Predigt zu Markus 4,35-41 von Tom Mindemann
Schweig! Verstumme! Und der Wind legte sich und es ward eine große Stille. Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?
Eine peinliche Stille legte sich über das Boot und über den ganzen See. Gerade war alles noch ganz anders gewesen. Der Wind brauste über sie hinweg. Die Wellen auch. Und sie paddelten und versuchten an Land zu kommen und schöpften mit hohlen Händen das Wasser aus dem Boot. Jesus schlief. Auf der einzigen noch trockenen Stelle. Auf der Bank hinten im Boot. Sie hatten ihn geweckt, damit er irgendetwas tut. Mitpaddeln. Oder Wasser schöpfen. Im Kreis laufen und mit den Armen rudern. Irgendetwas.
Nicht nur der See wurde rauer. Auch der Ton. „Ey, Meister, interessiert es dich überhaupt nicht, dass wir umkommen?“ Aber Jesus paddelte nicht. Er schöpfte kein Wasser. Er lief nicht im Kreis und ruderte nicht mit den Armen. Jesus stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig! Verstumme!
Eine peinliche Stille legte sich über das Boot und über den ganzen See. In Geschichten ist das immer so einfach. Die Pointe sitzt: Habt ihr noch keinen Glauben? Und auf der nächsten Buchseite beginnt ein neuer Morgen. Aber jetzt saßen sie mit Jesus in einem Boot, kamen nicht weg von ihm, obwohl er ihnen unheimlich war. Petrus dachte kurz darüber nach, einfach zu Fuß ans Ufer zu gehen, verwarf den Gedanken aber wieder.
Andreas traute sich, zuerst etwas zu sagen. Vorsichtig darauf gefasst, das nächste Machtwort zu hören zu bekommen. Wenn sogar Wind und Meer Jesus gehorsam sind, wer weiß? Was hätten wir denn tun sollen? Dich weiter schlafen lassen, bis uns das Wasser wirklich bis zum Halse gestanden hätte? Jesus sagte nichts. Ein anderer, Jakobus, meinte: Vielleicht hätten wir beten sollen. Aber, wandte Johannes ein, wir hatten doch alle Hände voll zu tun mit Wasser schöpfen…
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Constanze ist, wie man sagt: in der rush hour des Lebens. Beruflich geht es aufwärts. Gerade hat sie eine neue Aufgabe im Unternehmen übernommen. Mehr Kompetenzen. Mehr Verantwortung. Mehr Arbeit. Die Kinder sind aus dem Gröbsten raus. Und doch brauchen sie natürlich Ihre Mutter. Und sollen sie auch haben. So wie der Ehemann seine Frau.
Abends, wenn die Kinder schlafen, sitzt sie noch stundenlang am PC. Kämpft sich durch die Email-Flut des Tages und schiebt eine Bugwelle von Aufgaben vor sich her, die immer wieder über sie hereinschwappen. Dieses leise Geräusch im Ohr hat sie lange nicht ernst genommen. Aber manchmal reagiert sie gereizt auf die kleinste Anfrage. Bis eine Freundin ein Machtwort gesprochen hat: Halt! Stopp! Jetzt liegt sie im Krankenhaus, soll absolute Ruhe halten. Die ersten Tage versucht sie noch vom Bett aus mit dem Tablet zu arbeiten. Aber der Internetempfang im Krankenhaus ist zu schlecht. Und alles, was sie braucht, hat sie ohnehin nicht in der Cloud. Constanze ist es, als ob ihr die Dinge wie Wasser durch die Finger fließen.
Nachts legt sich eine Stille über ihr Bett und das ganze Zimmer. Wenn der Kleine zu Hause rufen würde, könnte sie es nicht hören, und auch nichts tun. Erst langsam gewöhnt sie sich an den Gedanken, dass ihr Mann ja zu Hause ist, und hören und tun kann. Und es wird ruhig in ihr.
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Was passiert, wenn nichts passiert? Wenn der Wind den Atem anhält, wenn die Wellen das Weite suchen und die Wogen es nicht mehr wagen, an die Bootswand zu schlagen?
Was passiert, wenn nichts passiert? Wenn die Geschäftigkeit geschafft macht, aber nichts geschafft bekommt? Wenn die Flut aus Emails und Aufgaben in den Ohren flötet und uns vergessen lässt, wer wir sind und warum wir etwas tun? Wenn dann die Hektik innehält und Zeit sich nicht mehr vertreiben lässt?
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Die Stille, zu der sich Constanze verdammt sieht, bewirkt zweierlei: Sie soll helfen, das Pfeifen im Ohr wieder loszuwerden. Und: Constanze kommt zu sich. Sitzt mit sich selbst in einem Boot, kommt nicht weg von sich, auch wenn es ihr unheimlich ist. Wer ist die, zwischen Kind und mehr, zwischen Arbeit und Familie, die so lange nicht auf ihre innere Stimme gehört hat und unter einem Meer von Aufgaben zu ertrinken drohte? Wer bin ich? Und was ist wirklich wichtig?
Als Jesus den Sturm stillte und Wind und Wellen in ihre Schranken verwies, da bewirkte die Stille, die dann folgte, zweierlei. Sie war die Lösung für das Problem, dessen sich die Jünger durchaus bewusst waren: Das Wasser steht uns bis zum Halse! Die Stille verwies aber auch auf ein Problem, dessen sie sich noch nicht bewusst waren: Wir trauen Gott zu wenig zu!
Ich denke, Gott schreit nicht über den Alltagslärm hinweg. Er verschafft sich Gehör, ja. Aber es ist die Stille, in die er hinein spricht, was uns unbedingt angeht: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben? Wer bist du? Und was ist dir wichtig?
Und am Abend desselben Tages sprach Jesus zu den Jüngern: Lasst uns ans andre Ufer fahren. Und sie ließen das Volk gehen und nahmen ihn mit, wie er im Boot war, und es waren noch andere Boote bei ihm. Und es erhob sich ein großer Windwirbel, und die Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde.
Und er war hinten im Boot und schlief auf einem Kissen. Und sie weckten ihn auf und sprachen zu ihm: Meister, fragst du nichts danach, dass wir umkommen? Und er stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig! Verstumme!
Und der Wind legte sich und es ward eine große Stille.Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben? Und sie fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind!
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Herr über die Naturmächte - Predigt zu Markus 4,35-41 von Karsten Matthis
Liebe Gemeinde,
„Und es erhob sich ein großer Windsturm und die Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde“, (V. 37). Der See Genezareth liegt für den Betrachter idyllisch dar, jedoch kann er sich rasch in ein stürmisches Gewässer verwandeln. Unberechenbare Stürme sind nichts Ungewöhnliches am See Genezareth. Das erklärt sich aus seiner besonderen geografischen Lage. Der Wasserspiegel liegt ungewöhnlich tief, 200m unter dem Meeresspiegel. Und die umliegenden Berge liegen ganz nahe am See. Die auslaufenden Wellen finden kaum Platz an den Ufern. Wenn plötzliche Fallwinde von den Bergen stürmen, können sie die Wellen auf dem See gewaltig auftürmen. Blitzschnell kann dies mit einer unheimlichen Wucht geschehen. Bis die Winde dann ebenso plötzlich wieder abflauen und sich der See sich wieder beruhigt.
Liebe Gemeinde, ein mächtiger Sturm kommt auf, diesen Eindruck haben Sie vielleicht in den letzten Monaten bei verschiedenen politischen Ereignissen gewonnen, wenn sie die weltweiten Nachrichten verfolgt haben. Der Austritt Großbritanniens aus der EU rückt immer näher, und ein Masterplan, der nach dem Austritt des Vereinigten Königreiches, dem Brexit, kommen soll, ein schlüssiges Konzept für die Zeit ohne Mitgliedschaft in der EU scheint im Regierungsviertel Londons nicht zu existieren.
Angeführt von Rechtspopulisten sind Länder wie Polen und Ungarn auf einem nationalistischen Weg, sich von der Europäischen Gemeinschaft zu lösen. Schrille fremdenfeindliche Töne finden zu unserer Überraschung in diesen Ländern unerwartet starken Beifall.
Weiterhin sitzen viele Menschen auf gepackten Koffern in großen afrikanischen Flüchtlingscamps und warten auf einen günstigen Moment, um nach Europa zu fliehen. Die Projekte der Entwicklungszusammenarbeit scheinen nicht zu greifen und sind eher wie ein „Tropfen auf einem heißen Stein“ und werden den Exodus an Menschen nicht stoppen.
Auf dem Balkan spitzen sich alte Konflikte wieder zu. Die Zeichen stehen auf Konfrontation: Serben und Kroaten stehen sich feindlich gegenüber. Wie vor 100 Jahren kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs wirkt der Balkan wie ein „Pulverfass“.
Der Konflikt um die Ostukraine ist aus den Schlagzeilen der Medien zwar verschwunden, dennoch schwelt der Bürgerkrieg weiter und wird blutig geführt.
Europa und die Europäische Union waren lange Zeit eine Insel der Glückseligen, nun könnte sich aus Vielzahl der Konflikte etwas Böses zusammen zu brauen. Ein Wirbelwind könnte über Europa hinwegfegen.
Nicht nur in der Weltpolitik gibt es Unwetter, die sich zusammenbrauen. Im Privatleben beschleicht uns bisweilen das untrügliche Gefühl, dass ein heftiger Sturm aufzieht. Die Veränderungen in der Arbeitswelt kommen schneller auf uns zu. Die Digitalisierung und mit ihr eine künstliche Intelligenz in Gestalt von Robotern könnte schon recht bald viele Arbeitsplätze vernichten und nur wenige neue Arbeitsplätze schaffen. Diese rasanten technologischen Veränderungen sorgen für Unruhe in unserem Leben.
Aufgrund einer jahrelangen Lebenserfahrung sind wir sensibel genug, wenn Dinge auf eine schiefe Bahn geraten sind: Im Beruf läuft es nicht mehr richtig gut, da das Kundeninteresse abnimmt und die Umsätze zurückgehen. Wenn in der Familie und im Freundeskreis sich das offene und freundschaftliche Klima abgekühlt hat, und man nicht mehr gut gelitten ist, weil man durch die eigene schlechte Laune, eingetrübt durch berufliche und private Enttäuschungen, Familienfeste und Treffen verdorben hat. Der Einfluss auf die Kinder nimmt ab, weil diese älter geworden sind und eigene Wege gehen möchten. Angst um die persönliche Zukunft beschleicht einen, dass sich viele Dinge über unsere Köpfe zusammenbrauen und wie ein Windwirbel über uns hinwegfegen.
Liebe Gemeinde, in der Geschichte von der Stillung des Sturms erleiden die Jünger Todesängste. Der starke Sturm auf dem See Genezareth hat das kleine Fischerboot schon ergriffen. Die Wellen schaukeln das Schiff heftig hin und her. Die Wellen schlagen bereits meterhoch ins Boot. Die Jünger, einige unter ihnen erfahrene Fischer, haben so ein Unwetter auf ihrem See, dem See Genezareth, noch nicht erlebt. Hilflos sitzen sie in ihrer Nussschale, die mit samt der ganzen Mannschaft von den Fluten in die Tiefe des Sees hinab gerissen zu werden droht.
Bereits vor der Episode auf dem See Genezareth, die uns Markus so lebendig erzählt, haben die Jünger vielleicht unbewusst gefühlt, dass es sich am Horizont etwas zusammenzieht. Der Sturm auf dem See ist Ausdruck dessen, dass Jesus und der Kreis seiner Jünger künftig in einem übertragenden Sinne in schwere See geraten könnten. Jesus hat sich seinen Widersachern entzogen und ist nach Galiläa entwichen. Um der Dauer Konfrontation mit seinen Gegnern, den Pharisäern, zu entgegen, hatte er sich mit seinen Freunden nach Galiläa aufgemacht.
An Jesus scheiden sich die Geister, insbesondere den Hohen Priestern war Jesus von Nazareth „ein Dorn im Auge“. Ihr Zorn und ihre Eifersucht steigen mit jeder Predigt und mit jeder Heilung an. Leicht zu vermuten, dass sie ihm nach dem Leben trachten. Dass ihm ein Leidensweg bevorstehen könnte, der auf Golgatha qualvoll enden musste, dies haben die Jünger sich in ihren schlimmsten Befürchtungen nicht vorstellen können, aber das die unbeschwerte Zeit mit ihrem Meister vorbei sein könnte, dies erahnen sie.
Im immer heftiger schwankenden Boot wächst ihre Furcht zu kentern und zu ertrinken. Panische Todesangst breitet sich unter den Jüngern aus. In ihrer Not wecken sie Jesus und flehen ihn um Hilfe an. Jesus liegt auf einem Kissen, so erzählt Markus, hinten im Boot und schläft fest. Das Tosen der Wellen und das Brausen des Windes wecken ihn nicht auf.
Doch aus dem Schlaf gerissen, erhebt er sich, sieht sich um, bleibt gelassen und spricht zu seinen Jüngern. Und als er zu seinen Freunden redet, legt sich der Sturm. Nur ein Wunder hat den Kreis der Jünger retten können. Jesus hat dieses Naturwunder vollbracht. Seine Gelassenheit und seine innere Ruhe beeindrucken, ja erschrecken die Jünger. „Wer ist der?“ fragen die Jünger erschrocken. „Wind und Meer sind ihm gehorsam.“
Liebe Gemeinde, die Erzählung von der Stillung des Sturms ist eine Epiphanie (Erscheinungs-) Geschichte. Eine Geschichte, in welcher die Herrlichkeit Christi aufleuchtet. Die Jünger spüren seine Macht und die Verbundenheit mit dem Schöpfergott. Hier leuchtet das Licht der Welt auf, wie er sich seinen Jüngern offenbart hatte.
Jesus demonstriert die Gewissheit, wer sich in Gottes Hand begibt, der kann nicht tiefer fallen. Er überlässt sein Schicksal vertrauensvoll seinem Vater. Und seinen Freunden ruft er zu: Sorgt nicht. Vertraut!
Jesus kämpft mit diesen dunklen und entfesselten Mächten und die Jünger haben begriffen, dass Jesus mit seinem Vater Herr über der Schöpfung ist. So gewinnt die Geschichte von der Stillung des Sturms eine symbolische Kraft, welche über die Wundergeschichte von der Stillung des Seesturms hinausweist. In unserer Welt, wo Naturgewalten oft wüten, da erschrecken sie uns. Gewaltige Seebeben mit Flutwellen kommen plötzlich ohne Vorwarnung und vernichten Hab und Gut der Menschen und fordern unzählige Opfer.
Liebe Gemeinde, wir sind hilflos und machtlos vor diesen Naturgewalten. Jesus hingegen ist vertraut mit den Naturgewalten, weil sie aus der Schöpfermacht seines Vaters entstammen. Die Natur ist von Gott geschaffen und von ihm beseelt. So widrig und feindlich sich die Naturgewalten aufführen, diese gehören zu Gottes Schöpfung. So beeindrucken uns letztlich nicht das Naturwunder, was wir Gott ohne weiteres zutrauen, sondern die Gelassenheit Jesu und sein Vertrauen zum Vater.
Die panische Angst unter den Jüngern löst bei ihm Unverständnis aus. Er tadelte sogar ihren Unglauben. „Wie kommt es, dass ihr so furchtsam, und ohne Glauben seid?“ Da verwandelt sich die Furcht der Jünger in den Schrecken über den eigenen Unglauben, über die Verkennung der Wirklichkeit. Die Jünger erschrecken über Jesus, der mit einer bloßen Geste den Sturm zum Schweigen bringt. Voller Erstaunen flüstern sie einander zu, dass es ihr Herr ist, der sogar Wind und Wellen zum Schweigen bringen kann, wenn er es denn will.
Liebe Gemeinde, Angst ist da nicht am Platz, wo Jesus im Schiff mitfährt. Selbst wenn es unterginge, wäre er mit ihnen. Der schlafende Jesus wird so zum Ausdruck jener Gelassenheit, die christliches Dasein auf den stürmischen Fahrten des Lebens auszeichnet, einer Gelassenheit, die nichts mit Lässigkeit und Leichtsinn zu tun hat, aber alles mit der Verheißung zu tun hat: Er wird die nicht verlassen, die sich auf ihn verlassen.
Aber vielleicht mag die eine oder der andere nun fragen, müssen wir Jesus immer wieder wecken, ihn wachrütteln, wenn sich solche Stürme in unserem Leben aufbauen, wenn sich Unheil über unseren Köpfen zusammenzieht. Schlafen Gott und sein Sohn? Müssen wir sogar vermuten, dass wir Menschen der dunklen Macht des Schicksals ausgeliefert sind. Hat Gott in Auschwitz und Buchenwald geschlafen und die Schreie der Opfer überhört? War denn kein Gott da, der da retten konnte?
Schläft Gott, wenn sich augenblicklich im Nahen Osten ein militärischer Flächenbrand aufbaut? Schläft er, wenn ein Diktator aus der Kim-Dynastie in Nordkorea mit Atomwaffen und Allmachtphantasien spielt.
Hier bereitet uns die Geschichte Kopfzerbrechen, müssen wir Jesus immer wecken, damit er uns rettet? Ist dieser verborgene Gott von dem Martin Luther schreibt, der Welt nicht zugewandt, sondern fern von ihr. Wie rätselhaft erscheint uns Gott in einer Welt der Widersprüche und Ungerechtigkeiten, der Zerwürfnisse und Kriege.
„Meister, fragst Du nicht danach, dass wir umkommen“ schreien ihn seine Jünger an. Jesus handelt, leise, mit einer Geste und wenigen Worten bringt er das Meer zum Schweigen. Er lässt seine Schar nicht umkommen. Sie sollen ihre Rettung und Bewahrung aus Gefahr als Zeichen nehmen, dass der Herr bei ihnen ist. Auf dem See Genezareth geschieht ein Zeichen, ein Hinweis auf die neue Welt Gottes, in der die Menschen nicht umkommen. Was seid ihr so furchtsam auf diesem Weg durch die Stürme des Lebens, durch Angst und durch die Krisen in unserem Leben. Gott hört unsere Hilferufe, dass wir nicht verderben. Der Herr ist mit uns auf unseren Lebenswegen, unsere Schicksale sind sein Schicksal; er wird unsere Leben nach seinem Willen lenken; vertraut auf ihn….
Amen.
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Wenn das Lebensboot zu versinken droht... – Predigt zu Markus 4,35-41 von Sven Evers
Und am Abend desselben Tages sprach er zu ihnen: Lasst uns ans andre Ufer fahren. Und sie ließen das Volk gehen und nahmen ihn mit, wie er im Boot war, und es waren noch andere Boote bei ihm.
Nichts Besonderes eigentlich. Eine Überfahrt, wie es schon viele gab und wie es noch viele geben wird. Ruhig und gemächlich schippert das kleine Boot auf dem See der Abendsonne entgegen. Die Sonnenstrahlen tanzen auf dem Wasser, die Mücken tanzen über dem Wasser und ein sanfter Wind versetzt das Boot in gemächliches Schaukeln. Müdigkeit stellt sich ein und diese merkwürdig wohltuende, gefüllte Leere nach einem Tag langer und erfüllender Arbeit.
„Das Leben geht seinen Gang“ – sagen wir manchmal – und meinen damit vielleicht ja auch genau dieses: Dass es sanft vor sich hinschaukelt (nicht zu viel, das macht Übelkeit und allerlei Beschwerden) auf ruhigen und bekannten Gewässern. Man darf die Augen schließen, ohne etwas zu verpassen. Der Weg ist bekannt, die Umgebung vertraut. Furchtlos kann man sich fallenlassen und: schlafen legen. Jedenfalls, wenn man kann...
Aber nicht jeder kann!
Es erhob sich ein großer Windwirbel, und die Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde.
Wie soll man da schlafen! Wie soll man ruhig bleiben? Wind und Wasser überall, von jetzt auf gleich. Sie bedrohen nicht die anderen in weiter Ferne – das ist jetzt keine Tagesschau und keine Reportage aus fernen Ländern! – das passiert hier und jetzt!
Da, wo noch eben Sicherheit war und gewohnte Ruhe, da wo noch eben wohltuende Langeweile war – eine Weile, die lange zu währen schien, weil eben nichts da war, das sie hätte erschüttern können – da bricht der Wind, da brechen die Wellen und bricht das Wasser mit voller Wucht herein!
Wehe dem, der jetzt nicht schwimmen kann. Wehe dem, der keinen Halt hat und keinen Rettungsring. Nein, wir lesen die Geschichte jetzt noch nicht weiter. Wir halten dieses stürmische und nasse Hier und Jetzt noch einen Moment aus.
Denn wie oft ist das doch nicht weniger als das wahre Leben!
Die Menschen, die übers Meer fliehen aus Hunger und Not und Elend und Krieg, die können wohl ein Lied singen von den Gefahren des Meeres, von den Ängsten und Nöten auf tosenden Wassern und in eisigen Winden auf dem Weg ans rettende Ufer. Wenn sie es denn noch singen können und nicht die Sehnsucht nach Leben mit dem Leben bezahlt haben in dem, was Leben schenkt und Leben nimmt.
Die Menschen, die die böse Diagnose bekommen haben bei dem Besuch, der doch reine Routine hätte sein sollen, denen der Boden unter den Füßen weggerissen ist, weil das Leben keine Balken hat, die könnten wohl auch ein Lied davon singen, wie Wind und Wellen plötzlich und mit voller Wucht hereinbrechen in das Boot, das noch eben gemächlich vor sich hinschaukelte. Wenn ihnen denn nach Singen zumute wäre und es ihnen nicht die Sprache verschlagen hätte, weil das Wasser ihre Lungen und Herzen füllt und der Atem vergeht.
Und viele andere könnten wohl ein Lied singen von dem Tod und dem Verderben und der Angst und der Kälte, die das Wasser bringt... Das des Krieges und der Unfälle, das der zerbrochenen Beziehungen und geplatzten Berufsträume und und und...sie alle könnten ein Lied des Lebens singen, das untergeht und in den Wellen versinkt – und wer weiß, vielleicht singen sie es sogar und wir hören es nur nicht, weil wir in unserem kleinen, gemütlichen und vermeintlich unsinkbaren Lebensbötchen sitzen und die paar Planken unter uns und um uns herum, das Buffet an jedem Abend und die geführten Landausflüge, die uns das Leben vorführen als wäre es ein Museum, für das Leben halten.
Und er war hinten im Boot und schlief auf einem Kissen.
Er, dem Wind und Wellen gehorchen (aber das wissen wir ja noch gar nicht, das erfahren wir erst ein paar Verse später) schläft wie ein Kind in Abrahams Schoß. Kindliches Vertrauen. Göttliches Vertrauen. Aber wahrscheinlich ist das dasselbe. Vielleicht schätzt er die Gefahr anders ein als jene, die gleich kommen werden, um ihn zu wecken. Vielleicht traut er ihnen auch mehr zu als sie sich selber zutrauen. Ja, vielleicht muss man ja gar nicht bei dem ersten Wassertropfen schon schwere Geschütze auffahren, muss nicht jede Krise aufwändig therapiert werden und ist nicht jedes Problem gleich ein Fall für den Chef...
Es könnte ja sein – aber da prüfe jeder und jede sich selber und urteile nicht über andere! – dass manches Wasser durchschwommen und manche Welle ertragen werden kann, wenn man denn wirklich will und es sich zutraut – und der vorschnelle Ruf nach Hilfe nichts anderes ist als Faulheit oder Bequemlichkeit oder er zumindest doch aus einer Angst resultiert, die überwunden würde, wenn man sich selber zutraute, sich ihr zu stellen und sie zu durchschwimmen.
Doch hier nicht so. Egal ob gefühlt oder tatsächlich (und Angst ist eben erst einmal angst, ganz gleich, ob sie einen realen Grund hat oder nicht). Hier kommen sie und sie weckten ihn auf und sprachen zu ihm: Meister, fragst Du nichts danach, dass wir umkommen?
Er ist ja da. Hilfe ist nahe. Allein: Man muss sie denn wenigstens haben wollen. Es ist schon interessant (oder auch komisch oder traurig, je nachdem) zu sehen, wie viele Menschen Gott vorwerfen, er würde in Notsituationen ja ohnehin nicht helfen, die ihn aber doch zugleich noch nie darum gebeten haben.
Mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein lässt Gott sich gar nichts nehmen – es muss erbeten sein, heißt es bei Paul Gerhardt.
„Fragst Du nichts danach, dass wir umkommen?“ – „Warum muss ich fragen? Erstens traue ich Euch zu, manches Wellental alleine zu durchschreiten. Und zweitens: Ich bin doch da. Ich helfe Euch, wenn Ihr Euch zu schwach fühlt oder keine Lösung findet. Allein: Ihr müsst Euch schon die Mühe machen, mich zu rufen. Erbetene Hilfe macht den Bittenden zum wahrhaft Empfangenen und gibt ihm doppelte Würde: Im Bitten und im Empfangen. Ungebetene – manchmal vielleicht gar nicht gewollte – Hilfe ist Entmündigung und Entwürdigung. Darum: Ruft, schreit, weckt mich. Ich bin da.“
Und er stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig! Verstumme! Und der Wind legte sich und es wart eine große Stille.
Die Ruhe nach dem Sturm. Das Wasser liegt glatt und fast bewegungslos. Der Wind nur noch ein sanftes Säuseln göttlicher Nähe, die Sonnenstrahlen brechen sich wie zuvor und überhaupt ist es plötzlich, als sei es nie anders gewesen. Und doch ist alles anders. Ist alles neu.
Die Ruhe nach dem Sturm ist eine andere als die vor dem Sturm. Die vergangene Gefahr eine andere als die, die vor mir liegt. Die Luft ist frisch und klar, der Ausblick ebenfalls, die Geräusche und Gerüche, das Licht, die Farben. Wie neu. Eine große Stille. Eine großartige Stille. Eine gefüllte Stille, in der sich neu sortiert was war, und was ist und was sein wird. Eine große, wenn auch ganz andere Stille wohl auch im Blick und in den Gedanken derer, die mit Jesus sind – die Stille staunenden Nichtverstehens und fassungsloser Ergriffenheit.
Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?
Das Gegenteil von Furcht ist nicht Mut, schon gar nicht Hochmut oder Übermut oder welcher Mut auch immer. Das Gegenteil von Furcht ist Glauben, Vertrauen. Das ist der Anfang von allem. Vielleicht hätten sie das Boot alleine durch Wind und Wellen steuern und selbst die auf Deck sich sammelnden und Schräglage verursachenden Wasser in den Griff kriegen können, wenn sie, anstatt panisch an Bord umher zu laufen und nur auf die Wellen und nicht auf die bereitstehenden Eimer zu schauen, getan hätten, was sie hätten tun können.
Vielleicht hätten sie die Gefahr überwunden, wenn sie sich nicht von der Gefahr hätten überwinden lassen. Vor allem aber – und darum geht es dem Evangelisten ja in erster Linie – hätten sie, anstatt sich panisch von Gott und allen guten Geistern verlassen zu fühlen, einfach hingehen können zu ihm und eingestehen: Herr, wir brauchen Deine Hilfe. Hilf uns, orientiere uns, hilf uns zu schauen auf das, was jetzt Not tut, weil es notwendig ist. Tu, was wir nicht tun können. Hilf. Rette. Seid nicht furchtsam. Habt Glauben. Vertraut.
Und jene auf dem Meer, die auf dem Weg der Sehnsucht nach Leben elendig verreckt sind? Und jene mit der bösen Diagnose, die gebetet haben und geweint und geschrien und gehofft? Und all jene mit den geplatzten Träumen, den zerbrochenen Beziehungen und gebrochenen Herzen und alle, deren Stimmen aus den Wassern gescheiterten Lebens sich erheben und nach und fassen, die wir sicher in unsren Booten sitzen und gleichwohl zumindest manchmal ahnen, dass Wind und Wellen uns näher sind als wir wahrhaben wollen? Haben sie nicht geglaubt? Haben sie nicht vertraut?
Wer bin ich, darüber zu urteilen. Rettung in Wind und Wellen ist möglich. Darauf vertraut der Evangelist. Und darauf will auch ich vertrauen.
Wie diese Rettung aussieht? Ich weiß es nicht. Nicht immer verstummt das Tosen. Vielleicht aber ist das Einstimmen in ihre Melodie auch so etwas wie Rettung? Vielleicht ist das Sich-Fallen-Lassen in die tosenden Wasser auch nicht gänzliche Verlorenheit? Ich weiß es nicht.
Der Evangelist lässt Jesus im ersten Kapitel angesichts einer Menge von Menschen, die auf Heilung durch ihn hoffen, weiterziehen. Er kann nicht allen helfen. Er hat einen Auftrag, den es zu erfüllen gilt. Das Handeln Jesu ist zeichenhaft, gleichnishaft. Eines Tages vielleicht werden Menschen nicht mehr umkommen in Wind und in Wellen. Aber noch ist es nicht so weit. „Schon“ und „noch nicht“ – da kommen wir nicht raus in diesem Leben. Und doch habe ich auch jenen gegenüber, denen das Wasser bis zum Halse steht, keine andere Antwort und keine andere Hoffnung als die: Gott ist nahe, Gott ist da. Mitten in Wind und Wellen. Sei nicht furchtsam – vertraue. Und auch wenn Du furchtsam bist – vertraue.
Mal stillt er den Wind und die Wellen. Mal kommt er über Wind und Wellen Dir ganz entgegen. Mal verwandelt er Dich und Deinen Blick.
Das hoffe ich. Mehr weiß ich nicht.
Und sie fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der, dass ihm Wind und Wellen gehorsam sind! Merkwürdig eigentlich, dass sie untereinander sprechen, oder? Er steht ihnen doch gegenüber und hätte Antwort geben können. Manchmal könnte es helfen, nicht übereinander zu reden, sondern miteinander. Das gilt für uns Menschen – und das gilt wahrscheinlich doch auch für uns und Gott, oder?
Und doch, ob sie es verstanden hätten? Zumindest der Evangelist Markus ist skeptisch. Immer wieder lässt er Jesus Wunder tun und Gottes Wort sprechen und ihn das Gottesreich den Menschen anschaulich vor Augen malen. Und immer wieder verstehen sie nicht. Halten ihn für einen Wundertäter oder Propheten, für einen Therapeuten oder Superstar, für einen göttlichen Menschen und wohl manchmal auch einfach für ein bisschen ver- oder entrückt.
Es wird dauern, bis sie verstehen. Und der erste, der versteht, ist nicht einmal einer der Seinen, sondern ein Römer unter dem Kreuz. Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg. Wir sind noch nicht einmal in der Passionszeit angekommen, geschweige denn beim Kreuz.
Und selbst, wenn wir dort stehen werden: Verstehen wir besser?
Amen.
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15.09.2019 - 13. So. nach Trinitatis
25.08.2019 - 10. So. nach Trinitatis
10.02.2019 - 4. So. vor der Passionszeit
Mut-Tour – Predigt zu Markus 1,32-39 von Silke Panthöfer
Ein Samstagvormittag in der Siegener Innenstadt. Hektisch schiebe ich mich mit den anderen Menschen durch die volle Einkaufsstraße. Gegenüber vom Bahnhof, direkt vorm Sieg-Carré, fällt mein Blick auf ein riesiges Spruchband. Ich lese „Mut Tour – raus aus der Depression“. Das Spruchband gehört zu einem Infostand. Neben dem Stand stehen außerdem einige Tandem-Fahrräder mit vollen Packtaschen. Ich gehe langsamer. Zögere etwas. Es ist doch Samstag. Wochenende. Entspannen. Eigentlich mal keine schweren Themen. Ich bleibe aber stehen. Blicke in freundliche Gesichter. Eine Frau ist gerade im Gespräch mit einem Passanten vertieft. Ich nehme mir ein Informationsblatt. Erfahre, dass hier das Bündnis gegen Depression Siegen-Wittgenstein und Olpe auf seine Arbeit aufmerksam macht. Immer noch ist Depression eine Krankheit, über die man kaum spricht. Erst wieder, wenn sich ein Prominenter das Leben nimmt. Ein Musiker oder Sportler. Es gibt so viele Vorurteile und Vorbehalte gegenüber den Menschen, die an Depression erkrankt sind. Solche wie: „Der müsste sich nur mal zusammenreißen.“ Oder: „Da stimmt doch bei denen was in der Ehe nicht.“ Depression bedeutet Makel. Ein Zeichen der Schwäche. Oder des persönlichen Versagens. Das macht dann oft noch einsamer und kränker. Eine gläserne Wand zwischen Gesunden und Kranken. Die Erfahrung machen viele Menschen mit schweren Erkrankungen, nicht nur psychisch Erkrankte.
Und dann weiß ich auch, warum hier diese vollgepackten Tandemräder rumstehen. Die MUT-TOUR ist eine bundesweite Fahrradtour. An Depression erkrankte Fahrer radeln dabei gemeinsam mit Nicht-Betroffenen durch ganz Deutschland. Auf ihren Tandems legen sie rund 7.000 km zwischen der Nordsee und den Alpen zurück und durchqueren dabei über 70 Städte. An diesem Tag sind sie hier bei uns in Siegen. Interessierte sind unterwegs eingeladen, auf Tagestouren mit zu radeln. Mut Tour. Raus aus der Depression. Betroffenen Mut machen, Wege aus der Krankheit zeigen und in der Öffentlichkeit Zeichen setzen. Eine tolle Idee und Aktion.
Mir fällt ein Gespräch mit meinem Nachbarn neulich ein. Wir haben uns eigentlich nur unterhalten, wenn wir uns zufällig beim Müllrausbringen oder auf der Treppe getroffen haben. Er war immer gut gelaunt. Hat mir erzählt, dass er am Wochenende angeln geht oder mit der Freundin auf ein Konzert. So small talk eben. Von Nachbarin zu Nachbar. Vor zwei Wochen habe ich ihn wiedergetroffen, nach längerer Zeit. Ich erfahre, dass er stationär in Herborn in der Psychiatrie war. Wegen einer Depression. „Ich hab mir das selbst nicht eingestehen wollen, dass ich krank bin.“ Sagt er. „Ich hab immer eine Maske aufgesetzt. Und dann konnte ich irgendwann nicht mehr. Meine Freundin hat sich von mir getrennt. Dann bin ich zusammengebrochen. In der Psychiatrie hab ich das begriffen. Das mit meinen Masken.“ Es berührt mich, dass er mir so offen davon erzählt. Ich bin aber auch ein bisschen erschrocken. Er ist mein Nachbar. Mir ist nicht aufgefallen, dass er länger nicht da war. Mir ist überhaupt nichts aufgefallen. Sitzen wir alle in unseren Häusern und Wohnungen und wissen so wenig voneinander?
Auch in Galiläa sitzen die Kranken hinter den Türen ihrer Häuser. Manchmal auch auf der Straße. Blinde, die ihren Lebensunterhalt durch Betteln bestreitet. Wer gesund ist und jung und von der eigenen Hände Arbeit leben kann, hat Glück. Alle anderen müssen um ihr Überleben kämpfen. Harte Regeln in harten Zeiten. Und dann ist da dieser Jesus von Nazareth. Sie alle in Galiläa hören von ihm. „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.“ predigt er in den Synagogen. Dieser Jesus von Nazareth legt die heiligen Schriften auf eine neue Weise aus. „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“
Ein anderer Geist weht durch die Synagogen. Ein befreiender Geist. Und die alteingesessenen Geister bekommen Angst. Dieser Geist der Freiheit und der Gnade treibt die Geister aus, die meinen, wer arm sei oder krank ist, sei selbst schuld oder habe zu wenig gebetet oder noch schlimmer: würde für ein Vergehen, eine Sünde von Gott bestraft! Auch heute gibt es diese gnadenlosen dämonischen Geister noch, die meinen, an einer Krankheit oder Behinderung sei der-oder diejenige selbst schuld. Oder eine Strafe Gottes. Es gehört einfach nur zum Leben und zum Menschsein dazu, dass wir verletzlich und verletzbar sind. Und nicht alles machen und kontrollieren können. Das Gesunde ist nicht das Normale!
Jesu Aufmerksamkeit gilt denen, die wenig Ansehen haben, ausgegrenzt werden, dem Leben verloren gehen, das die Gesunden leben. Für sie gibt es Hoffnung.
Er berührt nicht nur mit Worten. Seine Nähe und Zuwendung, seine Berührungen verwandeln und heilen. Wie erlösend kann es sein, wenn jemand mir einen liebevollen Blick schenkt oder einfach nur die Hand hält. Den Arm um die Schulter legt. Ich bin da. Hab keine Angst.
„Keine Katze mit 7 Leben, keine Eidechse und kein Seestern, denen das verlorene Glied nachwächst, kein zerschnittener Wurm ist so zäh wie der Mensch, den man in die Sonne von Liebe und Hoffnung legt.“ So heißt es in einem Gedicht von Hilde Domin. Jesus legt Menschen in die Sonne von Liebe und Hoffnung. Und so beginnt das Zerbrochene, die Wunden und Verletzungen zu heilen. Das spricht sich in Galiläa wie ein Lauffeuer rum. Am Abend aber, da die Sonne untergegangen war, brachten sie zu ihm alle Kranken und Besessenen. Und die ganze Stadt war versammelt vor der Tür. Und er heilte viele, die an mancherlei Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus. Raus aus den engen Häusern. Raus aus der Depression. Sehen: Ich bin ja nicht allein. So vielen geht es wie mir.
Am Stand des Bündnisses gegen Depression spreche ich mit einem Mann. Er erzählt mir seine Geschichte mit der Krankheit Depression. Einige Aufenthalte in der Psychiatrie. Immer wieder diese Rückschläge. Er muss seinen Beruf aufgeben. Wird vorzeitig berentet. Der Kampf mit der Depression nimmt viel Raum in seinem Leben ein. In einer Gesprächsgruppe hat er Halt gefunden. Eine ambulante Hilfe unterstützt ihn zuhause. Dann aber sagt er diese Worte, die ich nicht vergessen werde. Er sagt: „Manche machen einen Bogen um mich. Sie sehen nur den chronisch psychisch Kranken in mir. Das tut weh. Aber ich bin nicht meine Krankheit. Ich bin mehr als meine Krankheit.“ Dann erzählt er weiter. Er hat eine Aufgabe gefunden, die ihn jetzt ausfüllt und glücklich macht. Da er mit Holz gut umgehen kann und handwerklich begabt ist, repariert er Stühle und andere kleine Dinge in einem Kindergarten in der Nähe seiner Wohnung.
Die Mut-Tour radelt am nächsten Tag wieder weiter, in die nächste Stadt. Aber die Begegnungen bleiben. Eine schreibt sich eine Adresse von einer Selbsthilfegruppe auf. Der andere erzählt vielleicht zuhause am Mittagstisch seiner Familie von der Mut-Tour und der Initiative gegen Depression. Und daraus ergibt sich ein schönes Gespräch miteinander. Und in mir arbeitet dieser Satz weiter. „Ich bin nicht meine Krankheit, ich bin mehr als meine Krankheit.“ Er trotzt seiner Erkrankung Leben ab. Will nicht nur als Opfer von Umständen gesehen werden und sieht sich selbst nicht so. Er ist nicht geheilt im medizinischen Sinne. Aber heil geworden.
Auch Jesus und seine Jünger radeln mit ihrer Mut-Tour weiter durch Galiläa. Die Begegnungen bleiben. Hinterlassen Spuren, legen Samen. Machen heil. Auf zum nächsten Ort, sagt Jesus. Einen gnädigen Gott verkündigen, denen die zerschlagenen Herzens sind. Und Menschen zusammenbringen. Zeichen und Wunder geschehen lassen für mehr Menschlichkeit.
Amen.
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Von der Kunst, Zerbrochenes zu heilen – Predigt zu Markus 1,32-39 von Johanna Klee
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.
Karmesinrot leuchtet der erste Schein des Tages. Er bricht sich sanft an den Wellen des Sees.
Genezareth. Der Morgenstern verblasst im Dämmerlicht. Sanft weht der Wind durch die Farne und Gräser. Ein ferner Ruf nach Einsamkeit. Einer ist gekommen, um zu beten. Um den neuen Tag mit alten Worten zu begrüßen. „Abba. Vater.“
Jesus ist es, der betet. Er sitzt am Ufer des Sees. Noch ehe der Tag beginnt. Müde wirkt er, ein wenig ratlos. Es ist still um ihn herum. Nur der Wind weht weiter sein Lied. Jesus’ Blick richtet sich in die Ferne. Zur Synagoge in Kafarnaum. Dort hat er gestern noch gepredigt. Zu Hunderten oder Tausenden. So viele waren es gestern. Sie wollten ihn alle sehen. Sie wollten geheilt werden von ihren Krankheiten, geheilt werden von ihren inneren Dämonen. So viele.
So viel Zerbrochenes. Und noch so viel mehr zu tun. An so viel mehr Orten noch zu predigen,an so viel mehr Orten noch zu heilen. „Abba. Vater. Nimm diesen Kelch von mir.“ (Mk 14,36)
Und doch: Er ist gekommen. Nicht um seinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der ihn gesandt hat. (Joh 6,38) Und so bricht er auf mit dem ersten Schein des Tages. Wandert in das Karmesinrot des Dämmerlichts. Um zu predigen. Um Zerbrochenes zu heilen in den nächsten Orten.
Viele Jahre sind seitdem vergangen. Noch immer bricht sich der erste Schein des Tages an den Wellen des Sees. Noch immer weht der Wind sanft über die Farne und Gräser. Doch von der einst so prachtvollen Synagoge, bleiben nur noch verschüttete Trümmer. Eine Ruine am Ufer des Sees. Genezareth. Noch immer kommen Menschen: Hunderte und Tausende. Sie wollen verstehen, was damals geschah. Sie wollen geheilt werden von ihren Krankheiten und Dämonen. Sie wollen Jesus näher kommen. Ganz nah.
Dann schwimmen sie morgens im See. Oder füllen sich das Wasser in Phiolen ab. Sie wünschen sich Balsam für ihre Seelen. Heilende Worte. Sanfte Berührungen. Und eigentlich, eigentlich nur Jesus selbst. Jesus, der sie sieht. Ihnen tief in die Augen schaut. Seine Hand auf ihre Herzen legt. Und sieht. Und versteht. Und sieht. Und versteht. Und heilt. Er nimmt ihre Scherben in die Hände. Er fügt das Zerbrochene wieder zusammen.
Innere Dämonen. So nannte man Krankheiten der Seele einst. Innere Dämonen ließen die Menschen verrückt werden. Heute heißen unsere inneren Dämonen: Depression, Manie, Borderline, Schizophrenie. Oder auch: Sucht, Bulimie, Paranoia, Hysterie. Es gibt viele Triebkräfte in unserem Inneren. Als ob eine böse Macht in uns wirkt. Wir stehen ohnmächtig – gelähmt – daneben. Wie fremdbestimmt wandeln wir durch das Leben. Vielleicht war es damals einfacher, als innere Dämonen noch aussahen wie Gargoyles. Geflügelte Unholde. Jesus kam und trieb sie fort. Er kam und sie mussten schweigen.
Und heute? So ein innerer Dämon kann einen Menschen Jahre und Jahrzehnte begleiten. Er wartet still auf seinen nächsten Auftritt. Dann bricht er hervor. Breitet seine Flügel aus und schlägt seine Zähne in das Fleisch. Er saugt sich richtig fest. Er lässt nicht mehr los.
Wie bei dem Autor Thomas Melle: „Die ganze Welt war weg. Es wurde alles weggezerrt. Ein Erdbeben hätte nicht zerstörerischer sein können. Nur war dieses Beben anders: Es ereignete sich ausschließlich in mir, und die Zerstörung, so allumfassend sie um sich griff, geschah im Stillen. Nichts blieb, wie es vorher gewesen war, und doch schien alles, rein äußerlich, gleich. [...] Monströs überzog sich mein Denken mit Geschichte und Gegengeschichte, kein Satz stimmte mehr, alles irrlichterte. Rauchende Ruinen um mich rum und doch nur in mir. Es war der reinste Horror.“ [Thomas Melle, Die Welt im Rücken, Berlin 32016, 67]
So ein innerer Dämon kann ganz plötzlich über dich herfallen. Dann zieht er dich in das Dunkel. Deine Seele kämpft noch mit jedem Atemzug dagegen an. Doch die Finsternis hält dich umklammert. Sie lässt dich nicht mehr los. Bis alles weh tut, bis selbst das Aufstehen weh tut. Und alles sinnlos wird. Das Leben wird sinnlos. Das Sterben wird sinnlos. Jeder Atemzug ist ein Gebet. Du hoffst auf Jesus. Es heißt, er kann das Zerbrochene wieder zusammenfügen. Bis dann auf einmal auch jeder Atemzug sinnlos wird. Und selbst Jesus: Sinnlos. Das Kreuz verbannst du aus deinem Zimmer. Auch die Engel, die alle dir auf einmal schenken. Alles dunkel und kalt. Alles sinnlos.
Innere Dämonen. Sie müssen nicht immer so große Namen tragen wie Depression oder Manie, mit ihrer grausamen Erscheinen, ihrer großen Zerstörungskraft. Es gibt auch die kleinen, die Alltagsdämonen. Sie ärgern dich jeden Tag. Sie setzen dir komische Gedanken in den Kopf. Dann stiehlst du deiner Mutter Geld, oder schaust deinem Arbeitskollegen hinterher. Dann trinkst du ein Bier zu viel, bleibst zulange weg, oder zündest einen Feuerwerkskörper im Stadion an. Es fühlt sich befreiend an zu sagen: Mein innerer Dämon hat mich dazu verleitet. Anstatt sich selbst einzugestehen: Das bin alles ich.
Auch ich kenne diese Momente. Momente, in denen ich alles einem Dämon zuschreiben möchte. Einer bösen Macht, die in mir wirkt. Es ist so viel schmerzhafter, sich selbst wahrhaftig zu sehen. Sich selbst mit allen Schattenseiten zu betrachten. Aber das alles bin ich, ganz ohne dämonisches Wirken. Das alles bin ich, mit meinen Makeln im Leben. In meiner ganzen Zerbrechlichkeit. Mit meinen Scherben und Brüchen.
Ich glaube an Jesus, der all’ das sieht. Der all meine Scherben sieht. Er sieht das noch ehe der Tag beginnt. Manchmal ist er vielleicht auch etwas müde, ratlos. Aber er sieht und versteht. Er sieht und versteht, weil er selbst als Mensch auf die Welt kam. In all’ ihrer Zerbrechlichkeit. Mit dem Kreuz von Golgatha. Er nimmt meine Scherben in die Hände. Er fügt das Zerbrochene wieder zusammen. Er nimmt Goldlack und überzieht damit Scherbe und Scherbe. Setzt alles Stück für Stück zusammen. Bis es wieder ein Ganzes bildet. Nur schöner als zuvor. Durchwirkt mit goldenen Fäden. Bezaubernd in der Zerbrechlichkeit.
Ich glaube, Jesus ist immer noch mitten unter uns. Er zieht von Ort zu Ort. Von einem Ort zum nächsten. Sein Wort wirkt in den Kirchen. Sein Geist weht in den Gemeinden. Und so fügt sich das Zerbrochene wieder zusammen, es heilt zusammen, mit Goldlack überzogen. Das ist es, was Jesus für uns tun kann. Und vielleicht kommt er morgen schon zu uns, wenn der erste Schein des Tages karmesinrot leuchtet und sich sanft an den Wellen des Sees bricht. Wenn der Morgenstern im Dämmerlicht verblasst und der Wind sanft durch die Farne und Gräser weht. Bis wir zu einer Gemeinschaft werden, in all’ ihrer Zerbrechlichkeit. Und doch leuchtend im Goldglanz der Gnade Gottes.
Denn „Gott ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind, und hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben.“ (Ps 34,19) Amen.
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Das aufgebrachte Kamel – Predigt zu Markus 10,17-27 von Martin Burger
Bei einer Oase middla en dr Wüste. A Karawane macht grad Rast. Dia Leut hen ihre Kamel ans Wasser gführt on ruhet sich aus. Die Kamele Iagern sich oms Wasser rom on kommet miteinander ins Gespräch. Sie hen uff ihre Reisa ja scho viel erlebt. Ois von dene Kamel heißt Amir. Des hat bis jetzt bloß zughört on fangt jetzt mit vrzehla an:
„I ben von Nadur aus a äußerst neugieriges on geschwätziges Kamel. Wie schön, dass I euch, liebe Genossa hier droffa han. Nehmet eich ruhig noch en Schluck Wasser, derweil verzehl i euch a Geschichte:
Was mei Jugend ogeht, so kann i ned klaga. Scho meine Leid hen em Haus des reichsten Kaufmanns en dr Stadt gschafft. So isch’s au ned verwunderlich, dass sich meine Verwandte für die vornehmste Kamele der Stadt haldet on bloß Hochdeutsch schwätzet. Meine Wenigkeit wurde dem jonga Herra zom 12. Geburtstag geschenkt. Alles in allem war er en nedda Kerle. Vielleicht a bissle zu stolz uff den Reichtum von seine Eltern. Aber des kann mr ihm au ned verdenka. Er war verantwortungsbewusst on freindlich gegaüber jedermann. On er hat sich Gedanken gmacht über sei Leba. Er hat emmr viele Froga ghet, on wo emmr i die Gelegenheit ghet hab, han i au zughört. I war viele Jahre bei ihm. I ben zomma sehr schdarka on stattlicha Lasttier worda on ben em Dienst von meim jonga Herra blieba, der sich meiner Ansicht nach zemlich brav entwickelt hat. Ja, gestern han i no denkt, dass die Zukunft ons beide nur Gutes beschera könnt. Hen mir doch des Paradies auf Erda ghet.
Bloß, so frog i euch, meine höckrige Freunde, warum grad ons dieser heimatlose Wanderprediger aus Galiläa begegna hat miaßa? Heißt es doch nur allzu wahr emma alta Schbrichwort: „Was ko scho guets aus Hofa…äh aus Galiläa komma“.
Mir zwei sen grad von’ra Verkaufsausstellung aus Kanaan hoimkehrt, als ons dieser Jesus, von dem mir übrigens schon viel ghört hen, gradwegs vor die Hufe glaufa isch. Inwieweit mein jonger Herr des em voraus plant hat, han i ned festschdella kenna. Emmr, wenn’s ebbes über den Jesus zu berichta gäba hat, hat er aufmerksam zughört on au scho so manchen Rabbi mit Froga durchlöchert. Jetzt hat er endlich die Gelegenheit kriagt, die Fragen, die ihn scho seid seiner Jugend über begleitet hen, an jemand zu richta, der uff diesem Gebiet bekanntermaßen die größte Autorität dargestellt hat. Er hat’s halt recht macha wella im Leba, mein Herr. Doch wenn ihr mich froget, war des sein größter Fehler, jetzt hat er den Salat. Aber i schweif ab. Weiter mit dr Gschicht….
Jetzt hat mein Herr ghört, dass der Jesus ganz in der Nähe unterwegs war. Do hat ihn nix meh ghalta, on er isch zu ihm no‘gschbronga – i han grad zu tun ghet, dass I hender ihm her komma ben. On als er vor dem Jesus gschdanda isch, do isch er in die Knie ganga on hat dr Jesus ogschwätzt: „Du Jesus, guter Meischder, was mueß i eigentlich tun, damit I des ewige Leba erb?“ hat mein Chef gfrogt. Dr Jesus hat geantwortet. „Wieso sagsch du, dass i guet ben? Niemand isch guet, außer Gott. Du kennsch doch dia Gebote.“ On schdellat eich vor – jetzt hat der Mensch tatsächlich ogfanga, dia zehn Gebote doher zu sage. Des Völkle dromrom war sichtlich gelangweil. Hen se doch dia Worte von kloi auf nur zu guet kennt. Des hätt sogar no I ihm saga könne! Doch mein jonger Freind war sichtlich beruhigt „Hano! Mich noch de Gebote richta, des dur i scho so lang wia i denka ka! I han no niemand ombrocht, gschdohla han i au no von niemand ebbes, die Ehe han i ned brocha on mein Vatter on mei Muater halt i en Ehra. Wenn des wirklich älles isch, dann dank i schee on wünsch dir no en scheena Dag. Auf dass die Glut der Sonne dir ned so arg uff deim Meckel brennt“ „Halt, halt, mei Freind“ hat dann uff oimal dr Jesus gsagt on er hat ihn dabei ganz liebevolla oguckt, „des war’s no ned ganz. Wie i seh, bisch du reich. Des zeigt dei kostbares Gewand, dr Schmuck, den du romhänga hasch und ned zuletzt bisch du dr Oführer von dera Karawane do.“ „Scho recht“ han i mein Herra saga höra „aber was hat des mit meiner Frog zom dua?“ „Mehr als du denksch! Willst du wirklich ewig läba, dann verkauf älles, was de hasch on gibs de Arme. On wenn du Luschd hasch, dann kannsch glei domit ofanga. Wenn de fertig bisch, dann kannsch mitkomma on mir nachfolga“ Schlag me’s Blechle. Was sagt denn der Jesus da? Do platzt mr grad mei Halfter! Des isch jo unverschämt. Auch als Kamel han i blos a Kamelsgeduld. I han an Zorn kriagt on ben zo dene zwei noglaufa. Des hat der Jesus jo fei nobrocht! Völlig aufgelöst on fassungslos hat mein Herr vor sich noglotzt. On dr Jesus hat ihm sogar no oins drauf gebba: „Eher geht dieses Kamel“ – on dabei hat er auf mi zeigt, „durch a Nadelöhr, als dass en Reicher en dr Himml kommt“ Des war jetzt eindeutig zuviel. Was will er denn jetzt von mir? On warum sollt i jetzt durch a Nadelöhr laufa? So a saudomme Idee. Des geht doch nie im Leba! Au dia ganze Leid, dia do romgschdanda send, sen unruhig worda. „Wer schafft‘s dann no, selig zu werda? Gibt es ned emmer no jemand, der ärmer isch als mr selber on dem mr äbbes gäba miaßt?“ Uff oimal hat sich Jesus von meinem Herra abgwendet on hat zu dera maulenda Menge gsait: „Zom Glick wird Gott euch richta, ned ihr euch selber. Denn was bei de Menscha omeglich isch, des isch bei Gott meglich“
Beim letschda Satz hat mein Besitzer wieder a bissle noch oba guckt. Vielleicht hat er gmerkt, dass es wichtiger isch, auf Gott zu vertrauen, als auf sein ganza Reichtum on was mr so alles en seim Läba angehäuft hat. Denn an dem isch er scho ganz schee g’hengt. So han I mir des zumindest mit meim bescheidenen Kamelhirn zusammag‘reimt. On da han i Jesus die Sache mit dem Nadelöhr au scho a bissle verzeiha könna.
Mein Herr hat sich dann mit seiner Karawane wieder auf den Weg in Richtung Heimat gmacht. Es war scho faschd dunkel, als er den alda Bartholomäus droffa hat, von dem mir ned arg viel meh gwisst hen, als dass er zu de elendschde ond verkommenschte Dagdiab der Unterstadt g‘hört hat. Mein Herr isch schdeha blieba, hat mi on den alda Mo a Weile oguckt, hat ihm dann meine Zügel en dia Händ drückt on gsagt: „Nemm des Kamel, es ghört dir“ Ja wia! Han I do richtig ghört? Was hat denn der Kerle vor? Des kann er doch noch macha! Des war allerdings des letschde, was i von dem jonga Herra ghört hab. Der hat tatsächlich ernschd gmacht. Die Begegnung mit dem Jesus hat wohl en seim Leba einiges uff dr Kopf gstellt. Er wird sich wohl no zwoimal überlega, an was er en Zukunft sei Herz hängt. I ben jo von Nadur aus a äußerschd neigieriges on schwatzhaftes Kamel on han eich jetzt lang gnueg mit meiner Geschicht glangweilt. I weiß ned, ob i des verdient hab, was mir do bassiert isch. Es bleibt mir aber wohl nix anders übrig, als dass I mi mit meim Schicksal abfenda mueß. Doch i han au en Zukunft ned vor, durch a Nadelöhr zu krabbla!“
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Mit Nadel und Faden – Predigt zu Markus 10,17-27 von Nico Szameitat
Als ich den schwarzen Mantel zuknöpfe, merke ich schon, wie er mir durch die Finger gleitet, und – klack klack – liegt er da auf dem Boden: Der Knopf. Ok, dann doch erstmal die andere Jacke. Am Abend mache ich es mir dann auf dem alten Ostfriesensofa gemütlich, mit dem Mantel auf den Schoß; auf dem Tischchen liegen der treulose Knopf, Nähgarn, Nähnadel und eine Schere. Für den Sohn einer Schneiderin ist das Knopfannähen ja das geringste Problem. Am schwierigsten ist es nur, den Faden in die Nadel einzufädeln. Sauber abgeschnitten, einmal kurz angeleckt und dann mit ruhiger Hand… klappt!
Und während ich die Nadel mit dem Faden wieder und wieder durch Knopf und Mantel ziehe, von außen nach innen, von innen nach außen, erinnere ich mich, was meine Mutter früher alles genäht hat. Besonders Kinder sind ja sehr nähintensiv…
Nach dem Sturz auf dem Schotterweg musste erst das Knie verarztet und die erschrockene Seele getröstet werden, aber dann bekam abends auf dem Sofa auch die Hose einen Flicken draufgenäht. Und wie oft wurden die Kuscheltiere geflickt oder gestopft: Wenn Hund – ich glaub, der hieß wirklich nur Hund – ein allzu lockeres Auge hatte. Oder wenn der große Teddy mit dem Reißverschluss hinten, der zugleich als Reisetasche diente, wenn es zu Oma ging, wenn dieser große Teddy, dessen Name ich wirklich vergessen habe, schon allzu wundgeliebt war. Mama fädelte ein, Mama nähte, Mama stopfte, und alles, was ich lieb hatte, hielt wieder eine Kinderewigkeit länger. Ich weiß gar nicht, was aus Hund und Teddy geworden ist, vielleicht sind sie irgendwo zuhause auf dem Dachboden. Irgendwann habe ich sie wohl einfach losgelassen.
Der erste Eindruck täuscht. Man muss Jesus aber auch zugutehalten, dass er ziemlich genervt war ist diesem Tag. Weit gekommen ist er nämlich noch nicht. Da kamen schon morgens die ersten Schriftgelehrten und wollten ihn testen; haben ihn in eine Diskussion verwickelt über Heirat und Scheidung; anstatt einfach über die Liebe zu reden. Na gut, die hatte er abgehängt. Dann war er bis auf den Marktplatz gekommen, wollte den Menschen etwas von Gottes Liebe erzählen, da kam es am Rand zu einem kleinen Tumult. Seine Jünger wollten irgendwelche Eltern fortschicken, nur weil die Kinder angeblich störten. Seine Jünger! Gut, also erst eine Lektion zu den Kindern. Als er sie schließlich gesegnet hatte, und die Eltern mit ihren Kindern fröhlich von dannen zogen, war Jesus aufgestanden, war gerade einmal drei Schritte weit gekommen, da sah er schon wieder jemanden angelaufen kommen. „Jede Wette“, sagte Jesus zu Petrus, „das ist auch einer, der mich testen will.“
Und so fährt Jesus den Mann, der sich doch nach Etikette und Knigge formvollendet benimmt, gleich zu Anfang an: „Warum nennst du mich gut? Gott allein ist gut!“ Aber dann merkt er schnell, dass der Mann kein Tester ist, sondern dass er es ernst meint. Und es entspinnt sich ein wunderbares Gespräch. Und auch hier täuscht der erste Eindruck. Denn es geht nicht um Kamele und Nadelöhre. Es geht auch nicht darum, dass Reiche in die Hölle kommen oder so ähnlich. Sondern es geht um erfülltes Leben, über Liebhaben und Loslassen. Es geht um Sehnsucht.
Da steht ein Mann, der alles hat, der offensichtlich vermögend ist, der sogar alle Gebote befolgt. Ein Mann, der nach menschlichen Maßstäben ziemlich zufrieden, wenn nicht gar glücklich sein müsste. Und doch ist da eine Sehnsucht…
„Meister, was muss ich tun für das ewige Leben?“ Und mit ewigem Leben ist hier nicht ein unendlich langes Leben im Himmel gemeint. Ewig ist nicht unendlich lang, sondern unendlich gut. „Meister, was muss ich tun für ein unendlich gutes Leben, für ein erfülltes Leben? Kann ich das ansatzweise schon jetzt erleben?“
„Ja“, sagt Jesus. „Und wenn Du die Gebote befolgst, bist du schon auf einem guten Weg. Nur eines fehlt dir. Verkaufe alles, was du hast; gib den Erlös den Armen. Und folge mir nach.“
Alles?
Entschuldigung, habe ich richtig gehört: Alles? Mein Haus, mein Garten? Auch die Harry-Potter-Bände und meine CD-Sammlung? Auch den schönen alten Tisch vom Flohmarkt? Der ist doch gar nichts wert. Nur für mich persönlich. Und den edlen Kugelschreiber? Den habe ich doch geschenkt bekommen! Alles, was ich lieb habe? Auch Hund und Teddy?
Der Mann kann nicht. Er kann all das, was er so lieb hat in seinem Leben, nicht einfach loslassen. Ob Jesus das geahnt hat? Vielleicht war Jesus dieses Mal der Tester: „Hey, ich glaube, du kannst deshalb kein erfülltes Leben haben, weil du die Dinge in deinem Leben zu sehr lieb hast. Und das meine ich jetzt im wörtlichen Sinn: „lieb haben“. Können die Dinge dir nicht einfach nur „lieb sein“? Musst du sie denn unbedingt „lieb haben“? Schau doch mal, manche Dinge sind von dir schon regelrecht wundgeliebt. Wenn die Dinge dir nur lieb sind, dann könntest du sie auch loslassen. Dann besitzen sie dich auch nicht. Denk mal drüber nach!“
Der Mann kann nicht. Er kann nicht loslassen. Und Jesus ging traurig davon. Da bin ich mir ziemlich sicher. Es ist nämlich die einzige Stelle in den Evangelien, wo erzählt wird, dass Jesus einen Menschen anschaut und ihn liebgewinnt. Matthäus und Lukas werden später diese Geschichte von Markus abschreiben, aber diesen Halbsatz mit dem „lieb gewinnen“, den lassen sie lieber weg. Jesus spürt: Da meint es einer Ernst mit seiner Sehnsucht nach einem erfüllten Leben. Und diesen Menschen möchte er unter seinen Jüngern, möchte er bei sich haben. Jesus hat ihn lieb gewonnen und möchte ihn nun lieb haben. Das aber geht nicht und so muss Jesus selber loslassen. Das ist für mich die kleine traurige Ironie in der Geschichte, dass derjenige, der vom anderen das Loslassen des Geliebten fordert, am Ende selber das Liebgewonnene loslassen muss. Auch insofern ist diese Geschichte einzigartig. Nur hier wird erzählt, dass Jesus zu einem Menschen sagt „Folge mir nach!“, und derjenige schafft es nicht.
Und so ist auch der Satz von dem Kamel, das nicht durchs Nadelöhr geht, ein großer Seufzer Jesu. Und der Satz, dass bei Gott alle Dinge möglich sind, ist ein großer Hoffnungsfunke Jesu. Ja, wer weiß. Vielleicht gibt es eine zweite Begegnung zwischen Jesus und diesem Mann. Und vielleicht hat dieser in der Zwischenzeit gelernt, dass es einen Unterschied macht, ob ich Dinge wie auch Menschen lieb habe, oder ob mir Dinge wie auch Menschen lieb sind.
Am Abend machen wir es uns auf dem alten Ostfriesensofa gemütlich. Gott hat Tee gekocht. „Kluntjes? Kleinen Schuss Rum?“ „Gerne.“ Mit dem Kissen im Rücken sitzt er da im Schneidersitz, mein Leben wieder einmal auf dem Schoß. Auf dem Tischchen Nähgarn, Nähnadel und Schere. Und dann betrachtet er mein Leben. „Na, das sieht ja mal wieder aus…“ Ich puste auf den heißen Tee und sage liebe nichts.
„Was Du da so alles liebhast! Und komm mir jetzt nicht wieder mit Deinem großen Herzen. Warum schleppst Du denn diesen Traum noch mit Dir rum? Ich kann Dir doch einen neuen geben. Und warum klammerst Du Dich a an diesen alten Gegenstand? Und hier hast Du ja wieder ein ganzes Stück wundgeliebt. Willst Du den Teil nicht mal loslassen?“
„Ach, nee, kann da nicht nochmal ein Flicken drauf? Ich habe das so lieb…“
„Das ist doch schon gestopft! Wie soll das denn noch halten? Du muss auch mal loslassen können.“
Ich puste auf den Tee. Wie viele Abende haben wir hier schon gesessen: Gott fädelte ein, Gott nähte, Gott stopfte, und alles, was ich lieb hatte, hielt wieder eine kleine Menschenewigkeit länger. „Aber ich dachte, du könntest das nochmal flicken. Wie heißt es immer? Bei Gott ist nichts unmöglich.“ Da lacht er. So sehr, dass der Tee aus seiner Tasse schwappt und auf meinem Leben landet. Na toll.
„Ach, Du bist mir ja einer… Am Ende musst Du sowieso alles loslassen! Das ganze Leben.“ „Ja, ich weiß. Ok, dann lasse ich den Teil eben los. Und fange da neu an. Aber das Stückchen da, das geht doch noch, oder?“
„Jaja“, grummelt Gott. Und während er die Nadel mit dem Faden wieder und wieder durch mein Leben zieht, von außen nach innen, von innen nach außen, bin ich ihm unendlich dankbar.
Amen.