alles neu - Predigt zu Johannes 3,1–15 von Reiner Kalmbach

alles neu - Predigt zu Johannes 3,1–15 von Reiner Kalmbach
3,1-15

alles neu

Liebe Gemeinde,

heute beginnt ein neuer Abschnitt im Kirchenkalender. Nach Weihnachten, Passion, Ostern und Pfingsten, wichtige Stationen, die selbst nicht so eifrige Kirchgänger in der Regel nicht versäumen möchten. Heute beginnt Trinitatis. Während wir uns mit den traditionellen Festen leicht tun, schliesslich ist die Krippe etwas konkretes, auch das Kreuz ist für uns weit mehr als ein Symbol, hapert es mit der Vorstellung eines „dreieinigen Gottes“, ein Gott mit drei Gesichtern...? Das Thema ist eher etwas für diskussionsfreudige Philosophen oder Theologen.

Ach ja, wie gerne würde ich mal wieder eine Nacht lang „theologisieren“, mit einem lieben Freund und Kollegen und einer guten Flasche Roten..., so wie wir es früher öfter getan hatten. Nun sitze ich im fernen Patagonien, der nächste Kollege wohnt über 1500 km entfernt und ansonsten ist die nichtlutherische Kirchenlandschaft mit neopfingstlerischen und charismatischen Kirchen und Gruppen gepflastert, die eine Wohlstandstheologie verkünden, dass einem Angst und Bange wird.

Wenn man, so wie ich, in der „Diaspora“ lebt und dann auch noch „protestantisch“ lehren und predigen soll, wird einem die Tradition zu einer wichtigen Stütze: was mir einst meine pietistischen Grosseltern beigebracht haben, das Leben in der kleinen und ländlichen Gemeinde tief im Württembergischen, der Konfirmandenunterricht, später dann die Kirchentage, Friedensbewegung..., damals hatte ich mich oft gegen eben jene Tradition aufgelehnt, die mir heute so wichtig geworden ist.

Und gerade darin liegt auch eine Gefahr: man erhebt sie, ohne es zu wollen, zu einem Dogma, zu einer „Wahrheit“, bleibt in der Vergangenheit gefangen. So geht es auch manchen meiner Gemeindeglieder, sie verwechseln Tradition mit Glaube.

Allein schon deshalb sehne ich mich nach einer richtig erfrischenden theologischen Auseinandersetzung..., wie es uns Nikodemos und Jesus vormachen.

Textlesung: Johannes 3, 1 – 15

Wer ist denn dieser Nikodemus? Er ist der Vertreter des „offiziellen“ Judentums. Deshalb sollten wir uns nicht auf seine Person konzentrieren, sondern auf seine Funktion. Nikodemus vertritt die offizielle Lehrmeinung, d.h. die jüdische Tradition.

Auf den ersten Blick scheinen die beiden Lehrer aneinander vorbeizureden, sie argumentieren auf zwei verschiedenen Ebenen. Was für Nikodemus geschichtliche Wahrheit ist, das ist für Jesus gerade das Hindernis..., Hindernis weswegen? Es geht ums Heil, um das Reich Gottes und um die Frage des „wie“ (bekomme ich Zugang zum Heil). Was Jesus hier behauptet, sollte Nikodemus sich überzeugen lassen, würde das gesamte jüdische Traditionsgebäude zum Einsturz bringen: der Abstand zu Gott ist für alle Menschen gleich, Religiöse und Atheisten, dieser Abstand kann nur durch das von Gott selbst bewirkte Geistwunder aufgehoben werden. Deshalb kann man den Glauben nicht „begreifen“, man kann ihn nur „erfahren“...

1)      ...in einem neuen Anfang

Wir sind Zeugen eines Nachtgesprächs, und zwar unter „Fachleuten“: Nikodemus, „Lehrer Israels“ und Jesus, ein „Lehrer von Gott gekommen“, wie Nikodemus selbst anerkennend ausspricht. Er ist durch die „Zeichen“ auf ihn aufmerksam geworden, sie sind für ihn eine Art „göttliche Beglaubigung“. Jedoch: Jesus ist nicht der einzige Wanderprediger seiner Zeit, er steht damit nur für eine Linie einer bestimmten rabbinischen Tradition. Dennoch, so scheint es, muss es da noch etwas anderes geben, Jesus ist nicht nur..., sondern viel mehr..., und Nikodemus will der Sache auf den Grund gehen. Ohne Umschweife legt Jesus gleich den Finger in die Wunde: die Frage nach dem Reich Gottes, die wir über die ganzen Evangelien verstreut finden, etwa wenn, wie bei Lukas, die Jünger fragen „wann kommt das Reich Gottes?“, oder bei Matthäus „welches ist das vornehmste Gebot?“, und: „was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe...?“

Ohne es zu erwähnen, redet Jesus vom Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit. Ein tiefer Schnitt wird vollzogen zwischen der rabbinischen Tradition und dem was Jesus sagen will. Eigentlich gibt es gar keine Debatte. Für einen frommen Juden ist es die Aufgabe des Menschen das Reich Gottes herbeizuführen, durch strikte Gesetzesbefolgung und ständige Perfektionierung. Erinnern wir uns an die Frage bei Matthäus: „...das alles habe ich gehalten, was fehlt mir jetzt noch...?“

In Argentinien wachsen die neopfingstlerischen Kirchen und Gruppen wie die Pilze nach einem warmen Herbstregen. Um was geht es ihnen? Wer dazugehören will, der „tut“ bestimmte Dinge einfach nicht mehr, er wird sein persönliches und tägliches Leben einer bestimmten Moral unterordnen. Eine fundamentalistische Bibelauslegung ist die Grundlage dafür. So hat sich die Frau dem Manne unterzuordnen, schliesslich ist er das „Haupt“ der Ehe. So verzichtet sie bereitwillig auf das was ihr vom (weltlichen) Gesetz her zusteht. Und wenn „ihm“ dann mal die Hand ausrutscht, so wird sie es ihm verzeihen, immer und immer wieder...Mittlerweile haben wir uns daran gewöhnt, dass in Argentinien alle 32 Stunden eine Frau von ihrem wildgewordenen Ehemann, oder Ex zu Tode geprügelt wird.

Aber zurück zu unserem Nachtgespräch: was meint Jesus, wenn er sagt, dass „nur wer von neuem geboren wird, das Reich Gottes sehen kann? Ein heikles Thema, ein heisses Eisen, auch für unsere Volkskirche: sichert mir der Taufschein das ewige Leben?, die simple Zugehörigkeit zu einer Struktur und Tradition...?

Ob es uns gefällt, oder nicht: Jesus sagt mit seinem ersten Satz, dass wir alle, so wie wir sind, überhaupt nicht für das Reich Gottes geeignet sind. Da helfen uns auch keine noch so gut gemeinten Anstrengungen im rabbinischen Sinne. Niemand kann, so wie er ist, Gott finden, es sei denn, Gott selbst stellt diesen Kontakt her, Gott selbst schafft in uns einen radikalen Neuanfang, quasi von einem Nullpunkt aus.

Das ist ziemlich stark. Wollen wir Jesu Vorstellung vom Reich Gottes hier folgen, geht es auch bei uns nicht ohne ein „Erschrecken“. Denn er meint eben nicht einen neuen Anstrich unseres Glaubensgebäudes, sondern den kompletten Abbruch und Neuaufbau! Es geht um den Neuen Menschen, geboren aus Wasser und Geist. Es geht auch hier nicht um Symbolik, wie viele Christen ihre eigene Taufe verstehen. Mit Geist ist Gott selbst gemeint!, der Schöpfer!

Heute feiern wir Trinitatis, den Dreieinigen Gott. Jesus spricht also von jenem dritten der heiligen Angesichter Gottes. Gott selbst will Wohnung nehmen in uns. Es ist der Schöpfergott und die Schöpfung hat immer mit der Zukunft zu tun. Ist uns also der Geist gegeben, sind wir neue Geschöpfe. Der alte Mensch ist zwar noch da, und wir sehen, spüren und erleiden dies täglich, aber eigentlich lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir, wie es Paulus formuliert. Man könnte auch so sagen: der Geist macht den neuen Anfang, ich kann nichts dazutun, wer hat sich schon selbst geboren...?

Ich kann und soll das neue Leben annehmen, wenn Gott es mir gibt. Wie aber gibt er es?, mit Wasser, heisst es da, das weißt auf die Taufe. Also: Gott wirkt in uns durch die Taufe.

Noch einmal: wollen wir Jesu Rede ernst nehmen, wird ein Zusammenzucken, ein Unwohlsein, nicht ausbleiben. Jesu Rede ist reines Evangelium, das alles auf den Kopf stellt. Sie scheint uns den Atem zu nehmen, schenkt uns aber in Wirklichkeit befreites Aufatmen. Jesus stellt hier nicht unsere biologische Herkunft, unser biologisches Sein in Frage. Auch nicht unsere Fähigkeiten die Welt zu gestalten, zum Guten oder zum Bösen, es geht hier ganz einfach um unser Heil. Wiedergeburt meint „Vertauschung“ des „woher“, von oben geboren werden. Denn der Sünder (im Fleisch geboren) kann nur Sünde produzieren und der Lohn der Sünde ist der Tod. Altgewordene Begriffe, aber wir wissen nur zu gut, was sie bedeuten...In der Stunde unserer Geburt wird der Pfeil abgeschossen, der uns in der Stunde unsere Todes erreicht. Unsere Biologie hat den Tod zum Ziel. Gott aber das Leben!

2)      ...aus einem neuen Ursprung

Auf den „Ursprung“ kommt es an, aber, was ist das?, wie erkenne ich ihn? Wir sind von untern, d.h. wir haben nur unsere irdischen Fähigkeiten, die uns, - im Bezug auf das Reich Gottes – überhaupt nichts nützen. Das sollte ein Fachmann wie Nikodemus eigentlich wissen. Aber er kann nicht, denn dazu müsste er eben von „oben“ geboren sein. Und jetzt spitzt sich die ganze Sache auch noch zu: Jesus redet vom „wir“, wir reden und bezeugen, was wir gesehen haben..., es geht um die unverbrüchliche Zugehörigkeit zum Vater. Jesus allein ist, wenn es um Gott geht, der Fachmann. Weil er vom Vater kommt: sein Woher, sein Ursprung ist bei Gott!

Diesen neuen Ursprung kann ich nicht erzwingen, er kann auch nicht mit meiner Vernunft oder meinem Willen erfasst noch beeinflusst werden. Ich spüre ihn nur, ich weiss, dass der Wind existiert, dass er weht, aber ich kann ihn nicht sehen. Der Wind bewegt die Blätter am Baum vor meinem Fenster, er kann diesen Baum sogar entwurzeln, aber ich kann ihn weder sehen, noch schmecken, tasten...

Nun aber geschieht das „Unglaubliche“: wenn es so ist, dass Gottes Geist von oben kommt und in mir Wohnung nimmt, dann heisst das, dass Gott bei mir ist. Dass ich nicht alleine bin in dieser dunklen Welt, dass ich mich an ihn halten kann, dass ich, gegen mein ständiges Versagen und Verzweifeln auf sein Wort vertrauen darf, das Wort das mir zusagt, wie lieb ich ihm bin und wieviel Gefallen er um Christi willen an mir findet.

3)      ...in einem neuen Leben

Nun fehlt uns noch ein Element: Jesus redet, was er weiss, denn er stammt aus der Wirklichkeit Gottes. Seine Sendung beschränkt sich aber nicht darauf. Er ist kein besonders charismatischer Rabbi, der eben mehr weiss, als der grosse Lehrer Nikodemus.

In einer grösseren Stadt ganz in der Nähe (500 km entfernt) wird gerade eine neue Kirche gebaut. Der vollklimatisierte Innenraum soll einst 8500 Personen Platz geben, die beste Akustik im Land haben, ausgestattet mit der modernsten Technik. Rockbands werden das Volk anheizen, ein Fachmann in Beleuchtung wird die entsprechende Atmosphäre zaubern und dann wird der Showman in einem weissen Leinenanzug auf der Bühne erscheinen und viele werden bereits in Ohnmacht fallen. Was wird er predigen?, warum werden die Menschen ihm glauben und nicht „mir“ der doch auch sonntäglich das Evangelium verkündet...? Vielleicht ist das der Punkt: sie glauben an ihn, den charismatischen, gut aussehenden, erfolgreichen (und damit gesegneten!) Prediger. Ich dagegen kann nur hoffen und beten, dass die Menschen Jesus begegnen. hn, die beste Akustik im Land haizen, ein Fachmann in Beleuchtung wird die entsprechende Atmosphen, die beste Akustik im Land hJesus kommt mit Wasser und Geist und tut damit, wozu der Vater ihn gesandt hat: er holt uns in sein Reich! Aber damit hat er es schwer „ihr aber nehmt unser Zeugnis nicht an.“ Es ist schon merkwürdig: unsere Verschlossenheit gegen den Gott, bei dem wir doch das Leben haben könnten.

Der Abschnitt endet mit dem Hinweis auf Jesu Kreuz: der Menschensohn muss erhöht werden, er kam vom Himmel und wird nun von der Erde (buchstäblich) erhöht.

Und genau um das geht es: der Glaube kommt am Kreuz nicht vorbei!, es ist die Konsequenz unserer Abweisung, aber das bedeutet auch gleichzeitig: Glauben heisst „aufsehen auf den gekreuzigten Jesus“ und „erkennen“, „erfahren“: das hat er für mich getan!

Wenn Nikodemus wüsste, was ihm hier angeboten wird!

Amen.

Perikope
31.05.2015
3,1-15

Predigt zu Johannes 3,1-8 von Karl Hardecker

Predigt zu Johannes 3,1-8 von Karl Hardecker
3,1-8

Liebe Gemeinde,
Ihr seid Kinder des Lichts und Kinder des Tages, heißt es bei Paulus. Als Kinder des Tages seid ihr Menschen des Geistes. Die Amerikaner würden dazu sagen: ihr seid reborn, Wiedergeborene, wiedergeboren aus seinem Geist.

Wie soll das zugehen, fragt Nikodemus. Wie sollte ein Mensch zurück kriechen können in den Leib seiner Mutter, um noch einmal geboren zu werden? Dass das nicht geht, leuchtet jedem ein. Aber dass wir einen Geist brauchen, der uns belebt, der uns beseelt und der uns leichter macht, das leuchtet genauso ein. Und darum geht es, um diesen Geist.

Es ist ein Geist des Tages, ein Geist, der uns hilft uns zu öffnen, der uns Worte schenkt  und ein Ohr für den anderen, ein Geist, der unsere schwere Seele vom Boden erhebt, ein Geist, der unser Herz zu Gott erhebt, wie es so schön in der Messe heißt: Erhebet die Herzen! Wir haben sie beim Herrn.

Erhebend also die Wirkung dieses Geistes, erhebend vom Boden, der der Boden Kains ist, oft blutgetränkt, mit Rivalitäten überzogen, belastet von der Schuld Menschen verachtender Genozide und durchtränkt von tödlichen Pestiziden. Erhebend die Wirkung dieses Geistes, erhebend von dieser leidzerrissenen Erde, erhebend zu einer Freiheit, in der Menschen sich am Reichtum der Erde freuen und an ihrer Vielfalt nicht leiden.

So sollte es sein, lehrt Jesus seinen nächtlichen Gast Nikodemus. Denn dieser spürt genau: unser menschlicher Geist ist einfach zu wenig. Es ist zu wenig, dass wir unseren Geist einsetzen um zu planen und zu berechnen. Es ist zu wenig, dass wir unseren Geist benutzen, um uns zu sorgen und um zu taktieren. Intrigen und Machtspielchen sind zu wenig und eigentlich Geschöpfe der Nacht, - Nachtgestalten.

Nikodemus hat das Gespür, dass diese Nachtgestalten nicht zur Krone der Schöpfung gehören und er wird darin bestärkt, wenn er erleben wird, wie diesem Gerechten, diesem Jesus von Nazareth der Prozess gemacht werden wird, wie hierbei so vieles bei Nacht ablaufen wird, die Gefangenahme, das Verhör und die Folter und wie dann bei seinem Tod die Sonne sich verdunkelt und eine Finsternis über das Land kommen wird als Ausdruck größter Geistlosigkeit.

Das weiß er, das spürt er schon jetzt. Gewalt geschieht oft im Verborgenen, die Folterer haben ihre Kammern häufig im Keller und als Judas Jesus verrät, ist es Nacht, wie der Evangelist später markiert.

Dass dieses Gespräch bei Nacht stattfindet, ist sicher kein Zufall. Weil es den Geist bei Nacht besonders braucht, weil die Welt bei Nacht schwer wird und erdrückend sein kann, das wissen wir aus schlaflosen Nächten.

Nikodemus sucht nach etwas, das herausführt aus der Finsternis menschlicher Seelen und der Finsternis menschlicher Gewalt. Er sucht nach etwas Neuem. Und er hat einen hervorragenden Lehrer gefunden, einen, der ihm zeigt, was es heißt, neu geboren zu werden durch diesen Geist. Und dieser lehrt, dass der alte Mensch sterben muss, der Mensch, der nicht aus sich heraus findet, der seine Geschöpflichkeit verspielt, weil er sein Gegenüber verliert, weil er nicht mehr im Ich und Du lebt, sondern sich nur noch um sich selbst dreht, der Mensch, der damit aus einem offenen Feld herausfällt oder sich selbst heraus katapultiert. Dieser Mensch ist alt und erwartet auch nichts mehr, weder von sich noch von anderen noch von Gott als seinem Schöpfer. Dieser Mensch vermag auch keine Anerkennung mehr zu geben, - dazu fehlt ihm die Offenheit und das Interesse am anderen.

Aber wie soll eine Annäherung entstehen, wo sich Menschen und Staaten die Anerkennung versagen? Ohne Anerkennung bleibt der Mensch alt und bleibt die Erde alt und das Palästinenser-Problem bleibt auf ewig bestehen und ohne Anerkennung und Einbeziehung wird auch Russland auf lange hin der gekränkte Partner sein, der sich übergangen fühlt vom Westen.

Um also wieder auf das offene Feld heraus zu finden, wo Ich und Du sich begegnen, wo der eine sich freut an der Eigenart des anderen, wo beide leben im Bewusstsein, nur zusammen können wir diese Erde bestehen und nur zusammen können wir durch` s Leben gehen, müssen wir neu geboren werden.

Und immer wieder, wenn wir aus dem Wort fallen, wenn es uns die Sprache verschlägt und immer, wenn wir unseren Blick in uns kehren, aus Angst oder aus Selbstsorge, dann brauchen wir dringend den Geist Gottes, dann müssen wir neu geboren werden.

Nikodemus ist uns vertraut. Er ist uns nicht fremd. Wir kennen ihn. Er ist ein Mensch auf der Suche nach Geist, ein Mensch, der spürt und weiß, dass es mehr als alles geben muss, ein Mensch, der merkt, wie unser menschlicher Geist einfach zu wenig ist.

Nikodemus, ein Mensch, der mit uns leidet an der Schwere der Welt, an ihrem Gewicht und an ihrem Leid, ein Mensch, der leidet an den Eindrücken aus den Flüchtlingslagern in Jordanien und im Libanon, ein Mensch, der nicht mehr schlafen kann, nachdem er die Hinrichtungsvideos des IS gesehen hat im Netz. Und der sich dann aufmacht und zu Jesus kommt bei Nacht, selber ein Lehrer, der zu einem Lehrer geht, um auf das zu hören, was dieser zu sagen hat. Und Jesus lehrt über den Geist und darüber, dass er uns neu machen kann, dass wir neu geboren werden und als neu geborene wieder zurück finden in die Bestimmung, die uns unser Schöpfer mit auf den Weg gab: nicht unserer Angst zu gehorchen und uns nicht zu verkriechen, sondern aufzustehen, aufzubrechen im Vertrauen auf diesen Geist, uns vom Boden erheben zu lassen und zu spüren, dass das Licht unseres Schöpfers sich widerspiegelt auf dem Antlitz unseres Nächsten, hin zu finden in die Erhabenheit, die dieser Geist allein zu schaffen vermag, wo alles eine neue Würde bekommt und allem mit Achtung begegnet wird und Leid und Geschrei und Krieg ein Ende haben wird und die Welt voll sein wird seines Heiligen Geistes. Amen

Perikope
31.05.2015
3,1-8

Trinitatis-Christentum: Diskret, distanziert, aber nicht gleichgültig! - Predigt zu Johannes 3,1-8 von Ruth Conrad

Trinitatis-Christentum: Diskret, distanziert, aber nicht gleichgültig! - Predigt zu Johannes 3,1-8 von Ruth Conrad
3,1-8

Trinitatis-Christentum: Diskret, distanziert, aber nicht gleichgültig!

Der Predigttext für das heutige Fest der Dreieinigkeit, für den Sonntag Trinitatis, steht im Johannesevangelium, Kapitel 3, die Verse 1-8:
„Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, einer von den Oberen der Juden. (2) Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. (3) Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. (4) Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? (5) Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. (6) Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist. (7) Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von neuem geboren werden. (8) Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.

Unanschaulich,
liebe Gemeinde,
das Trinitatisfest steht im Ruf, genau dies zu sein: Unanschaulich.
Wer könne sich schon konkret vorstellen, was das bedeute: Gott als Drei in Einem?
Und was habe diese Lehre von der Dreieinigkeit Gottes mit dem menschlichen Leben, mit unserem Alltag zu tun?
Trinitatis – das sei ein „Ideenfest“, weit weg vom Alltag, vom Lebens des „normalen“ Menschen, wer auch immer das sei.
Trinitatis – das sei eine Kirchenjahrs-Spezialität für Theologen.
Ganz anders als Weihnachten, wo das kleine Kind uns alle daran erinnert, wie unser Leben ist:
geschenkt, nicht gemacht;
angewiesen auf Vertrauen und Liebe;
gefährdet, aber bewahrt.
Weihnachten hat Bilder, die an die Tiefen unsere Seele rühren:
ein Kind in der Krippe,
eine sorgende Mutter,
eine Familie auf der Flucht,
der offene Himmel über dem Hirtenfeld,
der Glanz einer anderen Welt,
der Engel, der Mut macht: Fürchtet euch nicht! Friede ist da!
Oder Ostern, wo der gekreuzigte und auferstandene Christus uns an die Bedingungen und Hoffnungen unseres Lebens erinnert:
Ein sinnloses Leiden und Sterben, aber genau darin die Hoffnung eines ungeheuerlichen Trostes, ohne den wir nicht zu leben vermögen, jedenfalls nicht, ohne zynisch zu werden – Gott hält die Sinnlosigkeit bis zum Ende mit uns aus.
Ein einsamer, verzweifelter Tod, inmitten von Verrätern, Mitläufern und Gaffern, aber darin die Kraft und die Spuren einer ganz und gar unfassbaren Liebe – Gott trägt sie alle und uns mit, hin zu einem neuen Anfang.
Auch Ostern hat Bilder, die an die Tiefen unsere Seele rühren:
der leidende Mensch,
der verzweifelte Schrei,
eine weinende Mutter,
doch eben auch der dritte Tag,
ein neuer Anfang,
das offene Grab,
der offene Himmel am Ort des Todes,
der Glanz einer anderen Welt,
der Engel, der Mut macht: Fürchtet euch nicht! Jesus ist auferstanden!
Ja, und auch Himmelfahrt und Pfingsten verbinden sich mit unserer Lebenserfahrung und erinnern uns an das, was wir zum Leben benötigen:
nämlich mehr als das Irdische – den Blick zum offenen Himmel;
mehr als das, was aus uns selbst kommt – die Inspiration und den Elan einer anderen Welt;
mehr als unsere kleine Kraft – die Kraft des himmlischen Geistes.
Auch Himmelfahrt und Pfingsten haben Bilder, die an die Tiefen unserer Seele rühren:
die Bewegung des Geistes,
die Energie von Feuerflammen,
die Dynamik von Wind,
die Gemeinschaft von Fremden mit Fremden,
der offene Himmel beim Abschied Jesu von seinen Jüngern,
der Glanz einer anderen Welt,
und auch hier der Engel, der Mut macht: Fürchtet euch nicht! Christus bleibt bei Euch, auch wenn ihr in nicht mehr seht.

Weihnachten, Ostern, Pfingsten – alle Feste des Kirchenjahres drücken elementare Erfahrungen und Hoffnungen unseres Lebens aus und haben Bilder, die uns Menschen unmittelbar und in unseren Gefühlen zugänglich sind.
Trinitatis aber scheint unanschaulich, spröde, unzugänglich.
Es gibt kein Brauch, der sich mit diesem Fest verbindet.
Es gibt keine großen Bilder, mit denen sich dieses Fest verknüpft hat.
Und dennoch, so behaupte ich, dennoch hat dieses Fest enorm viel mit unserem Alltag und mit unserem Glauben zu tun. Gerade weil es vordergründig so unanschaulich, so unaufgeregt, so spröde ist.
Mit Nikodemus, von dem der Predigttext erzählt, hat das Trinitatisfest ein Gesicht, und wir sehen hier das Gesicht eines höchst modernen Christentums. In Nikodemus begegnen wir einer zeitgenössischen, modernen Form des christlichen Glaubens, die uns vermutlich allen vertraut ist und die vielleicht auch unseren Glaubensalltag bestimmt. In Nikodemus begegnen wir unserem Glauben jenseits der großen Feste des Glaubens.

Was ist das Besondere an Nikodemus? Wofür steht seine Form des christlichen Glaubens, gewissermaßen sein „Trinitatis-Christentum“?
Ich glaube, es ist ein Doppeltes:
Der Glaube des Nikodemus ist diskret, distanziert, aber nicht gleichgültig.

Beginnen wir mit dem ersten:
Der Glaube des Nikodemus ist diskret, distanziert.
Er kommt bei Nacht zu Jesus.
Nun kann man sagen: In seiner Position, ein Pharisäer, einer von der gegnerischen Seite, der hatte einfach schlicht Angst.
Man kann das aber auch anders sehen:
Manche Menschen benötigen für den Glauben Diskretion, die Möglichkeit zur Distanz.
Nicht jeder will immer und überall über seine innersten religiösen Gefühle reden.
Nicht jeder will immer und überall ein öffentliches Bekenntnis ablegen.
Denn nicht jeder ist in Glaubensfragen immer ganz klar, völlig entschieden und eindeutig.
Manche brauchen für ihren Glauben ein gewisses Maß an Distanz.
Weil sie eher tastend, eher fragend, eher suchend unterwegs sind.
Weil Gefühle, zumal religiöse Gefühle sie beschämen und sie immer ein bisschen sprachlos machen.
Weil sie nicht richtig wissen, wie das geht: glauben und welche Worte passend sind.
Weil sie aber auch nicht immer belehrt werden wollen, darüber wie Glaube geht.
Weil sie selbst entscheiden wollen, wann sie über den Glauben reden, was genau sie dann reden wollen, wann sie welche Konsequenzen aus ihrem Glauben ziehen, wie stark sie sich in Institutionen einbinden lassen, wieviel Gemeinschaft sie brauchen und welche Gestalt sie ihrem Glauben geben. Der Glaube selbst ist immer auch der Diskretion bedürftig.
Für diese Form des diskreten, immer leicht distanzierten Christentums steht Nikodemus.
Er kommt in der Nacht.
Er geht in die Nacht.
Später wird er in einem Streit der Pharisäer, wie denn mit diesem Jesus zu verfahren sei, ein vermittelndes Wort für Jesus einlegen, dabei immer die Distanz wahren (7, 50-52).
Und nach Jesu Tod wird er helfen, Jesu Leichnam zu balsamieren, wieder im Verborgenen, wieder im Schutz des Unerkannten (19, 39f.).
Nikodemus bleibt in der Distanz.
Er wahrt diskret Abstand.
Dass er aber trotzdem einen dreifachen Platz im Evangelium hat, das erinnert alle, die im Glauben hochmotiviert und der Kirche engverbunden sind, daran: Distanz ist erlaubt. Diskretion zulässig. Distanzierter, diskreter Glaube ist kein minderwertiger Glaube. Daran erinnert Nikodemus am Trinitatis-Fest. Er rechtfertig die, die immer ein bisschen Abstand halten und mahnt die, die diesen Abstand gerne weg-bekehren möchten, den Anderen doch ihren Freiraum zu lassen und nicht immer vorzuschreiben, wie „richtiger“ Glaube geht.

Aber es gibt noch ein Zweites:
Nikodemus bleibt in der Nähe Jesu.
Sein Glaube ist diskret, distanziert, aber er ist nicht gleichgültig.
Manchmal wächst ja aus der Distanz die Gleichgültigkeit.
Da hat man den Glauben scheinbar lange nicht benötigt. Die Kirche schon gleich gar nicht. Und um kein Geld zu verlieren, tritt man sicherheitshalber aus. Und plötzlich merkt man: Auf die Dauer ist einem mehr abhanden gekommen als nur ein paar Euro. Es fehlt Orientierung, eine innere Heimat, ein Set an Bildern und Gedanken, die einem helfen, das Leben zu verstehen. Es fehlt Gott. Und jetzt weiß man nicht, wo und wie er zu finden ist. Man hat den Glauben verloren und jetzt weiß man nicht mehr, wie er geht.
Aus Gleichgültigkeit wird Ahnungslosigkeit, aus Ahnungslosigkeit Ratlosigkeit, aus Ratlosigkeit dann vielleicht Orientierungslosigkeit und im schlimmsten Fall Hoffnungslosigkeit.
Nikodemus aber scheint zu wissen:
Zum guten Leben gehört Religion, gehört der Glaube.
Und der Glaube, der bedarf der Pflege.
Man muss mit den Gegenständen, den Fragen und Inhalten des Glaubens im Gespräch bleiben, sie umtreiben, sonst verlernt man das.
Woher komme ich?
Wohin gehe ich?
Worauf hoffe ich?
Wofür stehe ich?
Das sind nämlich die Fragen, die Nikodemus mit Jesus diskutiert:
Komme ich als Mensch aus mir selbst oder aus Gott?
Wie kann ich als Mensch mit Gottes Kraft in Verbindung kommen?
Wie kann ich so „neu“ werden, dass diese göttliche Kraft mein Leben prägt?
Und wie kann ich Jesus, den Gott in Menschengestalt verstehen?
Wer ist dieser Jesus für mich?
Diese Fragen treiben Nikodemus zu Jesus.
Und er gibt sich nicht mit vordergründigen Antworten zufrieden.
„Zeichen“ genügen ihm nicht.
Er will verstehen.
Er will es nachvollziehen können.
Denn er weiß: So einfach ist das alles nicht. Auch nicht so einfach, wie manche Profis des Glaubens behaupten. „Neu“ zu werden, das ist schwierig. Alle sind wir eingebunden in unser Leben, in unsere Welt. Wir sind Teil dieser Welt. „Fleisch“ bleibt „Fleisch“. Wir kommen da nicht raus und der sonntägliche Kanzelappell, jetzt endlich „neu“ zu werden, ist auf die Dauer auch anstrengend.
Weil er es für sich selbst und sein Leben verstehen will, will Nikodemus mit Jesus im Gespräch bleiben.
Und zwar, ohne am Ende ein Bekenntnis abzulegen.
Nikodemus wird nicht bekehrt.
Er gibt die Distanz nicht auf.
Distanz halten, Fragen stellen, hier und dort Antworten ahnen, eine Geste des Glaubens wagen – das ist der Glaube des Nikodemus.
Hier begegnet uns kein unerschütterlicher Bekennermut.
Auch kein missionarisches Sendungsbewusstsein.
Die unbedingte Nachfolge der Jünger sieht anders aus.
Hier begegnet uns eine religiöse Mittellage,
ein Glaube der leisen, fragenden Töne.
Hier begegnet uns also womöglich der Alltag auch unseres Glaubens.
Denn – Hand aufs Herz:
Wer dreht schon jeden Tag am ganz großen Rad des Glaubens?
Wir leben alle einverwoben in unsere Zeit – angepasst und abgesichert, ein bisschen lauwarm.
Wir haben oft auch andere Sorgen als den Glauben: Die Kinder müssen in die Kita, das Auto in die Werkstatt, die Oma zum Arzt und man selbst ins „Meeting“.
Irgendwie sind wir alle Teil des Systems und für die großen religiösen Gefühle, für die Bilder, die unsere Seele in der Tiefe berühren, für die ganz großen Fragen, da haben wir an Weihnachten, Ostern und Pfingsten Zeit. Aber dazwischen und danach – da gibt es Alltag. Da fahren wir auf Distanz, bewältigen unser Pensum und hoffen, den Anschluss nicht zu verlieren.

Mit dem heutigen Sonntag endet die Festzeit des Kirchenjahrs, bis zum Ersten Advent.
Das Festjahr der Kirche schaltet auf Alltag.
Es entlässt uns gewissermaßen.
Jetzt wird es nüchtern, spröde, ohne große Bilder, irgendwie unanschaulich und unaufgeregt.
So wie unser Alltag eben ist, eingespannt zwischen Kita, Werkstatt, Meeting, Pflichten und Verpflichtungen, Sorgen und Banalitäten, Hetze und Anspannung, unser Leben wie es eben ist.
Dass wir in diesem Leben Gott und den Glauben nicht aus dem Blick verlieren, dass wir auf Sicht bleiben, auch daran erinnert Nikodemus.
Dass wir das Fragen nicht aufhören,
dass wir uns nicht zu sehr einrichten im Alltag,
dass wir uns nicht verlieren im Klein-Klein,
auch dafür steht Nikodemus an Trinitatis.
Er rechtfertigt also auch jene, die sagen: Das Leben ist mehr als Alltag und als Money, Money, Money. Das Leben ist größer. Die Fragen nach dem Geist, nach dem Reich Gottes, nach dem offenen Himmel, diese Fragen dürfen nicht verstummen. Wo Menschen oder eine ganze Gesellschaft gegenüber diesen Fragen gleichgültig werden, da verliert sie mehr als ein paar Euro. Da verliert sie Orientierung, eine innere Heimat, ein Set an Bildern und Gedanken, die einem helfen, das Leben zu verstehen. Irgendwann fehlt Gott, eine Hoffnung, die das eigene Leben in die Ewigkeit der Liebe und des Geistes einbindet. 

Liebe Gemeinde,
so also ist das mit dem scheinbarbar unanschaulichen Trinitatisfest. Es erzählt von unserem Glauben jenseits der großen Festtage, von unserem Alltagsglauben. Und das ist doch oft ein Glaube, der Distanz nimmt, der auf Diskretion setzt, eine mittlere Tonlage pflegt. Dieser Glaube aber ist nicht gleichgültig, sondern bleibt unsicher und fragend mit Jesus im Gespräch, fährt gewissermaßen auf Sicht. Distanziert, diskret, aber nicht gleichgültig – das ist das Trinitatis-Christentum. Und dann erfahren wir plötzlich in der Tiefe unsere Selle, dass es eben doch stimmt: „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren wird“. Wir wissen nicht, woher es kommt, aber es ist da. Unanschaulich, aber es ist Gott. Er ist da. In unserem Leben. Diese Erfahrung gebe er uns, der dreieinige Gott, Trinitatis-Christen, die wir ab heute sind.
Amen.

Anregungen fand ich bei Johann Hinrich Claussen, Religion ohne Gewissheit. Eine zeitdiagnostisch-systematische Problemanzeige, in: PTh 94 (2005), 439-454 und bei Kristian Fechtner, Diskretes Christentum: Volkskirche im Übergang, in: Zeitzeichen 12/H.10 (2011), 22-24.

 

Perikope
31.05.2015
3,1-8

Was beim Abschied gesagt werden kann... Predigt zu Johannes 14,23-27 von Wolfgang Vögele

Was beim Abschied gesagt werden kann... Predigt zu Johannes 14,23-27 von Wolfgang Vögele
14,23-27

Was beim Abschied gesagt werden kann...

"Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen. Wer aber mich nicht liebt, der hält meine Worte nicht. Und das Wort, das ihr hört, ist nicht mein Wort, sondern das des Vaters, der mich gesandt hat. Das habe ich zu euch geredet, solange ich bei euch gewesen bin. Aber der Tröster, der Heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe. Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht."

Liebe Gemeinde,

der sehr kluge, alltagsweise Philosoph Michel de Montaigne, der einen großen Teil seines Lebens in einem Bibliotheksturm verbracht hat, hat einmal gesagt: "Ein Abschied verleitet immer dazu, etwas zu sagen, was man sonst nicht ausgesprochen hätte." Genau das will ich jetzt verfolgen, beim Hören auf die Abschiedsworte Jesu.

Viele Menschen fürchten jede Art von Abschied. Denn Abschiede enthalten stets beides, Aufbruch und Trauer. Wenn die Bahn einmal nicht streikt, steht das junge Liebespaar eng umschlungen vor der offenen Wagentür des wartenden ICE und umarmt sich innig. Die Liebste fährt für mehrere Wochen zum wichtigen Praktikum in der übernächsten Großstadt, und der Liebste kann leider nicht mitfahren, weil ihn im Büro Stapel von zu bearbeitenden Akten erwarten. Der Zugchef hebt schon die grüne Seite der Signalkelle in die Höhe und schaut schon ganz unruhig: Wollen Sie nun mitfahren oder nicht? Für innige Worte ist jetzt keine Zeit mehr, die beiden Liebenden umarmen sich nur ein letztes Mal, dann reicht der Mann seiner Liebsten den vollgepackten Rucksack in den Zug. Wartende am Bahnhof, am Flughafen oder an der Bushaltestelle beobachten solche Szenen regelmäßig. Der Abschied fällt immer schwer, die Liebe bleibt hoffentlich. Übrigens nicht nur bei jungen Liebespaaren, sondern auch bei kleinen Enkeln und Großeltern oder bei heranwachsenden Söhnen, die nach dem Abitur für ein Jahr ein freiwilliges soziales Jahr ableisten. Abschied bildet eine Schwelle, einen Übergang, von Wohnung und Heimat in die weitere oder nähere Fremde. Wer auf dieser Schwelle steht, empfindet zugleich anhaltende Zuneigung und Schmerz über die Trennung.

Genauso nimmt Jesus Abschied von den Jüngern, aber es kommt noch einiges dazu, an Vertrauen, an Angst, an Einsicht in die Welt und Gott. Dem Liebespaar reicht eine innige Umarmung und ein Kuß, um widerstreitenden, aufwallenden Gefühlen spürbare Gestalt zu geben. Im Johannesevangelium findet Jesus von Nazareth zu den richtigen Gesten passende Worte für eine besondere Trennung.

Die wenigen Worte, die er an die Jünger richtet, wirken weit über die Jünger hinaus. Der Evangelist Johannes hat sie in einer Gruppe zu einer Rede zusammen gestellt. Spätere Leser sollen sich in die Jünger hinein fühlen, die sich stellvertretend für alle Christen, die ihnen gefolgt sind, die tröstenden Liebesworte Jesu anhören. Die Menge der Jünger vergrößert sich also durch die Zeit, wir hören die Worte Jesu, als ob sie für heutige Christen gesprochen seien. Darum halte ich den Predigttext für eine der ergreifendsten, schönsten Stellen der Bibel, voll von Trost, Liebe und Geduld, aber genauso auch nüchtern, nah am Leben, frei von Illusionen. Pfingstfreude soll überschäumend und überschwänglich über die Ränder der Gemeinden quellen, aber in dieser Rede Jesu mildert die Nüchternheit des Abschiednehmens den Enthusiasmus über den Heiligen Geist. Das ist der große, manchem trocken erscheinende Wirklichkeitssinn, der sich durch die gesamte Bibel zieht. Im Predigttext findet er einen seiner Höhepunkte. Rote Farben der Pfingstfreude auf der einen Seite stehen nicht den schwarzen Tönen der traurigen Welt auf der anderen Seite gegenüber. Zum Vorschein kommt eine ganz realistische, angemessene Mischung zwischen Abschied und Freude. Denn Rot der Pfingstfreude und Schwarz des Abschieds lassen sich gar nicht paßgenau trennen, beide Farben fließen ineinander über, wie benachbarte Farbflächen auf einer Aquarellmalerei, wenn das Papier noch nicht getrocknet ist.

Die Worte Jesu atmen Trost, Liebe, Zuwendung, Menschenfreundlichkeit gegenüber den verängstigten Jüngern. Sie sehen das Risiko und die Gefahr, in Verzagtheit zurückzubleiben. Als Predigttext haben wir einen Auszug der Abschiedsrede Jesu im Johannesevangelium gehört. Es fehlt der für die Rede wichtige Kontext, der nachgetragen werden soll. Jesus nimmt Abschied von den Jüngern, weil er genau weiß, daß er gekreuzigt werden wird. Im Johannesevangelium weiß er aber mit derselben Gewißheit von seiner Auferstehung drei Tage danach. Er weiß, daß er zu seinem Vater zurückkehren wird. Und er weiß, daß er die Jünger, die für die erste Gemeinde stehen, zurücklassen muß. Den Jüngern wird diese Abwesenheit Jesu Schwierigkeiten machen. Deswegen versucht Jesus, die Jünger vorzubereiten. Er versucht die Jünger zu trösten, bevor er gehen muß.

In unserer Szene stellt Judas, ein anderer Judas als der spätere Verräter, eine Frage. Judas fragt: Herr, was bedeutet es, dass du dich uns offenbaren willst und nicht der Welt? (Joh 14,22) Die Frage zielt auf den Unterschied zwischen der Gemeinde Jesu und der Welt. Der Welt, also allen Menschen, bleibt offensichtlich etwas verschlossen, was die Anhänger Jesu, seine erste Gemeinde, aber auch alle weiteren Gemeinden, die folgten, schon glauben oder verstanden haben.

Der Welt, von der Jesus spricht, bestimmt sich durch die Grundregel des Gebens. Die Menschen kämpfen um Nahrungsmittel, um Liebe, um Aufmerksamkeit und um jede Chance, welche ihr Überleben sichert. Jeder weiß, daß Kooperation mit anderen die Chancen des Überlebens vergrößert, aber es bleibt stets das Mißtrauen, betrogen, getäuscht oder hintergangen zu werden. Wer handelt, um zu überleben, der versucht, für seine eigenen Gaben auch eine Gegengabe zu erhalten. Wer liebt, tut das in der Erwartung, wieder geliebt zu werden. Wer einem anderen hilft, tut das in der Erwartung, daß der andere ihm umgekehrt hilft, wenn er selbst sich in Not befindet. Eine Gabe erfordert eine Gegengabe, wenn auch nicht notwendig in unmittelbarer zeitlicher Abfolge. Das ist gemeint, wenn Jesus sagt: So gibt die Welt. 

Leider funktioniert dieses Prinzip von Gabe und Gegengabe nicht immer. Die meisten Menschen, die gegeben haben, können sich nicht sicher sein, ob sie irgendwann auch das, was sie investiert haben, zurückbekommen. Das Spiel von Gabe und Gegengabe ist durch einen Graben der Angst bestimmt, selbst wenn das Spiel am Ende zum Erfolg der Gegenseitigkeit kommt. Diese Angst lähmt die Menschen und zerstört Vertrauen. Vertrauen geschieht stets auf Hoffnung hin, sie enthält das Risiko, getäuscht zu werden. Deswegen haben die Menschen seit Jahrhunderten unterschiedliche Techniken der Absicherung entwickelt, um sich gegen Täuschung, Betrug und Übervorteilung  zu wehren. Wer sich nicht sicher ist, ob er vertrauen kann, entwickelt Angst. Die Jünger haben Angst. Jesus versucht, ihnen mit seinen tröstenden Worten die Angst zu nehmen. Es geht ihm darum, den Kreislauf von Angst und Vertrauensrisiko zu durchbrechen.

Im Johannesevangelium redet Jesus vor der Kreuzigung zu den Jüngern. Ihm ist das bewußt, was auf ihn zukommt. Der Evangelist Johannes denkt theologisch Kreuz, Auferstehung und Pfingsten zusammen. Der Wendepunkt in der Geschichte Jesu wirkt sich auch auf spätere Gemeinden aus, die jeweils im Kirchenjahr die Geschichte Jesu an den Christusfesten Karfreitag, Ostern und Himmelfahrt, aber eben auch an Pfingsten nachvollziehen und mitgehen. Die ergreifende Abschiedsrede ist so gestaltet, daß Jesus sich im Wissen um sein Schicksal an die ängstlichen Jünger wendet. In der Abschiedsrede verdichtet sich der Trost für die Jünger – und folgend für die Gemeinden, die die Jünger nach Tod und Auferstehung gegründet haben.

Jesu Rede berührt deshalb so sehr, weil sie auf das Herz zielt. Der Rabbi aus Nazareth gibt sich mit den Oberflächen der Menschen gar nicht erst ab. Er weiß, daß Menschen ihre Ängste und Befürchtungen nur allzu gut verbergen können. Im Inneren von vielen sieht es oft anders aus als es nach außen, im Licht der Beobachtung durch andere, erscheinen mag. Der Unterschied zwischen beidem kann Persönlichkeiten zerbrechen lassen und in Beziehungen zu bitteren Enttäuschungen führen. Es zeichnet Jesus aus, daß er solche äußeren Bilder durchschaut. Genau deswegen enthält seine Rede nüchterne Wahrheiten, aber auch bleibenden, nachhaltigen Trost. Nach außen kann sich jeder als zufriedenen, glücklichen Menschen darstellen. Im Unterhaltungsfernsehen sind jeden Tag Beispiele dafür zu sehen, die einen manchmal in ihrer Naivität erschrecken. Im Herzen, vor der eigenen Selbstwahrnehmung brechen alle diese Formen der Selbstdarstellung in sich zusammen. Der Verstand ist nicht in der Lage, die Bewegungen des Herzens zu planen. Das Herz ist ein zerbrechliches, unbestechliches inneres Organ des Menschen, das von Kopf und Hand ganz unabhängig ist. Das Herz bestimmt die inneren Gedanken, die Stimmungen eines jeden Menschen.

Genau darauf, auf das Herz eines jeden Menschen zielt auch die Abschiedsrede Jesu. Nebensachen und Oberflächen läßt er beiseite. Für Jesus ist der Zeitpunkt gekommen, über den Kern der Sache, über den Kern des ängstlichen Menschen zu reden. Die Jünger fürchten sich vor der Abwesenheit ihres Meisters Jesu, so wie heute Menschen an Gott zweifeln. Sie fürchten die Abwesenheit Gottes, denn das würde Angst machen, wenn die Welt nur durch Zufälle und den einen Urknall bestimmt wäre.

Jesus spricht nun vom heiligen Geist. Aber nicht so, daß er den Jüngern eine Information weitergibt, als könnten sie danach im Formular der Selbstverständlichkeiten des Glaubens eine weitere Position abhaken. Der Heilige Geist ist ein Tröster. Er hilft den Jüngern und allen Gemeindegliedern, die ihnen folgen, gegen die Angst. Die Formel läßt sich auch umdrehen: Wo Trost geschieht, ist der Geist anwesend, dort, wo eine schwere Last von einem Menschen abfällt, dort, wo sich Angst plötzlich in Luft auflöst, dort, wo Streit beendet wurde und neue zarten Verbindungen an die Stelle von bleibender Spannung und anhaltender Verhärtung treten. Geist ist dort, wo Trost geschieht, wo Hoffnung und Lebensmut, Glauben und Vertrauen wachsen, manchmal nur als ganz kleine, verletzliche Pflänzchen, die leicht übersehen werden oder die andere schnell wieder zerstören. Wo der Geist wirkt, fallen Mauern, weiten sich Verengungen, brechen Sperren in sich zusammen; Starre bricht auf, Langeweile verschwindet und Verletzungen beginnen zu heilen.

Der Geist tröstet, und in diesem Trost vertreibt er die Ängste, die zerplatzen wie Seifenblasen. Dieser Geist wirkt überall, keineswegs nur in den Gemeinden. Um ihn wahrzunehmen, braucht es Glauben und Vertrauen in Gott. Wer sich gegen die eigenen Ängste selbst helfen will, der verstrickt sich nur tiefer in Ängste, er bleibt in dem gefangen, was die Bibel Sünde nennt. Diese Sünde führt nur immer tiefer hinein in die Spirale der sich verstärkenden Ängste. Der Glaube an den Geist dagegen führt aus der Selbstbezogenheit heraus in die Welt, wo sich neue Entdeckungen des Glaubens machen lassen.

Wer sich auf den Geist einläßt, der begegnet dieser Welt im Glauben. Die Welt erscheint dann nicht mehr als bedrohliches Spiel von Zufällen, Katastrophen und Unglück, dem die Menschen hilflos ausgeliefert sind. Für den Glauben hat sich die Welt verwandelt. Sie wird von der Wüste der bedrohlichen Zufälle zu einer geistlichen Heimat. Dieser Heilige Geist, sagt Jesus, führt zu Gott, der uns Wohnung gibt und bei dem wir Wohnung nehmen. Wer das im Glauben annimmt, der sieht plötzlich die Oasen des Trostes, des Friedens und der Erbauung, die überall aus dem  Vertrauen auf Gott wachsen. Deswegen beendet Jesus seine Trostworte auch mit dieser alten Formel, die in der Bibel an vielen Stellen begegnet, häufig dann, wenn in einer Erzählung ein Engel auftaucht und die Menschen wegen seiner ungewöhnlichen Erscheinung tief beunruhigt sind: Euer Herz fürchte sich nicht. Fürchtet euch nicht, sagt auch der Engel der Weihnachtsgeschichte zu den Hirten, deren Aufmerksamkeit behutsam auf das Kind in der Krippe gelenkt wird.

Wer auf den Geist als Tröster vertraut, der besitzt so etwas wie eine Wohnung bei Gott. Das ist kein Einfamilienhaus mit Fundament und Keller, aus dem die Glaubenden gar nicht mehr ausziehen wollen. Glaube begreift das Leben nicht als Dauerzustand, in dem Sicherheit herrscht, weil sich gar nichts mehr ändert. Eher geht es um eine transportable Wohnung, ein Zelt, das jeden Glauben auf seinem Weg und in den vielen Verwandlungen seines Lebens begleitet, bis es einmal endet in dem, was sich Christen in Glauben und Vertrauen erhoffen: in dem Reich, das Jesus genauso angekündigt hat wie den Geist, der tröstet. Der Trost im Abschied Jesu führt mitten ins Leben hinein.

Brechen wir auf! Amen.

Perikope
24.05.2015
14,23-27

„Friedensangebot“ - Predigt zu Johannes 14,23-27 von Monika Waldeck

„Friedensangebot“ - Predigt zu Johannes 14,23-27 von Monika Waldeck
14,23-27

„Friedensangebot“

Ein ganzer normaler Montagmorgen mit der lokalen Tageszeitung. Ich lese:

1. Ein Boot voll mit Flüchtlingen aus Myanmar wurde am Samstag von der thailändischen Marine wieder aufs offene Meer geschleppt. Die Menschen waren drei Monate auf dem Wasser und dem Verhungern nahe.

2. Nach dem Erdbeben in Nepal wurden Babys, die von nepalesischen Leihmüttern ausgetragen worden waren, zu wohlhabenden Paaren nach Israel ausgeflogen.

3. Die Trendfarben des Sommers 2015 könnten kontrastreicher nicht sein. Liebliche Aquatöne treffen auf leidenschaftliches Orange und feuriges Grün.

4. 70 von 241 an einer Essstörung erkrankten Jugendlichen sagen, dass Heidi Klums Sendung: Germanys next Topmodel einen starken Einfluss auf ihre Erkrankung hat.

5. Die Firma Hauser Reisen wirbt mit Trekkingtouren in Tibet auf den Pfaden der Erleuchtung zum heiligen Berg Kailash.

O.K. denke ich, der ganz normale Wahnsinn. Trinke meinen Kaffee aus und mache mich auf den Weg zu meiner Arbeit.
Vermutlich bin ich nicht die Einzige, die jeden Tag diesen Spagat hinter sich bringt aus dem Wahrnehmen von irrsinnigen Meldungen aus aller Welt und dem Bemühen, sich einen sinnvollen, strukturierten Alltag zu gestalten.

Oder sind wir selbst etwa wahnsinnig geworden?
In der Regel schaffen es überraschend viele Menschen, die beunruhigenden Signale einer aus den Fugen geratenen Welt zu ignorieren. Und finden das, was täglich geschieht eigentlich ganz normal. Kein Problem. Oder wie man neuerdings gerne sagt: „Alles ist gut.“
Dann rege ich mich höchstens in Stammtischgesprächen darüber auf  oder in Leserbriefen. Und kaufe Möbel in den neusten Trendfarben. Oder buche eine Reise nach Tibet. Weil da bisher noch nicht so viele Leute waren.

Ein paar Ausnahmen gibt es zwar.
Die, denen die Normalität nicht gelingt. Die zu einfühlsam sind, zu ängstlich, zu verzweifelt, zu hoffnungslos. Die dann schwierig werden, nicht funktionstüchtig, depressiv, aggressiv, süchtig.
Aber für die ist ja gesorgt, mit Beratungsstellen, Ärzten, Medikamenten, Psychiatrien.

Und uns selbst haben wir vor allen möglichen Risiken des Lebens versichert. Das mindert die Angst vor den Unwägbarkeiten und Schicksalsschlägen des Lebens, meinen wir. Oder doch nicht so ganz…?

„Um uns vor dem Wahnsinn zu bewahren, müssen wir den Wahnsinn verdrängen, in dem wir leben“, schrieb der Theologe Henning Luther 1991.

Manchmal allerdings, da gelingt das nicht. Da rücken uns Geschehnisse unversehens näher, nämlich dann, wenn wir uns emotional mit ihnen verbinden.

Wie geht ein thailändischer Soldat nach seinem Einsatz nach Hause? Kann er die schwankende, überladene Nussschale auf dem Meer vergessen, von der aus ihn hungrige und durstige Männer, Frauen und Kinder um Hilfe angefleht haben?

Wie fühlt sich das 14-jährige Mädchen, das von ihren Klassenkameraden täglich als „fette Kuh“ beschimpft und wegen ihres Körpers nie zu anderen eingeladen wird?

Wie erlebt ein Schulkind in den Bergen Tibets die europäischen Touristen, die ihm auf ihrem Schulweg ins Tal entgegenkommen? Die Touristen in ihren teuren Bergschuhen, während es selbst barfuß den steinigen Weg bewältigen muss?
Sind das nur Einzelschicksale, traurig, aber nicht zu ändern?

Oder ist die Welt womöglich gar nicht aus den Fugen geraten, weil sie nie in welchen verankert war?
Gibt es am Ende gar keine Struktur, keinen Trost, keinen Frieden, keinen Sinn in allem?
Zwar haben wir uns gegen viele Risiken versichert, aber dennoch bleibt ein Rest.
Den spüren wir, wenn wir Lebenserfahrungen machen, die nicht zu fassen sind und uns um den Verstand bringen. Krankheit, Trauer beim Verlust eines Menschen durch Tod oder den Abbruch von Beziehungen, Schuld. Dagegen kann man sich nicht versichern.

Dann bräuchte man so etwas …wie Religion. Also ein Sinnangebot, wenn es mal nicht klappt, wie es soll, (…und einem doch eigentlich zustünde, zumindest wenn man in der westlichen Welt lebt.)
Bisher bot sich da in unseren Breitengraden die christliche Religion an. Evangelisch oder katholisch gefärbt. Aber wem das nicht gefällt, der kann sich inzwischen auch eine eigene suchen.

Heute, hier im Gottesdienst zu Pfingsten könnte ich Ihnen also sagen:
„Jesus spricht uns Trost zu. Er schickt den Hl. Geist, damit wir in unserem mit Sorge erfüllten Leben keine Angst haben müssen, der Geist soll in uns wohnen und uns Sinn und Halt geben.“  Schon wäre die Predigt fertig.

Henning Luther allerdings hätte dazu eine klare Meinung. Er würde mir als Predigerin sagen: „Ein Gott, den es gibt, weil wir ihn brauchen, ist ein Selbstwiderspruch.“
Eine religiös überhöhte Vertröstung und Verdrängung eben.

Ich gehe einen anderen Weg und schaue noch einmal in den Bibeltext. Jesus sagt: „Ich gebe euch keinen Frieden, wie ihn die Welt gibt.“ Es ist kein Sinn im Wahnsinn der Welt. Und alles Bemühen, ihn zu finden, mag die Angst für einen Augenblick lindern, aber im nächsten ist sie schon wieder da.
Jesus sagt: Zum Abschied schenke ich euch Frieden. Ich gebe euch meinen Frieden.“

Was das für ein Frieden ist, kann ich in den Momenten spüren, in denen ich es wage, meinen Gefühlen Raum zu geben, die helfen, hinter die Fassaden des Wahnsinns zu schauen.

Wenn ich bereit bin, die Schuldgefühle des Polizisten zu auf mich wirken zu lassen, der seinem Befehl gefolgt ist, aber von den Augen der hilflosen Flüchtlinge im Meer verfolgt wird.

Wenn ich mich auf die Einsamkeit des Mädchens einlasse, das von einer unbarmherzigen Norm für Körpermaße auf ihr Lebensglück schließt.

Wenn ich darüber klage, dass viele Kinder auf der Welt keine Schuhe haben und mich dafür schäme, dass Menschen aus meiner Nachbarschaft  ihren Reichtum in einem bitterarmen Land ungeniert zur Schau stellen.

Der Frieden, den Jesus meint, geht dem Schmerz nicht aus dem Weg, nicht der Trauer und vor allem nicht der Einsamkeit, die aus ihm erwächst.
Das hat Jesus auch nicht getan, er hat erlebt, was es bedeutet, schuldig, ausgeschlossen, beschämt und traurig zu sein.
Sein Friede wird erlebbar im inneren Kontakt mit Menschen, die an Abgründen oder an Schwellen ihres Daseins stehen.

So verstehe ich die Bedeutung des Heiligen Geistes.
Er soll unser Beistand sein, denn „…der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich selbst euch gesagt habe.“
Erinnern und mahnen, sich nicht täuschen zu lassen von der vermeintlichen Sicherheit und den tagesaktuellen Trends, die uns der Zeitgeist verspricht.
Sich an alles erinnern, was Jesus gesagt hat, das meint, dass wir die Hoffnung nicht auf die Dinge setzen, die „die Welt“ wichtig findet, sondern auf Gott allein.
Wie das geht? Jesus sagt: „Wer mich liebt, wird sich nach meinem Wort richten.“

Das sind die Freiheit, die kritische Kraft und der Trost der Religion. Mit dieser Liebe im Herzen werden wir uns nicht fürchten müssen vor dem, was das Leben uns abverlangt.


Zitate:
Henning Luther: Die Lügen der Tröster; Das Beunruhigende des Glaubens als Herausforderung für die Seelsorge, in: PrTh 33 (1998), 163-176
 

Perikope
24.05.2015
14,23-27

Worthalter, Seelentröster, Überweltfrieden - Predigt zu Johannes 14,23-27 von Christoph Maier

Worthalter, Seelentröster, Überweltfrieden - Predigt zu Johannes 14,23-27 von Christoph Maier
14,23-27

Worthalter, Seelentröster, Überweltfrieden

Liebe Gemeinde,

was soll ich bloß schenken? Angemessen soll es sein, nicht zu aufdringlich, aber auch nicht zu banal. Da feiert die Kirche nun also heute ihren Geburtstag und wir sind die Geburtstagsgäste. Eingeladen wurden wir mit unserer Taufe. Eine ganz besondere Einladungskarte aus Wasser und Geist wurde rechtzeitig verschickt [und wir haben vorsorglich auch noch einmal eine Erinnerung aus Papier hinterhergeschickt]. Schön, dass Sie alle gekommen sind!

Wie bei jedem Geburtstagsfest gibt es heute auch ein richtiges Festessen. Der Hausherr selbst, Jesus Christus, gibt sich am Abendmahlstisch die Ehre, mit uns gemeinsam zu feiern. Für Essen und Trinken ist gesorgt.
Bleibt noch zu klären, was wir als Geschenk mitbringen wollen?
Schauen wir uns doch einmal den Predigttext des heutigen Pfingstfestes näher an, vielleicht finden wir dort ein angemessenes Geschenk. Bedeutsam aber nicht überheblich, persönlich ohne uns in den Vordergrund zu spielen.

Der Evangelist Johannes hat zumindest alles schon mal schön in Wörter eingepackt, wie es so die Art dieses Evangelisten ist – unverkennbar. Ich erinnere nur an den Anfang seines Evangeliums. Kunstvolle Hülle mit Worten, die man gar nicht auspacken möchte, so schön sind Sie.
Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott selbst war das Wort. [...] Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit. (Joh 1,1.14a)
Und auch hier in unserem Pfingstsonntagstextgeschenk:
Wer mich liebt, der wird mein Wort halten [...] und das Wort, dass ihr hört, ist nicht mein Wort, sondern das des Vaters, der mich gesandt hat. (Joh 14, 23a.24)

Johannes wickelt immer alles so schön ein. Vielleicht sollten wir zunächst erst mal ein wenig auspacken. Wir wollen ja wissen, was wir schenken. Wenn ich also versuche, die Einwickel- und Verwicklungswörter wegzudenken, dann kommen drei Dinge zum Vorschein:

Ein liebevoller Worthalter
Ein Seelentröster
Ein überweltlicher Friede

Dinge, die die Welt nicht braucht? – die Kirche aber ganz bestimmt!

Ein Worthalter,
ein liebevoller Worthalter. Kein Staubfänger fürs Regal, sondern ein kleiner Schatz kommt hier zum Vorschein. Worthalter halten nicht nur fest, sie bewahren und bewachen, sie schützen und pflegen das Wort, das sie halten. Und das Wort, das gehalten wird, ist mehr als eine Aneinanderreihung von Buchstaben. Es glänzt, das Wort. Es glänzt in diesem Wort, die Herrlichkeit Christi, die Heiligkeit der Thora, Gottes Gesandter und Gottes Weisung sind in changierenden Farben in diesem Wortglanz zu entdecken. Wer mich liebt, der wird mein Wort halten. (Joh 14, 24) Liebe hält Wort und das Wort enthält Liebe: „Wer werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“
Das Wort, das dort gehalten wird, ist mehr als „richtig leben“ ist mehr als „sich nach Gottes Gebot richten“ Das Wort, das dort gehalten wird, ist uns von Christus gegeben als ein Schatz, den es zu bewahren und zu bewachen, zu schützen und zu pflegen gilt. Und auch Christus hat dieses Wort nicht von sich genommen, sondern hat es als Gesandtschaft des Vaters erhalten.
Der Worthalter, der liebevolle, kein Staubfänger fürs Regal. Er hält Herrlichkeit, Heiligkeit, hält Christus selbst und die Wohnung Gottes. „Wer mich liebt, ist Worthalter und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“

Wir schenken der Kirche zum Geburtstag Worthalter. Worthalter, das erste Geschenk zum Pfingstfest für die Kirche. Worthalterinnen und Worthalter das sind wir, geliebte Schätze und Wohnungen für Gott.

Schauen wir uns das nächste Geschenk an:
Ein Seelentröster,
das wird immer wieder gerne verschenkt. Eine originelle Geschenkidee für unsere Kirche diese junggebliebene alte Dame mit leicht depressiven Zügen, oder ist das noch die Midlife-Crisis? Wer Seelentröster im Internet bestellen will, findet interessante Treffer:
An oberster Stelle steht natürlich: Schokolade. Aber auch ein Aroma Schaumbad mit dem Namen Seelentröster wird zum Kauf angeboten und dann noch - neben jeder Menge Ratgeberliteratur und Musikangeboten - das kleine Sorgenfresserchen. Das mit einem Reisverschluss statt Mund ausgestattete Plüschwesen soll Kindern als Kummerkasten dienen können. Eine Form sich mitzuteilen, Trost zu finden, wo reden nicht hilft, oder niemand da ist, mit dem man reden könnte.
Der Evangelist Johannes kennt unsere modernen Seelentröster nicht. Den Seelentröster, den er in unserem Pfingstsonntagstextgeschenk eingepackt hat, ist niemand anderes als der Heilige Geist, der Paraklet, wie der Heilige Geist im Johannesevangelium genannt wird. Zum Pfingstfest keine ganz unwesentliches Geschenk, das die Kirche da erhält. Allerdings sieht der Heilige Geist als Seelentröster doch etwas anderes aus als der feurige Begeisterer, der Massenbekehrer oder der Ekstatiker, der Menschen in fremden Zungen reden lässt.
Der Heilige Geist, wie ihn Johannes vorstellt, der Seelentröster, ist einer, der erinnern wird, an alt Bekanntes, der neu lehren wird, was im Laufe der Zeit verloren gegangen ist. Der Heilige Geist, der Tröster hält aktuell, was Christus als Gotteswort gelebt hat: „Aber der Tröster, [...] der wird euch alles lehren, was ich euch gesagt habe.“

Dieser Heilige Geist ist weniger Feuer und Wind eher Schokolade und Schaumbad. Ist weniger spektakulär, ist vielmehr „Seelentröster“ - wie Schokolade: Süßigkeit gegen das Bittere im Leben. „Seelentröster“ - ein warmes Schaumbad, das einhüllt und uns umgibt wie Gottes Liebe.
Seelentröster, Sorgenfresser, „lasst euch nicht entmutigen“ (Joh 14,27 NGÜ), „Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht“ (Joh 14,27 LTH).
Ob dieses Geschenk ankommen wird, zum Geburtstag der Kirche?

Bleibt das letzte Geschenk
Frieden, der nicht von dieser Welt ist, haben wir mitgebracht. Nein, wir haben ihn nicht mitgebracht: Er wurde uns gelassen und wird uns gebracht. Im Auswickeln dieses letzten Pfingstsonntagstextgeschenkes wird besonders deutlich, wie kunstvoll Johannes alles eingewickelt hat. Es ist ein eigenartiges Vorhandensein des Abwesenden, das uns geschenkt wird. „Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.“ Die Anwesenheit des Abwesenden, die Gabe des Überlassenen, durchwebt den ganzen Text und macht ihn gerade so zu einem himmlischen Geschenk, das auf der Erde nirgends zu haben ist. Gottes Liebe, der Heilige Geist und nun der Friede. Was wir der Kirche heute zum Geburtstag bringen, ist immer auch schon da, in ihr, in uns, die wir Kirche sind:
„Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.“ Was Jesus zurücklässt, wird er uns bringen. Was wir schon haben, wird eine Gabe sein. Halten und empfangen, geben und beschenkt sein, Himmel und Erde, Gegenwart und Zukunft, das alles ist in diesem Pfingstsonntagstextgeschenk ineinander gewickelt.

Gehalten von einem trinitarisches Gottesband, das alles umgibt. Der Vater, der dem Sohn das Wort sendet. Der Geist der im Namen des Sohnes gesandt wird vom Vater. Ein dreifacher Knoten hält dieses Geschenk zusammen.

Ich finde, Es ist ein passendes Geschenk. So können wir kommen und Geburtstag feiern, so gratulieren wir heute, der Jubilarin und bringen ihr mit, was wir entdeckt haben: die liebevollen Worthalter, die getrösteten Geistbegnadeten, die mit Gottesfrieden beschenkten.
Dieses Geschenk an die Kirche, das wir im Text des Johannesevangeliums eingewickelt gefunden haben, sind wir selbst. Wir können uns zum Geburtstag der Kirche nur selbst schenken. Und wir tun es demütig als selbst beschenkte.

Amen

Predigtlied: Taizé - Frieden, Frieden (www.youtube.com/watch?v=hgBX4K9MJOU)

Perikope
24.05.2015
14,23-27

KONFI-IMPULS zu Johannes 14,23-27 von Christina Hirt

KONFI-IMPULS zu Johannes 14,23-27 von Christina Hirt
14,23-27

Gottes Geist – unsichtbar aber wirkungsvoll

Der Heilige Geist taucht thematisch im Konfirmandenunterricht oft nur am Rand auf. Vielleicht auch, weil die Konfirmationen vor Pfingsten abgeschlossen sind und die neuen Jahrgänge erst danach starten. Dabei könnte man einige Verbindungen im Jahresprogramm schaffen, beispielsweise bei den Themen „Unsere Gemeinde“, „Sterben und Auferstehung“, „Schuld und Vergebung“. Sie alle gehören ja zum dritten Glaubensartikel.

Einstiegsfrage: Es gibt Dinge, die können wir mit unseren Augen nicht sehen, aber wir können ihre Auswirkungen erkennen. Was fällt euch dazu ein?
Ergebnisse: Elektrizität, magnetische Felder, Wind, Sauerstoff, Gefühle (Angst und Liebe), Schall (wir können Worte nicht sehen – wohl aber hören), Wärme, Gravitation, Kraft. Von dieser ersten Sammlung lassen sich schon sehr viele Verbindungslinien zu biblischen Beschreibungen des Heiligen Geistes ziehen.

Bibel-teilen in der Gruppe
Nachdem wir in der Gruppe den Abschnitt aus dem Johannesevangelium gemeinsam gelesen haben, haben die Jugendlichen Worte oder Satzteile wiederholt, die sie besonders ansprechend fanden.
Interessant war für mich, dass sich die Mehrfachnennungen auf wenige Sätze, bzw. Satzteile konzentrierten:
„der Geist der Wahrheit“ (14,17)
„Ich lasse euch nicht wie Waisenkinder allein;“ (14,18)
„Wer meine Gebote annimmt und sie befolgt, der liebt mich wirklich.“ (14,21)
„… und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen.“

und wir werden bei ihm wohnen…
Was bedeutet das für dich? Hier die Antworten der Konfirmanden:
Dass ich einen inneren Frieden habe,
dass ich mich selbst lieben kann und weiß, dass ich wertvoll bin,
dass ich nie allein bin,
dass ich einen direkten Zugang zu Gott habe,
dass mir Vertrauen geschenkt wird.

Ich hatte den Eindruck, dass für die Jugendlichen der Aspekt der Nähe, der Würdigung und auch der Verbindung zu Gottes Kraft sehr ansprechend ist.
 

Perikope
24.05.2015
14,23-27

Kirche-sein, Christ-sein zwischen gestern und morgen! - Predigt zu Johannes 15,26-16,4 von Jens Junginger

Kirche-sein, Christ-sein zwischen gestern und morgen! - Predigt zu Johannes 15,26-16,4 von Jens Junginger
15,26-16,4

Kirche-sein, Christ-sein zwischen gestern und morgen!

Zwischenzeit, zwischen den Zeiten,
das ist die Zeit,
zwischen Totensonntag und 1. Advent
zwischen Weihnachten und dem Jahreswechsel
das ist die heikle, zerbrechliche und spannungsreiche Zeit
zwischen dem Erfahren der Todesnachricht und der Bestattung
zwischen der Mitteilung: wir haben bei ihnen ein Geschwür diagnostiziert und dem Zeitpunkt des operativen Eingriffs,
zwischen dem Ende der Weltkriege und dem politischen Neubeginn,
zwischen Weggehen, Heimat verlassen und dem Neustart in einem fremden Land.

Zwischenzeit, zwischen den Zeiten,
das ist die Zeit der Freunde Jesu,
zwischen Himmelfahrt und Pfingsten
zwischen dem endgültigen Wegsein Jesu
dem verunsicherten bedauerndem Blick zurück
und der Zögerlichkeit vor einer offenen ungewissen Zukunft,
zwischen dem Leben einer vielfältigen Glaubensgemeinschaft und
der Abgrenzung und Trennung in zwei eigene Richtungen.
 
Zwischen den Zeiten,
das kennzeichnet auch unsere heutige Situation als Christengemeinden,
als Kirche, als christliche Religion:
Zwischen einem verunsichert, zaghaften Dasein Hier und Jetzt und
einer neuen nach-, postchristlichen Zeit.
In einer solchen Zwischenzeit
neigen wir mehr zum seufzenden Klagen über den Verlust des Vergangenen und über die befremdlichen neuen Umstände als zur zuversichtlichen Hoffnung.

Der Evangelist Johannes schreibt sein Evangelium in eine solche Zwischenzeit hinein:

Im römisch besetzten Palästina haben die Römer 70 n. Chr. also etwa 40 Jahre nach Jesu Tod zum wiederholten Mal den Jerusalemer Tempel zerstört, den Sammel- und Identifikationsort des gesamten jüdischen Volkes – auch der Jesusanhänger.
Die Tempelzerstörung, das ist wie wenn man hier unsere Stadtkirche und alle anderen Kirchen auf einmal zerstören würde.
Stellen wir uns vor, wenn diese religiösen Identifikationsgebäude, diese „Glaubensgasthäuser“ [Fulbert Steffensky] und Zufluchtsorte für die dramatischen Stunden des Lebens,
für die Veröffentlichung der Sperrigkeit der biblischen Botschaft, 
für das Trösten und Trost empfangen der Glaubens-Geschwister
und für das Skizzieren der schönen Bilder, die das Gelingen des Lebens träumen,
wenn die auf einen Schlag weg wären.

Die erneute Zerstörung des Tempels – nach 70 n Chr rüttelte die gesamte jüdische Bevölkerung gewaltig durcheinander, verstörte und verunsichert sie.

Auch die religiösen Autoritäten suchten eine klaren Linie – so wie heute die politischen Autoritäten Europas eine klare Linie suchen, im Blick auf eine gemeinsame Flüchtlingspolitik: Reinlassen oder Abschotten.
Diese ganz eigenwillige prekäre Zwischenzeit fließt beim Evangelisten Johannes in Jesu Abschiedsrede ein, in der er  die Zwischenzeit  seiner Freude in den Blick nimmt – wenn er weg sein wird.
Johannes schreibt:

Wenn ich beim Vater bin,
werde ich euch den
Beistand schicken.
Das ist der
Geist der Wahrheit,
der vom Vater kommt.
Wenn er kommt,
wird er als Zeuge für mich auftreten.
Auch ihr werdet als Zeugen für mich auftreten,
denn ihr seid von Anfang an bei mir gewesen.
Das habe ich euch gesagt,
damit euch niemand von mir abbringen kann.
Sie werden euch aus der
jüdischen Gemeinde ausschließen.
Ja, es kommt die Stunde:
Dann wird jeder, der euch tötet,
meinen,
dass er Gott damit einen Dienst erweist.
Das werden sie tun,
weil sie weder den Vater
noch mich erkannt haben.
Ich habe euch das alles nicht von Anfang an gesagt,
weil ich ja bei euch war.

[Übersetzung Basisbibel]

Sind wir nicht weit weg, wovon hier die Rede ist,
auch von der Wahl der Worte, Sprachbildern
vom Synagogenausschluss/
vom Ausschluss aus der jüdischen Gemeinde ? 
Das sind wir – in der Tat. Und dennoch brauchen wir die Fremdheit mancher Texte um uns darin zu lesen, um etwas über uns selbst zu erfahren.

Ich will versuchen den Text in unsere Lage hinein zu übersetzen,
in der Erwartung und mit der Absicht
tatsächlich auch etwas über uns selbst zu erfahren
und für uns zu begreifen.
So kann der Text zu einem tröstlichen Beistand werden sein und vielleicht behilflich sein beim Aufspüren wo und wohin uns der Geist der Wahrheit weht.

Ich greife zu allererst das Phänomen des Ausschluss aus der jüdischen Gemeinde auf.
Es ist ein ganz spezifisches Kennzeichen für diese Zwischenzeit, nach 70.n.Chr.
Nämlich die Frage des Beibehalts einer Vielfalt von innerjüdischen Glaubensausprägungen und die der Abgrenzung.
Die kennen wir sowohl aus der Geschichte des Christentums selbst, der allgemeinen Religionsgeschichte und aus gegenwärtigen Entwicklungen:
 
Religionen bilden sich, formieren sich, verselbständigen sich, religiöse Strömungen entstehen, Richtungen und Konfessionen.
Die christliche geht aus der jüdischen hervor. Die evangelsiche Kirche bildet sich aus der katholischen Kirche heraus.
Auch gegenwärtig gründen sich fortwährend neue eigene freie christliche Gemeinschaften mit einer befremdlich eigentümlichen fundamentalistischen Bibelauslegung. 
Und wir beobachten neu was innerhalb des Islams an Unterscheiden  und Konflikten ausbricht ist, gerade unter Gruppen die sich bis aufs Messer abgrenzen (Bsp. Jemen)
Der Gemeindeausschluss besagte damals, in dieser prekären politisch und religiös verunsicherten Zwischenzeit,
dass die Juden, die an Jesus als den Messias glaubten nicht mehr in der Synagoge beim Gottesdienst dabei sein sollten.
Es wurden klare, eben auch ausschließende Glaubens-Richtlinien festgelegt.

Liebe Gemeinde,
dieser Textabschnitt aus dem Johannes Evangelium liest uns:

Nun ist die besondere Situation der Zwischenzeit
davon gekennzeichnet, dass sich etwas ändert.
Es bleibt zurück, was war.
Gegenwart und Zukunft trennen sich von der Vergangenheit. Erlebtes bleibt zurück, bekanntes, vertrautes, verklärtes vielleicht auch.
Es fehlt jemand.
Jesus blickt in seiner Abschiedsrede in diese Zwischenzeit seiner Freunde hinein und auf die Zeit nach ihm. Der Evangelist sieht zugleich die Zwischenzeit als Ende und Neubeginn für die Jesusgläubigen Juden.

Verlassen, unsicher, niedergeschlagen bleiben die Freunde zurück. Er ist tatsächlich weg,
aufgefahren in den Himmel.
Er ist und bleibt unerreichbar im Sinne von nicht greifbar.
Das ist auch unsere Situation als Christen.

Allein die inspirierende Botschaft von Jesus von Nazareth ist geblieben.
Sie hat zweifelsohne in den letzten Jahrzehnten innerhalb der nördlich-westlichen Hemisphäre an ihrer wegweisenden, begeisternden Wirkung deutlich eingebüßt.
In anderen Teilen der Welt ist das nicht so.
Auch wir sind unsicher:
Wir wissen oft nicht, wie wir sie rüberbringen können, in unsere Zeit hinein, dass der Inhalt verstanden und beachtet wird und relevant bleibt. 
Ein neues Bibliorama in Stuttgart ist ein attraktiv klingender Versuch die biblische Botschaft ins Heute zu übersetzen. In der Mitmachausstellung können die Besucher 14 biblischen Personen und Martin Luther begegnen.

Wir sind scheu und zurückhaltend darin geworden die Geschichten von der Rettung des Lebens, von der Befreiung aus Sklaverei, von der von Gott geschenkten Würde des  Menschen, von der Vergebung, vom Frieden laut und deutlich zu erzählen.

Wir sind nicht mehr wirklich stolz
auf die frohe Botschaft für die Armen
und darauf, dass man bei dem,
der viel hat auch viel holen soll,
und dass genug für alle da ist.

Wir sind ängstlich geworden,
für diese christliche/biblische Botschaften einzutreten und sie öffentlich und untereinander einzuklagen. Wir sind pragmatischer, angepasster und bescheidener geworden.

Ich kann mich in meiner beruflichen und gesellschaftlichen Position nicht outen, mit dem was ich glaube und dass ich glaube, sagte jemand, der nicht in dem Tuttlinger Kirchentagsbüchlein „Was glaubst du denn“ mit einem eigenen Text erscheinen wollte.

Wir sind deutlich unsicherer geworden:
Zuversicht, Hoffnung - gegen allen Augenschein- auszustrahlen,
das ist das Kennzeichen der Zwischenzeit, die wir erleben.
Wir haben das Bezeugen unseres Christlichen Glaubens und Haltungen ziemlich runtergefahren, obwohl wir keinerlei Nachteile befürchten müssen.
Der tröstliche Beistand, der Geist der Wahrheit, inspiriert uns allenfalls noch von Zeit zu Zeit.

Die Ankündigung eines tröstlichen Beistands in Jesu Abschiedsrede leistet uns aber heute Beistand, unser Dasein, unsere Lage als Christengemeinden/ Kirche zwischen den mitunter so wunderbar empfundenen guten alten christlichen Zeiten und dem nachchristlichen säkularen Zeitalter zu erkennen.

Gerade in dieser Zwischenzeit, zwischen den Zeiten – gilt es – so verstehe ich Jesu Abschiedsrede - nicht zu warten auf den für immer verreisten aufgefahrenen Hausherrn – sondern den Geist des Hausherrn wehen zu lassen, uns auszustrecken nach dem was vor uns liegt (Phil 3,3).
Denn diesen „Christus werden wir nicht loskriegen“[Peter Bichsel].
Dieser Geist der Wahrheit, dieser  Geist Gottes, der Geist dieses Jesus von Nazareth will uns Christenmenschen für Wahrheiten begeistern, auf die Menschen warten und angewiesen sind: Auf Wahrheiten,
die beherzt ausgesprochen, bezeugt sein und weitergeben werden wollen und eingeklagt werden sollen.
dass Gott uns trägt, bis ins Alter und wir grau und dement und sterblich werden
dass es verwerflich ist das Menschenleben unter dem gesellschaftlichen Kosten-Nutzen Faktor zu beurteilen – weder die Alten, Kranken noch die Flüchtlinge
dass Sorge und Fürsorge- Pflege- und Erziehungsarbeit gesellschaftlich wertgeschätzt und deutlich höher honoriert werden müssen
dass Respekt vor Rendite gehen muss
dass Kinder ein Recht auf religiöse Erziehung haben, mehr noch, dass sie darauf angewiesen sind zu Gast sein zu können in Geschichten die vom Leid und vom Gelingen erzählen, die beides, das traurige Elend und die Sehnsucht nach dem Land ohne Elend ausmalen
Der Geist  der Wahrheit will uns für die biblisch-christlichen Wahrheiten begeistern,
dass diese Erde ein Geschenk ist, kein Privatbesitz von Konzernen, sondern eine Leihgabe
dass Gott die Quelle allen Lebens ist und nicht wir Menschen,
dass Gott vor uns da war und nach uns sein wird
dass die Liebe zur Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung stets neu aufflammen möge und - dem Freihandelsabkommen zum Trotz  -   nicht verlöschen darf
dass wir begeistert, fröhlich taufen und als Eltern Paten Gemeinde unsere Gesichtszüge, unseren Glauben und unsere Optionen und den Schatz der Religion zeigen, so dass sie ihren eigenen Lebensglauben bilden können, auf ihrem Weg in das Land der Verheißung.

Zwischen den Zeiten,
zwischen Tradition, schamhafter Zurückhaltung und der Sehnsucht derer, die nach uns das Licht der Welt erblickt haben und erblicken werden,
der Sehnsucht nach tragfähigen Wahrheiten und zukunftsfähigen Überlieferungen,
zwischen den Zeiten, zwischen Himmelfahrt und Pfingsten,
da hören wir die unmissverständliche Ansage Jesu an uns:
„Ihr werdet als Zeugen für mich auftreten“.
Amen



 

Perikope
17.05.2015
15,26-16,4

Predigt zu Johannes 14,23-27 von Rudolf Rengstorf

Predigt zu Johannes 14,23-27 von Rudolf Rengstorf
14,23-27

(Judas, nicht der Ischarioth, fragte Jesus: Herr, was ist’s, dass du dich uns willst offenbaren und nicht der Welt?)

Jesus sprach zu seinen Jüngern: Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen. Wer aber mich nicht liebt, der hält meine Worte nicht. Und das Wort, das ihr hört, ist nicht mein Wort, sondern das des Vaters, der mich gesandt hat. Das habe ich zu euch geredet, solange ich bei euch gewesen bin. Aber der Tröster, der Heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.  Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.(Johannes 14,23-27)

Liebe Leserin, lieber Leser!

Ganz unterschiedlich sind die beiden Lesungen, die wir im, Gottesdienst am Pfingstsonntag hören. Bei der ersten aus der Apostelgeschichte  geht ja regelrecht die Post ab. Wenn der Heilige Geist das kleine Häuflein der Jünger einem Sturme gleich so packt, dass sie mit Feuer und Flamme von Jesus erzählen und deshalb sofort verstanden werden, auch von denen, die aus Ländern mit schier unaussprechlichen Namen kommen. Eine story voller action, die sich sofort einprägt, weil man sie förmlich vor Augen hat.

Davon hat die zweite Lesung aus dem Johannesevangelium nichts. Die Begriffe wie Liebe, Wort Jesu, Tröster und Friede bleiben blass. Sie malen keine Bilder, geschweige dass sie die Hörer in eine Geschichte hineinziehen. Und ausgerechnet über diese zweite Lesung soll nun gepredigt werden. Und das - so mag man und frau befürchten - verheißt nichts Gutes.

Doch. Denn was hilft es, wenn wir hier ganz gegen unsere norddeutsche Art in Begeisterung machten über eine Kirche, die im Anfang vom Brausen des Geistes erfüllt und Feuer und Flamme war für den Glauben an Jesus und damit einen unglaublichen Erfolg hatte - nur um dann am Ende ernüchtert festzustellen. So ist das bei uns nicht. Macht nichts. Muss auch nicht. Weil das eine Sonntags- oder Kalenderblattgeschichte ist. Nicht dass es so was nicht gäbe - solche Festtage des Glaubens. Auf dem Kirchentag in Stuttgart werden das Zehntausende in wenigen Tagen wieder erleben.  Tage voller Schwung und geistlicher Hochstimmung; Tage, an denen es eine Freude ist, Christ zu sein und zu erleben, wie der Glaube spielend die Grenzen von Konfessionen und auch Parteien überspringt und einen nicht nur innerlich in Fahrt bringt. Doch die Regel ist das nicht. War es auch damals in den Anfängen der Kirche nicht.

Das zeigt die Frage eines Jüngers, die der zweiten Lesung unmittelbar vorausgeht: "Herr, was bedeutet es, dass du dich uns offenbaren willst und nicht der Welt?" Da können wir direkt anknüpfen: Was bedeutet es, dass alle Welt sich "schöne Pfingsten" wünscht, aber kaum jemand damit etwas zu verbinden weiß? Was bedeutet es, dass wir mit unserem Glauben nicht unser Umfeld auf unserer Seite haben, sondern eher von Gleichgültigkeit umgeben sind

oder sogar - wie weithin in den Medien - von arroganter Blasiertheit, die die christlichen Hinterweltler mitleidig belächelt? Solange die Christen am Gekreuzigten festhalten, war das nicht anders und wird es nie anders sein. Es wird nie und nimmer zum Volkssport, nie und nimmer zum massenattraktiven event werden, einen Gott zu verehren, der sich auf die

Seite der Opfer und der Verlierer stellt. Und da müssen wir gar nicht auf die da draußen sehen. Da brauchen wir nur ins eigene Herz zu schauen. Das hätte doch auch lieber einen Gott, der uns vor Unangenehmem bewahrt und sich nach unseren Wünschen und Sehnsüchten richtet. Das steckt in uns drin von Natur aus und ist ja auch sympathisch.

Doch Gottes Sympathie geht weiter bis zu denen, die ganz unten sind und bis hin in die Dunkelheiten und Abgründe unseres Herzens. Wie diese tiefgründige Liebe nach uns greift, davon handelt das Pfingstevangelium. Hören wir noch einmal hin:: 

"Wer mich liebt, sagt Jesus, der wird mein Wort halten."

Jesus lieben – irgendwie ist mir das zu intim, zu unmittelbar. Ihm gehört  meine Sympathie und mein Respekt, ja. Aber zur Liebe gehört  der direkte Austausch, und der fehlt bei Jesus.

Deshalb ist mir auch unwohl, wenn fromme Menschen von ihrer Liebe zu Jesus schwärmen und das auch von mir erwarten.  Aber es geht hier auch gar nicht um Gefühle sehr privater Art, sondern in der Beziehung zu Jesus geht es um Handfestes, es geht ums Halten, Festhalten seiner Worte, seiner Geschichten, in denen er sich uns in unverwechselbarer Weise begegnet und in die Pflicht nimmt. Uns dran zu halten, dass wir als Gotteskinder nicht nur ein Ego haben, sondern Nächste sind und so auch leben. Dass wir bereit sind, uns  Jesu Worten und Zumutungen  immer von neuem auszusetzen, darum geht es.

Und weiter: "Mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen."

Was für eine Perspektive, die uns zu Pfingsten eröffnet wird! Wir werden zu Gott kommen, statt im Tode zu enden. Und mehr noch, viel mehr Wenn wir kommen, werden wir nicht kritisch beäugt, ob wir da auch wirklich hinpassen, ob wir das verdient haben, von ihm angesehen und empfangen zu werden. Nein, alle Türen stehen offen, so weit offen, dass

wir ihn nicht nur besuchen, sondern mit Sack uind Pack dort einziehen dürfen. Gottes Welt ist nicht zu heilig für das, was wir unter einem behaglichen Leben verstehen. Er braucht nicht nur Halleluja-Sänger um sich herum. Er will Hausgenossen, die mitbringen, was sie hier im

irdischen Leben schätzen und lieben gelernt haben. Nichts davon brauchen wir hinter uns lassen, nichts davon müssen wir uns möglichst schon im vorhinein abtrainieren. Alles kommt mit und ist willkommen.

Und wer soll das glauben, dass der unfassbare Gott uns, Ihnen und mir, so nahe kommt aus Interesse, ja aus Liebe zu dem bisschen Leben, das wir darstellen und mitbringen? Weil solche Fragen und Zweifel nicht abzuschütteln sind, haben wir seit Pfingsten einen Helfer.

"Der Tröster, der heilige Geist, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe."

Das Wort Tröster lässt sich ebenso mit dem Wort "Beistand" wiedergeben. Und beides ist gemeint. Beides brauchen und bekommen wir mit dem heiligen Geist.  Trost, wenn wir am Boden liegen, wenn der Glaube erstickt wird von allem, was gegen ihn spricht: Was für ein Segen, Worte. Bilder, Musik zu haben, die zu Herzen gehen, uns zu Tränen rühren und

uns zu verstehen geben: Da ist in allem Unheil noch eine ganz andere, eine heile Welt, und du gehörst dazu.

Und genauso brauchen wir den Beistand, der dafür sorgt, dass wir uns nicht verlieren in dem, was das Leben leicht und bequem macht. Denn Jesus ist beileibe ja nicht nur der Tröstende, sondern auch der uns in die Quere Kommende, auf unbequeme Wege Rufende, gegen den Strom Schwimmende. Gott sei Dank haben seine Worte immer von neuem eine so aufrüttelnde Kraft, dass sie uns ins Gewissen gehen und uns verändern.

"Den Frieden lasse ich euch. Meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht."

In der Welt, wie Jesus und Johannes sie kannten, gab es den Frieden der Pax Romana - die Weltherrschaft der Römer. Da wurde alles Aufbegehren alles Freiheitsstreben mit eiserner Faust unterdrückt. Christen haben dagegen aufgemuckt. Und sie werden aufmucken, wo immer irdische Machthaber für ihre Politik göttliche oder totale Geltung beanspruchen. Der Friede Christi verklärt keine menschliche Herrschaft und lebt nicht auf Kosten von Unterworfenen. Er stellt sich Konflikten und arbeitet an ihnen. Das Heil aber erwartet er allein von Gott. Dieser Friede richtet verunsicherte Herzen auf und belebt die Furchtsamen. Deshalb: Frohe Pfingsten! Amen.

 

Perikope
24.05.2015
14,23-27

Predigt zu Johannes 14 von Tobias Götting

Predigt zu Johannes 14 von Tobias Götting
14

Pfingsten hat es schwer. Der Heilige Geist hat unter uns wahrlich ein Vermittlungsproblem. Oder wir mit ihm. Alles pfingstlich Begeisternde findet kaum Gehör bei meinen skeptischen Nachbarinnen und Nachbarn. Und die letzte Welle der theologischen Literatur zum Thema „Heiliger Geist" liegt nun auch schon wieder leicht angestaubt auf meinem Bücherregal, ohne dass entscheidende Inhalte daraus in mein Innerstes eingeträufelt wären oder ich einen tiefen Schluck davon gekostet und an andere hätte weitergeben können.

Wie sag' ich's also Ihnen oder meinem Kinde? Mit christlicher Mathematik: Dass bei uns Christen nämlich 1+1+1=1 ist. Weil Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist aus demselben Holz geschnitzt sind. Weil wir einen Gott kennen, der sich auf drei verschiedene Arten und Weisen zeigt, vielleicht sogar spürbar wird?

Manchmal versuche ich es mit Bildern. Gott ist wie der Wind, mein Kind. Das nennt man dann Heiligen Geist. Er ist nicht zu sehen, aber er flirrt um uns herum. Er ist wie die Luft, die wir zum Atmen brauchen und die uns umgibt. Geist - so verstanden ein anderes Wort für „Atem" oder „Wind". Vielleicht wie in der „Elia-Erzählung" aus dem 1. Könige-Buch, eher ein stilles, sanftes Säuseln, in dem Gott anwesend ist. Sanft, aber immer in Bewegung, belebend und erhaltend. Niemand kann ihn herbeizwingen, er weht, wo er will, und, ja auch das, er fehlt, wo er will.

Wie sag' ich's sonst noch der Gemeinde? Den leicht zynischen Versuch eines lieben Freundes von mir, der vor ein paar Jahren seine Pfingstpredigt mit dem Satz begann: „Sie fragen, was Pfingsten ist? Nun, das ist ganz einfach: Pfingsten ist das Fest der leeren Garagen!" finde ich zwar pointiert formuliert, aber auch er führt nicht direkt in pfingstlichen Freudentaumel...

Vielleicht ist der Heilige Geist so etwas wie ein Souffleur, der unsichtbar für die Zuschauenden irgendwo in der Theaterbühne versenkt ist. So wie dieser Textflüsterer einen Schauspieler über einen „Hänger" hinüberrettet, so haucht uns der Heilige Geist den für uns und andere richtigen Text ein. Wenn wir dabei sind, uns in Vorwürfen oder Missverständnissen zu verzetteln, pustet er unsere Ohren durch und überrascht uns mit immer neuen Einladungen und Versuchen, aufeinander zu hören.

Vielleicht ist er es auch, der uns begeistert und mit allen möglichen Gaben inspiriert, was ja auch nur ein anderes Wort für „begeistert" ist. Vielleicht fällt wirklich alle Inspiration vom Himmel, ist unverfügbares Gottesgeschenk, Werk oder Frucht des Heiligen Geistes.

Vielleicht ist er die Kraft, die in unser Leben hineinwirkt. Die uns daran erinnert, dass es mehr gibt als die Gleichförmigkeit vieler unserer Tage. Der Heilige Geist als Erinnerungs-Hilfe, als Gedächtnis-Stütze, dass uns viele Möglichkeiten offen stehen, den Tagen mehr Leben zu geben. Der Heilige Geist als Weck-Dienst unseres Bedürfnisses nach dem Höchsten - im Gegensatz zu mancher Trivialität des Alltags.

 Als Mutmacher, dieses schöne schwere Leben zu wagen, trotz allem. Der Heilige Geist als Aktions-Künstler, der die lähmenden Trägheiten überwinden hilft, anspornt zum Verlassen der ausgetretenen Pfade. Oder auch die Kraft, die manche Ruhelosigkeit in Erfülltheit und unsere Traurigkeiten in Freude umschmelzen will und kann.

Und sicher ist er es auch, der Heilige Geist, der uns zum Gebet verlockt. Wenn uns die Worte fehlen, ist er es, der in uns und durch uns spricht. Denn wir wissen nicht, wie wir beten könnten, der Geist aber verhilft uns zu unserer Stimme. Er fragt, klagt, stöhnt in uns mit unaussprechlichem Seufzen. Und lässt uns - manchmal - so viel mehr sagen, als was wir selber herstellen, garantieren und verantworten könnten. Und lässt uns „loben, ohne zu lügen" (Dorothee Sölle). Wir können das, wir haben guten Grund dafür, denn wir sind nicht von allen guten Geistern verlassen.

Vielleicht ist der Heilige Geist auch der, als der der Abschnitt aus dem Johannes Evangelium ihn uns vor allem ans Herz legt: der Tröster, der uns an alles erinnert, was Jesus getan und gesagt hat. Vielleicht ist das das Größte, was der Geist in uns bewirkt. Trost, auf pfingstliche Art: dass wir uns Gottes erinnern. Endlich.

Jesus spricht in den Versen unseres Predigttextes so etwas wie sein mündliches Testament an seine Freunde. Er verknüpft die Botschaft von der Tröstekraft, die kommen wird, wenn sein irdischer Lebensweg vollendet sein wird, mit einem weiteren, besonderen Geschenk:

 „Den Frieden lasse ich euch. Meinen Friede gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht."

Gott sei Dank. Kein billiger Trost, Kein vorschnelles Vertrösten. Kein Zukleben von Ängsten und Sorgen und Nöten mit einem kleinen pfingstlichen

Trostpflästerchen.

Jesus erkennt an, was der Fall ist. Wir haben Angst. Ja, es gibt Grund, zu erschrecken. Man kann zusammenzucken bei Nachrichten, die aus der großen weiten Welt via Bildschirm in die Wohnzimmer gespült werden. Man kann zittern, wenn die Angst um einen geliebten Menschen oder eine Liebe zum bestimmenden Inhalt nicht enden wollender Tage und quälender Nächte wird. Nichts schlimmer, als einfach darüber „hinwegzupfingstlern", hinwegzuhuschen.

Angst benennen, aussprechen lassen, aushalten. Das wäre der Anfang eines neuen pfingstlichen Weges. In der Erinnerung an Jesus, der auch nicht gewichen ist, der ausgehalten hat. Und dessen Vertrauen auf den Gott, der inneren und äußeren Frieden stiften will, dennoch nicht klein und schon gar nicht totzukriegen war.

Sich Gottes und seines Wirkens zu erinnern - da steckt Trostkraft drin, die ein Stück „Pfingsten in meinem Leben" wäre.

Wir haben es erlebt, in ganz verschiedenen Momenten und Orten und Situationen. Sich an Jesu Wirken zu erinnern, an seine Worte - das ist wie ein Beherbergtwerden in einem schützenden Zelt, das ist wie ein Unterschlüpfen unter ein sicheres Dach. So will ich immer wieder einziehen in seine Wortwohnungen. Zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen … Selbst wenn ich nur auf Probe darin wohne, in seinen Sätzen, will ich doch für wahr halten, was er sagt. Wenn er die, denen viel zugemutet wird, glücklich preist. Wenn er diejenigen, die sich für Frieden einsetzen, ganz in die Nähe zu Gott hin denkt und seine Kinder nennt.

Diejenige Kraft, die uns an all diese Worte Jesu erinnert - die nennt er selber den Tröster, den Heiligen Geist.

Den Trost, der aus dem Wehen des Heiligen Geistes sich speist - nie habe ich ihn so eindrücklich erlebt wie bei einem Geburtstagsbesuch im Altenheim. Die alte Dame, seit einigen Jahren demenzkrank, sitzt im großen Ohrensessel. Mühsam war es für die Pflegenden und sie, dass sie überhaupt noch einmal aufgesetzt wurde. Um sie herum haben sich die engsten Verwandten versammelt. Alle ahnen, dass es wohl der letzte Geburtstag ist, der hier gefeiert wird. In den letzten Wochen hat die alte Dame mehr und mehr das Sprechen eingestellt, oft sind die Augen geschlossen. Alle geben sich Mühe, mit ihr in Kontakt zu kommen, aber sie antwortet nicht, und nur selten schaut sie aus den müden Augen in die traurig-fröhliche Runde. Ich versuche es mit einem Gespräch über ihren Lebensweg, zusammen mit den anderen zeichne ich Stationen nach. Wir sprechen aus, was uns mit ihr verbunden hat, heute verbindet und auch in Zukunft verbinden wird. Noch einmal würdigen, was war. Noch einmal sich - in diesem Augenblick vielleicht sogar stellvertretend - erinnern. Vielleicht in ihr doch manche Bilder und Situationen einmal noch emporangeln aus dem Meer des ins Vergessen gesunkenen Lebens. Irgendwann muss ich weiter. Zum Abschied gehe ich noch einmal ganz nah an das Ohr der alten Dame, halte ihr einen mitgebrachten kleinen Bronze-Engel vor die Augen und sage: „Erika, Gott hat dich so lieb, dass er dir einen Engel schickt. Der passt auf dich auf. Auf allen deinen Wegen." Sofort öffnet sie die Augen. Sie sieht den Engel, dann mich an - und sie spricht an diesem Nachmittag die ersten und die letzten Worte, nein, mehr noch, einen ganzen Satz: „Dass er so an mich denkt …"

Sich Gottes zu erinnern, dass sie sich in diesem Augenblick so staunend erinnert, an eine vielleicht längst ins Vergessen gerutschte Gewissheit - ich kann nicht anders, als diesen einen heiligen Moment auf den Tröster, den Heiligen Geist zurückzuführen. Selten habe ich ihn unmittelbarer wirken sehen. Es war schön, dass dieses kleine Pfingstfest sich ereignen konnte. Zwei Tage später ist die alte Dame verstorben.

Dass wir uns Gottes erinnern, dass wir nicht in der Gottvergessenheit bleiben - daran arbeitet die Heilige Geist-Kraft, der Tröste-Geist. Und ich glaube, er hilft uns auch, die Sprachlosigkeit zu überwinden. Er will uns zu Virtuosen des Erzählens unserer Erfahrungen mit ihm werden lassen. Damit könnten wir zu Pfingsten neu anfangen: uns ge-genseitig an Gott zu erinnern. An seine Spuren, die in unseren Lebensläufen sichtbar geworden sind. Wir könnten lernen, in den Biografien anderer zu lesen, wie Gott dort gewirkt hat. Wie in ihrem Leben sein Geist am Werk war.

Tröstend. Heilend. Befreiend. Belebend. Inspirierend!

Amen.

Gebet des Tages:

 Komm, Gott, Heiliger Geist, hauch uns an, weh' durch uns durch, nimm uns mit, mach uns neu, gib uns Mut, steck uns an - dass wir Gott nicht vergessen und uns und die Menschen neben uns auch nicht. Das bitten wir dich, der du lebst und wirkst in der Einheit mit dem Vater und dem Sohn.

Bausteine für ein Fürbittengebet:

 Gott, heiliger Geist, du bist wie der Wind, der uns von Gott erzählt. Hilf uns, dein Wehen zu hören und zu verstehen. Lass uns deine Stimme nicht überhören und lass uns das weitersagen: Du wirkst hinein in unser Leben. Gott, heiliger Geist, du bist wie eine alte Lehrerin, die uns an Gott erinnern will. Hilf uns, dass wir das nie vergessen. Lass uns deine Stimme sein, wo Gottvergessenheit sich breit macht, und lass uns das weitersagen: Du lebst mitten in unserem Leben.

 

Perikope