Der Gute Hirte - Predigt zu Johannes 10,11-16 von Matthias Wolfes

Der Gute Hirte - Predigt zu Johannes 10,11-16 von Matthias Wolfes
10,11-16

Der Gute Hirte.

„Ich bin der gute Hirte und erkenne die Meinen und bin bekannt den Meinen, wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stalle; und dieselben muß ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und wird eine Herde und ein Hirte werden.“

[Jubiläumsbibel 1912]

Liebe Gemeinde,

man macht sich nicht immer bewußt, dass auch solche Stücke unserer Glaubenswelt auf Vorbehalte stoßen, von denen man im allgemeinen denkt, sie gehörten zum unverzichtbaren Grundbestand. So gibt es zum Beispiel etliche Gläubige, die mehr oder weniger starke Bedenken tragen, das Vaterunser zu beten. Selten werden solche Bedenken im Gemeinderaum ausgesprochen, aber sie sind dennoch da; sie sind oftmals sogar Ausdruck einer besonders tief bewegten religiösen Seele. Niemand sollte der Versuchung nachgeben, hierüber ein absprechendes Urteil zu fällen.

Ein weiteres Motiv, mit dem Manche nicht gut klar kommen, ist die Vorstellung, im Zusammenhang mit Gott ließe sich in irgendeiner Weise von „Person“ sprechen. Für sie ist Gott gerade im Gegenteil diejenige Instanz, die alle personale Beschränktheit (oder auch Identität) überschreitet.

Zu den ganz grundlegenden, aber doch eben nicht ohne jede Einschränkung akzeptierten Glaubenbildern gehört nun auch das vom Guten Hirten. Mit ihm wollen wir uns in den kommenden Minuten etwas beschäftigen.

I. Der gute Hirte

Der gute Hirte – dem Johannesevangelium zufolge übernimmt Jesus also eine Bezeichnung, die wir in der alttestamentlichen Überlieferung vielfach im Blick auf Gott finden.

„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“ (Psalm 23, 1).   

Es ist nicht unsere Aufgabe, dem Bild hier auch nur in groben Zügen nachzugehen, nicht einmal im Blick auf die unterschiedlichen Verwendungsweisen und Bedeutungen im Neuen Testament. Uns interessiert die Sache selbst: Jesus als der gute Hirte.

Was aber kann nun speziell an diesem Bild stören? Die Antwort liegt auf der Hand: Es ist zum einen der Umstand, dass hier einer für sich in Anspruch nimmt, den Anderen Weg und Richtung weisen zu können. Und es ist zum anderen das komplementäre Moment, dass diese Gewiesenen offensichtlich so vorgestellt werden, dass sie aus eigener Einsicht ihr Leben zu gestalten nicht für fähig gehalten werden. Die Figur des guten Hirten setzt, man wird es so sagen müssen, ein zutiefst antiaufklärerisches Menschenbild voraus.

Wir versagen es uns auch an dieser Stelle, weiter zu gehen, aber dass das polare Modell von Lenker und Gelenktem, von Einsichtigem und Einsichtslosen, vom souveränen Inhaber der Gesamtübersicht einerseits und orientierungsbedürftigem Blickfeldbeschränkten andererseits, – dass dieses Modell einen inneren Widerstand wachruft, das kann nicht verwundern. Man möchte kein „Schaf“ sein.

Und dennoch: Das Bild zählt zu den wichtigsten und auch bekanntesten unserer Glaubensüberlieferung. Viel stärker als die innere Gegenstimmung ist in der Welt der Christenheit die vertrauensvolle Anerkennung von Jesu Hirtenschaft verbreitet. Jesus ist der Gesandte Gottes, weil er Hirte der Glaubenden ist. Als „Hirte“ und nicht bloß als Glaubensbruder ist er der Sohn Gottes, der Herr, Heiland und Erlöser. Glaube bedeutet für viele Christen genau dies: Sich dem Hirten Jesus in letztem Vertrauen, das heißt, einem Vertrauen aus dem Grunde der Seele heraus anzuschließen, sich ihm also in letzter Hinsicht sogar preiszugeben.

Es ist klar, dass es einen solchen Hirten nur in der Einzahl geben kann. Wenn Jesus sich selbst als „guten Hirten“ bezeichnet, dann handelt es sich dabei um den guten Hirten.

II. Der gute Hirte

Liebe Zuhörer, wenn Sie meine Ausführungen gehört und durch eigene Gedanken ergänzt haben, so wird Ihnen die Offenheit unseres Themas bereits deutlich vor Augen stehen. Was mich betrifft, so knüpfe ich an diese Überlegungen auch keinerlei systematischen Anspruch. Es geht mir allein darum, an diesem Sonntag unser christliches Nachdenken auf Bild und Wort vom „Guten Hirten“ zu richten. Viel zu vieles strömt einem zu, Fragen stellen sich, und es geschieht das, was in unseren Gottesdiensten auch geschehen soll, dass nämlich der Glaube in Bewegung gerät, indem er sich selbst betrachtet.

Was sollen wir etwa sagen zu dem Wort „gut“ in der Wendung vom „Guten Hirten“? Was macht einen Hirten zum guten Hirten? Wer ist es, der hiernach fragt, wer, der antwortet, und wie soll die Antwort eingelöst werden. Geht es speziell in der Rede Jesu wirklich um die Gutheit seiner Hirtenschaft oder geht es um den Anspruch, dass es sich dabei um eine gute Hirtenschaft handele? Mir scheint, das letztere, dass Jesus diesen Anspruch gegenüber den Gläubigen erhebt, ist mindestens ebenso bedeutsam wie die Art und Weise, in der dieser Anspruch eingelöst oder bewährt werden könnte.

Vergessen wir auch nicht, wenngleich uns dies nicht allzu sehr umzutreiben braucht, dass es sich mindestens im vorliegenden Falle um eine Konzeption handelt, die einem Gemeindeideal Ausdruck gibt, welches aus den Kreisen des Johannesevangeliums stammt, weniger aber aus der mehrere Jahrzehnte älteren Glaubenswelt der urchristlichen Gemeinden.

Ich will Ihnen, um aus der Not eine Tugend zu machen, sagen, worin für mich die Bedeutung des „gut“ liegt. Gut ist Jesus in seiner Hirtenschaft deshalb, weil sich in ihm für Herz und Seele des Christen der Weg zu Gott öffnet. Er ist die Gestalt, durch die der Begriff Gott für uns Farbe, Temperatur, Profil gewinnt, die das große metaphysische Prinzip zu einem Gegenüber werden lässt, zu einem Teil unserer Daseinswirklichkeit, ohne sie doch in diese Wirklichkeit zu bannen. Als „Hirte“ stellt Jesus diese Konkretheit Gottes nicht etwa dar, geschweige denn, dass er selbst sie wäre, sondern er steht für sie ein, er garantiert – wohlgemerkt: für Herz und Seele des Glaubenden – ihre Wahrheit. Um es von einer anderen Seite her zu sagen: Als guter Hirte steht Jesus nicht für einen gewissen christlichen Lebensstil, nicht für das Verhältnis von Religion und Alltagsgestaltung, nicht als Idealtyp gelungener christlicher Existenz. Sondern hier geht es um das Entscheidende: Um die Größe, um das Substantielle des Glaubens, um das Verhältnis zu Gott. Der gute Hirte ist es, an den und durch den die Glaubenden erkennen können, was es bedeutet, sein Zutrauen auf Gott zu setzen, sein Leben in seine Hand zu geben oder auch das Geschenk seiner Freiheit anzunehmen.

III. Der gute Hirte

Warum nun aber überhaupt die Idee des Hirten? Ist denn wirklich alles gläubige Leben ein Exodus? Bedarf es solcher Gestalten wie Moses oder Jesus wirklich, um seinen Weg mit Gott gehen zu können? Wenn doch das Vertrauen auf Gott im Kern nichts anderes als realisierte Freiheit ist, worin liegt dann die Bedeutung dieses Schemas?

Nun könnten wir auch an dieser Stelle weiträumigen Überlegungen Platz geben. Aber das wollen wir natürlich nicht tun. Es genügt meiner Ansicht nach, wenn wir uns klar vor Augen stellen, dass Religion ihrer Natur nach immer auch etwas mit Selbstpreisgabe zu tun hat. Als Vertrauen auf Gott geht sie nicht von der Idee der allumfassenden Gestaltungskraft des Menschen aus. Wer hingegen in dieser Idee das Credo seiner Existenz zu finden meint, wer sich selbst als den letztlich unbeschränkt wirkenden Gestalter seines eigenen Daseins betrachtet, der findet in der Welt der Religion kein Zuhause. In wessen Gemüt hingegen Gott dauerhaft wohnt, für den gilt dies deshalb, weil er sein Leben aus dem Grunde heraus bereits mit Gott und auf Gott hin führt. Der gläubige Mensch lebt sein Leben vom Grund des Glaubens her. Der Grund des Glaubens aber ist die Gewissheit Gottes.

Auch hier wähle ich, wie im vorigen Abschnitt, den Behelfsweg, indem ich Ihnen meine persönliche Auffassung zur Frage nach der Notwendigkeit des Hirten vorstelle, anstatt mich an die uneinlösbare Aufgabe zu machen, das An-und-Für-Sich dieser religiösen Vorstellung zu erörtern.

Wenn Jesus als Träger der guten Hirtenschaft bezeichnet wird, dann ist damit eben nicht blinde Gefolgschaft gemeint. Für eine Bereitschaft zu fanatischer Selbstunterwerfung ist im Christentum kein Platz. Der christliche Glaube ist ein Glaube vernünftiger Menschen. Wer glaubt, der geht seinen eigenen Weg mit Gott. Und der gute Hirte ist es, der ihm dabei beisteht, ihn ermutigt, ihn gewiss zu Zeiten auch trägt, der ihn schützt und der ihm jedenfalls die Gewissheit der Nähe Gottes gibt.

Es ist nicht paradox, sondern konsequent, wenn von hier aus Sinn und Gehalt der Rede vom guten Hirten sich auf die Besonderheit und eigene Würde des jeweils einzelnen Glaubensweges richten. Die Gemeinschaft der Gläubigen besteht nicht aus vielen Gleichförmigen, sondern sie umfasst die Vielfalt des Geistes in einer unüberschaubaren Buntheit und Vielsprachigkeit. Der gute Hirte gibt dieser Vielfalt nicht nur Raum, sondern auch Recht; er lässt sich auf keine autoritäre Einhegung ein; er ist unabhängig und frei von irgendwelchen „Richtlinien“ des Glaubens. Und deshalb weist sein Wirken auch seinerseits ins Offene. Es ist unabgeschlossen bis ans Ende der Zeit; es steht für die Vitalität des Glaubens. In diesem Sinne ist in der Gestalt des „guten Hirten“ die Zukunft des christlichen Glaubens selbst geborgen.

Amen.

Literatur:
Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft. Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko (Internationaler Merve-Diskurs. Band 252), Berlin 2003.

Klaus Wengst: Das Johannesevangelium. Teilband 1: Kapitel 1 bis 10 (Zweite, durchgesehene und ergänzte Auflage), Stuttgart 2004.

 

Perikope
19.04.2015
10,11-16

Hirte – nicht Mietling - Predigt zu Johannes 10,11-16 von Henning Kiene

Hirte – nicht Mietling - Predigt zu Johannes 10,11-16 von Henning Kiene
10,11-6

Hirte – nicht Mietling 

Eine Frau erwacht in der Notaufnahme. Sie öffnet die Augen. Jemand ist im Raum. Ein junger Arzt verbindet gerade eine Wunde an ihrem Arm. „Wo bin ich?“, frag sie und dann „Was ist passiert? Wie komme ich hier her? ... Wo ist mein Fahrrad?“ Der Arzt spricht sie mit ihrem Namen an. Er erklärt ihr, was passiert sein könnte. Fahrradsturz, Krankenwagen, nicht harmlos, aber doch „nur eine Gehirnerschütterung“, mittelschwer. 48 Sunden solle sie hier bleiben, mindestens und sicherheitshalber. Er spricht sachlich, bleibt ruhig, stellt ihr einige Fragen, hört aufmerksam hin, sieht ihr immer wieder in die Augen. Das macht sie ruhiger und immer wenn er ihren Namen nennt, lässt ihre Anspannung spürbar nach.

Ein Mann erhält einen Anruf, „Anrufer anonym“ steht auf dem Display. „Anonym“, das ist selten. Er nimmt den Ruf an. Jemand meldet sich aus einem Krankenhaus. Er hört nur das Wichtigste, einen Namen…, seine Frau, ja. Die Rede ist von einem Sturz, einer Gehirnerschütterung, mittelschwer sei die und die Frau brauche einige wichtige Dinge. Er meldet sich bei seiner Kollegin ab, „geh los“, sagt die. Kaum 60 Minuten später meldet er sich auf der Notaufnahme. Der Arzt ist jünger, als er dachte. Der stellt sich vor, nennt seinen Namen, erklärt ihm und seiner Frau, was getan wurde. Diagnose: Gehirnerschütterung, nicht ganz leicht. Sie sieht verstört aus dem Krankenhausbett zu den beiden Männern auf. Dann lässt der Arzt die beiden alleine.

Wochen später sprechen die beiden von diesem Tag, sie von ihrem Sturz – niemand weiß, was wirklich passiert ist – und von diesem kritischen Moment, als sie zu Bewusstsein kam. „Da sagte jemand meinen Namen, das hat mich sehr beruhigt“, erinnert sie „und als man mir sagte, mein Mann käme, war ich nicht mehr so furchtbar aufgeregt.“ Er spricht von der klaren, ruhigen Stimme des Arztes. Mann und Frau sind sich einig: Da sind sie einem Profi begegnet, der weiß, wie man mit Menschen umgehen muss. „Das hätte auch schief gehen können“, sagen beide.

Dieser Arzt war kein „Mietling“, es war ein „Hirte“. Einer, der sich professionell, also fachlich und menschlich qualifiziert hat und der seine Sache kann, der sich Namen merkt, der weiß, wie man die großen Emotionen so lenkt, dass sie niemanden überfordern. Im richtigen Moment wusste er sich zurückzuziehen.

Hirten sind Profis. Sie wissen, was sie tun, kennen die Gefahren und wissen, wie man knifflige Momente meistert. Hirten arbeiten überall. Da war von einem Piloten die Rede, der kurz nach dem Unglück seine Fluggäste persönlich am Einstieg seines Airbusses persönlich. Alle Passagiere waren im dankbar. Da ist die Lehrerin, die vor ihre Klasse tritt. 20 Augenpaare sehen, was sie tut, 20 Ohren hören auf jedes Wort, das sie sagt. Sie weiß, sie trägt unendlich viel Verantwortung. Sie weicht dem Risiko nicht aus, gibt ihr Bestes. Da arbeitet die Redakteurin der Regionalzeitung, die weiß, ein falsch gewähltes Wort über die neue Asylantenunterkunft kann den Frieden des Ortes in Gefahr bringen. Sie wägt ihre Texte sorgfältig ab, will nur informieren. Es ist die Regel, dass Frauen und Männer ihr Leben nicht als Mietlinge bestreiten, sondern die Verantwortung, die sie tragen, kennen und genau wissen, sie zu tun haben.

II. Ich bin der Hirte

„Ich bin der gute Hirte“, höre ich Jesus. Ich sehe ihn vor mir. Viele Menschen haben von diesem Hirten gelernt. Das Wort Hirte gewinnt aus der Bibel seinen besonderen Klang. Ohne viel darüber nachzudenken, weckt die Bibel ein Bild für diese besondere Fürsorge, die der Hirte in seiner Arbeit walten lässt. Viele Menschen würden das, was sie tun, in andere Worte fassen, aber sie werden dennoch zu Hirtinnen und Hirten. Sie sorgen, helfen, unterstützen, handeln, hoffen, beten, sprechen, sind korrekt und menschlich zugewandt. Hirte sein, das ist absichtsfreie Zuwendung und birgt immer auch ein Risiko in sich. Hirte sein, das heißt: Eigene Ziele in den Hintergrund zu stellen und die, die einem anvertraut sind, sicher ans Ziel zu bringen.

So lesen sich die Evangelien: Jesus handelt für andere. Er inszeniert mit seinem Leben den Psalm 23 und setzt in Szene, was mit dem Satz „der Herr ist mein Hirte“ tatsächlich gemeint ist. Allein die Verben des Psalms weisen - auf dem Hintergrund der Texte dieses Sonntags gelesen - Jesus die Hauptrolle zu: Weiden, führen, erquicken, trösten, bereiten, salben, schenken, folgen, bleiben. Das sind neun Verben, die - spricht man sie in Folge aus - das Leben Jesu in konkrete Bilder umsetzen. Hirte sein wird zu einer Haltung, die Gott einnimmt.

Jesus ruft eine Welt ins Leben, die das stärkt, was das Leben erhält und fördert, es belebt und ihm Schutz verspricht. Weglaufen, wie ein Mietling, das gilt nicht. Hier wird getröstet, entängstigt, ermutigt, gestärkt, belebt. So wirkt Gott. Einige sagen jetzt: „Aber das wissen wir doch schon lange“, ja, so ist es. Aber ich behaupte – in Anlehnung an Martin Luther –: in dem Moment, in dem ich von dem Hirten höre, werde ich daran erinnert, dass das Christsein immer ein „Werden“ ist und nicht ein „Sein“. Mit dem christlichen Glauben besuchen wir alle eine Art lebenslangen Hütekurs, erwerben permanent Grundfertigkeiten des geistlichen Hirtenhandwerks.

III. Ausbildungsplätze für Hirtinnen und Hirten

Hirtinnen und Hirten, das werden nicht nur Romantiker, die sich nach einer Heidschnuckenherde in der Lüneburger Heide sehnen. Wer sich nach dem Berufsbild des Hirten oder der Hirtin umsieht, vielleicht diesen Beruf selber ergreifen möchte, trifft auf die Fachsprache der Agentur für Arbeit. Hirtinnen und Hirten heißen heute „Tierwirte/innnen der Fachrichtung Schäferei“. So ist der Beruf beschrieben: „Schafe (halten) für die Gewinnung von Fleisch, Milch und Wolle. Sie (die Hirten) versorgen und füttern Schafe, ziehen Jungtiere auf und pflegen kranke Tiere.“[1] Kurz: Sie übernehmen die Verantwortung für ihre Herde und die Hunde.

Die Schweizer Ausbildungsordnung beschreibt den Hirtinnen- und Hirtenberuf als Arbeit „zwischen Nutztier und Naturgewalt, - zwischen Bergwelt und Fleischproduktion - zwischen Besinnung und Bergsport, - zwischen Fachkenntnissen und Abenteuerlust.“[2] Ein Mietling hat hier keinen Platz, weil der Mietling entweder nur das Abenteuer sucht oder für sich selbst die nötige Sicherheit herbeisehnt. Hirtinnen und Hirten leben einerseits mit und in den Gefahren der Natur und wissen andererseits genau, wie sie für ihre Herde zu sorgen haben. Hier verbindet eine einzelne Person ihr Fachwissen und die erlernten Fähigkeiten mit dem nötigen Mut, den das Leben in Wind und Wetter, in der schroffen Bergewelt und in der ungeschützten Natur von ihr verlangt. Hirtinnen und Hirten brauchen Mut und sind zugleich Profis. „Es ist echte Knochenarbeit, aber ein wundervoller Job, wenn man gern bei Wind und Wetter draußen ist, Schafe mag und auch mit Hunden umgehen kann“, schreibt eine Schafhirtin. Vermutlich kennen das viele Menschen aus ihrem Berufsleben: Sie wissen, wie etwas zu machen ist, kennen die Routine und müssen dennoch mit viel Fingerspitzengefühl ihre Aufgaben immer auch neu angehen. So, wie der Arzt im Krankenhaus Ruhe ausstrahlte und ein Pilot vor sein Cockpit tritt und seine Fluggäste am Tag nach eine Katastrophe direkt anspricht, wie eine Lehrerin ihre Klasse kennt mit allen Stimmungen und doch weiß, es kommt auf jedes Wort an.

In dem Satz Jesu „Ich bin der gute Hirte“ schwingt mit: Hirtinnen und Hirten sind Könnerinnen und Könner in Sachen Fürsorge, Profis in ihrem Fach. Hirtinnen und Hirten verfügen über auseichenden Mut, sich auch in Momenten, die mit ungewöhnlichen Herausforderungen aufwarten, sicher zu bewegen. Sie leben und arbeiten zwischen diesen Extremen: Da ist das, was sie sicher beherrschen und das Unsichere, dem sie ebenso mutig, wie auch fachkundig begegnen.

IV. Zwischen Sicherheit und Risiko

In Christinnen und Christen sind solche Profis lebendig. Sie wissen, was ihnen geschenkt ist und das etwas von ihnen erwartet wird. Da ist diese Gnade Gottes, die sich im Leben wie eine wohltuende Ruhe ausbreitet, sie bringt das Gefühl mit sich, dass das Leben behütet ist und auch in rauen Zeiten bestehen kann. Da ist der Kummer der anderen, den man mittragen möchte und spürt, dass so etwas auch gelingen kann.

Es gibt eine Bewegung, die vom Mietling zur Hirtin und zum Hirten führt, die ist im christlichen Glauben fest verankert. Er erschafft keine Wegläuferinnen und Wegläufer, die ihre Beine unter den Arm nehmen, wenn es eng wird und schnell das Weite suchen, wenn es unbequem wird. Es ist die Risikobreitschaft, die sich der Gnade Gotte gewiss ist, die sich auf Gefahren einzustellen vermag. Es braucht Hirtinnen und Hirten, die nicht nur eine Nacht im Freien ertragen, sondern sich der Härte des Lebens in einem tieferen Sinn stellen. Die Frage nach dem Sinn des Ganzen, nach einem Ziel und der Richtung, in die es weiter geht, liegt für viele von uns in der Luft. Die Zeit der Hirten bricht an. Es braucht Frauen, Männer, Junge und Alte, die sich einfachen Lösungen, schnellen Parolen entziehen, die es aushalten auch ohne eilig gefundene Antwort zu leben. Es ist mehr als eine Nacht, die durch unwegsames Gelände führt. Der Hirtenberuf, den die Schweizer mit dem Wort „zwischen Nutztier und Naturgewalt“ beschreiben, beschreibt einen Aspekt des Glaubens. Es gibt eine Entsicherung der Gegenwart, an der wir mit tragen und die sich nicht in schnellen und einfachen Antworten ersticken lässt.

Hirtenarbeit ist Knochenarbeit, die sich für Leib und Seele stark macht. Diese Hirtinnen und Hirten sind zum Beispiel seit Wochen in Haltern am See auf den Beinen, andere helfen in den französischen Alpen, sie suchen Trost und lassen in der Katastrophe nicht einfach alles fallen und weichen nicht in irgendwelche Spekulationen aus. Ihr Dienst ist noch nicht zu Ende.

Das unterscheidet den Mietling vom Hirten: Der Mietling scheut die Knochenarbeit und weicht der Spannung aus, die mit dem Risiko verbunden ist. Wer Verantwortung übernimmt und signalisiert „Ich bin der Hirte“, zeigt, dass es jetzt kein Ausweichen mehr gibt. Solche Hirtinnen und Hirten gehen ins Risiko, tragen mit am Leben der anderen, weichen nicht aus, wenn es schwierig wird. Da sie Menschen sind, kennen sie auch Ihre Grenzen.

Solche Menschen gleichen dem Hirten aus der Bibel, der trägt alles Risiko, trägt an der Schwäche der Menschheit, erleidet den Zweifel des anderen Menschen als den eigenen Zweifel, und auch an der Erschütterung der anderen nimmt er teil. Der Hirte von dem das Evangelium spricht, erblickt sogar den Tod, durchleidet ihn. Dieser Hirte hütet über mein Leben, aber nicht nur äußerlich, wenn das Leben der Finsternis einer mondlosen Nacht ausgesetzt ist, er nimmt sich vor allem von innen heraus meiner Seele an. Das ist es, was mit dem Bild vom guten Hirten sichtbar wird: Ich weiß, dass da jemand ist, dessen Stimme meinen Namen nennt, dann wenn ich aufwache und nicht so genau weiß, wo ich bin.


[1] siehe: Tierwirt/in der Fachrichtung Schäferei, Quelle: BERUFENET http://arbeitsagentur.de — Stand: 01.12.2014 - http://berufenet.arbeitsagentur.de/berufe/docroot/r1/blobs/pdf/bkb/319…

[2]  AGRID, Schweizerische Schafhirtenausbildung, Lausanne 2008, S. 3 

 

Perikope
19.04.2015
10,11-6

Predigt zu Johannes 10,11-16(27-30) von Helmut Dopffel

Predigt zu Johannes 10,11-16(27-30) von Helmut Dopffel
10,11-30

11 Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. 12 Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht - und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie -, 13 denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. 14 Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, 15 wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. 16 Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.

27 Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; 28 und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. 29 Mein Vater, der mir sie gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen. 30 Ich und der Vater sind eins.

Liebe Gemeinde,

Nein, ich bin kein Schaf. Und nein, ich will auch keines sein. Aber einen Hirten hätte ich doch gerne, wenigstens manchmal. Eine oder einen, der oder die auf mich aufpasst, mich ermutigt, mir einen guten Rat gibt und sich auch mal in den Weg stellt: Nein! Davon lässt du die Finger! - Ein Hirte hütet, und ein guter Hirte hütet so, dass seine Schafe versorgt und beschützt sind, dass sie genug zu fressen und zu trinken finden, dass sie sich nicht verirren, verletzen oder gar ihr Leben in Gefahr bringen. Ein guter Hirte sorgt besonders für die müden, schwachen, kranken, verängstigten Schafe, schenkt ihnen Hilfe, Wärme und Unterstützung damit sie wieder auf die Beine kommen. Ein guter Hirte sorgt dafür, dass die starken und gesunden Tiere heiter und die kranken und schwachen sicher leben. Einen solchen Hirten brauche ich manchmal und hätte ich gerne.

Auch heute noch kann es einem in den ländlicheren Gebieten unseres Landes passieren – hier im Süden etwa auf der Schwäbischen Alb – dass eine Schafherde die Straße kreuzt. Und wenn der Hirte die Schafe gut hütet, dann ziehen sie geschlossen und zügig, sicher und eng am Hirten über die Straße. Er ruft, und sie folgen ihm. Es bleibt einem als Autofahrer gar nichts anderes übrig, als zu warten. Da kommt man nicht durch. Da zeigt sich, was echte Autorität ist. Die Schafe folgen ja nicht, weil der Hirte beansprucht, ihr Hirte zu sein, oder weil er ein Amt hat, oder weil er sie zwingt. Sie folgen ihm, weil sie ihn kennen und wissen, dass es für sie gut ist, wenn sie ihm folgen. Für die Schafe ist der Hirte der Himmel. Unschlagbar. Der Hirte hat Autorität, weil die Schafe sie ihm geben und ihn als Hirten anerkennen, weil er ihr Hirte ist. Sie wissen: der Hirte ist da, und dann ist alles gut. Denn du bist bei mir.

Wer hütet uns?

Ich behaupte, dass wir alle einen oder eine brauchen, die oder der uns hütet. Und das sind nicht wir selbst. Und das Wunderbare ist, dass wir alle solche Hüter haben. Kinder haben ihre Eltern. Ist das nicht das elementarste und wichtigste aller Gefühle: Meine Eltern behüten mich. Sie sind für mich da, wenn ich sie brauche. Bei ihnen bin ich geborgen. Natürlich ist das nicht alles, natürlich braucht es auch das andere, die Freiheit, die eigenen Wege zu finden und zu gehen und auszuprobieren und sich zu irren und so zu wachsen. Kinder, so sagt es ein Sprichwort, brauchen Wurzeln und Flügel. Aber die Wurzeln sind zuerst da. Nur aus der Geborgenheit heraus wachsen der Mut und die Kraft, die Welt zu erobern. Nur wer zuhause ist kann in die Fremde gehen. Kinder brauchen Hüter, Behüter. Schutzengel sagt man heute, wenn man es spirituell mag.

Und das hört nicht auf, wenn wir erwachsen werden. Die Gewichte mögen sich verschieben. Aber Menschen, die uns hüten und behüten, und manchmal auch leiten und orientieren, brauchen wir unser ganzes Leben lang. „Pass gut auf dich auf“ sagen wir manchmal, aber ich halte das für einen ziemlich blöden Spruch. Aufpassen kann ja doch nur jemand anders auf mich. Und Gott sei Dank ist die Welt voller Schutzengel. Denn die Welt kann auch heute ein gefährlicher Ort sein. Manchmal fühle ich mich auch als Erwachsener wie ein verlorenes Schaf. Manchmal will ich mich nur anlehnen, klein und beschützt sein, wie ein Kind. Meint Jesus das, wenn er uns ermutigt, so zu sein wie die Kinder? Und dann ist da die Kollegin, die ins Zimmer kommt und irgendwie spürt, dass da eine Wolke der Traurigkeit hängt, und die die Gabe der richtigen Worte hat, die den Zugang zu einer verletzten Seele finden. Da ist der Mitarbeiter, der dem Chef sagt: ich würde das nicht tun. Da ist das Kind, das einem so bezaubernd zulächelt, dass sich meine innere Welt verwandelt. Da ist der ehrliche Finder, der die vollgepackte Brieftasche im Fundbüro abliefert. Da ist der Staat oder die Organisation, die good governance praktiziert und ihre Fürsorge- und Schutzpflichten erfüllt. Da ist die Nachbarin, die sich um die alte Frau kümmert, denn „ich kann sie doch nicht allein lassen.“ Eigentlich eine merkwürdige und nicht hinreichende Begründung, natürlich kann man sie allein lassen, unbehütet, unversorgt. Kann man?

Ziemlich am Anfang der Bibel wird eine ganz fundamentale Frage gestellt: Soll ich meines Bruders Hüter sein? Und die Antwort, liebe Gemeinde, kann doch nur heißen: Ja. Ja, Ja, und nochmals Ja. Wie soll denn diese Welt funktionieren wenn wir nicht Hüterinnen und Hirten füreinander sind? Dazu sind wir geboren, dazu sind wir da. Das Leben besteht aus asymmetrischen Situationen, aus Geben und Nehmen, und nur wenn wir beides sind, sein wollen und sein können, Menschen die geben und Menschen die nehmen, also Hirten und Hüterinnen und dann wieder – Schafe – nur dann ist das Leben gut. Und wenn wir aufhören damit, wenn wir sagen: Von dem nehme ich nichts an – oder: die ist mir egal – oder gar: Ich brauche nichts, und ich gebe nichts – das ist der Anfang vom Ende.

Es ist meines Erachtens durchaus so, dass es Menschen gibt, die mehr Hirten und Hüter sind als andere, die mehr Einfluss haben, mehr bewirken können. Ich meine hier nicht die, die die Führungspositionen besetzen und Entscheidungen treffen. Ich meine die, die Menschen prägen und beeinflussen, weil sie andere überzeugen, weil ihnen Autorität eingeräumt und gegeben wird, weil Menschen sie kennen. Solche Menschen gibt es. Solche Menschen haben Macht. Natürlich lässt solcher Einfluss, lässt sich die Autorität der Hirten auch missbrauchen, wie alles Gute im Leben. Beispiele gibt es genug. Deshalb gelten für Hüterinnen und Hirten ganz besonders strenge Regeln. Und vor allem müssen sie wissen: die Schafe gehören nicht mir, sondern einem anderen.

Aber wer hütet die Hüter?

Wir menschlichen Hirten und Hüterinnen kommen zum einen an unsere Grenzen, und oft ziemlich schnell. Die Tür zur Seele des anderen bleibt trotz allem Werben verschlossen. Die Versuchung, die eigene Macht zu missbrauchen, wächst. Die Kraft schwindet. Den fundamentalen Bedürfnissen der Menschen können wir nicht abhelfen. Oder nur für kurze Zeit, hie und da, einmal oder zweimal, und das ist dann eben doch eher keinmal oder höchstens der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. So zu helfen, wie es der Psalm 23 beschreibt, dass Menschen nichts mangelt, und das nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft, und sie zuhause sind immerdar – das kann keiner von uns. Deshalb heißt es: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Und Jesus sagt: Ich bin der gute Hirte.

Hinter den vielen menschlichen Hütern und Hirten dieser Welt, und neben ihnen, und manchmal auch gegen sie steht also der eine gute Hirte, dem wir uns anvertrauen, und bei dem wir geborgen sind.

Dieser gute Hirte beherrscht die Kunst des Beschützens. Es sind ganz nahe, ganz intime Worte, mit denen sein Verhältnis zu den Schafen, zu denen, die ihm anvertraut sind, beschrieben wird: Sie liegen ihm am Herzen, er kümmert sich um sie, sie gehören ihm, er lässt sie nicht im Stich, nicht in der größten Gefahr, niemals, er gibt sogar sein Leben für sie. Und umgekehrt: sie hören seine Stimme und folgen ihm. Sie kennen ihn, und er kennt sie. Sie sind vertraut miteinander. Wenn wir zu jemandem sagen: Du kennst mich besser als jede andere, dann ist das eine Liebeserklärung. Und wenn ich ihre Stimme auf der Straße sofort erkenne, und ihren Gang unter hunderten auf dem Bahnsteig, dann kenne ich einen Menschen.

So ist es zwischen dem guten Hirten und seinen Schafen, zwischen Jesus und seinen Jüngern, zwischen Gott und uns Menschen: Wir folgen ihm nicht, weil er es beansprucht, oder andere für ihn diesen Anspruch erheben; wir folgen ihm nicht, weil er ein Recht darauf hat, und schon gar nicht, weil er Zwang ausübt. Sondern wir folgen ihm, weil wir ihn kennen, seine Stimme kennen, ihm vertrauen und wissen: Das ist gut für mich.

Dieses Vertrauen ist Glauben, und Glauben ist nichts anderes und nichts weiteres, kein Für-wahr-halten, kein Vermuten, aber auch nicht das Wissen, das sich in fünf Sätzen sagen lässt. Glauben ist dieses Vertrauen, weil wir ihn kennen und weil er uns kennt.. Glauben ist ein Du und ein Du.

Und hier kommt plötzlich eine Schärfe in das Bild. Ich bin es – und nicht ein anderer. Dieses Vertrauen, dieses ganze und volle Vertrauen, das verdient kein Mensch, kein Staat, kein Programm, das verdient nur ER.

Aber mit diesem Vertrauen verknüpfen sich nun Erwartungen. Sie sind menschheitsalt und finden sich in allen Religionen: Antwort auf alle Fragen, Schutz vor allen Gefahren, Heilung von aller Krankheit, das Ende alles Bösen. Der gute Hirte: muss er nicht nun uns und andere, besonders die die wir lieben, wirklich behüten vor allem Schaden und Gefahr. Und wenn das nicht geschieht – und das ist ja so weltweit – taucht unweigerlich die Frage auf: Warum hilft er nicht? Warum lässt er das zu? Warum rettet er nicht? Wo ist der Hüter dieser Welt?

Der gute Hirte, von dem Jesus erzählt, auch er verspricht viel. Aber diese Zusagen decken sich nur zum geringen Teil mit den menschheitsalten und gegenwärtigen Erwartungen an den Hüter dieser Welt. Es sind vor allem zwei Zusagen: Die eine: Er ist da. Er bleibt da. Er flieht nicht. Er lässt uns nicht im Stich, er lässt uns nicht allein. Er ist da, auch wenn wir nichts davon spüren. Wenn die Wölfe einbrechen in unser Leben, dann brauchen wir doch genau dies: Einen der stand hält mit uns, der uns birgt, der uns hütet und die Gewissheit gibt: Hier kann mir nichts geschehen. Ich bin selbst im tiefsten Unglück noch von guten Mächten umgeben. Er gibt sogar sein Leben für die Schafe. Ein „normaler“ Hirte lebt von seinen Schafen. Er schlachtet sie irgendwann. In den alten Zeiten hat er es zum Opferaltar getragen. Aber der gute Hirte ist anders. Er gibt sich selbst. Er lässt sein Leben. Er bleibt bei uns auch im Tod. Das Vertrauen hält selbst im Sterben. Und Vertrauen ist doch der Grund allen Lebens. Ohne Vertrauen müssten wir in Depression oder Zynismus versinken. Woher weiß ein Kind, dass es den Eltern – oder einem anderen Menschen – vertrauen kann? Woher wissen wir es? Woher wissen wir, dass das auch in Zukunft trägt?

Ich kenne dich. Ich kenne deine Stimme, ich kann es in deinen Augen lesen.

Und die zweite Zusage: Er trägt das Schaf nach Hause. Er gibt ewiges Leben. Nie und nimmer werden die Schafe umkommen. Nichts und niemand kann sie rauben. Weder Tod noch Leben, weder die Macht von Menschen noch die der Natur, weder Hohes noch Tiefes, weder Vergangenheit noch Zukunft – heißt es anderswo in der Bibel (Römer 8, 38f.). Am Ende sammelt er alle ein, auch die anderen, von denen wir es nicht glauben können, von denen wir nicht einmal etwas ahnen. Am Ende schenkt er das ewige, das wahre Leben. Viel schöner als jeder Karibikstrand, jedes Fußballspiel, jedes Gourmet-Essen, jedes Selfie, jede Sternennacht. Am Ende ist alles selbstverständlich, das Vertrauen, die Stimme, das Kennen, das Lieben. Am Ende sind wir zuhause.

Amen

Perikope
19.04.2015
10,11-30

Predigt zu Johannes 20,19-20.24-29(30-31) von Claudia Bruweleit

Predigt zu Johannes 20,19-20.24-29(30-31) von Claudia Bruweleit
12,19-31

19 Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch!

20 Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen.

24 Thomas aber, der Zwilling genannt wird, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam.

25 Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich's nicht glauben.

26 Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch!

27 Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!

28 Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott!

29 Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!

(30 Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch.

31 Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.)

Liebe Gemeinde!

1. Thomas der Zweifler gehört zu den Jüngerinnen und Jüngern

Thomas ist einer, für den nicht alles klar ist. Thomas hat seine Zweifel. Er kann anfangs nicht glauben, was die anderen Jünger ihm erzählen. Dass Jesus zu ihnen gekommen ist, zum Beispiel. Dass er durch die verschlossenen Türen kam. Thomas ist nicht begeistert wie sie. Er behält seine Zweifel – und fühlt sich außen vor. Er braucht länger als die anderen, um seinen Schrecken vor dem Kreuzestod Jesu zu überwinden. Doch er gehört zu ihnen. Er ist mit ihnen in einem Raum. Jesus wendet sich direkt ihm zu. Jesus nimmt ihn mit seinem Zweifel und mit seiner Abwehr ernst. Und Thomas beginnt zu verstehen, dass der Auferstandene zugleich Jesus ist, der Gekreuzigte. „Mein Herr und mein Gott“ sagt er schließlich ergriffen und kann seinen Zweifel endlich über Bord werfen. So beginnt für ihn das neue Leben im Glauben.

2. Thomas steht für eine wichtige Gruppe innerhalb der Jüngerschaft und außerhalb der Kirche

Thomas steht für eine wichtige Gruppe innerhalb der Jüngerschaft und außerhalb der Kirche. Denn so wie ihm geht es vielen. Darum hat er wohl auch seinen Platz in den Ostergeschichten der Bibel erhalten. Jüngerschaft wird in diesem Kapitel aus verschiedenen Blickwinkeln dargestellt[1] Thomas steht für einen besonderen Typ Jünger. Für den, der sich nicht schnell einer Meinung anschließt, für den, der sorgfältig abwägt, was es für ihn bedeutet.

Heute würden wir vielleicht sagen: er steht der Kirche nahe, ist aber religiös wenig gebundenen. Dennoch fragt er nach. Er fragt, wie das sein kann: Christus, der Gekreuzigte, lebt. Er, der als Mensch ihnen nahe war, hat den Tod überwunden und lebt. Thomas kann diese neue Wahrheit nicht fassen. Sie passt nicht in die Vorstellungen, die er vom Leben hat. Gleichwohl sehnt er sich danach, eine Antwort zu finden. Die Frage nach dem Tod Jesus berührt auch seine Lebensfrage. Auch er  ist verletzlich, auch er weiß, dass er sterben wird. Die Wunden Jesu kann er sich vorstellen – schmerzhaft wie seine eigenen Verletzungen. Doch Christus, der wie ein Gott verschlossene Türen durchschreitet und von Frieden spricht – das kann nicht derselbe sein, dessen Hände am Kreuz von den Nägeln durchbohrt worden sind und dem ein Soldat mit dem Speer die Seite aufgeschnitten hat, um ihn ganz sicher zu töten.

Ich denke: Thomas wird mit sich gerungen haben. Zu gern hätte er sich den anderen Jüngern angeschlossen. Zu gern hätte er wie sie Jesus vertraut und sich in ihrer Gemeinschaft geborgen gefühlt. Aber die Zweifel sind stärker als seine Sehnsucht.

3) Berechtigte Zweifel ist Schutz vor falschen Versprechen

Zweifel schützen einen Menschen davor, allzu leichtgläubig sich falschen Versprechungen hinzugeben. Ihren Zweifel an den Werten, die uns über die Filme und Bilder der digitalen Welt vorgespielt werden, meldete eine Journalistin so an: Unter dem Titel „Narben der Wahrheit“ schrieb Susan Vahabzadeh am 2.4.15 [2] über die igitale Nachbearbeitung von Filmen. Sie stellen die Akteure übernatürlich makellos dar. Brad Pitt erscheint im Film Troja als durchtrainierter junger Held Achilles. – Der Sixpack-Effekt wurde durch die Nachbearbeitung der Szenen am Computer derart gesteigert, dass der Schauspieler  unverwundbar erscheint. Immer öfter spiegeln damit die Filmemacher den Zuschauern auf diese Weise falsche Tatsachen vor und lassen die Schauspieler unerreichbar und fast übermenschlich erscheinen. Die Autorin stellt dagegen Aktfotos, die der Fotograf Bert Stern 1962 von Marilyn Monroe aufgenommen hat in einem Hotel in Beverly Hills. Auf Monroes Bauch ist eine Narbe zu erkennen, die sie von einer Gallenoperation davongetragen hat. Sie habe sich dafür zunächst geschämt, berichtete der Fotograf. Er hat sie nicht wegretouchiert, die Narbe. Sie gehört zu dieser Frau, die von vielen vergöttert wurde, und diese Bilder gehören zu den schönsten Fotos der Monroe. Zart und verletzlich wirkt sie darauf und fast überirdisch schön – jedoch ohne Zweifel anziehend.

4) Der Zweifel führt Thomas zu einer tieferen  Begegnung mit Christus

Thomas hört die Botschaft der Jünger: „Wir haben den Herrn gesehen.“ Doch er lässt sich nicht mitreißen. Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich's nicht glauben, sagt er.

Er hat Jesus nicht gehört, nicht gesehen, nicht gespürt. Die Botschaft ist nicht vertrauenswürdig für ihn. Er zweifelt an dem, was er nur hört. Er sucht ein handfestes Zeichen für das Neue, das Unbegreifliche, für die Auferstehung. Er sehnt sich nach Sicherheit, nach einem Beweis. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass Thomas tatsächlich mit seinem Finger die Wunden des Auferstandenen berührt habe. Die Bibel lässt offen, ob er so weit gehen musste, um zu begreifen. Jesus spricht ihn an, und es erscheint als das Natürlichste von der Welt, dass Thomas ihn berühren darf, dass er seine Wunden begreifen kann. Es ist ein sehr dichter Augenblick. Thomas braucht sich nicht zu schämen, dass er nicht tiefer geglaubt hat. Er darf so sein, wie er ist.

Dieser Moment stellt Vertrauen her. Thomas erkennt in dem Auferstandenen den Lehrer, den Vertrauten, den, der Mensch ist wie er, verletzlich wie er, sterblich wie er, ja, der gestorben ist, so, wie er sterben wird – und dennoch ist Jesus lebendig. Und dennoch  ist er voller Lebenskraft, die auf ihn, Thomas, übergeht. Er fasst Vertrauen. Er begreift, hier geht es um ihn und um sein Leben. Auch sein Leben steht unter der Hoffnung des Ostermorgens. Sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Sagt Jesus zu ihm. Es beginnt in diesem Moment eine andere Stufe seines Glaubens, seines Vertrauens. Er antwortet: „Mein Herr und mein Gott!“ Das ist ein Bekenntnis zu Christus, das die ersten christlichen Gemeinden prägen wird. Ausgesprochen von einem, der eben noch fremd war in ihrer Mitte, nun aber im Herzen des Geschehens angekommen sit. Ohne seinen Zweifel wäre er nicht so weit gekommen. Ohne seinen Zweifel hätte er nicht diese wichtige Botschaft des Ostermorgens erfahren: Jesus Christus, der Auferstandene, ist der Gekreuzigte. In dem Menschen, der uns ganz nah ist, begegnet uns Gottes Liebe. Und sie hat Kraft, uns und unser Leben zu verändern.

6) Wir als Gemeinde können uns freuen über Zweifler, die uns an ihrem Weg teilhaben lassen

Wir als österliche Gemeinde bleiben diesem Christus auf der Spur – dem, der seine Verletzlichkeit aushält um unseretwillen. Dem, der von Gott die Kraft bekommt, zu leben, wo uns alles verloren scheint. Dem, der uns dazu hilft, dass auch  wir unsere Narben und unsere Verletzungen tragen können. Weil Gott die Kraft dazu gibt. Thomas, da bin ich sicher, ist einer, der auch seine Wunden und seine Narben in sich trägt. Sein Zweifel hat ihm den Weg gezeigt, den er brauchte, um einen zu finden, der ihm Kraft gibt, mit ihnen zu leben.

Zweifler, liebe Gemeinde, gibt es viele auch in unserer Nähe. Menschen, die sich kaum in unsere Kirchen trauen, weil vieles ihnen fremd ist und weil darin manchmal zu unantastbar, zu überzeugt von Gott gesprochen wird.

In Thomas haben sie einen Seelenverwandten. Falls sie es wagen, mit ihren Zweifeln und unbequemen Fragen zu uns zu kommen und über unseren Glauben zu sprechen, sollten wir uns freuen und aufmerksam sein und uns auf ihre Wege einlassen- es könnte sein, dass sie uns mitnehmen zu einem Punkt, an dem auch wir uns und Christus besser begreifen.

[1] Til Elbe-Seiffart, Zweifle mutig! In Gött.Pred.Meditationen 63, 236-241, 237

[2] Süddeutsche Zeitung, Kultur/ Zeitgeist, siehe auch: http://www.sueddeutsche.de/kultur/zeitgeist-narben-der-wahrheit-1.2419979?reduced=true, zuletzt besucht 7.4.2015 16.00 Uhr

 

Perikope
12.04.2015
12,19-31

Zweifelnder Glaube - Predigt zu Johannes 20,19-31 von Isolde Karle

Zweifelnder Glaube - Predigt zu Johannes 20,19-31 von Isolde Karle
20,19-31

Zweifelnder Glaube

Liebe Gemeinde,

als Predigttext für den heutigen Gottesdienst lese ich Johannes 20, 19-21 und 24-31:

Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen. [...]

Thomas aber, der Zwilling genannt wird, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich‘s nicht glauben.

Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch! Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!

Liebe Gemeinde,

Christus erscheint nach der Katastrophe des Karfreitag seinen Jüngern. Es bleibt nicht dunkel, die Ermordung Jesu hat nicht das letzte Wort. Christus zeigt sich seinen Jüngern, er bleibt nicht im Tod. Und doch ist Ostern nicht einfach das Happy-End einer furchtbaren Geschichte. Die Risse, die Spuren des Schmerzes, der Wunden, sie bleiben. Der Zweifel auch.

Die Geschichte mit dem ungläubigen Thomas, wie sie traditionell genannt wird, hat mich schon immer fasziniert. Sie ist so realistisch und bodenständig. Sie vertreibt die Dunkelheit des Karfreitag nicht einfach mit der Helligkeit des Ostermorgens. Sie ist nüchtern und gibt mit der Figur des Thomas der Skepsis und dem Zweifel Raum. Denn nicht immer kann man an die Auferstehung glauben. Nicht immer hat man den Mut zum Sein. Ein Geschehen wie der Flugzeugabsturz in Südfrankreich vor nun genau zwei Wochen kann unser Vertrauen in das Leben grundlegend erschüttern. 150 Menschen starben einen völlig sinnlosen Tod. Und dies nicht aufgrund eines technischen Defekts oder menschlichem Versagen, sondern weil ein junger Copilot das gezielt so wollte und die Katastrophe absichtsvoll herbeiführte. Und das ist nicht die einzige Katastrophe, mit der uns die Medien in diesen Tagen konfrontieren. Das Massaker an der Universität Garissa in Kenia vor wenigen Tagen macht in ähnlicher Weise fassungslos. Etwa 150 christliche Studenten fallen ihm zum Opfer.

Christlicher Glaube ist ein Glaube, zu dem der Zweifel gehört. Der Zweifel ist nicht das Gegenteil des Glaubens, er ist vielmehr Element des Glaubens. Das sehen wir an unsrer Geschichte. Die Zweifel des Thomas werden nicht „gelöscht“. Der peinlicher Unglaube des Thomas fällt nicht der Endredaktion des Evangelisten zum Opfer. Nein, Johannes weiß um die Doppelbödigkeit der Welt, um die dünne Schicht aus Eis, auf der wir gehen, die leicht brechen kann.

Als Jesus den Jüngern erscheint, ist Thomas zunächst nicht dabei. Die Jünger sind voll Trauer, Wut und Resignation. Sie haben alles verloren, worauf sie sich verlassen haben. Ihr Vertrauen ist zerstört: Sind sie doch einem Irrlehrer aufgesessen? Ihr Leben ist zerstört: Haben sie ihre Arbeit und ihre Familien umsonst verlassen? Ihr Ansehen ist zerstört: Gelten sie als Jünger Jesu nun nicht auch als Gotteslästerer? Sie sind Menschen ohne Hoffnung und Perspektive, ohne Vertrauen und Ziel. Sie verschanzen sich hinter verschlossenen Türen und ziehen sich deprimiert von der Welt zurück. Vielleicht kennt der eine oder die andere unter uns das auch: Wir graben uns ein und wollen mit der Welt draußen nichts mehr zu tun haben. Weil wir am Ende sind, weil wir frustriert sind, weil wir Angst haben, weil wir nichts Gutes mehr erwarten.

Da tritt Jesus mitten unter die Jüngerschar und grüßt sie mit dem Friedensgruß: „Friede sei mit euch!“ Jesus kommt seinen Jüngern entgegen. Er macht ihnen keine Vorwürfe, weil sie ihn verlassen und verleugnet haben. Er hält ihnen ihre Furcht, ihre Treulosigkeit und ihren Unglauben nicht vor. Er überwindet vielmehr ihre Verschlossenheit, er nimmt sie an in ihren Ängsten und ihrer Verzweiflung und schenkt ihnen seinen Schalom: „Friede seit mit euch!“ Mitten in der Friedlosigkeit bringt Christus den Jüngern seinen Frieden.

Doch Thomas fehlt bei der Erscheinung des Auferstandenen. Die Freunde berichten ihm davon, aber Thomas will nicht einfach glauben, weil andere glauben. Er will selbst sehen, sich selbst überzeugen. Sein Glaube soll sein eigener Glaube sein, nicht ein Glaube, der auf dem Glauben anderer beruht. Er will keinen geliehenen Glauben haben, er will sich selbst ein Bild machen. Aber auch auf Thomas geht Jesus zu. Er weiß um seine Zweifel, um seine Skepsis. Er bietet ihm an, seine Wundmale zu berühren. Jesus würdigt damit sein Ringen, seinen Widerstand, seine Bedenken, auch seine Sehnsucht, glauben zu wollen und es doch nicht zu können.

Es gibt Erfahrungen, die den Glauben in Frage stellen. Der Flugzeugabsturz in den französischen Alpen gehört dazu. Die Gewissheit eines Dietrich Bonhoeffer, der sich auch in den finstersten Zeiten von guten Mächten treu und still umgeben wusste, behütet und getröstet wunderbar, sie kann einem dabei abhanden kommen. Wie sollten sich die Jugendlichen aus Haltern und alle anderen an Bord bei dieser entsetzlichen Tragödie noch in Gottes guten Händen wissen? Wie die Eltern und Angehörigen? War hier noch Gott der Herr über Leben und Tod oder nicht vielmehr ein kranker Mensch, der durch seine letzte Wahnsinnstat zu zweifelhafter Berühmtheit zu gelangen suchte? Wie Jesus am Kreuz konnten sich die Opfer dieses furchtbaren Fluges und können sich ihre Angehörigen nur von Gott verlassen fühlen, nur verzweifelt nach dem Warum fragen.

An Ostern wird das Warum Jesu und der Schmerz der Leidenden nicht vergessen, nicht übermalt oder übertüncht. Das zeigt uns die Geschichte des Thomas. Und das ist so stark an ihr – und am österlichen Glauben. Der Auferstandene ist als Gekreuzigter präsent. Er nimmt als Gottessohn die Leiden und Zweifel auf dieser Erde ganz und gar ernst.

Thomas ist deshalb nicht nur als schwacher Jünger zu tolerieren, sondern ein ganz wichtiger Vertreter der Jüngerschar. Er erinnert uns an die Tugend der Skepsis. Nur mit ihr lässt sich das Dunkle wahrnehmen, die Verblendung aufdecken, schöner Schein entlarven und das Gewissen schärfen. Nur so kann sich der Glaube dauerhaft festigen. Glaube und Zweifel sind keine Antipoden, sondern Geschwister.

Jesus kommt nach der Auferstehung nicht zurück in sein altes Leben. Es ist nach Ostern nicht alles wieder wie früher. Der Schrecken des Todes bleibt Schrecken. Die Sinnlosigkeit des Sterbens Jesu bleibt ein Skandal. Die Mörder bleiben Mörder, es wird nichts ermäßigt, der Schmerz bleibt. Der Auferstandene erscheint den Jüngern deshalb nicht unversehrt. Er zeigt den Jüngern seine Wundmale. Thomas fordert er explizit dazu auf, sie zu berühren. Die Spuren des Karfreitag sind noch sichtbar und spürbar. Der Auferstandene ist mit den Jüngern zutiefst verbunden in all dem Schweren, das sie erlebt haben und erleben. Die Realität des Grauens wird nicht geleugnet. Sie ist da, aber sie schnürt die Jünger nicht mehr vom Leben ab. Ostern führt über den Schmerz hinaus. Ostern lässt hoffen, dass nicht die Sinnlosigkeit, nicht der Abgrund, nicht die Dunkelheit das letzte Wort haben, sondern der Glaube, die Liebe und die Hoffnung.

Schon wenige Tage nach dem Flugzeugunglück wird von diesem österlichen Glauben etwas spürbar. Da berichten überlebende Angehörige, wie sehr sie die Zuwendung der französischen Bevölkerung in Seynes-les-Alpes berührt, wie sehr es sie tröstet, dass französische Helfer sie stumm in den Arm nehmen und mit ihnen mitleiden, wie es ihnen hilft zu sehen, wie unermüdlich sich die Polizei und die Bergungsarbeiter einsetzen, um die Toten und ihre Habseligkeiten zu bergen. Sie erfahren in der mitfühlenden Solidarität und konkreten Hilfe anderer Menschen etwas von Ostern. Wir alle hoffen und beten, dass auch die Eltern und Freunde der getöteten Schülerinnen und Schüler aus dem benachbarten Haltern etwas von dieser österlichen Liebe und Hoffnung spüren. Dass sie – wenn auch unter Tränen – Ostern feiern können und damit den Sieg des Lebens über den Tod, den Sieg des Lichts über die Dunkelheit und der Liebe über den Hass.

Paul Tillich sagt, Gott ist uns stets unendlich nahe und unendlich fern. Nur wenn wir beides erfahren, wissen wir wirklich um ihn. Der Auferstandene lässt die Jünger die Nähe Gottes im Moment größter Gottferne erfahren. Er vergewissert sie seiner Gegenwart im Moment größter Ungewissheit. Er überwindet ihre verschlossenen Türen, er weitet ihre verengte Welt.

Wenn das geschieht, wird es Ostern, auch bei uns. Dann kehrt der Mut zum Leben zurück, dann bleibt das Sinnlose nicht sinnlos. Denn Gott liebt seine Geschöpfe und hält zu ihnen, im Leben und auch im Tod. Er eröffnet neue Perspektiven und schenkt uns seinen Frieden. Friede sei mit Euch!

 

Perikope
12.04.2015
20,19-31

Argumente für den guten Hirten - Predigt zu Johannes 10,11-16.27-30 von Christian Bogislav Burandt

Argumente für den guten Hirten - Predigt zu Johannes 10,11-16.27-30 von Christian Bogislav Burandt
10,11-30

Argumente für den guten Hirten

Liebe Gemeinde!

Das Bild einer Schafherde taucht vor unserem Auge auf, passend zur Jahreszeit. Große Schafe und kleine Lämmer bewegen sich zu einem neuen Weidegrund. Der Hirte gibt die Richtung an, damit die Herde nicht kopflos durch die Gegend irrt und womöglich zu Schaden kommt. Ein Hund läuft umher und sorgt dafür, dass der Wille des Schäfers umgesetzt wird. Der Hirte steht mit seinem langen Stab an der Stelle, wo es brenzlig werden könnte. Auch auf Wölfe muss ja in Niedersachsen wieder geachtet werden! Auf dem Arm trägt der Hirte ein kleines Lämmchen, das sich verletzt hat.

Das Bild vom guten Hirten, liebe Gemeinde, hat sich uns tief eingeprägt. In die Schichten unseres Bewusstseins genauso wie in unser Unterbewusstsein. Auch Menschen, die noch nie eine echte Schafherde samt Schäfer gesehen haben, lassen sich von diesem Bild ansprechen. Es ist schon so: Uralte Menschheitserfahrungen verdichten sich in dem Bild von dem guten Hirten; so dass es seine Leuchtkraft auch im Zeitalter von Navigationsgeräten, Tablet-Computer und Smartphone nicht ohne weiteres verliert. Denn das Bild vom guten Hirten nimmt unsere Sehnsucht nach Geborgenheit ebenso wie unseren Wunsch nach jemandem, der uns auf den richtigen Weg schickt, der mitgeht und uns auf dem eingeschlagenen Weg auch beschützt.

„Ich bin der gute Hirte!“, spricht Jesus Christus. Damit beansprucht Christus das Hirte-Sein für sich. Persönliche Nähe vermittelt er: Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, sagt er. Das bedeutet Geborgenheit; aber Jesus Christus weist auch hin auf den richtigen Weg, der zum Leben, zum ewigen Leben führt. Meine Schafe hören meine Stimme... und ich kenne sie, und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben.

Ein größerer Anspruch ist kaum denkbar. Wer die Rede Jesu ernst nimmt und annimmt, für den kann es nur und ausschließlich Jesus Christus als guten Hirten geben. - Das lateinische Wort für Hirte ist Pastor. Aber im Gegenüber zu Jesus Christus sind alle Pastoren, auch die, die sich anstrengen, nur als Mietlinge anzusehen... –

Freilich, es tauchen Bedenken auf: Darf überhaupt jemand einen solchen hohen Anspruch erheben? Trotz aller Leuchtkraft gibt es in der Moderne am Hirtenbild scharfe Kritik. Ja, man versuchte durchaus, sich des Hirtenbildes selber zu entledigen! Zu kindlich, darauf angelegt, Führer-Gestalten zu verherrlichen und zu autoritär lautet die Kritik.

Zu kindlich. Sollen wir uns als unmündige blöde Schafe betrachten? Kindische Abhängigkeit macht krank. Siegmund Freud hält in seinem berühmt gewordenen Satz fest: „Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben, er muss endlich hinaus ins ‚feindliche Leben’.“

Darauf angelegt, Führer-Gestalten zu verherrlichen, so lautet der zweite Einwand. Nach den grauenhaften Erfahrungen mit an die Macht gekommenen Führer-Gestalten im letzten Jahrhundert, da fragt vielleicht der eine oder die andere, ob nicht das Modell vom Hirten auf den Abfallhaufen der Geschichte gehört. So wie es vor kurzem einer ganzen Reihe arabischer Machthaber gegangen ist.

„Zu autoritär“, lautet der dritte Einwand. Wo bleiben bei dem Bild der Schafherde mit dem Hirten Demokratie und Mitbestimmung? Kritische Geister fragen, ob nicht die verhängnisvolle Struktur von Befehl und Gehorsam mit dem Hirtenbild einfach mitgeliefert wird!

Nun. Den Gegnern des Hirtenbildes kann man zunächst rein äußerlich mit deren eigenen Argumenten begegnen: Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben, das ist richtig. Aber der Mensch wird in seiner Seele immer der eigenen Kindheit verhaftet bleiben, wenn er nicht innerlich zugrunde gehen will! Das Hirtenbild mag kindlich sein, kindisch ist es nicht!

Immerhin ist gerade dies 10. Kapitel aus dem Johannesevangelium mit der Hirtenrede Jesu in der Zeit des Kirchenkampfes von entscheidender Wichtigkeit gewesen. Gegen den Druck der Nationalsozialisten und der deutschchristlichen Kirchenpolitik beriefen sich die Christen der Bekennenden Kirche auf diese Aussage: Jesus Christus ist der gute Hirte, der allen Ansprüchen von menschlichen Führern vorzuziehen ist und auf den allein in Kirche und Gemeinde zu hören ist! (man vergleiche die Barmer Theologischer Erklärung von 1934 ; EG 810). Gerade die Rede von Jesus Christus als gutem Hirten birgt demnach ein erhebliches kritisches Potential gegenüber allen, die Leitungsämter wahrnehmen oder sich Leitungskompetenzen anmaßen!

Und schließlich ergibt sich aus dem Gegenüber von Schafen und Hirten zwar ein Autoritätsgefälle, aber eines das begründet ist: in der größeren Weitsicht und Kenntnis des Hirten gegenüber den instinktbefangenen Schafen. Allerdings erfährt das Bild des guten Hirten durch das Geschick Jesu Christi ja noch seine besonderen Ausweitungen. Und die Sprachgestalt in unserem Predigttext bleibt bei der einladenden Anrede; jeder Befehlston fehlt hier!

Damit kommen wir zur Entfaltung des Hirtenbildes in unserem Text. Es ist ja nicht irgendjemand, der sich uns als guter Hirte empfiehlt, sondern Jesus Christus; also der, der zugleich das Lamm ist, das die Sünde der Welt trägt! Er ist der gute Hirte, weil er sein Leben einsetzt für uns, weil er sein Leben lässt für die Schafe. Das geht über ein Hirtenbild hinaus. Das Kreuz steht im Hintergrund des Anspruches Jesu; er ist vorangegangen durch Hölle und Tod, um uns zum Leben zu führen. So haben wir auch in der Epistel gehört von Christus, der unsere Sünde selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz. Jesus Christus verheißt die Gabe des Ewigen Lebens. Er kann dies, weil Gott ihn von den Toten auferweckt hat. Mein Vater, der mir die Schafe gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen. Ich und der Vater sind eins.

Beim Nachdenken stelle ich fest: Es gibt keinen anderen biblische Text, den ich bei Trauerfeiern und Beerdigungen so oft vortrage, wie diese Bildrede vom guten Hirten. Woran liegt das? Ich denke, gerade in diesen Worten teilt sich der gekreuzigte und auferstandene Jesus Christus so mit, dass Trauernde Trost finden: Er verheißt Schutz und Orientierung, die besonders Menschen brauchen, die einen anderen verloren haben. Er vermittelt über den himmlischen Vater die Hoffnung auf das Ewige Leben, die besonders tröstlich ist, wenn ein irdisches Leben zu Ende gegangen ist. Und er spricht uns seine Vertrautheit mit uns zu, er kennt die Seinen. Wie wohltuend ist das, wenn in der Trauer so vieles unkenntlich wird...

Nicht am Hirtenbild an sich, an Jesus Christus als Hirten und Bischof unserer Seelen, daran hängt die Seligkeit. Entscheidend ist, ob wir die Stimme des guten Hirten hören wollen oder nicht! Hier entscheidet sich die Zukunft. Der gute Hirte ist da. Er wartet auf uns.

Herr Jesus Christus, lass uns deine Liebe spüren. Hilf uns, dir allein als unserem guten Hirten zu folgen. Tröste du uns auf Wegen im finsteren Tal; auch durch die Gemeinschaft derer, die in Deinem Namen zusammenkommen. Schenke Du uns Lebensmut und neue Kraft und erneuere uns in der Hoffnung auf das Ewige Leben.

AMEN

 

Perikope
19.04.2015
10,11-30

Thomas, der Zweifler - Predigt zu Johannes 20,19-31 von Martin Weeber

Thomas, der Zweifler - Predigt zu Johannes 20,19-31 von Martin Weeber
20,19-31

Thomas, der Zweifler

Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch!
Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen.
Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.
Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmt hin den Heiligen Geist!
Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.
Thomas aber, der Zwilling genannt wird, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam.
Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich's nicht glauben.
Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch!
Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!
Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott!
Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!
Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch.
Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.


Thomas will es wissen.
Was die anderen ihm sagen, das reicht ihm nicht.
Er will seinen Glauben an Jesus nicht auf den Aussagen anderer aufbauen.
Anderen mag das reichen.
Ihnen mag es ausreichen, wenn andere es ihnen erzählen, dass Jesus sich ihnen gezeigt hat.
Thomas aber ist ein kritischer Geist:
„Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich's nicht glauben.“
Die Haltung des Thomas ist sprichwörtlich geworden – als „ungläubiger Thomas“ ist er in den Sprachschatz eingegangen.
Thomas möchte gerne Beweise, handgreifliche Beweise.

In der Gemäldegalerie neben Schloss Sanssouci in Potsdam hängt ein großartiges Bild.
Wer es einmal gesehen hat, kann es nie wieder vergessen.
Gemalt wurde es von Caravaggio.
Jesus ist darauf zu sehen, Thomas ist zu sehen, zwei weitere Jünger sind zu sehen.
Und Jesus zeigt dem Thomas seine Seitenwunde, die Wunde, die ihm mit einer Lanze zugefügt wurde, als er am Kreuz hing.
Nein, er zeigt sie ihm nicht nur.
Er lässt es zu, dass Thomas seinen Zeigefinger in diese Seitenwunde einführt.
Ja, es sieht so aus, als ob Jesus selber die Hand des Thomas ergreift und sie führt.
Eine unglaubliche Szene.
Unglaublich auch die Blicke der Jünger:
Eine Mischung aus Faszination und Erschrecken.
Ein großartiges Bild.

Freilich kann man sich fragen, ob dem Maler nicht seine Fantasie durchgegangen ist.
Denn davon, dass Thomas wirklich seinen Finger in die Seitenwunde legt, ist im Text nicht ausdrücklich die Rede.
Und zur Theologie des Johannesevangeliums würde es nicht wirklich passen, dass Thomas den gewünschten greifbaren Beweis bekommt.
Hat er? Oder hat er nicht?
Wenn man sich hineindenkt in die Art und Weise, wie das Johannesevangelium Jesus versteht und schildert, dann erscheint es plausibler, zu sagen: Thomas hat das Angebot Jesu ausgeschlagen.
Es spricht manches dafür, sich die Sache so vorzustellen, dass Thomas zwar überwältigt war von Jesu Angebot, dass er aber letztlich doch den Finger nicht in die Wunde gelegt hat.
Hätten wir? Oder hätten wir nicht?

Das Johannesevangelium schildert in seinen Ostererzählungen verschiedene Menschentypen und die Art und Weise, wie sie zum Glauben kommen. Thomas ist einer von ihnen. Thomas ist der Skeptiker, der gerne Beweise hätte für den Glauben. Aber der Verfasser des Johannesevangeliums ist zutiefst davon überzeugt, dass es letztlich für den Glauben keine Beweise gibt.

Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch! Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!
Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott!


Thomas spricht hier ein Bekenntnis zu Jesus aus, wie es umfassender und höher gar nicht gedacht werden kann: „Mein Herr und mein Gott!“
Ausgerechnet der Zweifler Thomas, der große Skeptiker, kommt hier zur tiefsten Einsicht über Jesus.

Dass Thomas tatsächlich das Angebot Jesu angenommen hat, das steht nicht im Text.
Das Bekenntnis des Thomas schließt sich ganz direkt an die Aufforderung Jesu an.
Es steht da eben nicht: „Und Thomas legte seine Hand in die Wunde“.

Hat er? Oder hat er nicht?
Was hat ihn überzeugt?
Vielleicht war es einfach die Art und Weise, auf die Jesus ihn angesprochen hat.
Viellicht hat es ihn einfach überwältigt, dass Jesus sein Anliegen nicht einfach abgelehnt hat.
Aber selbst wenn wir annehmen, dass Thomas wirklich seine Hand in die Seitenwunde Jesu gelegt hat:
Gelobt wird er dafür nicht.
Denn Jesus sagt zu ihm: „Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“
(Ein Berühren wird hier übrigens interessanterweise gar nicht erwähnt: Vielleicht noch ein Hinweis darauf, dass es zur Fingerprobe wirklich nicht gekommen ist.)
Am Ende hilft kein Berühren, und es hilft auch kein Sehen, um zum Glauben an Jesus zu kommen.
Jesus kritisiert hier einen Glauben, der sich auf Greifbarkeit und auf Sichtbarkeit gründet.
Was er aber nicht kritisiert, ist das Verlangen des Thomas nach Beweisen und Gründen für seinen Glauben. Sonst würde er ihn nicht dazu auffordern, seine Hand in seine Wunde zu legen.
Jesus akzeptiert den Wunsch des Thomas, Jesus versteht die Zweifel des Thomas.
Er weist das Ansinnen des Thomas nicht ab.

Könnte es so gewesen sein:
Jesus akzeptiert die Zweifel des Thomas.
Jesus akzeptiert den Thomas als einen Zweifelnden.
Jesus kommt dem Thomas entgegen.
Und Thomas kommt zum Glauben einfach dadurch, dass Jesus ihn anspricht.
Thomas geht die Einsicht auf, dass der Glaube sich nicht auf Greifbares gründet.
Und Jesus führt diese Einsicht noch weiter:
Auch nicht auf Sichtbares gründet sich der Glaube.
„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“
Könnte es so gewesen sein?

Was zunächst wie eine Enttäuschung für Thomas aussieht, ist bei Lichte betrachtet, eine sehr tröstliche Einsicht:
Glaube kann entstehen ohne sichtbare und ohne greifbare Beweise.
Wäre es anders, dann wären wir schlecht dran:
Denn die Zeit der Sichtbarkeit und der Greifbarkeit Jesu – die ist längst vorbei.
Auf Sichtbares und auf Greifbares kann sich unser Glaube nicht gründen.
Wir sind definitiv nicht mehr die, die „damals dabei waren.“
Aber das ist auch nicht schlimm.
Wir sind deshalb nicht schlechter dran.
Auch wir können von Jesus angesprochen werden.
Das ist die Erfahrung, die Menschen auch heute noch machen können:
Jesus spricht mich an.
Was ich über Jesus und von Jesus höre, das spricht mich an.
Es kann sich in mir ein Vertrauen zu Jesus entwickeln, das nicht einfach identisch ist mit dem Vertrauen auf die, die mir von Jesus erzählen.
Durch alle Zweifel hindurch kann sich eine unbeweisbare, aber dennoch tragende Gewissheit entwickeln.
Nebenbei bemerkt:
Das gilt für unsere grundlegenden Gewissheiten allesamt:
Sie fußen nicht auf Beweisen, sondern sie tragen uns einfach.
Niemand kann uns etwa beweisen, dass die Außenwelt keine bloße Illusion ist – und dennoch bewegen wir uns in aller Selbstverständlichkeit in ihr.
Wir leben ganz grundsätzlich sehr viel weniger von Beweisen als vielmehr von einem gefühlsmäßigen Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Wirklichkeit.
„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“

Mir ist Thomas sehr nahe.
Ich will auch nicht meinen Glauben auf die Aussagen anderer gründen.
Und ich hätte am liebsten auch Beweise für den Glauben.

Thomas ist der Zweifler, der Skeptiker.
Thomas will nicht einfach einstimmen in das, was die Anderen sagen.
Thomas ist der Mensch, für den der Glaube nur zählt, wenn er ein eigener Glaube ist.
Und Jesus versteht seinen Wunsch – auch wenn er ihn nicht so erfüllen kann, wie Thomas sich das vorstellt.

Wir Menschen sind sehr unterschiedlich – und deshalb glauben wir auch auf sehr unterschiedliche Weise. Der Glaube hebt unsere Vorprägungen nicht einfach auf. Thomas bleibt Thomas, auch im Glauben. Er bleibt ein Mensch, der Fragen stellt.

Wie geht die christliche Gemeinde mit Menschen wie Thomas um?
Reden wir, wenn wir in unseren Gottesdiensten von Jesus reden, so, dass auch Thomas sich angesprochen fühlen kann?
Erzählen wir von unserem Glauben so, dass auch Zweifler sich ernst genommen und angenommen fühlen können?
Versuchen wir, sie zu verstehen?
Kommen wir ihnen entgegen?
Oder sind uns die Zweifler zu unbequem?

Das Johannesevangelium setzt Thomas, diesem Zweifler, jedenfalls ein großartiges Denkmal:
Gerade er gewinnt den tiefsten Zugang zum Geheimnis Jesu:
„Mein Herr und mein Gott.“
Gerade Thomas geht es auf, dass in dem Menschen Jesus kein anderer begegnet als Gott selber.

Die Menschen, denen es genügt, auf das hin zu glauben, was andere ihnen vorsagen:
Die sind kirchlich pflegeleichter.
Der Umgang mit Thomas ist schwieriger.
Aber es lohnt sich, die Fragen und Zweifel des Thomas ernst zu nehmen.
Thomas muss nicht den Maßstab abgeben.
Niemand muss wie Thomas sein.
Glücklich, wer einfach fraglos in den Glauben hineinwächst!
Glücklich, wer glaubt mit der gleichen Fraglosigkeit, mit der er atmet.
Aber Thomas gehört auch zu uns.

Amen.
 

Perikope
12.04.2015
20,19-31

KONFI-IMPULS zu Johannes 20,19-29 von Ulrich Erhardt

KONFI-IMPULS zu Johannes 20,19-29 von Ulrich Erhardt
20,19-29

Verschlossene Türen für Konfirmandinnen und Konfirmanden

Immer wieder sagen mir Konfirmandinnen und Konfirmanden: Gegen den Glauben spricht, dass man Gott nicht sehen kann. Insofern können sie sich mit Thomas identifizieren, der sehen und begreifen will. Und das Gefühl, dass Türen für sie verschlossen sind, kennen sie auch. Wie die Jünger im Text.

Verschlossene Tür

Ich nehme das Bild von der Tür auf. Ob man nun eine ausgehängte Tür im Altarbereich der Kirche aufstellt oder nur ein Türschild vom Hotel nimmt mit seiner roten Seite und seiner grünen, hängt von der Situation vor Ort ab (die Schilder lassen sich im Internet bestellen). Man kann mit der roten Seite starten: Warum erscheint uns die Tür zu Gott oft verschlossen? Die Konfirmanden haben ihre Gedanken dazu auf rotes Papier geschrieben, tragen sie vor und hängen die Blätter  an die Tür oder an eine andere Stelle im Blickfeld der Gottesdienstgemeinde.

Unsere Konfirmanden haben folgendes notiert: „Können Gott und Jesus nicht sehen und es gibt auch keine Bilder",  „Dass wir nicht wissen, wie er aussieht“, „Manche Geschichten über  Jesus: Er geht über das Wasser“, „Dass er Menschen, die todkrank sind, wieder heilen kann“,  „Auferstehung“, „Dass Gott über die Welt herrscht – König der Welt!“,  „Viele Sachen, für die wir beten, passieren nicht!“, „Schöpfung der Welt (erste Menschen: Adam und Eva) - Wissenschaft“, „Wieso hilft er nicht allen, die seine Hilfe brauchen (Krieg …)“, „Dass Jesus wiederkommen sollte, aber er kommt nicht“.

Dieses kann im ersten Teil der Predigt mit den Erfahrungen der Jünger verknüpft werden. Ihnen wurden auch die Wunder durch das Geschehen am Ende des Weges Jesu fraglich. Das Ausbleiben der Hilfe Gottes führte zur Angst, die Türen verschloss. Und da ist Thomas, der Jesus nicht sieht, sondern nur von ihm hört.

Der Auferstandene kommt durch die verschlossene Tür

Dann kann das Türschild auf „grün“ gedreht bzw. die Tür geöffnet werden. Die Jünger erlebten, wie Jesus in ihr verschlossenes Zimmer und zu ihren ängstlichen Gedanken kam. Erleben wir so etwas auch?

Die Konfirmanden haben auf grüne Blätter solche Erfahrungen notiert, lesen sie vor und hängen sie wieder auf.  In unserer Gruppe wurde geschrieben: „Bibel – irgendwo müssen die Geschichten ja herkommen!“, „Weihnachten - Geburt Jesu“, „Dass Jesus der Sohn Gottes ist“,  „Jesus ist der, der den Menschen hilft“,  „Geschichten von Jesus über Gott“, „Das Gebet gibt mir Sicherheit“,  „Kirche“,  „Gottesdienst“, „Dass manche Leute von Begegnungen sprechen“.

Nicht sehen und doch glauben

Die Wünsche des Thomas und Jesu Antwort können im weiteren Verlauf der Predigt aufgenommen werden. Interessant ist zu Ostern, dass Weihnachten von den Konfirmanden auf den grünen, Auferstehung aber auf den roten Blättern vermerkt wurde. Können wir Mut machen zu einem vom unsichtbaren Christus inspirierten Glauben? „Die späteren Glaubenden werden zwar nicht wie Thomas die Wundmale Jesu zu sehen bekommen. Aber es käme wohl darauf an, dass sie die Wunden seiner geringsten Schwestern und Brüder … nicht übersehen.“ (Klaus Wengst: Das Johannesevangelium; 2. Teilband, S.301f)

Perikope
12.04.2015
20,19-29

Predigt zu Johannes 20,19-29 von Elisabeth Tobaben

Predigt zu Johannes 20,19-29 von Elisabeth Tobaben
20,19-29

Liebe Gemeinde!

Leichter wäre es bestimmt  gewesen, einfach das zu sagen, was alle sagten;
einfach irgendwie mit einzustimmen in den großen Oster-Jubel-Lobgesang,
leichter jedenfalls, als  so energisch festzuhalten an dem eigenen Zweifel !
ihn sich nicht ausreden zu lassen.

Aber das kann Thomas nicht, Thomas muss fragen.
Er  begreift, dass er sonst sich selbst gänzlich untreu würde.
Er ist eben einer, der alles ganz genau wissen muss,
der selber prüfen und erleben will,
der nicht aus "zweiter Hand" leben kann.
Und so macht er sich das Leben schwer,
'unnötig' schwer würden vielleicht manche  von uns sagen.
Denn er gerät damit plötzlich in den Mittelpunkt einer Geschichte
Jetzt muss er durchhalten, was er angefangen hat,
von einem bestimmten Punkt an kann  man einfach nicht mehr zurück!
Und er kommt gar nicht gut weg mit  all seiner Konsequenz in dieser Geschichte,
der "ungläubige" Thomas!
Geradezu sprichwörtlich ist er geworden!
Abqualifiziert als einer, der es immer noch nicht begriffen hat,
was die anderen längst kennen.

Als boshaft dickköpfiger Mensch steht er da,
der sich einfach nicht überzeugen lassen will,
der sich raushält und abgrenzt, nicht dabei ist
und auf diese Weise das Entscheidende verpasst.
Dabei möchte er doch so gerne  so sein können wie die anderen!
Würde er sonst so intensiv suchen und fragen?

Und wie viele suchen mit ihm,
hoffen, dass sich tatsächlich das Vergangene verklären möchte,
damit sich das Leiden vergangener Tage in einem ganz neuen Licht zeigen kann;
Wenn es doch wirklich so etwas gäbe wie Schalom, Frieden, Heil, Ganzwerden,
Leben mit und trotz des Vergangenen..

Hin- und hergerissen wieThomas zwischen dieser Sehnsucht nach Heil
und der Sehnsucht nach Echtheit und Wahrhaftigkeit.
"Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust..."
Vielleicht ist er mir doch näher als ich dachte mit seiner Suche und seiner Zerrissenheit...?

Ich kenne Menschen , die versuchen diesen Zwiespalt zu lösen,
indem sie ihre eigenen Fragen und Probleme nicht mehr wahrzuehmen wagen.
Sie treten die "Flucht in die Gewißheit" an.
Sie passen sich an, bekennen mit, wenn alle das tun,
stimmen ein in das, was alle sagen.
Sie brauchen den Schutz der Gruppe, der Gemeinde, sie wollen unbedingt dazugehören,
egal wie abstrus ihnen manche Glaubenssätze  auch vorkommen!!
Sie schlucken lieber  ihre Fragen und Zweifel herunter und sagen sich: 
Hauptsache, ich muss nicht allein sein  mit meinen Ängsten.

Zu groß ist die  andere Angst, die nämlich, sonst plötzlich draußen zu stehen, schutzlos,
nicht mehr dazuzugehören.
Vielleicht ist das ja  auch so, dass man das  gar nicht immer aushält ,
mit den eigenen Fragen und Zweifeln so im  Mittelpunkt zu stehen!?

Vielleicht brauchen wir alle ja ab und zu  solche Zeiten, in denen das auch so sein darf,
dass wir für uns behalten, was in uns fragt und bohrt;
in denen wir  Zweifel und alte Verletzungen
nicht gleich auf den Tisch legen müssen,
Nicht als Dauerzustand, aber es könnte ja sein,
dass wir Tage, Wochen, vielleicht sogar Jahre nötig haben,
in denen wir ein bisschen wie "zwischen den Zeiten" leben!
Vielleicht, weil die Zeit einfach noch nicht reif ist zur Klärung;
Zeiten, in denen wir andere brauchen, die uns trotzdem mittragen und halten.

Aber Thomas ist heute schon einen Schritt weiter,
er  kann fragen, er muss fragen.
Er will ja prüfen, nachholen, was die anderen erlebt haben,
Thomas will sehen und anrühren... und glauben?
Und genau dieser Wunsch trägt ihm das Urteil: "ungläubig" ein!
Wieso eigentlich?

Was für ein merkwürdiges "Ideal " von "Glauben" steckt dahinter?
Kann es sein, dass wir damit auf Thomas etwas projizieren von der  "Flucht in die Gewissheit"?
Von der Sehnsucht,  die so gerne  eine unumstößliche Sicherheit hätte,
die so gern ein für  allemal festschreiben würde:
So ist und nicht anders, so ist zu glauben und nicht anders, Punkt.
Und alle, die diese Sicherheit nicht teilen, sind dann eben ungläubig
Dann wäre die Einteilung so schön einfach!
Thomas fragt , weil er nicht einfach übernehmen will , was andere richtig finden -
Fragt er nicht im Grunde gerade weil er glauben möchte?

Alle Suche nach Eindeutigkeit muss sich der Gefahr bewusst
sein, die darin steckt, nämlich :
Fragen, Zweifel oder andere Erfahrungswege zuzudeckeln oder gar nicht erst zuzulassen,
weil die Unsicherheit so schwer auszuhalten ist, eigene wir fremde!
Da ist die Versuchung groß, vorschnell,
ohne den  Entwicklungsprozess bis zu Ende abzuwarten,
in ein vermeintliches Glaubensbekenntnis einzustimmen oder es einzufordern von anderen!

Auch der Ruf nach einem klaren und eindeutigen Profil unserer Kirche muss darauf achtgeben,
so verständlich ich diesen Ruf sonst finde.
Sonst könnte es sein, dass wir uns eines Tages so  wiederfinden
wie die nachösterlichen Jünger:
verrammelt, verbarrikadiert,
hinter verschlossenen Türen versteckt  und in Angst und Schrecken.
Keiner kommt an uns heran!

Alle Versuche, die Türen aufzubrechen
und von außen zu den eingeschlossenen vorzudringen,
würde nur noch mehr Angst verbreiten, Gewalt auslösen, damals wie heute.

Und wie das Wort, das von drinnen kommt, von dem ich immer geahnt habe,
dass es dort ist, das mich grundlegend verändert,
und das ich mir trotzdem niemals selber sagen kann,
so ist auch Jesus plötzlich da, in ihrer Mitte.
Und wenn er ihnen Frieden wünscht,
dann in diesem umfassenden  Sinn des hebräischen Schalom,
das als das genaue Gegenteil von Angst und Gewalt, ist Heil, Ganzheit, Vollständigkeit...

Er löst ihre Erstarrung, die Mauern der Angst und Abwehr
und holt sie heraus aus ihrer Isolation.
Wie er das macht, das ist es,
was mich  an dieser Geschichte  heute am meisten  erschreckt, aber auch  anrührt:

Er taucht eben nicht  auf als der glorreiche, mächtige, über alles erhabene King,
sondern es heißt ganz schlicht: "er zeigte ihnen die Hände und seine Seite...".
Er zeigt sich ihnen mit seinen Verwundungen,
seinem Leiden und seiner Schwäche., seiner ganzen Lebensgeschichte.

Das ist etwas anderes als das unselige "Nicht-so-schlimm".
Es ist nicht einfach alles vorbei, so als ob Ostern Karfreitag einfach aufheben würde.
Er erlaubt dem Thomas sogar, seine Hände und seine Seite zu berühren,
den Finger in die Wunden zu legen!
Und weil er sich selbst so anrühren lässt,
wird er auch andere so treffen, Thomas zuerst...

Neuanfang gibt es nicht an den alten Wunden vorbei.
Vergebung  fegt nicht einfach unter den Teppich, was wir einander angetan haben,
im Gegenteil: sie braucht den Blick auf das, was gewesen ist,
wir können frei, hoffnungsvoll und zuversichtlich leben mit dem, was war!

Doch dazu ist es manchmal nötig, den Finger (noch einmal) genau in die Wunde zu legen.,
die alten Schmerzen vielleicht noch einmal wachzurufen,
Tränen  und Trauer nachzuholen, damit  die alten Verletzungen heilen können!
Ich denke, dass es dazu den Schutz des Geistes braucht,
den Jesus den Seinen gibt. (mit diesem eindrücklichen Bild des Anhauchens beschrieben!)

Das ist es, was mir immer wieder wie ein Wunder vorkommt,
dass mit dieser Berührung nicht alles zusammenbricht,
sondern dass es gerade weitergeht, wenn ich mich nicht mehr verstecken muss,
endlich zugeben kann, was mich so lange gequält hat...

Die  Lebens - Geschichte einer  Frau fällt mir ein, so wie sie sie kürzlich in einer Zeitschrift erzählte:
Ihr großes Problem war, dass sie Analphabetin war, mitten in Deutschland.
Sie hatte auf Grund einer unruhigen Kindheit nur ganz kurz die Schule besucht,
musste früh auf dem Hof mit anpacken,
eine ganze Latte kleiner Geschwister versorgen und die kranke Mutter und hatte so nie richtig Lesen und Schreiben gelernt und das wenige natürlich schnell vergessen.
Mit der Zeit hatte sie ausgeklügelte Methoden entwickelt, um ihr Geheimnis zu hüten.
Sie wollte nicht, dass irgendjemand davon erfuhr, dass sie solche Lücken hatte.
Immer hatte sie gerade ihre Brille vergessen oder sich die Hand verletzt, wenn es drum ging, etwas aufzuschreiben.
Schließlich war sie fast nur noch mit dem Gedanken beschäftigt,
sich bloß nicht zu verraten und den Schein zu wahren.

Und als  endlich alles zusammenbricht, das für sie so entsetzliche Geheimnis ans Licht kommt,
da geht erstaunlicherweise die Welt gar nicht unter,
sondern sie ist total erleichtert, dass sie sich endlich nicht mehr verstecken muss.
'Ich konnte zum erstenmal wieder wirklich sehen,
dass mein kleines Kind mich anlachte und das es draußen regnete.
Ich hatte ja nichts mehr um mich herum wahrgenommen,
ich hatte nur noch Angst', sagt sie.
'Jetzt konnte ich endlich etwas tun, um mein Problem zu lösen.
Es ist ja noch gar nicht zu spät,
Lesen und Schreiben zu lernen!'

Türen, die sich wieder öffnen,
Menschen, die sich nicht mehr einschließen und abschotten müssen,
 Menschen, die offen aufeinander zugehen können,
Das sind Erfahrungen, die nicht verfügbar sind, nicht machbar.
allenfalls können wir Voraussetzungen dafür schaffen,
Räume, Orte, Zeiten, in denen wir -vielleicht in besonderer Weise- Gott begegnen könnten...

Die Begegnung zwischen Jesus und Thomas stellt Ernst Barlach dar  mit seiner Skulptur, die er auch "Das Wiedersehen" nennt. (Bild: http://www.ernst-barlach.com/barlach-pl-390-das-wiedersehen.html)
Die überdimensional großen Hände fallen mir auf bei beiden Gestalten,
Hände, die festhalten und sich halten.
Er hat einen Jesus, geschaffen,  der wirklich etwas Verklärtes hat, finde ich,
der über die gekrümmte Thomas-Figur weg in die Ferne blickt, in die Zukunft
in der Sorge um die, denen dann das Sehen und Berühren  gar nicht mehr möglich sein wird?
Kerzengerade aufgerichtet ist seine Gestalt,
verspricht wirklich Halt und zuflucht,
aber zugleich kommt er mir auch  sehr zart vor, ja zärtlich mit dem Suchenden.
Thomas hat hier sein Ziel gefunden, sein eigenes Bekenntnis: 'Mein Herr und mein Gott.'

Thomas ist einer, der mir Mut macht zur Unsicherheit und zum Fragen!
Mut, sie nicht sofort zuzuschütten mit vorschnellen Antworten,
sondern ihnen standzuhalten und
zu warten auf die echten, die gewachsenen Antworten;
Gott sei Dank.
Amen.

 

Perikope
12.04.2015
20,19-29

Ostergottesdienst: Christ ist erstanden

Ostergottesdienst: Christ ist erstanden
20, 11-18

Er ist erstanden, Halleluja!


Mit Gesang, Trompeten und Zimbeln preisen wir die Auferstehung.
Es ist Ostern!! 
Das Grab ist leer.
Das Leben ruft, alles auf Anfang, alles neu.
Raus in die Stadt.
Ich spüre den Sog, ich spüre den Sound –  die Mauern fallen, die Stadt wird hell.
Wir prosten uns zu:
Ein hoch auf uns, auf dieses Leben!
Wir haben etwas zu feiern.
Und wir feiern überschwänglich,
mit Lammbraten und Wein,
Hasen, Eier und Kuchen in Mengen.
Ob in Hamburg, Berlin oder Köln –
es ist Ostern! 
Jesus lebt.
„Des solln wir alle fröhlich sein.“
Also – wir sollten es sein und sind es doch viel zu selten.
Viel zu wenig mutig, viel zu wenig fröhlich.
Wenn wir uns klar machen:
Jeden Sonntag sagen wir:  Auferstanden von Toten.
Und wirken doch so als hätte sich das noch nicht bis zu uns rumgesprochen.
Warum ist das so?
Was ist nötig, damit Ostern bei mir ankommt?
Hören Sie, was Johannes schreibt:

 

Lesung: Johannes 20, 11-18
Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie nun weinte, schaute sie in das Grab und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo sie den Leichnam Jesu hingelegt hatten.
Und die sprachen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.
Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist.
Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen.
Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister!
Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Schwestern und Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.
Maria von Magdala geht und verkündigt den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen.

 


Pfarrer Gregor Hohberg (Predigt):
Maria geht am Morgen des 1. Tages  zum Grab. Sie ist traurig. Sie weint.
Sie weiß noch nicht, dass Ostern ist.
Wir dagegen wissen es und wir feiern es sogar.
Aber allzu oft wirken wir auch, als wüssten wir es nicht, als gäbe es Ostern nicht.
Und es gibt ja wirklich Gründe genug zu zweifeln, traurig zu sein.
Maria trauert um den Mann, den sie liebte.
Sie fragt sich: Wo ist er jetzt?  Was soll ich bloß tun? Sie denkt an ihn. Sie weint.
Und auch mir geht so viel Trauriges durch den Kopf:
Mir ist himmelangst, wenn ich die furchtbaren Dinge höre, die sich auf der Erde ausbreiten.
Tief traurig macht es mich auch, wenn ich an das Ende der Flüchtlinge denke, die es nicht bis zu uns schaffen. Die auch in Frieden leben wollten und auskömmlich so wie wir.
Und ich denke an unsere Kirche. Unsere Erstarrung, unser Schielen auf unsere Besitzstände, unsere politische Korrektheit. Wir sind im Namen des Auferstandenen unterwegs. Da ist Mut gefragt. Sagen wir nicht viel zu schnell „Ja“ und „Amen“ und geben uns zufrieden mit der Welt wie sie ist?
Wie soll es da Ostern werden? Was ist nötig, dass es bei mir ankommt?

Und noch während Maria so denkt, dreht sie sich um und blickt auf.
Es steht jemand hinter ihr. Sie ist nicht allein. Der um den sie trauert ist lebendig. 
Maria sieht ihn an und weiß nicht, dass es Jesus ist.
Das passiert oft. Wahrscheinlich sehe ich jeden Tag jemanden und erkenne nicht, dass es Jesus ist.
Maria vermutet, es ist der Gärtner. Aber es ist Jesus, der mitten im Leben steht, der wirkt als hätte er Spaß am Leben, als pflegte, hegte und feierte er das Leben.
Er, der Gärtner der neuen Schöpfung, steht da und lächelt und sagt (zu Maria):
Maria.
Das klingt so gut, so hell,
so wie am 1. Schöpfungstag als Gott sagte: Es werde Licht.
Es klingt, wie das Aussprechen unserer Namen bei unserer Taufe.
Dein Name, den Dir Deine Eltern bei Deiner Geburt gaben. Ganz am Anfang, als noch alles gut war.
Ja, so klingt es. Vertraut. „Maria“ Liebevoll. 
Maria hört ihren Namen.  Wirklich sie ist gemeint. Sie fühlt sich erkannt, fühlt sich besser, froher.
Sie ist wie neugeboren. Und jetzt erkennt sie ihn.
Und sagt zu ihm:  Rabbuni.
Sie sagt es zärtlich und hingebungsvoll
Denn nun spürt sie wieder seine Liebe, spürt sie in sich lodern, ganz real und lebendig.
Sie fühlt, dass das Leben weiter geht  – mit ihm.
Jesus hat sie herausgerufen, gerufen österlich zu leben.
Sie ist gemeint. Er hat ihren Namen gesagt.
Und wir sind gemeint. Gott kennt Dich. Dein Name wurde bei deiner Taufe ausgesprochen.
Nun bist auch du wiedergeboren (aus Wasser und Geist) und sollst leben.

Wir sind die Gemeinschaft der Heiligen. Gerufen das Leben zu leben, es zu heiligen.
Gerufen, alles zu geben, dass Ostern Wirklichkeit wird.
Von ganzer Seele und mit ganzem Herzen glauben, dass Jesus lebt.
Ich stelle mir vor, Jesus ist auferstanden – seine Geistesgaben, seine Liebe wirken weiter.
Sind nicht am Ende, sind mächtiger als der Tod.
Sein (Dienst am) Leben geht weiter – durch uns.
Durch Dich und Dich und mich.
Ohne uns geht es nicht.
Sage niemand: ich nicht. Ich bin zu klein oder zu alt oder zu krank.
Was soll ich tun, hier vom Bett aus? Was soll ich tun ohne Geld, ohne Zeit?
Solches reden zählt nicht.
Geht nicht, gibt’s nicht!
Jedenfalls sollten wir es doch wieder versuchen!
Hintern hoch! Nur Mut!
Wenn Gott einen von den Toten auferwecken kann. Dann sollte uns doch viel mehr möglich sein, als wir denken! Mehr Leben, mehr Mut, mehr Freude.
Jede aufmerksame Minute, jeder gütige Blick, jedes Gebet, jede Hand, die streichelt oder zupackt, die zählen. Das bleibt. Es ist nicht umsonst. Es ist Fortsetzung der Auferstehungsgeschichte.
Wir sind gefordert. Jede und jeder wird gebraucht.
Wir sind heute die Gärtner des Lebens.
Wir sind Gottes Christusse. Wir sind Herz, Hand und Mund des Auferstandenen.
So geht das Leben weiter –
Nicht fraglos, nicht ohne Zweifel, nicht einmal ohne den Tod, aber trotz des Todes.
Trotz Allem macht es unendlich viel Sinn  dem Leben mehr zu trauen.
Mit Herzen, Mund und Händen lasst uns wenden – alles, was das Leben bedroht.
Es wäre Verrat am Auferstehungsglauben, es nicht immer wieder zu versuchen.
Es wäre Unglauben. 
Aber wir wollen Ostern wagen.
Trotz jener, die Religion als Vorwand für Krieg und Gewalt nutzen, trotz alledem halten wir fest:
Der Andere ist ein Mensch, wie DU, auch wenn er anders aussieht oder anderes glaubt.
Gott liebt ihn, so wie dich.  Er will, dass auch er lebt.
Darauf vertrauen wir und bauen mitten in Berlin das House of one. Ein nie dagewesenes Sakralgebäude. Unter einem Dach werden sich eine Synagoge, eine Kirche und eine Moschee befinden.
Unvermischt kann hier jeder in seinem Raum Kraft aus seiner eigenen Tradition schöpfen, seinen Glauben leben und dann in einem (gemeinsamen) zentralen Raum der Begegnung, (zwischen den Gebetsräumen,) sich dem Anderen respektvoll zuwenden, ihn kennen und schätzen lernen, mit ihm zusammen am Stadtfrieden bauen.
Wir wollen Ostern wagen.
Trotz der Menschen, die meinen, dass das Boot voll ist und die neue Todeszäune rund um Europa bauen.
Ostern sagt:  Jeder Tote ist einer zu viel. Auch diese Mauer muss weg.
Denn es ist genug Platz bei uns  –  kommt, denn es ist alles bereit.
Und so haben 10 junge Menschen zum 25.Jahrestag des Mauerfalls hier in Berlin eine bemerkenswerte Aktion gestartet. Sie haben gezeigt, wie unehrlich es  ist, wenn wir hier den Mauerfall feiern und an den EU-Grenzen neue Mauern errichten. Und so haben sie  Kreuze für die Mauertoten hier in Berlin abgebaut.
Sie brachten  sie an die Außengrenzen der Europäischen Union.
Sie wollen uns daran erinnern, dass täglich Menschen an dieser Grenze sterben,
dass wir etwas tun müssen, um das zu verhindern.
Unsere Kirchen versuchen sich zu behaupten und ihre Zukunft finanziell abzusichern.
Ostern sagt: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit! Fürchtet euch nicht.
Steckt euer Geld nicht in Pensionsfonds. Gebt euch nicht zufrieden mit dem gemütlichen Gemeindekreis. Traut euch zu zeigen, dass ihr Christen seid – auf den Straßen, auf den Plätzen. Die Welt braucht gute Nachrichten.
Spart euren Wein nicht auf für Morgen. Wir haben etwas zu feiern.
Wir werden anecken und uns blaue Flecken holen –
So ist das Leben. Anders haben wir es nicht hier auf Erden.
Aber wir haben ja die Osterbotschaft.
Wir haben ja gehört, wie Jesus Maria anspricht.

Lass dich auch ansprechen,
lass dich berühren  –
von anderen Menschen, von deinem Nächsten, von Gott.
Sei es in der Taufe, im Gebet, auf der Straße, in der Kirche, in der Liebe –
Wo auch immer.
Lass es zu  und du spürst:
wie dir Lebenskraft und Trost zuwachsen.
Und eine Aufgabe.
Jetzt da wir wissen, dass Jesus auferstanden ist, ist Marias Aufgabe, ist unsere Aufgabe:
Geht hin zu den Geschwistern, erzählt ihnen von Gott,
seid aufmerksam, seid zugewandt, seid ihnen Jesus.  Jesus lebt.
Unser Leben ist seine Auferstehung.
Und dieses Leben ist ein großes wildes Meer.
Im Glauben sind die starken Kräfte, hier ist die unerschöpfte Macht –
mitten unter uns, überall,
weil das Leben Jesu mit unserem Leben  verwoben  ist.
Es ist Ostern.
Die Stadt wird hell, das Leben schön.
Im Osterlicht gibt es keine hoffnungslosen Fälle mehr.
Im Osterlicht zählt jeder Schritt, jede Geste
Wir tragen das Osterlicht weiter.
Auf, auf mein Herz mit Freuden!
Wir sind Auferstandene. 
Ich bin Auferstandener. Du bist Auferstandene.

Glaube nur, so wird Dir das Leben zuteil.

Amen.


 

Perikope
05.04.2015
20, 11-18