, einen Übergang, von Wohnung und Heimat in die weitere oder nähere Fremde. Wer auf dieser Schwelle steht, empfindet zugleich anhaltende Zuneigung und Schmerz über die Trennung.

Genauso nimmt Jesus Abschied von den Jüngern, aber es kommt noch einiges dazu, an Vertrauen, an Angst, an Einsicht in die Welt und Gott. Dem Liebespaar reicht eine innige Umarmung und ein Kuß, um widerstreitenden, aufwallenden Gefühlen spürbare Gestalt zu geben. Im Johannesevangelium findet Jesus von Nazareth zu den richtigen Gesten passende Worte für eine besondere Trennung.

Die wenigen Worte, die er an die Jünger richtet, wirken weit über die Jünger hinaus. Der Evangelist Johannes hat sie in einer Gruppe zu einer Rede zusammen gestellt. Spätere Leser sollen sich in die Jünger hinein fühlen, die sich stellvertretend für alle Christen, die ihnen gefolgt sind, die tröstenden Liebesworte Jesu anhören. Die Menge der Jünger vergrößert sich also durch die Zeit, wir hören die Worte Jesu, als ob sie für heutige Christen gesprochen seien. Darum halte ich den Predigttext für eine der ergreifendsten, schönsten Stellen der Bibel, voll von Trost, Liebe und Geduld, aber genauso auch nüchtern, nah am Leben, frei von Illusionen. Pfingstfreude soll überschäumend und überschwänglich über die Ränder der Gemeinden quellen, aber in dieser Rede Jesu mildert die Nüchternheit des Abschiednehmens den Enthusiasmus über den Heiligen Geist. Das ist der große, manchem trocken erscheinende Wirklichkeitssinn, der sich durch die gesamte Bibel zieht. Im Predigttext findet er einen seiner Höhepunkte. Rote Farben der Pfingstfreude auf der einen Seite stehen nicht den schwarzen Tönen der traurigen Welt auf der anderen Seite gegenüber. Zum Vorschein kommt eine ganz realistische, angemessene Mischung zwischen Abschied und Freude. Denn Rot der Pfingstfreude und Schwarz des Abschieds lassen sich gar nicht paßgenau trennen, beide Farben fließen ineinander über, wie benachbarte Farbflächen auf einer Aquarellmalerei, wenn das Papier noch nicht getrocknet ist.

Die Worte Jesu atmen Trost, Liebe, Zuwendung, Menschenfreundlichkeit gegenüber den verängstigten Jüngern. Sie sehen das Risiko und die Gefahr, in Verzagtheit zurückzubleiben. Als Predigttext haben wir einen Auszug der Abschiedsrede Jesu im Johannesevangelium gehört. Es fehlt der für die Rede wichtige Kontext, der nachgetragen werden soll. Jesus nimmt Abschied von den Jüngern, weil er genau weiß, daß er gekreuzigt werden wird. Im Johannesevangelium weiß er aber mit derselben Gewißheit von seiner Auferstehung drei Tage danach. Er weiß, daß er zu seinem Vater zurückkehren wird. Und er weiß, daß er die Jünger, die für die erste Gemeinde stehen, zurücklassen muß. Den Jüngern wird diese Abwesenheit Jesu Schwierigkeiten machen. Deswegen versucht Jesus, die Jünger vorzubereiten. Er versucht die Jünger zu trösten, bevor er gehen muß.

In unserer Szene stellt Judas, ein anderer Judas als der spätere Verräter, eine Frage. Judas fragt: Herr, was bedeutet es, dass du dich uns offenbaren willst und nicht der Welt? (Joh 14,22) Die Frage zielt auf den Unterschied zwischen der Gemeinde Jesu und der Welt. Der Welt, also allen Menschen, bleibt offensichtlich etwas verschlossen, was die Anhänger Jesu, seine erste Gemeinde, aber auch alle weiteren Gemeinden, die folgten, schon glauben oder verstanden haben.

Der Welt, von der Jesus spricht, bestimmt sich durch die Grundregel des Gebens. Die Menschen kämpfen um Nahrungsmittel, um Liebe, um Aufmerksamkeit und um jede Chance, welche ihr Überleben sichert. Jeder weiß, daß Kooperation mit anderen die Chancen des Überlebens vergrößert, aber es bleibt stets das Mißtrauen, betrogen, getäuscht oder hintergangen zu werden. Wer handelt, um zu überleben, der versucht, für seine eigenen Gaben auch eine Gegengabe zu erhalten. Wer liebt, tut das in der Erwartung, wieder geliebt zu werden. Wer einem anderen hilft, tut das in der Erwartung, daß der andere ihm umgekehrt hilft, wenn er selbst sich in Not befindet. Eine Gabe erfordert eine Gegengabe, wenn auch nicht notwendig in unmittelbarer zeitlicher Abfolge. Das ist gemeint, wenn Jesus sagt: So gibt die Welt. 

Leider funktioniert dieses Prinzip von Gabe und Gegengabe nicht immer. Die meisten Menschen, die gegeben haben, können sich nicht sicher sein, ob sie irgendwann auch das, was sie investiert haben, zurückbekommen. Das Spiel von Gabe und Gegengabe ist durch einen Graben der Angst bestimmt, selbst wenn das Spiel am Ende zum Erfolg der Gegenseitigkeit kommt. Diese Angst lähmt die Menschen und zerstört Vertrauen. Vertrauen geschieht stets auf Hoffnung hin, sie enthält das Risiko, getäuscht zu werden. Deswegen haben die Menschen seit Jahrhunderten unterschiedliche Techniken der Absicherung entwickelt, um sich gegen Täuschung, Betrug und Übervorteilung  zu wehren. Wer sich nicht sicher ist, ob er vertrauen kann, entwickelt Angst. Die Jünger haben Angst. Jesus versucht, ihnen mit seinen tröstenden Worten die Angst zu nehmen. Es geht ihm darum, den Kreislauf von Angst und Vertrauensrisiko zu durchbrechen.

Im Johannesevangelium redet Jesus vor der Kreuzigung zu den Jüngern. Ihm ist das bewußt, was auf ihn zukommt. Der Evangelist Johannes denkt theologisch Kreuz, Auferstehung und Pfingsten zusammen. Der Wendepunkt in der Geschichte Jesu wirkt sich auch auf spätere Gemeinden aus, die jeweils im Kirchenjahr die Geschichte Jesu an den Christusfesten Karfreitag, Ostern und Himmelfahrt, aber eben auch an Pfingsten nachvollziehen und mitgehen. Die ergreifende Abschiedsrede ist so gestaltet, daß Jesus sich im Wissen um sein Schicksal an die ängstlichen Jünger wendet. In der Abschiedsrede verdichtet sich der Trost für die Jünger – und folgend für die Gemeinden, die die Jünger nach Tod und Auferstehung gegründet haben.

Jesu Rede berührt deshalb so sehr, weil sie auf das Herz zielt. Der Rabbi aus Nazareth gibt sich mit den Oberflächen der Menschen gar nicht erst ab. Er weiß, daß Menschen ihre Ängste und Befürchtungen nur allzu gut verbergen können. Im Inneren von vielen sieht es oft anders aus als es nach außen, im Licht der Beobachtung durch andere, erscheinen mag. Der Unterschied zwischen beidem kann Persönlichkeiten zerbrechen lassen und in Beziehungen zu bitteren Enttäuschungen führen. Es zeichnet Jesus aus, daß er solche äußeren Bilder durchschaut. Genau deswegen enthält seine Rede nüchterne Wahrheiten, aber auch bleibenden, nachhaltigen Trost. Nach außen kann sich jeder als zufriedenen, glücklichen Menschen darstellen. Im Unterhaltungsfernsehen sind jeden Tag Beispiele dafür zu sehen, die einen manchmal in ihrer Naivität erschrecken. Im Herzen, vor der eigenen Selbstwahrnehmung brechen alle diese Formen der Selbstdarstellung in sich zusammen. Der Verstand ist nicht in der Lage, die Bewegungen des Herzens zu planen. Das Herz ist ein zerbrechliches, unbestechliches inneres Organ des Menschen, das von Kopf und Hand ganz unabhängig ist. Das Herz bestimmt die inneren Gedanken, die Stimmungen eines jeden Menschen.

Genau darauf, auf das Herz eines jeden Menschen zielt auch die Abschiedsrede Jesu. Nebensachen und Oberflächen läßt er beiseite. Für Jesus ist der Zeitpunkt gekommen, über den Kern der Sache, über den Kern des ängstlichen Menschen zu reden. Die Jünger fürchten sich vor der Abwesenheit ihres Meisters Jesu, so wie heute Menschen an Gott zweifeln. Sie fürchten die Abwesenheit Gottes, denn das würde Angst machen, wenn die Welt nur durch Zufälle und den einen Urknall bestimmt wäre.

Jesus spricht nun vom heiligen Geist. Aber nicht so, daß er den Jüngern eine Information weitergibt, als könnten sie danach im Formular der Selbstverständlichkeiten des Glaubens eine weitere Position abhaken. Der Heilige Geist ist ein Tröster. Er hilft den Jüngern und allen Gemeindegliedern, die ihnen folgen, gegen die Angst. Die Formel läßt sich auch umdrehen: Wo Trost geschieht, ist der Geist anwesend, dort, wo eine schwere Last von einem Menschen abfällt, dort, wo sich Angst plötzlich in Luft auflöst, dort, wo Streit beendet wurde und neue zarten Verbindungen an die Stelle von bleibender Spannung und anhaltender Verhärtung treten. Geist ist dort, wo Trost geschieht, wo Hoffnung und Lebensmut, Glauben und Vertrauen wachsen, manchmal nur als ganz kleine, verletzliche Pflänzchen, die leicht übersehen werden oder die andere schnell wieder zerstören. Wo der Geist wirkt, fallen Mauern, weiten sich Verengungen, brechen Sperren in sich zusammen; Starre bricht auf, Langeweile verschwindet und Verletzungen beginnen zu heilen.

Der Geist tröstet, und in diesem Trost vertreibt er die Ängste, die zerplatzen wie Seifenblasen. Dieser Geist wirkt überall, keineswegs nur in den Gemeinden. Um ihn wahrzunehmen, braucht es Glauben und Vertrauen in Gott. Wer sich gegen die eigenen Ängste selbst helfen will, der verstrickt sich nur tiefer in Ängste, er bleibt in dem gefangen, was die Bibel Sünde nennt. Diese Sünde führt nur immer tiefer hinein in die Spirale der sich verstärkenden Ängste. Der Glaube an den Geist dagegen führt aus der Selbstbezogenheit heraus in die Welt, wo sich neue Entdeckungen des Glaubens machen lassen.

Wer sich auf den Geist einläßt, der begegnet dieser Welt im Glauben. Die Welt erscheint dann nicht mehr als bedrohliches Spiel von Zufällen, Katastrophen und Unglück, dem die Menschen hilflos ausgeliefert sind. Für den Glauben hat sich die Welt verwandelt. Sie wird von der Wüste der bedrohlichen Zufälle zu einer geistlichen Heimat. Dieser Heilige Geist, sagt Jesus, führt zu Gott, der uns Wohnung gibt und bei dem wir Wohnung nehmen. Wer das im Glauben annimmt, der sieht plötzlich die Oasen des Trostes, des Friedens und der Erbauung, die überall aus dem  Vertrauen auf Gott wachsen. Deswegen beendet Jesus seine Trostworte auch mit dieser alten Formel, die in der Bibel an vielen Stellen begegnet, häufig dann, wenn in einer Erzählung ein Engel auftaucht und die Menschen wegen seiner ungewöhnlichen Erscheinung tief beunruhigt sind: Euer Herz fürchte sich nicht. Fürchtet euch nicht, sagt auch der Engel der Weihnachtsgeschichte zu den Hirten, deren Aufmerksamkeit behutsam auf das Kind in der Krippe gelenkt wird.

Wer auf den Geist als Tröster vertraut, der besitzt so etwas wie eine Wohnung bei Gott. Das ist kein Einfamilienhaus mit Fundament und Keller, aus dem die Glaubenden gar nicht mehr ausziehen wollen. Glaube begreift das Leben nicht als Dauerzustand, in dem Sicherheit herrscht, weil sich gar nichts mehr ändert. Eher geht es um eine transportable Wohnung, ein Zelt, das jeden Glauben auf seinem Weg und in den vielen Verwandlungen seines Lebens begleitet, bis es einmal endet in dem, was sich Christen in Glauben und Vertrauen erhoffen: in dem Reich, das Jesus genauso angekündigt hat wie den Geist, der tröstet. Der Trost im Abschied Jesu führt mitten ins Leben hinein.

Brechen wir auf! Amen.

Perikope
24.05.2015
14,23-27

„Friedensangebot“ - Predigt zu Johannes 14,23-27 von Monika Waldeck

„Friedensangebot“ - Predigt zu Johannes 14,23-27 von Monika Waldeck
14,23-27

„Friedensangebot“

Ein ganzer normaler Montagmorgen mit der lokalen Tageszeitung. Ich lese:

1. Ein Boot voll mit Flüchtlingen aus Myanmar wurde am Samstag von der thailändischen Marine wieder aufs offene Meer geschleppt. Die Menschen waren drei Monate auf dem Wasser und dem Verhungern nahe.

2. Nach dem Erdbeben in Nepal wurden Babys, die von nepalesischen Leihmüttern ausgetragen worden waren, zu wohlhabenden Paaren nach Israel ausgeflogen.

3. Die Trendfarben des Sommers 2015 könnten kontrastreicher nicht sein. Liebliche Aquatöne treffen auf leidenschaftliches Orange und feuriges Grün.

4. 70 von 241 an einer Essstörung erkrankten Jugendlichen sagen, dass Heidi Klums Sendung: Germanys next Topmodel einen starken Einfluss auf ihre Erkrankung hat.

5. Die Firma Hauser Reisen wirbt mit Trekkingtouren in Tibet auf den Pfaden der Erleuchtung zum heiligen Berg Kailash.

O.K. denke ich, der ganz normale Wahnsinn. Trinke meinen Kaffee aus und mache mich auf den Weg zu meiner Arbeit.
Vermutlich bin ich nicht die Einzige, die jeden Tag diesen Spagat hinter sich bringt aus dem Wahrnehmen von irrsinnigen Meldungen aus aller Welt und dem Bemühen, sich einen sinnvollen, strukturierten Alltag zu gestalten.

Oder sind wir selbst etwa wahnsinnig geworden?
In der Regel schaffen es überraschend viele Menschen, die beunruhigenden Signale einer aus den Fugen geratenen Welt zu ignorieren. Und finden das, was täglich geschieht eigentlich ganz normal. Kein Problem. Oder wie man neuerdings gerne sagt: „Alles ist gut.“
Dann rege ich mich höchstens in Stammtischgesprächen darüber auf  oder in Leserbriefen. Und kaufe Möbel in den neusten Trendfarben. Oder buche eine Reise nach Tibet. Weil da bisher noch nicht so viele Leute waren.

Ein paar Ausnahmen gibt es zwar.
Die, denen die Normalität nicht gelingt. Die zu einfühlsam sind, zu ängstlich, zu verzweifelt, zu hoffnungslos. Die dann schwierig werden, nicht funktionstüchtig, depressiv, aggressiv, süchtig.
Aber für die ist ja gesorgt, mit Beratungsstellen, Ärzten, Medikamenten, Psychiatrien.

Und uns selbst haben wir vor allen möglichen Risiken des Lebens versichert. Das mindert die Angst vor den Unwägbarkeiten und Schicksalsschlägen des Lebens, meinen wir. Oder doch nicht so ganz…?

„Um uns vor dem Wahnsinn zu bewahren, müssen wir den Wahnsinn verdrängen, in dem wir leben“, schrieb der Theologe Henning Luther 1991.

Manchmal allerdings, da gelingt das nicht. Da rücken uns Geschehnisse unversehens näher, nämlich dann, wenn wir uns emotional mit ihnen verbinden.

Wie geht ein thailändischer Soldat nach seinem Einsatz nach Hause? Kann er die schwankende, überladene Nussschale auf dem Meer vergessen, von der aus ihn hungrige und durstige Männer, Frauen und Kinder um Hilfe angefleht haben?

Wie fühlt sich das 14-jährige Mädchen, das von ihren Klassenkameraden täglich als „fette Kuh“ beschimpft und wegen ihres Körpers nie zu anderen eingeladen wird?

Wie erlebt ein Schulkind in den Bergen Tibets die europäischen Touristen, die ihm auf ihrem Schulweg ins Tal entgegenkommen? Die Touristen in ihren teuren Bergschuhen, während es selbst barfuß den steinigen Weg bewältigen muss?
Sind das nur Einzelschicksale, traurig, aber nicht zu ändern?

Oder ist die Welt womöglich gar nicht aus den Fugen geraten, weil sie nie in welchen verankert war?
Gibt es am Ende gar keine Struktur, keinen Trost, keinen Frieden, keinen Sinn in allem?
Zwar haben wir uns gegen viele Risiken versichert, aber dennoch bleibt ein Rest.
Den spüren wir, wenn wir Lebenserfahrungen machen, die nicht zu fassen sind und uns um den Verstand bringen. Krankheit, Trauer beim Verlust eines Menschen durch Tod oder den Abbruch von Beziehungen, Schuld. Dagegen kann man sich nicht versichern.

Dann bräuchte man so etwas …wie Religion. Also ein Sinnangebot, wenn es mal nicht klappt, wie es soll, (…und einem doch eigentlich zustünde, zumindest wenn man in der westlichen Welt lebt.)
Bisher bot sich da in unseren Breitengraden die christliche Religion an. Evangelisch oder katholisch gefärbt. Aber wem das nicht gefällt, der kann sich inzwischen auch eine eigene suchen.

Heute, hier im Gottesdienst zu Pfingsten könnte ich Ihnen also sagen:
„Jesus spricht uns Trost zu. Er schickt den Hl. Geist, damit wir in unserem mit Sorge erfüllten Leben keine Angst haben müssen, der Geist soll in uns wohnen und uns Sinn und Halt geben.“  Schon wäre die Predigt fertig.

Henning Luther allerdings hätte dazu eine klare Meinung. Er würde mir als Predigerin sagen: „Ein Gott, den es gibt, weil wir ihn brauchen, ist ein Selbstwiderspruch.“
Eine religiös überhöhte Vertröstung und Verdrängung eben.

Ich gehe einen anderen Weg und schaue noch einmal in den Bibeltext. Jesus sagt: „Ich gebe euch keinen Frieden, wie ihn die Welt gibt.“ Es ist kein Sinn im Wahnsinn der Welt. Und alles Bemühen, ihn zu finden, mag die Angst für einen Augenblick lindern, aber im nächsten ist sie schon wieder da.
Jesus sagt: Zum Abschied schenke ich euch Frieden. Ich gebe euch meinen Frieden.“

Was das für ein Frieden ist, kann ich in den Momenten spüren, in denen ich es wage, meinen Gefühlen Raum zu geben, die helfen, hinter die Fassaden des Wahnsinns zu schauen.

Wenn ich bereit bin, die Schuldgefühle des Polizisten zu auf mich wirken zu lassen, der seinem Befehl gefolgt ist, aber von den Augen der hilflosen Flüchtlinge im Meer verfolgt wird.

Wenn ich mich auf die Einsamkeit des Mädchens einlasse, das von einer unbarmherzigen Norm für Körpermaße auf ihr Lebensglück schließt.

Wenn ich darüber klage, dass viele Kinder auf der Welt keine Schuhe haben und mich dafür schäme, dass Menschen aus meiner Nachbarschaft  ihren Reichtum in einem bitterarmen Land ungeniert zur Schau stellen.

Der Frieden, den Jesus meint, geht dem Schmerz nicht aus dem Weg, nicht der Trauer und vor allem nicht der Einsamkeit, die aus ihm erwächst.
Das hat Jesus auch nicht getan, er hat erlebt, was es bedeutet, schuldig, ausgeschlossen, beschämt und traurig zu sein.
Sein Friede wird erlebbar im inneren Kontakt mit Menschen, die an Abgründen oder an Schwellen ihres Daseins stehen.

So verstehe ich die Bedeutung des Heiligen Geistes.
Er soll unser Beistand sein, denn „…der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich selbst euch gesagt habe.“
Erinnern und mahnen, sich nicht täuschen zu lassen von der vermeintlichen Sicherheit und den tagesaktuellen Trends, die uns der Zeitgeist verspricht.
Sich an alles erinnern, was Jesus gesagt hat, das meint, dass wir die Hoffnung nicht auf die Dinge setzen, die „die Welt“ wichtig findet, sondern auf Gott allein.
Wie das geht? Jesus sagt: „Wer mich liebt, wird sich nach meinem Wort richten.“

Das sind die Freiheit, die kritische Kraft und der Trost der Religion. Mit dieser Liebe im Herzen werden wir uns nicht fürchten müssen vor dem, was das Leben uns abverlangt.


Zitate:
Henning Luther: Die Lügen der Tröster; Das Beunruhigende des Glaubens als Herausforderung für die Seelsorge, in: PrTh 33 (1998), 163-176
 

Perikope
24.05.2015
14,23-27

Worthalter, Seelentröster, Überweltfrieden - Predigt zu Johannes 14,23-27 von Christoph Maier

Worthalter, Seelentröster, Überweltfrieden - Predigt zu Johannes 14,23-27 von Christoph Maier
14,23-27

Worthalter, Seelentröster, Überweltfrieden

Liebe Gemeinde,

was soll ich bloß schenken? Angemessen soll es sein, nicht zu aufdringlich, aber auch nicht zu banal. Da feiert die Kirche nun also heute ihren Geburtstag und wir sind die Geburtstagsgäste. Eingeladen wurden wir mit unserer Taufe. Eine ganz besondere Einladungskarte aus Wasser und Geist wurde rechtzeitig verschickt [und wir haben vorsorglich auch noch einmal eine Erinnerung aus Papier hinterhergeschickt]. Schön, dass Sie alle gekommen sind!

Wie bei jedem Geburtstagsfest gibt es heute auch ein richtiges Festessen. Der Hausherr selbst, Jesus Christus, gibt sich am Abendmahlstisch die Ehre, mit uns gemeinsam zu feiern. Für Essen und Trinken ist gesorgt.
Bleibt noch zu klären, was wir als Geschenk mitbringen wollen?
Schauen wir uns doch einmal den Predigttext des heutigen Pfingstfestes näher an, vielleicht finden wir dort ein angemessenes Geschenk. Bedeutsam aber nicht überheblich, persönlich ohne uns in den Vordergrund zu spielen.

Der Evangelist Johannes hat zumindest alles schon mal schön in Wörter eingepackt, wie es so die Art dieses Evangelisten ist – unverkennbar. Ich erinnere nur an den Anfang seines Evangeliums. Kunstvolle Hülle mit Worten, die man gar nicht auspacken möchte, so schön sind Sie.
Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott selbst war das Wort. [...] Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit. (Joh 1,1.14a)
Und auch hier in unserem Pfingstsonntagstextgeschenk:
Wer mich liebt, der wird mein Wort halten [...] und das Wort, dass ihr hört, ist nicht mein Wort, sondern das des Vaters, der mich gesandt hat. (Joh 14, 23a.24)

Johannes wickelt immer alles so schön ein. Vielleicht sollten wir zunächst erst mal ein wenig auspacken. Wir wollen ja wissen, was wir schenken. Wenn ich also versuche, die Einwickel- und Verwicklungswörter wegzudenken, dann kommen drei Dinge zum Vorschein:

Ein liebevoller Worthalter
Ein Seelentröster
Ein überweltlicher Friede

Dinge, die die Welt nicht braucht? – die Kirche aber ganz bestimmt!

Ein Worthalter,
ein liebevoller Worthalter. Kein Staubfänger fürs Regal, sondern ein kleiner Schatz kommt hier zum Vorschein. Worthalter halten nicht nur fest, sie bewahren und bewachen, sie schützen und pflegen das Wort, das sie halten. Und das Wort, das gehalten wird, ist mehr als eine Aneinanderreihung von Buchstaben. Es glänzt, das Wort. Es glänzt in diesem Wort, die Herrlichkeit Christi, die Heiligkeit der Thora, Gottes Gesandter und Gottes Weisung sind in changierenden Farben in diesem Wortglanz zu entdecken. Wer mich liebt, der wird mein Wort halten. (Joh 14, 24) Liebe hält Wort und das Wort enthält Liebe: „Wer werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“
Das Wort, das dort gehalten wird, ist mehr als „richtig leben“ ist mehr als „sich nach Gottes Gebot richten“ Das Wort, das dort gehalten wird, ist uns von Christus gegeben als ein Schatz, den es zu bewahren und zu bewachen, zu schützen und zu pflegen gilt. Und auch Christus hat dieses Wort nicht von sich genommen, sondern hat es als Gesandtschaft des Vaters erhalten.
Der Worthalter, der liebevolle, kein Staubfänger fürs Regal. Er hält Herrlichkeit, Heiligkeit, hält Christus selbst und die Wohnung Gottes. „Wer mich liebt, ist Worthalter und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“

Wir schenken der Kirche zum Geburtstag Worthalter. Worthalter, das erste Geschenk zum Pfingstfest für die Kirche. Worthalterinnen und Worthalter das sind wir, geliebte Schätze und Wohnungen für Gott.

Schauen wir uns das nächste Geschenk an:
Ein Seelentröster,
das wird immer wieder gerne verschenkt. Eine originelle Geschenkidee für unsere Kirche diese junggebliebene alte Dame mit leicht depressiven Zügen, oder ist das noch die Midlife-Crisis? Wer Seelentröster im Internet bestellen will, findet interessante Treffer:
An oberster Stelle steht natürlich: Schokolade. Aber auch ein Aroma Schaumbad mit dem Namen Seelentröster wird zum Kauf angeboten und dann noch - neben jeder Menge Ratgeberliteratur und Musikangeboten - das kleine Sorgenfresserchen. Das mit einem Reisverschluss statt Mund ausgestattete Plüschwesen soll Kindern als Kummerkasten dienen können. Eine Form sich mitzuteilen, Trost zu finden, wo reden nicht hilft, oder niemand da ist, mit dem man reden könnte.
Der Evangelist Johannes kennt unsere modernen Seelentröster nicht. Den Seelentröster, den er in unserem Pfingstsonntagstextgeschenk eingepackt hat, ist niemand anderes als der Heilige Geist, der Paraklet, wie der Heilige Geist im Johannesevangelium genannt wird. Zum Pfingstfest keine ganz unwesentliches Geschenk, das die Kirche da erhält. Allerdings sieht der Heilige Geist als Seelentröster doch etwas anderes aus als der feurige Begeisterer, der Massenbekehrer oder der Ekstatiker, der Menschen in fremden Zungen reden lässt.
Der Heilige Geist, wie ihn Johannes vorstellt, der Seelentröster, ist einer, der erinnern wird, an alt Bekanntes, der neu lehren wird, was im Laufe der Zeit verloren gegangen ist. Der Heilige Geist, der Tröster hält aktuell, was Christus als Gotteswort gelebt hat: „Aber der Tröster, [...] der wird euch alles lehren, was ich euch gesagt habe.“

Dieser Heilige Geist ist weniger Feuer und Wind eher Schokolade und Schaumbad. Ist weniger spektakulär, ist vielmehr „Seelentröster“ - wie Schokolade: Süßigkeit gegen das Bittere im Leben. „Seelentröster“ - ein warmes Schaumbad, das einhüllt und uns umgibt wie Gottes Liebe.
Seelentröster, Sorgenfresser, „lasst euch nicht entmutigen“ (Joh 14,27 NGÜ), „Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht“ (Joh 14,27 LTH).
Ob dieses Geschenk ankommen wird, zum Geburtstag der Kirche?

Bleibt das letzte Geschenk
Frieden, der nicht von dieser Welt ist, haben wir mitgebracht. Nein, wir haben ihn nicht mitgebracht: Er wurde uns gelassen und wird uns gebracht. Im Auswickeln dieses letzten Pfingstsonntagstextgeschenkes wird besonders deutlich, wie kunstvoll Johannes alles eingewickelt hat. Es ist ein eigenartiges Vorhandensein des Abwesenden, das uns geschenkt wird. „Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.“ Die Anwesenheit des Abwesenden, die Gabe des Überlassenen, durchwebt den ganzen Text und macht ihn gerade so zu einem himmlischen Geschenk, das auf der Erde nirgends zu haben ist. Gottes Liebe, der Heilige Geist und nun der Friede. Was wir der Kirche heute zum Geburtstag bringen, ist immer auch schon da, in ihr, in uns, die wir Kirche sind:
„Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.“ Was Jesus zurücklässt, wird er uns bringen. Was wir schon haben, wird eine Gabe sein. Halten und empfangen, geben und beschenkt sein, Himmel und Erde, Gegenwart und Zukunft, das alles ist in diesem Pfingstsonntagstextgeschenk ineinander gewickelt.

Gehalten von einem trinitarisches Gottesband, das alles umgibt. Der Vater, der dem Sohn das Wort sendet. Der Geist der im Namen des Sohnes gesandt wird vom Vater. Ein dreifacher Knoten hält dieses Geschenk zusammen.

Ich finde, Es ist ein passendes Geschenk. So können wir kommen und Geburtstag feiern, so gratulieren wir heute, der Jubilarin und bringen ihr mit, was wir entdeckt haben: die liebevollen Worthalter, die getrösteten Geistbegnadeten, die mit Gottesfrieden beschenkten.
Dieses Geschenk an die Kirche, das wir im Text des Johannesevangeliums eingewickelt gefunden haben, sind wir selbst. Wir können uns zum Geburtstag der Kirche nur selbst schenken. Und wir tun es demütig als selbst beschenkte.

Amen

Predigtlied: Taizé - Frieden, Frieden (www.youtube.com/watch?v=hgBX4K9MJOU)

Perikope
24.05.2015
14,23-27