Die Aufteilung der Welt in Schwarz und weiß - Predigt zu Johannes 9,1-7 von Bernd Giehl
Nach meinem Empfinden darf die Geschichte nicht mit Vers 7 enden. Ich würde mindestens bis Vers 17 lesen. Um die Hörer nicht überzustrapazieren, könnte man Johannes 9,1-7 in der Lesung vortragen und Vers 8-17 vor der Predigt.
Es mag auch ein Gefühl der moralischen Überlegenheit in der Frage liegen, die die Jünger dem Meister stellen: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Das Schicksal des Blinden geht ihnen nicht wirklich nahe, sonst würden sie in seiner Gegenwart wohl nicht so fragen. Könnte aber auch sein, dass sie es wirklich wissen wollen. Der Mann ist schließlich von Geburt an blind. Wie kann das sein, wenn Gott die Schöpfung gut eingerichtet hat? Er selbst kann doch keine Schuld an seinem Schicksal tragen, also müssen die Eltern irgendetwas getan haben, was der Sohn nun ausbaden muss. Und doch klingt die Frage nicht besonders betroffen. Sie macht den Blinden zum Objekt. Sie erniedrigt ihn zur Sache. So als wäre er nicht nur blind, sondern auch noch taub. Wer ist schuld? Vermutlich weder der Blinde noch seine Eltern. Wie gut, dass wir nicht mehr in solchen Kategorien denken. Wie gut, dass diese Zeiten vorbei sind.
Nein, das stimmt nicht. Dafür gibt es wohl immer noch zu viel Leiden in der Welt. Und so fragen viele: Wer ist schuld an diesem oder jenem Missstand? Wer ist schuld am Klimawandel? Die Menschen könnte die Antwort heißen, aber weil das viel zu unkonkret ist, sagen die, die fragen: die Autofahrer. Oder zugespitzter noch: die Besitzer eines SUV. (Jedenfalls wenn man selbst keinen besitzt.) Die Vielflieger sagen sie, und um die von ihren Gewohnheiten abzubringen, erfinden Leute mit Einfluss das Wort „Flugscham“. Die Fleischesser sagen die, die sich endlich zum veganen Leben durchgerungen haben und stolz darauf sind. Die Männer sind schuld, dass wir es nicht weiterbringen, sagen die ehrgeizigen Frauen.
Die Zeiten, in denen wir stolz waren, dass wir uns von der (bürgerlichen) Moral befreit hatten, scheinen unendlich weit entfernt zu sein. Heute geht es darum, wem man die Verantwortung für welchen Missstand zuschieben kann. Wer hat das getan? Antworten bitte an das BKA oder jede örtliche Polizeidienststelle. Die Schuldigen sollen endlich zur Rechenschaft gezogen werden.
Ein altes Spiel. Ein böses Spiel. „Schwarzer Peter“ heißt es wohl. Aber jetzt kommt der Spielverderber. Jesus heißt er und er hat schon so manches Spiel durcheinandergebracht. Er verweigert sich der Frage nach der Schuld des Blinden. Das Licht der Welt, sagt er, scheint auch für den Blinden, jedenfalls seit dem Augenblick, als er mir begegnet ist. Denn ich, Jesus, bin das Licht der Welt. Und dieses Licht soll der arme Mann jetzt ebenfalls sehen. Und dann tut er das Wunder. Er spuckt in den Staub, er bereitet einen Brei, streicht ihn dem Blinden auf die Augen und schickt ihn dann zum Teich Siloah, um sich zu waschen. Was der dann auch tut. „Und kam sehend wieder“, so berichtet es das Johannesevangelium.
An dieser Stelle könnte die Geschichte nun zu Ende sein. Und wir könnten ihn jetzt fragen, ob er froh über seine Heilung sei. Vermutlich würde er sich an den Kopf greifen. Was das für eine Frage sei, würde er antworten. Er könne die Welt und ihre Farben sehen. Er sei nicht mehr auf seinen Stock angewiesen. Er könne Gesichter erkennen. Auch das Staunen in unseren Gesichtern könne er sehen. Ob da auch ein paar Zweifel seien? Ach ja: zum allerersten Mal wisse er, wie Bäume aussehen. Oder Menschen.
Aber wir können ja noch ein bisschen nachhaken. Wir kennen die ganze Geschichte, also könnten wir zum Beispiel fragen: Einmal angenommen, du hättest voraussehen können, was nachher passierte, hättest du dann immer noch gesagt: „Ja, Herr, ich will sehen können?“
Er hat es ja nicht wissen können. Wenn man vom Rathaus kommt, ist man klüger, hat einer
gesagt, der es wissen musste, und er hat Recht. Das Misstrauen seiner Umgebung, („Kann der wirklich sehen? Hat der uns ein Leben lang zum Narren gehalten?“) die hochnotpeinliche Befragung durch die Pharisäer und am Ende sogar der Ausschluss aus der Synagoge; angenommen, er hätte das alles vorausgesehen, hätte er sich dann immer noch für das Sehen entschieden?
Nein, ich weiß nicht, was er antworten würde. Ich weiß nur, dass er über die Antwort längere Zeit nachdenken müsste.
Das Spiel geht weiter. Der Schwarze Peter ist noch da.
Stellt sich die Frage: Warum akzeptieren Menschen das Gute nicht? Warum suchen sie immer wieder den Keim des Bösen darin? Wer die Geschichte zum ersten Mal hört, wird sich wundern, wie ein so positiver Anfang nach und nach immer hässlicher wird. Wenn man diese Geschichte etwa 1500 Jahre in die Zukunft verlegte, so würde sie ein Inquisitionsprozess mit Großinquisitor, hochnotpeinlicher Befragung, Streckbank und am Ende dem Scheiterhaufen. Weil unbußfertige Sünder nun einmal brennen müssen. Gott will es so. Amen.
Und wenn man gar die Linien bis zur Gegenwart ausziehen würde – was würde dann passieren? Schauen wir mal.
Ob ich jetzt wohl von einer Märchenzeit erzähle? Manchmal kommt es mir so vor. Und doch muss es sie gegeben haben, jene Zeit, in der viele Menschen die Welt nicht mehr aufgeteilt haben in „gut“ und „böse“, sondern jeden so leben ließen, wie er wollte. Sie ist vorbei, so wie die Zeit der Märchen eigentlich immer schon vorbei ist, wenn sie erzählt werden und doch erinnere ich mich an sie. Ich meine die Zeit am Ende des letzten Jahrhunderts. Und ich meine, es wäre eine Nachwirkung von „1968“ gewesen. Nicht dass die 68er Bewegung besonders tolerant gewesen wäre. Das war sie nicht und konnte es wohl auch nicht sein, weil sie gegen alles ankämpfte, was irgendwie nach Faschismus roch. Aber sie demonstrierte eben auch gegen das Autoritäre, das nach Kaiserreich und Nationalsozialismus den Deutschen noch tief in den Knochen steckte.
Ich selbst habe diese Zeit eher am Rande erlebt. 1968 war ich fünfzehn Jahre alt und lebte auf dem Land, wo das alles noch kein Thema war. Meine jüngeren Geschwister und ich lebten noch in der Furcht des Herrn, und das war ganz wörtlich zu nehmen. Mein Vater war ein gottesfürchtiger Mann, der seinen Kindern den Glauben und das Gehorchen zu vermitteln versuchte und das Gewünschte öfters einmal mit dem Stock einbläute. Ich habe erst spät gelernt, ihn und seine Überzeugungen in Frage zu stellen und meinen eigenen Weg zu finden. Ohne das, was „1968“ und in den folgenden Jahren passierte, wäre mir das wohl nicht gelungen. Aber nach und nach setzte sich der Geist von „68“ durch. Die Menschen und damit auch ich konnten freier atmen. Sie brauchten sich nicht mehr zu rechtfertigen, wenn sie anders leben wollten. Kinder konnten ihren eigenen Kopf haben; sie konnten ihren Eltern widersprechen. Anders als meine Geschwister und ich musste kaum ein Kind noch Angst haben, geschlagen zu werden. Männer und Frauen konnten unverheiratet zusammenleben und kaum ein Vermieter fragte nach dem Trauschein. Homosexuelle konnten sich zu ihrer Neigung bekennen. Vielleicht wurden sie immer noch schief angesehen, wenn sie sich in der Öffentlichkeit küssten, aber zumindest wurden sie nicht mehr sozial geächtet.
Heute dagegen gibt es wieder eine Moral. Die ist sicher anders als vor fünfzig Jahren, vielleicht sogar subtiler, aber deshalb nicht weniger gnadenlos.
Womit wir im Zeitalter der „Aktivisten“ angekommen sind.
Aktivisten sind Menschen, die sich für das Gute einsetzen. Wenn ich es einmal überspitzt und vielleicht auch ein bisschen böse ausdrücken darf. Wo immer ein Problem am Horizont auftaucht, wird es bald Menschen geben, die es bekannt machen und sich für seine Lösung einsetzen. Daran ist noch nichts auszusetzen; eher schon daran, dass es für sie nichts Wichtigeres gibt als ihre Sache. Alles andere tritt für sie in den Hintergrund und da es ja bekanntlich mehr als nur ein brennendes Problem unter dem Himmel gibt, nimmt die Lautstärke und auch die Intoleranz sowohl in den Medien wie auch in der Öffentlichkeit eher zu. Aktivisten kämpfen gegen Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Umweltzerstörung, für die Rechte von Transpersonen und anderen Minderheiten. Keins dieser Ziele ist schlecht. Nur die Mittel, die sie dafür einsetzen, sind manchmal fragwürdig. So gibt es in der Debatte um die Rechte der Frauen mittlerweile die Begriffe „weiße, alte Männer“ und – womöglich noch pointierter – den Begriff der „toxischen Männlichkeit“. Das Problem mit ihnen ist: Sie sind so wunderbar unscharf. Natürlich denkt man beim „weißen alten Mann“ zuerst an Donald Trump und seine frauenverachtenden Sprüche aber natürlich kann man den Spruch jedem gegenüber anwenden, dessen Position in der Geschlechterfrage man nicht teilt: Weiße Männer (vor allem alte weiße Männer) sollten sich schämen. Wären sie doch besser als Frauen geboren oder als “people of colour“. Am besten ist diese Haltung in der #me too Debatte zu beobachten. Wenn einem Mann sexistisches Verhalten zum Vorwurf gemacht wird, kann er sich schon einmal nach einer neuen Karriere umsehen. Er wird mit Shitstorms überhäuft und im Unterschied zu einem normalen juristischen Verfahren sind Anklage und Richter identisch. Es braucht weder Verteidigung noch Beweise und das Urteil steht von vornherein fest.
Alles ist plötzlich einem moralischen Werturteil unterworfen, und das ist zumindest
für die Aktivisten bindend. Wenn Peter Handke den Nobelpreis für sein Werk bekommt, geht sofort ein Aufschrei durch die Medien. Wie kann man nur, wo er doch Partei für die Serben bezogen hat? „Pipi Langstrumpf“ ist für Kinder nicht zumutbar, weil Pipis Vater angeblich ja ein „Negerhäuptling“ war und das Wort wird vermutlich alle Menschen mit brauner Hautfarbe beleidigen.
Auch eine Macht, die für das Gute kämpft und dabei unfaire Mittel einsetzt oder alle anderen ihren Werturteilen unterwerfen will, verwandelt sich.
Die Vermutung liegt nah, dass dies die Glaubenskriege des 21. Jahrhunderts werden.
An diesem Punkt fällt mir die alte Niemöller Frage ein: „Was würde Jesus dazu sagen?“ Wenn wir an die Geschichte von der Heilung des Blinden denken, könnte die Antwort lauten: Er hat sich der Frage der Jünger nicht angeschlossen. Er hat nicht gefragt: Wer ist schuld, dass dieser arme Mann nicht sehen kann? Stattdessen hat er das getan, was in seinen Möglichkeiten lag: er hat den Mann geheilt, sodass er zum ersten Mal in seinem Leben sehen konnte. Vielleicht hat er den „Shitstorm“, der darauf folgte, vorausgesehen. Zumindest im Johannesevangelium wird ja immer wieder davon erzählt, dass die Feindschaft der Pharisäer und Schriftgelehrten aufgrund der Wunder, die er tat, entstand und dabei immer größer wurde. Aber das hat ihn offenbar nicht besonders interessiert. Er ist seinen Weg konsequent bis ans Ende gegangen.
Es wäre schön, wenn wir von diesem Mann lernen. Wenn wir uns einsetzen für die, die es brauchen und dabei doch immer auf die Wahl der Mittel achten.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe keine Gemeinde mehr und so halte ich nur noch selten Gottesdienst. Mir ist bewusst, dass die meisten Menschen, die noch zum Gottesdienst kommen, eher ältere Menschen sind. Dennoch hoffe ich, dass auch die zumindest ein wenig von der Problematik verstehen, die ich hier ansprechen will: der Rolle der sogenannten „Aktivisten“ in den gesellschaftlichen Debatten.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Es wäre gut, wenn die Menschen nicht nur ihre eigenen Maßstäbe für allein gültig erklären würden, sondern ein bisschen Toleranz lernen. Dazu könnte die Auseinandersetzung mit diesem Text beitragen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Gottes Gnade ist größer als die der Menschen. Er sieht auch da Farben, wo die Menschen nur schwarz oder weiß sehen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich habe an vielen Stellen genauer formuliert, was ich meine. Ich hoffe, das dient der Verständlichkeit.
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Gemeinsam am Feuer - Predigt zu Johannes 20, 19-23 von Frank Muchlinsky
Liebe Gemeinde,
ganz gleich, mit wie vielen Menschen wir uns derzeit real treffen dürfen, es ist Pfingsten, also Grillzeit! Wir sind vereint im Garen von Lebensmitteln unter freiem Himmel. Was uns trennt, sind lediglich die Fragen nach den Speisen, die wir am liebsten auf den Rost legen, und die Entscheidung für die einzig wahre Art der Befeuerung: Gas oder Kohle? Das ist wie evangelisch oder katholisch. Man gehört einer Richtung an, und je ernster man es mit dem Grillen meint, desto wichtiger wird auch diese Entscheidung. Wer aus Überzeugung mit Kohle befeuert, rümpft schon einmal die Nase über die Gasgriller. Umgekehrt hat man schon hochgezogene Augenbrauen sehen können bei Menschen, denen der Geruch von Kohlegrills in die Nase stieg. Vor allem während des Anzündens kommen hier Brandbeschleuniger zum Einsatz, die entsetzlich stinken und rauchen können. So groß die Differenzen zwischen den Grillkonfessionen aber auch sein mögen: Wird man aber bei einem Grillmenschen der anderen Richtung eingeladen, herrscht schnell Eintracht. Man ist beisammen und freut sich am so oder so entfachten Brutzeln. Natürlich ist man sich immer einig in der Ablehnung von Elektrogrills, die eine Art Sekte sind.
Jesus war ein Kohlengriller. Das ist keine Behauptung, sondern eine biblische Tatsache. Als der auferstandene Jesus am See Tiberias seinen Jüngern erscheint, sind die gerade auf dem See am Fischen. Jesus steht am Ufer, ruft sie und "als sie nun an Land stiegen, sahen sie ein Kohlenfeuer am Boden und Fisch darauf und Brot." (Joh. 21,9) Jesus grillte also auf Kohle, und das ist eine schöne Verbindung zum Predigttext für heute. Der spielt nur ein Kapitel vor diesem Grilltreffen am See.
Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, da die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen. (Joh. 20,19-20)
Die Stimmung in dieser Szene ist eine ganz andere, denn die Jünger sind nicht draußen an der frischen Luft und dazu noch auf dem Wasser. Sie haben sich vielmehr verschanzt, weil es draußen gefährlich ist. Wer raus geht, exponiert sich. Wer raus geht riskiert, von "den Juden" entdeckt und angeklagt zu werden. Alle Jünger selbst sind Juden, aber die Gefahr da draußen geht eben von den anderen aus, von der Menge, von "den Juden". Also bleiben sie lieber drinnen und verschließen die Türen.
Jesus tritt trotzdem ein, und als die Jünger ihn erkennen, ändert sich ihre Stimmung, sie werden froh. Jesus wiederholt noch einmal seinen Gruß und dann redet er zu seinen Jüngern.
Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmt hin den Heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten. (Joh. 20,21-23)
Jesus schickt seine Jünger los, seinen Auftrag fortzusetzen. "Macht es wie ich!" sagt er ihnen, kurz nachdem er ihnen seine Wunden gezeigt hat, inklusive der Stelle, an der man mit einem Lanzenstich seinen Tod feststellte. "Ich sende euch", sagt er. Natürlich ist den Jüngern klar, was das bedeutet: Es heißt: "Raus mit euch dahin, wo die Gefahr lauert!" Damit man dazu bereit ist, sich derart in Gefahr zu bringen, muss man schon ordentlich brennen. Und hier zeigt sich Jesus als geübter Kohlengriller: Er bläst seine Jünger an. So, wie der Atem die Kohlen heißer brennen lässt, so lässt dieser Atem Jesu seine Jünger glühen.
Kohle braucht etwas Zeit, bis sie wirklich heiß brennt. Die Glut dringt langsam durch den festen Stoff. Der Sauerstoff in der Atemluft beschleunigt diesen Vorgang. So wirkt der Heilige Geist, den Jesus seinen Jüngern hier einbläst. Ich stelle mir Jesus gar nicht zart hauchend vor, sondern vielmehr kräftig pustend. Das ist eine schönere Geste, als die Jünger beispielsweise aus der Tür zu schubsen. So etwas wünschen wir uns auch, wenn wir wieder raus dürfen und irgendwie sollen und doch nicht ganz so wie wir vielleicht wollen. Wir wünschen uns einen Anschub, der uns erfüllt, der uns spüren lässt, dass da etwas in uns lebendig ist und glüht.
Die Bibel hat es gleich gesagt: Der Mensch atmet Gottes Atem. "Da machte Gott der HERR den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen." (Gen. 2,7) Und nun gibt es noch einen göttlichen Atemstoß von Jesus. Wie eine Mund zu Mund Beatmung für jemanden, der nur noch flach atmet, wie Blasen in die schwach glimmende Glut. Jesus erweckt seine Jünger neu zum Leben. Nun kann er sie senden "wie mich der Vater gesandt hat." Und so geht die Geschichte weiter, beziehungsweise, sie geht für die Jünger richtig los: Bisher waren sie die Gesellen, jetzt werden sie die Meister. Aus Zuhörern werden Prediger, sogar vergeben dürfen sie in Gottes Namen.
In unserer Grill- und Pfingstzeit merken wir, wie es uns aus den Häusern drängt. Manche spüren das Glimmen in sich, andere das Brennen. Und seit ein paar Wochen gibt es noch ganz andere Brandbeschleuniger als den Atem Jesu Christi, die uns heiß glühen lassen wollen: Verschwörungsphantasien werden wie Petroleum über uns ausgegossen. Man trifft sich zu Demonstrationen, um für das rechte Maß an Beschränkungen einzutreten, doch die Luft ist geschwängert von Hassparolen wie von einer Benzinwolke.
Wer sich aber vom Geist Gottes anfachen lässt, bekommt von Jesus gesagt: "Macht es wie ich!" Und das bedeutet: Brennt aus Liebe für einander! Vergebt einander! Und geht vernünftig mit euren Möglichkeiten um! Das steckt in den Satz "Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten." Das bedeutet doch: "Ihr habt große Macht, großen Einfluss auf andere Menschen." Es ist mittlerweile ein recht bekanntes Sprichwort, dass mit großer Macht auch große Verantwortung kommt.
Achten wir darum genau darauf, dass wir uns vom Geist Jesu anheizen lassen, der uns für andere brennen lässt. Meiden wir den Ungeist derer, die einfach das Feuer wollen! Treffen wir uns zum freundlichen Grillen im Freien dort, wo es wirklich erlaubt ist mit genügend Abstand. Laden wir dazu die Kohle-, die Gasgriller und auch die Elektrogriller ein, freilich nicht alle auf einmal. Der Geist Gottes erfüllt uns alle!
Amen
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich stelle mir vor, dass diese Predigt wohl weit häufiger gelesen wird als gehört. Eine Gemeinde, die in diesem Jahr einen live Pfingstmontag-Gottesdienst hielte, kenne ich nicht. Darum stelle ich mir vor allem Lesende vor.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich habe mich von dem Bild beflügeln lassen, wie Jesus sine Jünger anpustet. Er macht also das Schlimmste, was man in der Pandemie tun kann, beziehungsweise das, was man nur noch in ganz intimen Beziehungen tut. Dazu das Bild davon, wie jemand Grillkohlen anbläst, damit sie heißer glühen – schon war das Pfingstbild komplett für mich.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Intimität dieser Pfingstgeschichte im Unterschied zu der aus der Apostelgeschichte. Der Heilige Geist als "zweiter Atemstoß Gottes".
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Vor allem ein neues Ende. Ich hatte ein paar Sätze, die mir so gut gefielen, dass ich sie gern unterbringen wollte. Das führte dazu, dass der erste Schluss etwas ausfranste. Danke, Friederike Erichsen-Wendt für die Hilfe beim Bündeln!
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Verwurzelt in Gott - Predigt zu Johannes 15,1-8 von Karoline Läger-Reinbold
Johannes 15,1-8: Jesus spricht: Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner. Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg; und eine jede, die Frucht bringt, reinigt er, dass sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt die Reben und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen. Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger.
Gott und die Menschen gehören zusammen Ich bin der Weinstock – ihr seid die Reben.
Dass Jesus so von sich spricht, so einprägsam und doch geheimnisvoll, das finden wir nur bei Johannes. Es geht um Verbindungen und um Verbundenheit. Gott und wir Menschen gehören zusammen, das sagt dieses Bild. Um das Große und Ganze geht es da, und um das gemeinsame Ziel: wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht. Der Weinstock braucht Pflege dafür. Der Winzer geht regelmäßig hin und sieht nach. Er legt Hand an, kümmert sich.
Weinbau – ein bisschen wie Kindererziehung
Einmal war ich im Herbst in einem Weinbaugebiet. Da war Erntezeit, Lese: Überall in den Weinbergen wurde gearbeitet. Reife, volle Trauben, größere, kleinere, helle und dunkle.
Der Weinbau ist eine Wissenschaft für sich, Rebsorte und Lage, Bodenqualität und Mikroklima – und jedes Gewächs hat einen eigenen Charakter. Mich hat fasziniert, dass die Weinbauern von ihren Reben ein bisschen wie von Kindern reden. Da geht es um Rebenerziehung und um die Ansprüche, die jeder einzelne stellt. Um den Raum, den sie für ihr Wachstum brauchen, und um die nötige Unterstützung. Schließlich auch darum, wann und wie man die freien Triebe zurückschneiden muss, damit das Gewächs sich nachhaltig entwickeln kann. „Mach Platz, denn du nimmst sonst den anderen Licht,“ heißt es dann. Oder: „Du musst erst noch wachsen, bis du kräftiger bist.“
Die Menschenfamilie braucht Gemeinschaftssinn
Zusammenhalt, Erziehung und Wachstum – darauf kommt es an, auch in der Menschenfamilie. Ich bin der Weinstock, sagt Jesus – ihr seid die Reben. Der Weingärtner ist der Vater, er entscheidet, wie es um das Wachstum bestellt ist. Wer keine Frucht bringt, den nimmt er weg, und wer Frucht bringt, wird gereinigt, auf dass er noch mehr Frucht bringe. Das ist ein strenges Regime, und doch scheint es nötig – für den Zusammenhalt.
Ich merke, wie sich in mir etwas sträubt, mag dieses Bild jetzt nicht genau in seine Einzelteile zerlegen. Was ich verstehe ist dies: in der Familie derer, die zu Christus gehören, braucht es Gemeinschaftssinn.
Wie zeigt sich Verbundenheit in der Zeit der Corona-Pandemie?
Und ich versuche, diese Worte zu verstehen in einer Zeit, in der es genau darauf ankommt:
auf den Gemeinschaftssinn. Die letzten Wochen waren hart: Ausgangsbeschränkungen, Kontaktsperre, für manche Quarantäne. Keine KiTa, keine Schule, kein Büro, für viele Menschen heißt das auch: keine Arbeit, kein Geld. Andere arbeiten rund um die Uhr, im Pflegeheim oder im Supermarkt. Die einen sind abends nur noch kaputt, manche gehen sich zuhause mal so richtig auf den Geist, und andere sind seit Wochen allein.
Wie bleiben wir verbunden mit denen, die zu uns gehören? Die wir jetzt nicht sehen können. Nicht treffen, nicht in den Arm nehmen. Telefonieren – ja, das mag helfen. Aber doch nicht über eine so lange Zeit. Schwer zu verstehen, dass es gerade jetzt der Abstand ist, die physische Distanz, die uns am meisten schützt. Darum suchen wir neue Formen der Nähe: mit Regenbogenbildern an den Fenstern. Mit Kreidebotschaften auf dem Gehweg, beim Plausch über den Gartenzaun oder zum Nachbarbalkon.
Die Stammbaum-Hausaufgabe
Ich erinnere mich an meine Schulzeit. Einen Stammbaum sollten wir malen.
Im dritten oder vierten Schuljahr ist das gewesen, so ganz genau weiß ich es heute nicht mehr. Jedenfalls in der Grundschule: Mama, kannst du mir helfen?
Die ersten Striche waren noch ganz leicht: Vater – Mutter – Kind, noch ein Kind. So war das bei uns. Bei meiner Freundin Suse war das anders, die hatte nur ihre Mama. Und darum schon in der Schule mit den Augen gerollt, als die Lehrerin die Aufgabe erklärte.
Einen Stammbaum malen also: Oma und Opa, die andere Oma, die Schwester der Mutter, ok – aber gehört denn die Freundin, mit der sie zusammenlebt, jetzt auch noch dazu?
Wir starteten mit einem großem Blatt Papier und mussten schon nach kurzer Zeit ein zweites Blatt dazu nehmen, mit Tesafilm angeklebt, ein bisschen schief an der Seite. Der Bruder vom Opa, den niemand mehr kannte, weil es von ihm nicht mehr als nur ein altes Foto gab. Der Geburtsname der Tante, den keiner noch wusste. Lauter spannende Entdeckungen, das Familien-Fotoalbum kam uns zu Hilfe. Und diese Vorlage aus der Schule war viel zu schematisch, da passte doch das bunte Leben nur in Ansätzen hinein!
Stammbaum: Mehr als Verwandtschaft
Haben Sie schon mal ihren Stammbaum gemalt? Und wie war das dann: lustig? Oder auch… interessant?
In meinem Stammbaum gibt es Menschen, mit denen bin ich irgendwie verwandt, aber gesehen habe ich sie schon viele Jahre nicht mehr. Vielleicht hört man mal um drei Ecken, was er oder sie gerade macht. Da laufen Linien ins Leere. Und da gibt es Seitenlinien auch: Menschen, die ganz fest zur Familie gehören, ohne dass ich mit ihnen verwandt bin.
Als Kinder hatten wir einen Nenn-Onkel, einen Freund unserer Eltern, der uns zum Geburtstag großzügig beschenkte. Oft kam er auch abends einfach vorbei. Dann hatte er Katzenzungen aus Schokolade für uns oder ein Markstück, und wir durften ihn als Kletterbaum benutzen.
Familie ist bunt
Stammbäume weiten den Blick, sie machen Verbundenheit sichtbar oder stellen sie in Frage. Zum Glück! In den letzten Jahren hat sich das Verständnis von Familie gewandelt. Es ist offener geworden, bunter. Vater, Mutter, Kind - das ist nur ein Konzept unter vielen. Tragfähige Beziehungen gibt es in großer Vielfalt. Verantwortung. Verbindlichkeit. Fürsorge. Empathie. Liebe. Treue. Das sind Werte, die Menschen zusammenführen, unabhängig von Alter, Herkunft oder Geschlecht.
Die Menschenfamilie: verwurzelt in Gott
Und ich erkenne: auch Gott gehört ja dazu. Zu dieser Menschenfamilie. Jesus, der sagt: Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter (Matthäus 12,50).
Christus, unser Bruder. Er ist der Weinstock, wir sind die Reben. Gott verbindet sich mit uns, und wir können bleiben bei ihm, zu dem wir gehören. In diesen schwierigen Tagen machen wir uns fest. Suchen Wurzeln und Haltedrähte, verbinden uns von neuem mit Gott, unserem Vater, und mit unseren Geschwistern. Wir sind Teil eines Ganzen. Das zu spüren tut gut.
Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren, sagt Jesus. Die Gemeinschaft mit ihm ist eine Gemeinschaft der Hoffnung. Ein festes Gewebe, nicht immer erkennbar, so wie mancher Stammbaum, filigran und bizarr. Verwurzelt in Gott und verbunden durch Christus: ein Grund, der uns trägt. Und der uns wachsen lässt. Was auch immer da kommen mag.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine Stadtteilgemeinde am ersten Sonntag im Mai: Familien, Konfirmandinnen und Konfirmanden, Alleinstehende, Ältere – alle freuen sich über die Sonne, den Frühling. Nach wochenlangem „Lockdown“ und Kontaktverbot herrscht noch große Unsicher-heit: wie geht es weiter in KiTa und Schule, wann werden wir uns wieder wie gewohnt begegnen, wann können wir zusammenkommen und Gottesdienst feiern? Wie geht es den Freunden und Verwandten, die wir immer noch nicht besuchen können?
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Bild vom Weinstock spricht von der Verbundenheit derer, die zu Christus gehören. Miteinander verwurzelt sein – im Glauben an Gott, in der gemeinsamen Hoffnung auf sein Reich, in der Liebe zu ihm und zu unseren Nächsten, das gibt Halt. In einer Phase der Ungewissheit und der Vereinzelung durch Kontaktverbote und Ausgangsbe-schränkungen ist dies eine starke Botschaft, die Gemeinschaft der Glaubenden wird sichtbar gemacht.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Der Vater als Weingärtner: Auch wenn hier der Gedanke an ein göttliches Gericht sehr deutlich anklingt, ist das ein warmes, schönes, zärtliches Bild. Zum Erziehungskonzept des Winzers gehören Aufmerksamkeit, Fürsorge, Verantwortungsbewusstsein und sehr viel Liebe.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Erinnerung an die Stammbaum-Hausaufgabe, die für mich zunächst der Einstieg in die Predigt war, steht jetzt am Ende. Für die Hörerinnen und Hörer die Predigt mag sie so eine Einladung sein, den Faden weiter zu spinnen: Wem bin ich verbunden? Welche Gemeinschaft ist es, die mich trägt, und worin hat sie ihre Wurzeln?
Link zur Online-Bibel
02.08.2020 - 8. So. nach Trinitatis
21.05.2020 - Christi Himmelfahrt
Zwei Seiten einer Medaille: Hören und furchtlos werden – Predigt zu Johannes 5, 39–47 von Ulrich Kappes
In den Versen, die unserem Predigttext vorausgehen, wird erzählt, dass die „Juden“ hinaus in die Wüste wanderten, um Johannes zu hören. Sie hielten ihn eine Zeit lang für einen Messias, waren in jedem Fall von ihm fasziniert. Manche Gemeinden erinnern am morgigen Tag an Johannes den Täufer.
Viele der „Juden“, die in unserem Text nur mit „ihr“ angeredet werden, hatten die Heilung am Teich Bethesda miterlebt: Es gab einen Kranken am Teich Bethesda. Er hatte 38 Jahre gewartet, als erster in die Flut des Wassers zu steigen und so geheilt zu werden. Es half ihm keiner. Jeder war sich selbst der nächste. Dann kam Jesus und ein über Jahrzehnte lang Gelähmter konnte gehen.
Was geschah mit den „Juden“ nach dem Tod des Johannes und nach der Heilung des Kranken durch Jesus? Sie kehrten zu ihrem Bibelstudium zu Haus oder in der Synagoge zurück. Sie saßen über ihren alten Texten, erwogen, welche Auslegung die richtige ist. Was Jesus mit dem Wundern am Teich Bethesda bewirkt hatte, berührte sich nicht. Seine Predigt war ohne Wirkung auf sie. Das ist die Situation, in die hinein Jesus spricht:
Lesung Johannes 5,39 - 47
Bleiben wir daran hängen, dass Jesus offenbar sehr enttäuscht von „den Juden“ war, bleiben wir also bei der historischen Situation kleben, so verkennen wir die Tiefendimension dieser Verse. Die „Juden“ sind hier ein Symbol dafür, wie es gehen kann; wenn man die Schrift zwar liest und doch keinen Zugang zu ihr findet. Angeredet werden zwar die Juden der Zeit Jesu, gemeint sind aber alle, die es mit Jesus Ernst meinen.
Wir schweifen einen Moment ab. Die Menschen der Stadt, in der wir leben, lesen zum überwiegenden Teil nicht in der Bibel. Es interessiert sie nicht. Sie meinen, dass sie diese Worte nicht brauchen. Die alten Texte haben für sie keine Bedeutung.
Haben wir uns davon anstecken lassen, und ist unser Leben auch ein Leben ohne die Schrift? Wenn eben für alle die Bibel unbrauchbar ist, sollte ich dann auf sie hören? Das mag in früheren Generationen anders gewesen sein, aber jetzt und heute ist eine andere Zeit. Sind die Bibel und mit ihr das Hören auf ihre Wahrheit, die Erkundung des wahren Schriftsinnes auch bei uns abhanden gekommen?
Wir hören: „Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin. (Ja), „sie ist es, die von mir zeugt.“ So fremd uns diese Worte klingen mögen, so klar und „steil“ ist ihre Aussage: Wer das wahre Leben, das hier das „ewige Leben“ heißt, sucht, kann die Antwort in der Schrift finden. Sie ist das Tor zu einem neuen Leben.
Lassen Sie uns bitte einen weiteren Bogen schlagen! 1
Die Fragen: „Wer bin ich? Wo komme ich her? Was macht mich im Wesentlichen nicht austauschbar“ gehören für Christen und Nichtchristen zu den entscheidenden Fragen, die wir uns stellen. (Sicher nicht täglich, aber sie brechen immer und immer mal auf.) Keiner kommt an ihnen vorbei.„Was ist das Ziel, woraufhin ich lebe? Wo und wie kann ich mich immer von neuem zurüsten lassen, dieses Ziel zu erreichen? Wie kann ich weiter leben, wenn mein Leben durch grausame Ereignisse aus den Fugen gerät?“
Es gibt die Naturwissenschaften, die viel über uns sagen. Wir wissen, dass wir aus dem Tierreich hinaus gewachsen sind. Jeder Säugling macht im Mutterleib durch, was in der Natur über die Jahrmillionen geschah. Die Psychologen klären uns auf, wie viel Anteile unsere Eltern und unsere Erziehung an uns ausmachen. Sie helfen uns, mit unseren Schwächen fertig zu werden. Ist damit meine Frage, wer ich im Kern und unverwechselbar bin, beantwortet? Sagt mir die Evolutionswissenschaft oder die Psychologie, wer dieses Ich eigentlich ist, das sich im Leben behaupten muss? Jede Einzelwissenschaft über den Menschen erkennt immer über den Menschen und seine „Seele“, aber jeder verantwortliche Wissenschaftler sagt gleichzeitig, das er nicht weiß, was der Mensch eigentlich und im Kern ist. Je mehr Hypothesen, desto mehr Fragen gibt es. Das ist Fakt.
„Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin. (Ja), sie ist es, die von mir zeugt.“
Warum setzt Jesus alles daran, dass Menschen die Bibel „richtig“ lesen, in seinem Sinn „richtig“ das Wort hören?
Die Antwort heißt nach meinem Dafürhalten: „Weil die Schrift allein uns eine umfassende Lehre vom Menschen vermittelt. Sie sagt und zeigt mir, wer ich in der Traditionskette der Glaubenden bin, unauswechselbar, einmalig, angenommen mit meinen Fehlern. Warum kann sie das? Die biblische Lehre vom Menschen ist keine Wissenschaft. Sie geht nicht vom Menschen aus, sondern ausschließlich von Gott. Von Gott etwas zu wissen, von Gott und Christus etwas zu wissen, heißt bis heute, Antworten zu bekommen, die wir sonst nicht bekommen. Die Ähnlichkeit zu Christus, zu der ich aufgerufen werde, die Analogie zu Gottes Verhalten und Walten sind der Schlüssel zu der Frage, warum und wofür ich eigentlich lebe. Geradezu prophetisch nannte sie einst Platon das schönste Band aller Bänder, das mich hält.I2I
Im Juli dieses Jahres jährt sich der 80. Todestag des Pfarrers Paul Schneider, den man den „Prediger von Buchenwald“ nannte. Er war der erste Märtyrer der evangelischen Kirche während der Zeit des Nationalsozialismus.I3I
Als er durch behördliche Willkür des NS-Staates aus seiner Pfarrstelle versetzt im Hunsrück versetzt wurde, hielt er sich nicht daran. Erst nach einer Zeit gab er seinen starken Widerstand dagegen auf. Er kritisierte in seinen Predigten die totalitäre Herrschaft der Partei, die an die Stelle Gottes gesetzt wurde und schloss sich der Bekennenden Kirche an. Er vollführte nie den „Deutschen Gruß“. Er weigerte sich, den sogenannten Arierparagraphen anzuerkennen, der es getauften Juden untersagte, in der evangelischen Kirche zu predigen.
Irgendwann war das Fass für das NS-Regime übergelaufen, und man brachte ihn in das KZ Buchenwald. Unerschrocken hat er dort Bibelworte beim Lagerappell aus seiner Zelle heraus gerufen, ja geschrien. Er glaubte, dass es allein dieses Wort der Schrift sein kann, das Menschen in der Hölle von Buchenwald Kraft und Trost gibt.
Am 18. Juli 1939 verstarb er an den Folgen einer überdosierten Strophantinspritze. Papst Johannes Paul II. erwies ihm auch die Ehrung seitens der katholischen Kirche.
Wie kann es sein, dass ein Mensch solchen Mut hat, seinen Widersachern mit dieser Unerbittlichkeit entgegen zu treten? Ich meine, dass solches Verhalten möglich ist, wenn einer „keine Ehre von Menschen“ sucht und unabhängig vom Ruhm wird. Jesus sagt in unserem Predigttext die Worte: „Ich nehme nicht Ehre von Menschen.“
Der Vorwurf an „die Juden“ lautet: „Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander nehmt, die von dem alleinigen Gott sucht ihr nicht?“
Eng verkoppelt wird in diesen Worten die Mahnung, in der Schrift das ewige Leben und Jesus selbst zu suchen und in der Nachfolge danach zu streben, keine Ehre haben zu wollen. „Ich nehme nicht Ehre von Menschen.“ Wenn das so ist, wenn ich nicht unentwegt danach strebe, anerkannt zu werden, es mir Schritt für Schritt egal wird, was andere über mich sagen, ob sie mich loben oder tadeln, dann schwindet analog die Furcht vor Menschen.
Ich nehme nicht Ehre von den Menschen. Wer das buchstabiert, geht in die Schule der Furchtlosigkeit. Das eine bedingt das andere. Es gibt in unserem Land eine nicht unbeträchtliche Zahl von Menschen, die meinen, dass uns die Asylsuchenden die Perspektive nehmen. Sie argumentieren, dass wir erst an uns und noch mal an uns, dann erst an Fremde denken sollten. In Kassel waren es offenbar Menschen mit diesem Gedankengut, die den Regierungspräsidenten Walter Lübcke auf seiner Veranda erschossen. Was geschieht mit uns? Etwas plump gefragt, was „macht das mit uns“? Terroristen aller Couleur, stehen sie nun rechts oder links, wollen uns Angst machen und Furcht einflößen: „Wenn du das sagst, wenn du das tust, wirst du sehen, was wir aus dir machen.“
Der heutige Bibeltext ruft uns zu einer Art von Training auf, an der Seite von Jesus unabhängig von Ehrungen werden. Dieses Training wird, so meine ich, die Furchtlosigkeit bei uns wachsen lassen. Es ist enorm wichtig, dass wir uns unserer Quellen erinnern, die Schrift und Jesus in ihr verinnerlichen und so Stück für Stück furchtlos zu werden.
ANMERKUNGEN
Anm. 1 Das folgende ist der Versuch, die komprimierte Theologie der analogia fidei, die Eberhard Jüngel in seinem Aufsatz „Der Gott entsprechende Mensch. Bemerkungen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundfigur theologischer Anthropologie“ entfaltet, auf das Niveau einer Gemeindepredigt herunter zu brechen.
(In: Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen, Tübingen 2002, S. 291–317.)
Anm. 2 Nach E. Jüngel, a. a. O. S. 7.
Anm. 3 Als Quelle zu der Kurzbiografie liegen zugrunde:
Renate Trautmann, Friedrich Bartsch, Helmut Burgert (Hrsg.): Das Bildnis des evangelischen Menschen, Berlin 1960, S. 248 sowie Philipp H. Hildmann: Schneider, Rudolph, in RGG (4.Auflage) , Tübingen 2004, S. 944.
Liturgische Hinweise:
Als Tageslied wähle ich 382, 1-3 (Ich steh vor dir mit leeren Händen)
An St. der Epistel wird die atl. Lesung vorgetragen: Jeremia 23, 16–29
Vor der Predigt soll 450,1–2 (Morgenglanz der Ewigkeit) gesungen werden.
Predigtlied ist 450,1–4 (Herr Jesu, Gnadensonne
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Jesus macht den Unterschied- Predigt zu Johannes 5,39-47 von Markus Kreis
Jesus macht den Unterschied! So heißt der Titel meiner Predigt: Jesus macht den Unterschied! In diesem Titel steckt schon ein Unterschied drin. Der ist nämlich doppelt zu verstehen, einmal so und einmal anders.
Jesus macht den Unterschied! Das heißt zum einen: Jesus macht den Unterschied aus. Macht einen Unterschied aus für mich. In meinem Leben. Macht mich und mein Leben zu etwas besonderem. Macht mir mein Leben unterscheidbar vom Leben anderer. Zumindest so, wie ich das sehe.
Jesus macht den Unterschied! Das heißt zum anderen: Jesus macht etwas. Jesus wirkt. Er sorgt dafür, dass sich etwas ändert. Dass etwas nicht so bleibt, wie es ist. Jesus macht den Unterschied! Das heißt: Jesus ist zuerst aktiv. Und nicht ich. Nicht ich mit meiner Idee von meinem Leben. Nicht ich mit meinem Eindruck vom Leben anderer. Meine Ideen und mein Eindruck spielen hier eine passive Rolle.
Jesus macht den Unterschied! So heißt das doppelte Motto meiner Predigt. Jesus macht den Unterschied aus! Jesus macht mein Leben besonders. Und: Jesus tut was. Er sorgt dafür, dass etwas nicht so bleibt, wie es ist.
Und es geht doppelt gemoppelt weiter. In Jesu Sätzen stecken zwei Listen. Die Themen der einen stehen im Gegensatz zu denen der anderen Liste. Jesus führt in seinem Bibelwort zweierlei an. Zum einen wie ein Menschenleben aussieht, in dem er, Jesus, nicht den Unterschied macht. Zum anderen wie ein Leben aussieht, in dem er, Jesus, sehr wohl den Unterschied macht. Das stellt er in seinem Bibelwort gegenüber.
Wie sieht ein Leben aus, in dem Jesus nicht den Unterschied macht. Jesus beschreibt das in seinem Bibelwort so:
Ein solches Leben sucht allein in Schriftzeichen, in heiligem Code, das wahre Leben zu finden.
Ein solches Leben sucht das wahre Leben nicht in Jesus allein, sondern in anderen Menschen.
Ein solches Leben birgt nicht Gottes schöpferische Liebe in sich.
Ein solches Leben sucht zuerst den Menschen zu gefallen.
Ein solches Leben versteht Jesu Worte als Anklage ohne Vergebung
Kommen wir zum zweiten. Wie sieht ein Leben aus, in dem Jesus sehr wohl den Unterschied macht. Jesus beschreibt das in seinem Bibelwort so:
Ein solches Leben sucht das wahre Leben allein in Jesus
Ein solches Leben birgt schöpferische Gottes Liebe in sich.
Ein solches Leben will zuerst Gott dem Schöpfer gefallen.
Ein solches Leben versteht Jesu Worte als Vergebung, die einer Anklage folgt
Wo ordne ich mein Leben ein? Macht Jesus in meinem Leben den besonderen Unterschied?
Suche ich das wahre Leben nur in Schriftzeichen, in heiligem Code? Oder suche ich es allein in Jesus?
Suche ich das wahre Leben allein in Jesus oder zuerst in anderen Menschen?
Birgt mein Leben Gottes schöpferische Liebe in sich? Oder schiebt es Gottes Liebe nur vor wie eine Kulisse?
Will ich dem schöpferischen Gott gefallen? Oder irgendwelchen von ihm geschaffenen Menschen?
Verstehe ich Jesu Worte als Vergebung oder nur als Anklage?
Wo ordne ich mein Leben in diesen Fronten ein? Macht Jesus in meinem Leben den besonderen Unterschied? Oder wird wie bisher in unserem Bibelwort vorwiegend Doppeltes zu melden sein. Teils - teils, mal hier - mal da?
Weiß ich überhaupt, mein und dein in dieser Sache zu unterscheiden? Beanspruche ich einen Unterschied für mein Leben, der gar nicht vorhanden ist? Mache ich da einen Unterschied, der mir gar nicht zusteht?
So was kann nur Jesus von seinem Leben sagen: Gott macht den Unterschied aus. Macht einen Unterschied aus für mich. In meinem Leben. Macht mich und mein Leben zu etwas besonderem. Macht mein Leben unterscheidbar vom Leben anderer.
Jesus macht den Unterschied! Wie gut, dass es da noch die zweite Bedeutung gibt. Jesus macht etwas. Jesus wirkt. Er sorgt dafür, dass sich etwas ändert. Dass etwas nicht so bleibt, wie es ist. Was wirkt Jesus? Jesus teilt Gott mit mir, so dass der Unterschied zwischen Gott und mir mich nicht mehr trennt von ihm.
Jesus macht den Unterschied! Unabhängig von mir. Jesus ist aktiv. Und nicht ich. Nicht ich mit meiner Idee von meinem Leben. Nicht ich mit meinem Eindruck vom Leben anderer. Meine Ideen, mein Eindruck vom Leben spielen nur eine passive Rolle. Jesus teilt Gott mit mir, so dass der Unterschied zwischen Gott und mir mich nicht mehr trennt von ihm.
Wie soll das gehen? Ein Unterschied, der nicht scheidet? Ein Unterschied, der verbindet? Gottes Leben, das einzig wahre Leben, hat sich nur in Jesus gezeigt, offen und unverstellt. Keinesfalls im Leben eines anderen Menschen. Da es sich direkt nur in Jesus gezeigt hat, kann es sich mir nicht direkt zeigen. Jesus weilt schließlich nicht mehr auf Erden unter uns Menschen. Es kann sich mir nur indirekt mitteilen.
Ein jeder kann Gottes Leben und Liebe in sich bergen. So wie es in Jesu Leben der Fall gewesen ist. Aber eben offen und unverstellt und nicht verborgen. Wie ist das zu verstehen? Kurz gesagt:
Gottes Leben und Liebe in sich bergen, das ist wie schwanger sein, ohne es schon zu wissen. Das heißt: Gottes Leben und Liebe wirkt in mir, ohne dass ich es zunächst wahrnehme. Aber es tut sich was. Und dieses wird sich zeigen, in mein Leben kommen und es ganz schön ändern. Gott ist schließlich der Schöpfer.
Da sich Gottes Leben und Liebe direkt nur in Jesus gezeigt hat, kann es sich mir nur indirekt zeigen. Es zeigt sich mir mental, in meinen Kopf hinein, in etwas, das in meinem Gehirn vorgeht, oder biblisch gesagt: im Eingehen von Gott in meinen Geist. Der damit zu einem heiligen wird.
Doch Vorsicht! Dem Geist eines Menschen vermag allerlei einzugehen. Der Geist eines Menschen vermag allerlei zu erschaffen. Nur weil etwas geistig ist, ist es noch längst nicht von Gott. Denke ein jeder nur an die Luftschlösser, denen er in seinem Leben unterlegen ist. An die vergeblichen Hoffnungen, falschen Sehnsüchte, Täuschungen, Irrtümer und Verfehlungen. Manch einer mag auch den Geist geistloser Zustände kennen.
Nicht umsonst ist der heilige Geist mit dem Glauben verbunden. Und Glauben unterscheidet sich von Wissen. Das heißt: Dass mein Geist mit Gott dem Schöpfer verbunden ist, weiß ich nur mit Gewissheit. Und nicht mit Sicherheit.
Ich kann angesichts des Unterschiedes nur darauf hoffen, dass Gott mich neu erschafft. Umso mehr, wenn der Gegensatz nicht allein in meinem Kopf eine Rolle spielt. Rein mental ist. Sondern wenn er körperlich wird. Wenn sich das Leben und seine Umstände mir widersetzen, mich bedrängen, in Not bringen. Da hilft nur die Hoffnung: Jesus macht den Unterschied!
Jesus macht den Unterschied in einem Leben aus. In allen Lebenslagen. Und das heißt: Wer im Geist vereint mit dem Schöpfer lebt, der macht Unterschiede wie Jesus. Der verbindet wie er das verborgene Innen der Welt mit ihrem Außen. Der vereint und unterscheidet wie Jesus. Der vereint und unterscheidet den Schöpfer am Werk und das Geschaffene. Bezogen auf unseren Bibeltext heißt das:
Der sucht das wahre Leben nicht nur in Schriftzeichen, sondern im Geist des Schöpfers, der sich darin ausdrückt.
Der sucht das wahre Leben zuerst bei seinem Schöpfer, Gott, und nicht unter den geschaffenen Menschen.
Der weiß, dass Gottes schöpferische Liebe in einem Menschenleben aus dem verborgenen heraus wirkt. Und schiebt sie deshalb nicht wie eine Kulisse vor sich her.
Der will zuerst Gott gefallen, und wenn es sich so ergibt, auch den Menschen.
Der versteht Jesu Worte zuerst als Vergebung und nicht nur als Anklage.
In diesem Unterscheiden erschafft Gott seine Menschengeschöpfe immer wieder neu. Amen.
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Das Abenteuer Vertrauen wagen - Predigt zu Johannes 5, 39-47 von Anke Fasse
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.
Liebe Gemeinde,
was für ein Vertrauen – unter diesem Motto haben sich in den letzten Tagen zehntausende ganz unterschiedliche Menschen in Dortmund zum Evangelischen Kirchentag getroffen. Sie haben miteinander und mit vielen Menschen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Kirche über verschiedenste aktuelle Themen diskutiert. Sie haben miteinander gefeiert, gesungen und gebetet. Jetzt gerade, während wir hier miteinander Gottesdienst feiern, feiern in Dortmund rund 100000 Menschen, darunter viele Jugendliche, an der Seebühne im Westfalenpark den Abschlussgottesdienst der kirchlichen Großveranstaltung.
Was für ein Vertrauen! Was für ein Vertrauen? Haben all diese Menschen denn nichts gehört vom gewaltigen Mitglieder– und Bedeutungsverlust der Kirche? Haben Sie nicht wahrgenommen, dass es nur noch bei einer kleinen Zahl dazu gehört, sich konfirmieren zu lassen, sich aktiv in der Kirche einzubringen? Irgendwie nicht mehr so recht zeitgemäß...
Und dann so etwas: 100000 kommen zusammen, um dort heute miteinander öffentlich Gottesdienst zu feiern. Was für ein Vertrauen!
Und wie ist es mit unserem Glauben? Mit unserem Vertrauen?
„Ich könnte glauben, wenn ich doch nur ein paar mehr Anhaltspunkte hätte, dass es Gott wirklich gibt. Aber was ich jeden Tag in der Zeitung lese, das bringt mich dem Glauben wirklich nicht näher.“ Diesen Eintrag fand ich in unserem offenen Buch, das in der Krankenhauskapelle ausliegt. Und darunter schrieb ein anderer: „Ich würde ja vertrauen, aber was, wenn ich doch falle?“
Ich muss tief durchatmen, als ich das las. Viele verschiedene Bibelworte kommen mir in den Sinn. Der Herr ist mein Hirte – wie oft habe ich allein in den letzten Wochen diesen alten, vielen so vertrauten, Psalm gesprochen und gespürt, wie er Menschen in Extremsituationen Halt und festen Boden unter den Füßen gibt.
Und gestern erst sagte eine Ehrenamtliche zu mir: „Ich habe ja den Herrn Jesus. Dem gebe ich alles ab, was ich im Krankenhaus an Schwerem höre. Der wird das schon machen.“ Ja, wir haben Jesus, das möchte ich am liebsten dem Schreiber dieser Worte sagen. Er hat gelebt auf dieser Erde, so wie du und ich. Er ist Vorbild und Richtschnur für viele. Er ist Gott auf Erden. Hoffnung über den Tod hinaus. Ja und dann: Nun aber bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei, aber die Liebe ist die Größte unter ihnen. Das haben Menschen über die Jahrhunderte hinweg erlebt, geglaubt, erfahren – immer wieder neu und anders. Was brauchen wir denn noch mehr um zu glauben, zu vertrauen?
Sie ist sechzehn Jahre alt und beeindruckt weltweit Viele mit ihrem Engagement. Klein und unscheinbar begann sie. Irgendwo in Schweden. Beharrlich. Standfest. Voller Überzeugung und Vertrauen. So lange schon weisen verschiedenste Forscher auf die gravierenden, unumkehrbaren Folgen des Klimawandels hin. Warnen die Weltgemeinschaft nicht so fortzufahren mit dem Konsum, mit dem Verbrauch der Energien. Abkommen werden geschlossen. Und doch schreitet die Zeit immer weiter voran – ohne dass viel passiert. Die Warnungen scheinen zu verhallen. Für die junge Greta aus Schweden ist dies nicht zu ertragen. Aus dem Engagement einer einzelnen entwickelt sich eine weltweite Bewegung junger Menschen. Fridays for future ist mehr als ein Begriff. Es ist eine Bewegung, die anders und neu hinterfragt, weltweit. Ich bin fasziniert von der Beharrlichkeit und dem Engagement dieses Mädchens und der vielen jungen Menschen, die sie in Bewegung versetzt hat. Und ich bin berührt davon, dass sie darauf drängen, dass all die Warnungen endlich ernst genommen werden und ihnen Umdenken und Taten folgen. Niemand kann sagen, wir hätten es nicht gewusst, welche Folgen der Klimawandel hat und wir hätten keine Zeit gehabt, etwas zu verändern.
Jesus selbst begegnet dies „Problem“ mit dem Nicht-Glauben können oder Nicht-Glauben wollen. Er selbst erlebt, wie schwer es für Menschen ist, eine Haltung zu verändern. Scheinbar müsste alles klar sein, schwarz auf weiß ist es in den Schriften festgehalten, Mose etwa verweist auf ihn – aber die Gemeinde vertraut und glaubt ihm nicht. Ihr geht es um das, was vor Augen ist, um die Anerkennung bei anderen Menschen und nicht um Gott. Darum geht es im Predigtwort für den heutigen Sonntag. Ich lese aus dem 5. Kapitel des Johannesevangeliums.
Ihr forscht doch in den Heiligen Schriften und seid überzeugt, in ihnen das ewige Leben zu finden – und gerade sie weisen auf mich hin. Aber ihr seid nicht bereit, zu mir zu kommen und so das ewige Leben zu haben. Ich bin nicht darauf aus, von Menschen geehrt zu werden. Außerdem kenne ich euch; ich weiß, dass in euren Herzen keine Liebe zu Gott ist. Ich bin im Auftrag meines Vaters gekommen, doch ihr weist mich ab. Wenn aber jemand in seinem eigenen Auftrag kommt, werdet ihr ihn aufnehmen. Wie könntet ihr denn auch zum Glauben an mich kommen? Ihr legt ja nur Wert darauf, einer vom andern bestätigt zu werden. Aber die Anerkennung bei Gott, dem Einen, zu dem ihr euch bekennt, die sucht ihr nicht. Ihr braucht aber nicht zu denken, dass ich euch bei meinem Vater verklagen werde. Mose klagt euch an, derselbe Mose, auf dessen Fürsprache ihr hofft. Wenn ihr Mose wirklich glaubtet, dann würdet ihr auch mir glauben; denn er hat über mich geschrieben Da ihr aber seinen geschriebenen Worten nicht glaubt, wie könnt ihr dann meinen gesprochenen glauben. (Joh 5, 39-17)
Was macht es so schwer mit dem Glauben und mit dem Vertrauen, damals und heute? Die Gemeinde, zu der Johannes schreibt, war wohl sehr klein. Das Christentum war jung und vielen kritischen Stimmen ausgesetzt. Die christliche Gemeinde war umgeben von der traditionsreichen jüdischen Gemeinde, eine Minderheit also. Und Jesus versucht, sie zu überzeugen, indem er auf die gemeinsamen Schriften, auf die hebräische Bibel verweist. „Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir, denn er hat von mir geschrieben.“ Viel mehr Autorität gibt es nicht. Und doch ist und bleibt es schwierig mit dem Glauben.
Ich versuche eine Verbindung in die heutige Zeit zu ziehen. Die Kirchenmitgliedschaft sinkt. Die Bedeutung der Kirche nimmt ab, das wird immer wieder gesagt, berichtet, geschrieben. Und heute: 100000 Menschen feiern Gottesdienst, nicht in einer Kirche, sondern draußen im Westfalenpark und wieviel mehr mögen es an den vielen anderen Orten sein – und wir gehören dazu. Und das alles 2000 Jahre nachdem es so zaghaft anfing mit dem Christentum, belächelt und verfolgt wurde. Welch Vertrauen haben Menschen doch immer wieder besessen. Welch Vertrauen, welche Beharrlichkeit, welcher Glaube wurde ihnen geschenkt, haben sie gewagt - und so etwas bewegt.
Hätte mir nicht jemand sagen können, wie schnell die Zeit vergeht?“, das sagt mir mit einem verschmitzten, nachdenklichen Lächeln eine ältere Frau im Krankenhaus. „Dann hätte ich doch manches anders gemacht und vor allem, die Prioritäten anders gesetzt. Ob die Fenster nun sauber oder schmutzig sind, das spielt doch keine Rolle,“ meinte sie, „aber die Zeit mit den Kindern, oder das einfach mal in der Sonne sitzen und genießen – das hätte ich mal mehr machen sollen. Aber“ – nach einer Pause fügt sie hinzu – „wenn ich ehrlich bin, hat mir das meine Mutter noch kurz vor ihrem Tod gesagt: Mädchen, hat sie gesagt, je älter du wirst, je schneller vergeht die Zeit. Nutze sie! Ja, das hat sie gesagt. Aber, ich frage mich, warum ist es so schwer, das umzusetzen? Niemand kann sagen, ich hätte es nicht gewusst.“ Nachdenklich gehe ich von diesem Gespräch zurück in mein Büro und denke immer wieder daran.
Warum ist es manchmal so schwer, Weisheiten, Warnungen, Erkenntnisse nicht nur zu hören, sondern sie umzusetzen im eigenen Leben mit Wort und Tat?
Und so wie es mir schwerfällt wirklich etwa so umweltbewusst einzukaufen, wie ich es eigentlich möchte oder meine Prioritäten wirklich bewusst im Leben zu setzen, weil ich weiß, dass meine Zeit begrenzt ist – so schwer, wie es für mich persönlich ist, so schwer und noch viel schwerer ist es für die großen Zusammenhänge dieser Welt.
Und auf der anderen Seite, erleben wir dies Vertrauen all der Menschen, die gerade jetzt beim Kirchentag einen lebendigen Gottesdienst feiern. Wir erleben, dass das Engagement einer einzelnen Jugendlichen etwas bewegen kann.
Liebe Gemeinde, immer wieder mag es gute Gründe geben, nicht zu glauben oder nicht zu vertrauen. Aber genauso viele Gründe gibt es der Einladung zum Glauben zu folgen und es zu wagen mit Körper, Geist und Seele, es auszuprobieren, immer wieder neu, gegen den Strom zu schwimmen, zaghaft, beharrlich – und darauf zu vertrauen, dass ER da ist mit seiner Verheißung für Dich und mich und unsere Welt.
Amen