Wenn das Lebensboot zu versinken droht... – Predigt zu Markus 4,35-41 von Sven Evers

Wenn das Lebensboot zu versinken droht... – Predigt zu Markus 4,35-41 von Sven Evers
4,35-41

Und am Abend desselben Tages sprach er zu ihnen: Lasst uns ans andre Ufer fahren. Und sie ließen das Volk gehen und nahmen ihn mit, wie er im Boot war, und es waren noch andere Boote bei ihm.

Nichts Besonderes eigentlich. Eine Überfahrt, wie es schon viele gab und wie es noch viele geben wird. Ruhig und gemächlich schippert das kleine Boot auf dem See der Abendsonne entgegen. Die Sonnenstrahlen tanzen auf dem Wasser, die Mücken tanzen über dem Wasser und ein sanfter Wind versetzt das Boot in gemächliches Schaukeln. Müdigkeit stellt sich ein und diese merkwürdig wohltuende, gefüllte Leere nach einem Tag langer und erfüllender Arbeit.

„Das Leben geht seinen Gang“ – sagen wir manchmal – und meinen damit vielleicht ja auch genau dieses: Dass es sanft vor sich hinschaukelt (nicht zu viel, das macht Übelkeit und allerlei Beschwerden) auf ruhigen und bekannten Gewässern. Man darf die Augen schließen, ohne etwas zu verpassen. Der Weg ist bekannt, die Umgebung vertraut. Furchtlos kann man sich fallenlassen und: schlafen legen. Jedenfalls, wenn man kann...

Aber nicht jeder kann!

Es erhob sich ein großer Windwirbel, und die Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde.

Wie soll man da schlafen! Wie soll man ruhig bleiben? Wind und Wasser überall, von jetzt auf gleich. Sie bedrohen nicht die anderen in weiter Ferne – das ist jetzt keine Tagesschau und keine Reportage aus fernen Ländern! – das passiert hier und jetzt!
Da, wo noch eben Sicherheit war und gewohnte Ruhe, da wo noch eben wohltuende Langeweile war – eine Weile, die lange zu währen schien, weil eben nichts da war, das sie hätte erschüttern können – da bricht der Wind, da brechen die Wellen und bricht das Wasser mit voller Wucht herein!

Wehe dem, der jetzt nicht schwimmen kann. Wehe dem, der keinen Halt hat und keinen Rettungsring. Nein, wir lesen die Geschichte jetzt noch nicht weiter. Wir halten dieses stürmische und nasse Hier und Jetzt noch einen Moment aus.

Denn wie oft ist das doch nicht weniger als das wahre Leben!

Die Menschen, die übers Meer fliehen aus Hunger und Not und Elend und Krieg, die können wohl ein Lied singen von den Gefahren des Meeres, von den Ängsten und Nöten auf tosenden Wassern und in eisigen Winden auf dem Weg ans rettende Ufer. Wenn sie es denn noch singen können und nicht die Sehnsucht nach Leben mit dem Leben bezahlt haben in dem, was Leben schenkt und Leben nimmt.

Die Menschen, die die böse Diagnose bekommen haben bei dem Besuch, der doch reine Routine hätte sein sollen, denen der Boden unter den Füßen weggerissen ist, weil das Leben keine Balken hat, die könnten wohl auch ein Lied davon singen, wie Wind und Wellen plötzlich und mit voller Wucht hereinbrechen in das Boot, das noch eben gemächlich vor sich hinschaukelte. Wenn ihnen denn nach Singen zumute wäre und es ihnen nicht die Sprache verschlagen hätte, weil das Wasser ihre Lungen und Herzen füllt und der Atem vergeht.
Und viele andere könnten wohl ein Lied singen von dem Tod und dem Verderben und der Angst und der Kälte, die das Wasser bringt... Das des Krieges und der Unfälle, das der zerbrochenen Beziehungen und geplatzten Berufsträume und und und...sie alle könnten ein Lied des Lebens singen, das untergeht und in den Wellen versinkt – und wer weiß, vielleicht singen sie es sogar und wir hören es nur nicht, weil wir in unserem kleinen, gemütlichen und vermeintlich unsinkbaren Lebensbötchen sitzen und die paar Planken unter uns und um uns herum, das Buffet an jedem Abend und die geführten Landausflüge, die uns das Leben vorführen als wäre es ein Museum, für das Leben halten.

Und er war hinten im Boot und schlief auf einem Kissen.

Er, dem Wind und Wellen gehorchen (aber das wissen wir ja noch gar nicht, das erfahren wir erst ein paar Verse später) schläft wie ein Kind in Abrahams Schoß. Kindliches Vertrauen. Göttliches Vertrauen. Aber wahrscheinlich ist das dasselbe. Vielleicht schätzt er die Gefahr anders ein als jene, die gleich kommen werden, um ihn zu wecken. Vielleicht traut er ihnen auch mehr zu als sie sich selber zutrauen. Ja, vielleicht muss man ja gar nicht bei dem ersten Wassertropfen schon schwere Geschütze auffahren, muss nicht jede Krise aufwändig therapiert werden und ist nicht jedes Problem gleich ein Fall für den Chef...
Es könnte ja sein – aber da prüfe jeder und jede sich selber und urteile nicht über andere! – dass manches Wasser durchschwommen und manche Welle ertragen werden kann, wenn man denn wirklich will und es sich zutraut – und der vorschnelle Ruf nach Hilfe nichts anderes ist als Faulheit oder Bequemlichkeit oder er zumindest doch aus einer Angst resultiert, die überwunden würde, wenn man sich selber zutraute, sich ihr zu stellen und sie zu durchschwimmen.

Doch hier nicht so. Egal ob gefühlt oder tatsächlich (und Angst ist eben erst einmal angst, ganz gleich, ob sie einen realen Grund hat oder nicht). Hier kommen sie und sie weckten ihn auf und sprachen zu ihm: Meister, fragst Du nichts danach, dass wir umkommen?

Er ist ja da. Hilfe ist nahe. Allein: Man muss sie denn wenigstens haben wollen. Es ist schon interessant (oder auch komisch oder traurig, je nachdem) zu sehen, wie viele Menschen Gott vorwerfen, er würde in Notsituationen ja ohnehin nicht helfen, die ihn aber doch zugleich noch nie darum gebeten haben.
Mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein lässt Gott sich gar nichts nehmen – es muss erbeten sein, heißt es bei Paul Gerhardt.
„Fragst Du nichts danach, dass wir umkommen?“ – „Warum muss ich fragen? Erstens traue ich Euch zu, manches Wellental alleine zu durchschreiten. Und zweitens: Ich bin doch da. Ich helfe Euch, wenn Ihr Euch zu schwach fühlt oder keine Lösung findet. Allein: Ihr müsst Euch schon die Mühe machen, mich zu rufen. Erbetene Hilfe macht den Bittenden zum wahrhaft Empfangenen und gibt ihm doppelte Würde: Im Bitten und im Empfangen. Ungebetene – manchmal vielleicht gar nicht gewollte – Hilfe ist Entmündigung und Entwürdigung. Darum: Ruft, schreit, weckt mich. Ich bin da.“

Und er stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig! Verstumme! Und der Wind legte sich und es wart eine große Stille.

Die Ruhe nach dem Sturm. Das Wasser liegt glatt und fast bewegungslos. Der Wind nur noch ein sanftes Säuseln göttlicher Nähe, die Sonnenstrahlen brechen sich wie zuvor und überhaupt ist es plötzlich, als sei es nie anders gewesen. Und doch ist alles anders. Ist alles neu.
Die Ruhe nach dem Sturm ist eine andere als die vor dem Sturm. Die vergangene Gefahr eine andere als die, die vor mir liegt. Die Luft ist frisch und klar, der Ausblick ebenfalls, die Geräusche und Gerüche, das Licht, die Farben. Wie neu. Eine große Stille. Eine großartige Stille. Eine gefüllte Stille, in der sich neu sortiert was war, und was ist und was sein wird. Eine große, wenn auch ganz andere Stille wohl auch im Blick und in den Gedanken derer, die mit Jesus sind – die Stille staunenden Nichtverstehens und fassungsloser Ergriffenheit.

Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?

Das Gegenteil von Furcht ist nicht Mut, schon gar nicht Hochmut oder Übermut oder welcher Mut auch immer. Das Gegenteil von Furcht ist Glauben, Vertrauen. Das ist der Anfang von allem. Vielleicht hätten sie das Boot alleine durch Wind und Wellen steuern und selbst die auf Deck sich sammelnden und Schräglage verursachenden Wasser in den Griff kriegen können, wenn sie, anstatt panisch an Bord umher zu laufen und nur auf die Wellen und nicht auf die bereitstehenden Eimer zu schauen, getan hätten, was sie hätten tun können.
Vielleicht hätten sie die Gefahr überwunden, wenn sie sich nicht von der Gefahr hätten überwinden lassen. Vor allem aber – und darum geht es dem Evangelisten ja in erster Linie – hätten sie, anstatt sich panisch von Gott und allen guten Geistern verlassen zu fühlen, einfach hingehen können zu ihm und eingestehen: Herr, wir brauchen Deine Hilfe. Hilf uns, orientiere uns, hilf uns zu schauen auf das, was jetzt Not tut, weil es notwendig ist. Tu, was wir nicht tun können. Hilf. Rette. Seid nicht furchtsam. Habt Glauben. Vertraut.

Und jene auf dem Meer, die auf dem Weg der Sehnsucht nach Leben elendig verreckt sind? Und jene mit der bösen Diagnose, die gebetet haben und geweint und geschrien und gehofft? Und all jene mit den geplatzten Träumen, den zerbrochenen Beziehungen und gebrochenen Herzen und alle, deren Stimmen aus den Wassern gescheiterten Lebens sich erheben und nach und fassen, die wir sicher in unsren Booten sitzen und gleichwohl zumindest manchmal ahnen, dass Wind und Wellen uns näher sind als wir wahrhaben wollen? Haben sie nicht geglaubt? Haben sie nicht vertraut?

Wer bin ich, darüber zu urteilen. Rettung in Wind und Wellen ist möglich. Darauf vertraut der Evangelist. Und darauf will auch ich vertrauen.
Wie diese Rettung aussieht? Ich weiß es nicht. Nicht immer verstummt das Tosen. Vielleicht aber ist das Einstimmen in ihre Melodie auch so etwas wie Rettung? Vielleicht ist das Sich-Fallen-Lassen in die tosenden Wasser auch nicht gänzliche Verlorenheit? Ich weiß es nicht.
Der Evangelist lässt Jesus im ersten Kapitel angesichts einer Menge von Menschen, die auf Heilung durch ihn hoffen, weiterziehen. Er kann nicht allen helfen. Er hat einen Auftrag, den es zu erfüllen gilt. Das Handeln Jesu ist zeichenhaft, gleichnishaft. Eines Tages vielleicht werden Menschen nicht mehr umkommen in Wind und in Wellen. Aber noch ist es nicht so weit. „Schon“ und „noch nicht“ – da kommen wir nicht raus in diesem Leben. Und doch habe ich auch jenen gegenüber, denen das Wasser bis zum Halse steht, keine andere Antwort und keine andere Hoffnung als die: Gott ist nahe, Gott ist da. Mitten in Wind und Wellen. Sei nicht furchtsam – vertraue. Und auch wenn Du furchtsam bist – vertraue.
Mal stillt er den Wind und die Wellen. Mal kommt er über Wind und Wellen Dir ganz entgegen. Mal verwandelt er Dich und Deinen Blick.
Das hoffe ich. Mehr weiß ich nicht.

Und sie fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der, dass ihm Wind und Wellen gehorsam sind! Merkwürdig eigentlich, dass sie untereinander sprechen, oder? Er steht ihnen doch gegenüber und hätte Antwort geben können. Manchmal könnte es helfen, nicht übereinander zu reden, sondern miteinander. Das gilt für uns Menschen – und das gilt wahrscheinlich doch auch für uns und Gott, oder?

Und doch, ob sie es verstanden hätten? Zumindest der Evangelist Markus ist skeptisch. Immer wieder lässt er Jesus Wunder tun und Gottes Wort sprechen und ihn das Gottesreich den Menschen anschaulich vor Augen malen. Und immer wieder verstehen sie nicht. Halten ihn für einen Wundertäter oder Propheten, für einen Therapeuten oder Superstar, für einen göttlichen Menschen und wohl manchmal auch einfach für ein bisschen ver- oder entrückt.
Es wird dauern, bis sie verstehen. Und der erste, der versteht, ist nicht einmal einer der Seinen, sondern ein Römer unter dem Kreuz. Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg. Wir sind noch nicht einmal in der Passionszeit angekommen, geschweige denn beim Kreuz.

Und selbst, wenn wir dort stehen werden: Verstehen wir besser?

Amen.

 

Perikope
10.02.2019
4,35-41

Mut-Tour – Predigt zu Markus 1,32-39 von Silke Panthöfer

Mut-Tour – Predigt zu Markus 1,32-39 von Silke Panthöfer
1,32-39

Ein Samstagvormittag in der Siegener Innenstadt. Hektisch schiebe ich mich mit den anderen Menschen durch die volle Einkaufsstraße. Gegenüber vom Bahnhof, direkt vorm Sieg-Carré, fällt mein Blick auf ein riesiges Spruchband. Ich lese „Mut Tour – raus aus der Depression“. Das Spruchband gehört zu einem Infostand. Neben dem Stand stehen außerdem einige Tandem-Fahrräder mit vollen Packtaschen. Ich gehe langsamer. Zögere etwas. Es ist doch Samstag. Wochenende. Entspannen. Eigentlich mal keine schweren Themen. Ich bleibe aber stehen. Blicke in freundliche Gesichter. Eine Frau ist gerade im Gespräch mit einem Passanten vertieft. Ich nehme mir ein Informationsblatt. Erfahre, dass hier das Bündnis gegen Depression Siegen-Wittgenstein und Olpe auf seine Arbeit aufmerksam macht. Immer noch ist Depression eine Krankheit, über die man kaum spricht. Erst wieder, wenn sich ein Prominenter das Leben nimmt. Ein Musiker oder Sportler. Es gibt so viele Vorurteile und Vorbehalte gegenüber den Menschen, die an Depression erkrankt sind. Solche wie: „Der müsste sich nur mal zusammenreißen.“ Oder: „Da stimmt doch bei denen was in der Ehe nicht.“ Depression bedeutet Makel. Ein Zeichen der Schwäche. Oder des persönlichen Versagens. Das macht dann oft noch einsamer und kränker. Eine gläserne Wand zwischen Gesunden und Kranken. Die Erfahrung machen viele Menschen mit schweren Erkrankungen, nicht nur psychisch Erkrankte.

Und dann weiß ich auch, warum hier diese vollgepackten Tandemräder rumstehen. Die MUT-TOUR ist eine bundesweite Fahrradtour. An Depression erkrankte Fahrer radeln dabei gemeinsam mit Nicht-Betroffenen durch ganz Deutschland. Auf ihren Tandems legen sie rund 7.000 km zwischen der Nordsee und den Alpen zurück und durchqueren dabei über 70 Städte. An diesem Tag sind sie hier bei uns in Siegen. Interessierte sind unterwegs eingeladen, auf Tagestouren mit zu radeln. Mut Tour. Raus aus der Depression. Betroffenen Mut machen, Wege aus der Krankheit zeigen und in der Öffentlichkeit Zeichen setzen. Eine tolle Idee und Aktion.

Mir fällt ein Gespräch mit meinem Nachbarn neulich ein. Wir haben uns eigentlich nur unterhalten, wenn wir uns zufällig beim Müllrausbringen oder auf der Treppe getroffen haben. Er war immer gut gelaunt. Hat mir erzählt, dass er am Wochenende angeln geht oder mit der Freundin auf ein Konzert. So small talk eben. Von Nachbarin zu Nachbar. Vor zwei Wochen habe ich ihn wiedergetroffen, nach längerer Zeit. Ich erfahre, dass er stationär in Herborn in der Psychiatrie war. Wegen einer Depression. „Ich hab mir das selbst nicht eingestehen wollen, dass ich krank bin.“ Sagt er. „Ich hab immer eine Maske aufgesetzt. Und dann konnte ich irgendwann nicht mehr. Meine Freundin hat sich von mir getrennt. Dann bin ich zusammengebrochen. In der Psychiatrie hab ich das begriffen. Das mit meinen Masken.“ Es berührt mich, dass er mir so offen davon erzählt. Ich bin aber auch ein bisschen erschrocken. Er ist mein Nachbar. Mir ist nicht aufgefallen, dass er länger nicht da war. Mir ist überhaupt nichts aufgefallen. Sitzen wir alle in unseren Häusern und Wohnungen und wissen so wenig voneinander?

Auch in Galiläa sitzen die Kranken hinter den Türen ihrer Häuser. Manchmal auch auf der Straße. Blinde, die ihren Lebensunterhalt durch Betteln bestreitet. Wer gesund ist und jung und von der eigenen Hände Arbeit leben kann, hat Glück. Alle anderen müssen um ihr Überleben kämpfen. Harte Regeln in harten Zeiten. Und dann ist da dieser Jesus von Nazareth. Sie alle in Galiläa hören von ihm. „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.“ predigt er in den Synagogen. Dieser Jesus von Nazareth legt die heiligen Schriften auf eine neue Weise aus. „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“
Ein anderer Geist weht durch die Synagogen. Ein befreiender Geist. Und die alteingesessenen Geister bekommen Angst. Dieser Geist der Freiheit und der Gnade treibt die Geister aus, die meinen, wer arm sei oder krank ist, sei selbst schuld oder habe zu wenig gebetet oder noch schlimmer: würde für ein Vergehen, eine Sünde von Gott bestraft! Auch heute gibt es diese gnadenlosen dämonischen Geister noch, die meinen, an einer Krankheit oder Behinderung sei der-oder diejenige selbst schuld. Oder eine Strafe Gottes. Es gehört einfach nur zum Leben und zum Menschsein dazu, dass wir verletzlich und verletzbar sind. Und nicht alles machen und kontrollieren können. Das Gesunde ist nicht das Normale!
Jesu Aufmerksamkeit gilt denen, die wenig Ansehen haben, ausgegrenzt werden, dem Leben verloren gehen, das die Gesunden leben. Für sie gibt es Hoffnung.
Er berührt nicht nur mit Worten. Seine Nähe und Zuwendung, seine Berührungen verwandeln und heilen. Wie erlösend kann es sein, wenn jemand mir einen liebevollen Blick schenkt oder einfach nur die Hand hält. Den Arm um die Schulter legt. Ich bin da. Hab keine Angst.
„Keine Katze mit 7 Leben, keine Eidechse und kein Seestern, denen das verlorene Glied nachwächst, kein zerschnittener Wurm ist so zäh wie der Mensch, den man in die Sonne von Liebe und Hoffnung legt.“ So heißt es in einem Gedicht von Hilde Domin. Jesus legt Menschen in die Sonne von Liebe und Hoffnung. Und so beginnt das Zerbrochene, die Wunden und Verletzungen zu heilen. Das spricht sich in Galiläa wie ein Lauffeuer rum. Am Abend aber, da die Sonne untergegangen war, brachten sie zu ihm alle Kranken und Besessenen. Und die ganze Stadt war versammelt vor der Tür. Und er heilte viele, die an mancherlei Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus. Raus aus den engen Häusern. Raus aus der Depression. Sehen: Ich bin ja nicht allein. So vielen geht es wie mir.

Am Stand des Bündnisses gegen Depression spreche ich mit einem Mann. Er erzählt mir seine Geschichte mit der Krankheit Depression. Einige Aufenthalte in der Psychiatrie. Immer wieder diese Rückschläge. Er muss seinen Beruf aufgeben. Wird vorzeitig berentet. Der Kampf mit der Depression nimmt viel Raum in seinem Leben ein. In einer Gesprächsgruppe hat er Halt gefunden. Eine ambulante Hilfe unterstützt ihn zuhause. Dann aber sagt er diese Worte, die ich nicht vergessen werde. Er sagt: „Manche machen einen Bogen um mich. Sie sehen nur den chronisch psychisch Kranken in mir. Das tut weh. Aber ich bin nicht meine Krankheit. Ich bin mehr als meine Krankheit.“ Dann erzählt er weiter. Er hat eine Aufgabe gefunden, die ihn jetzt ausfüllt und glücklich macht. Da er mit Holz gut umgehen kann und handwerklich begabt ist, repariert er Stühle und andere kleine Dinge in einem Kindergarten in der Nähe seiner Wohnung.

Die Mut-Tour radelt am nächsten Tag wieder weiter, in die nächste Stadt. Aber die Begegnungen bleiben. Eine schreibt sich eine Adresse von einer Selbsthilfegruppe auf. Der andere erzählt vielleicht zuhause am Mittagstisch seiner Familie von der Mut-Tour und der Initiative gegen Depression. Und daraus ergibt sich ein schönes Gespräch miteinander. Und in mir arbeitet dieser Satz weiter. „Ich bin nicht meine Krankheit, ich bin mehr als meine Krankheit.“ Er trotzt seiner Erkrankung Leben ab. Will nicht nur als Opfer von Umständen gesehen werden und sieht sich selbst nicht so. Er ist nicht geheilt im medizinischen Sinne. Aber heil geworden.

Auch Jesus und seine Jünger radeln mit ihrer Mut-Tour weiter durch Galiläa. Die Begegnungen bleiben. Hinterlassen Spuren, legen Samen. Machen heil. Auf zum nächsten Ort, sagt Jesus. Einen gnädigen Gott verkündigen, denen die zerschlagenen Herzens sind. Und Menschen zusammenbringen. Zeichen und Wunder geschehen lassen für mehr Menschlichkeit.
Amen.

 

Perikope
22.10.2017
1,32-39

Von der Kunst, Zerbrochenes zu heilen – Predigt zu Markus 1,32-39 von Johanna Klee

Von der Kunst, Zerbrochenes zu heilen – Predigt zu Markus 1,32-39 von Johanna Klee
1,32-39

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Karmesinrot leuchtet der erste Schein des Tages. Er bricht sich sanft an den Wellen des Sees.

Genezareth. Der Morgenstern verblasst im Dämmerlicht. Sanft weht der Wind durch die Farne und Gräser. Ein ferner Ruf nach Einsamkeit. Einer ist gekommen, um zu beten. Um den neuen Tag mit alten Worten zu begrüßen. „Abba. Vater.

Jesus ist es, der betet. Er sitzt am Ufer des Sees. Noch ehe der Tag beginnt. Müde wirkt er, ein wenig ratlos. Es ist still um ihn herum. Nur der Wind weht weiter sein Lied. Jesus’ Blick richtet sich in die Ferne. Zur Synagoge in Kafarnaum. Dort hat er gestern noch gepredigt. Zu Hunderten oder Tausenden. So viele waren es gestern. Sie wollten ihn alle sehen. Sie wollten geheilt werden von ihren Krankheiten, geheilt werden von ihren inneren Dämonen. So viele.

So viel Zerbrochenes. Und noch so viel mehr zu tun. An so viel mehr Orten noch zu predigen,an so viel mehr Orten noch zu heilen. „Abba. Vater. Nimm diesen Kelch von mir.“ (Mk 14,36)

Und doch: Er ist gekommen. Nicht um seinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der ihn gesandt hat. (Joh 6,38) Und so bricht er auf mit dem ersten Schein des Tages. Wandert in das Karmesinrot des Dämmerlichts. Um zu predigen. Um Zerbrochenes zu heilen in den nächsten Orten.

Viele Jahre sind seitdem vergangen. Noch immer bricht sich der erste Schein des Tages an den Wellen des Sees. Noch immer weht der Wind sanft über die Farne und Gräser. Doch von der einst so prachtvollen Synagoge, bleiben nur noch verschüttete Trümmer. Eine Ruine am Ufer des Sees.  Genezareth. Noch immer kommen Menschen: Hunderte und Tausende. Sie wollen verstehen, was damals geschah. Sie wollen geheilt werden von ihren Krankheiten und Dämonen. Sie wollen Jesus näher kommen. Ganz nah.

Dann schwimmen sie morgens im See. Oder füllen sich das Wasser in Phiolen ab. Sie wünschen sich Balsam für ihre Seelen. Heilende Worte. Sanfte Berührungen. Und eigentlich, eigentlich nur Jesus selbst. Jesus, der sie sieht. Ihnen tief in die Augen schaut. Seine Hand auf ihre Herzen legt. Und sieht. Und versteht. Und sieht. Und versteht. Und heilt. Er nimmt ihre Scherben in die Hände. Er fügt das Zerbrochene wieder zusammen.

Innere Dämonen. So nannte man Krankheiten der Seele einst. Innere Dämonen ließen die Menschen verrückt werden. Heute heißen unsere inneren Dämonen: Depression, Manie, Borderline, Schizophrenie. Oder auch: Sucht, Bulimie, Paranoia, Hysterie. Es gibt viele Triebkräfte in unserem Inneren. Als ob eine böse Macht in uns wirkt. Wir stehen ohnmächtig – gelähmt – daneben. Wie fremdbestimmt wandeln wir durch das Leben. Vielleicht war es damals einfacher, als innere Dämonen noch aussahen wie Gargoyles. Geflügelte Unholde. Jesus kam und trieb sie fort. Er kam und sie mussten schweigen.

Und heute? So ein innerer Dämon kann einen Menschen Jahre und Jahrzehnte begleiten. Er wartet still auf seinen nächsten Auftritt. Dann bricht er hervor. Breitet seine Flügel aus und schlägt seine Zähne in das Fleisch. Er saugt sich richtig fest. Er lässt nicht mehr los.

Wie bei dem Autor Thomas Melle: „Die ganze Welt war weg. Es wurde alles weggezerrt. Ein Erdbeben hätte nicht zerstörerischer sein können. Nur war dieses Beben anders: Es ereignete sich ausschließlich in mir, und die Zerstörung, so allumfassend sie um sich griff, geschah im Stillen. Nichts blieb, wie es vorher gewesen war, und doch schien alles, rein äußerlich, gleich. [...] Monströs überzog sich mein Denken mit Geschichte und Gegengeschichte, kein Satz stimmte mehr, alles irrlichterte. Rauchende Ruinen um mich rum und doch nur in mir. Es war der reinste Horror.“ [Thomas Melle, Die Welt im Rücken, Berlin 32016, 67]

So ein innerer Dämon kann ganz plötzlich über dich herfallen. Dann zieht er dich in das Dunkel. Deine Seele kämpft noch mit jedem Atemzug dagegen an. Doch die Finsternis hält dich umklammert. Sie lässt dich nicht mehr los. Bis alles weh tut, bis selbst das Aufstehen weh tut. Und alles sinnlos wird. Das Leben wird sinnlos. Das Sterben wird sinnlos. Jeder Atemzug ist ein Gebet. Du hoffst auf Jesus. Es heißt, er kann das Zerbrochene wieder zusammenfügen. Bis dann auf einmal auch jeder Atemzug sinnlos wird. Und selbst Jesus: Sinnlos. Das Kreuz verbannst du aus deinem Zimmer. Auch die Engel, die alle dir auf einmal schenken. Alles dunkel und kalt. Alles sinnlos.

Innere Dämonen. Sie müssen nicht immer so große Namen tragen wie Depression oder Manie, mit ihrer grausamen Erscheinen, ihrer großen Zerstörungskraft. Es gibt auch die kleinen, die Alltagsdämonen. Sie ärgern dich jeden Tag. Sie setzen dir komische Gedanken in den Kopf. Dann stiehlst du deiner Mutter Geld, oder schaust deinem Arbeitskollegen hinterher. Dann trinkst du ein Bier zu viel, bleibst zulange weg, oder zündest einen Feuerwerkskörper im Stadion an. Es fühlt sich befreiend an zu sagen: Mein innerer Dämon hat mich dazu verleitet. Anstatt sich selbst einzugestehen: Das bin alles ich.

Auch ich kenne diese Momente. Momente, in denen ich alles einem Dämon zuschreiben möchte. Einer bösen Macht, die in mir wirkt. Es ist so viel schmerzhafter, sich selbst wahrhaftig zu sehen. Sich selbst mit allen Schattenseiten zu betrachten. Aber das alles bin ich, ganz ohne dämonisches Wirken. Das alles bin ich, mit meinen Makeln im Leben. In meiner ganzen Zerbrechlichkeit. Mit meinen Scherben und Brüchen.

Ich glaube an Jesus, der all’ das sieht. Der all meine Scherben sieht. Er sieht das noch ehe der Tag beginnt. Manchmal ist er vielleicht auch etwas müde, ratlos. Aber er sieht und versteht. Er sieht und versteht, weil er selbst als Mensch auf die Welt kam. In all’ ihrer Zerbrechlichkeit. Mit dem Kreuz von Golgatha. Er nimmt meine Scherben in die Hände. Er fügt das Zerbrochene wieder zusammen. Er nimmt Goldlack und überzieht damit Scherbe und Scherbe. Setzt alles Stück für Stück zusammen. Bis es wieder ein Ganzes bildet. Nur schöner als zuvor. Durchwirkt mit goldenen Fäden. Bezaubernd in der Zerbrechlichkeit.

Ich glaube, Jesus ist immer noch mitten unter uns. Er zieht von Ort zu Ort. Von einem Ort zum nächsten. Sein Wort wirkt in den Kirchen. Sein Geist weht in den Gemeinden. Und so fügt sich das Zerbrochene wieder zusammen, es heilt zusammen, mit Goldlack überzogen. Das ist es, was Jesus für uns tun kann. Und vielleicht kommt er morgen schon zu uns, wenn der erste Schein des Tages karmesinrot leuchtet und sich sanft an den Wellen des Sees bricht. Wenn der Morgenstern im Dämmerlicht verblasst und der Wind sanft durch die Farne und Gräser weht. Bis wir zu einer Gemeinschaft werden, in all’ ihrer Zerbrechlichkeit. Und doch leuchtend im Goldglanz der Gnade Gottes.

Denn „Gott ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind, und hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben.“ (Ps 34,19) Amen.

Perikope
22.10.2017
1,32-39

Das aufgebrachte Kamel – Predigt zu Markus 10,17-27 von Martin Burger

Das aufgebrachte Kamel – Predigt zu Markus 10,17-27 von Martin Burger
10,17-27

Bei einer Oase middla en dr Wüste. A Karawane macht grad Rast. Dia Leut hen ihre Kamel ans Wasser gführt on ruhet sich aus. Die Kamele Iagern sich oms Wasser rom on kommet miteinander ins Gespräch. Sie hen uff ihre Reisa ja scho viel erlebt. Ois von dene Kamel heißt Amir. Des hat bis jetzt bloß zughört on fangt jetzt mit vrzehla an:

„I ben von Nadur aus a äußerst neugieriges on geschwätziges Kamel. Wie schön, dass I euch, liebe Genossa hier droffa han. Nehmet eich ruhig noch en Schluck Wasser, derweil verzehl i euch a Geschichte:

Was mei Jugend ogeht, so kann i ned klaga. Scho meine Leid hen em Haus des reichsten Kaufmanns en dr Stadt gschafft. So isch’s au ned verwunderlich, dass sich meine Verwandte für die vornehmste Kamele der Stadt haldet on bloß Hochdeutsch schwätzet. Meine Wenigkeit wurde dem jonga Herra zom 12. Geburtstag geschenkt. Alles in allem war er en nedda Kerle. Vielleicht a bissle zu stolz uff den Reichtum von seine Eltern. Aber des kann mr ihm au ned verdenka. Er war verantwortungsbewusst on freindlich gegaüber jedermann. On er hat sich Gedanken gmacht über sei Leba. Er hat emmr viele Froga ghet, on wo emmr i die Gelegenheit ghet hab, han i au zughört. I war viele Jahre bei ihm. I ben zomma sehr schdarka on stattlicha Lasttier worda on ben em Dienst von meim jonga Herra blieba, der sich meiner Ansicht nach zemlich brav entwickelt hat. Ja, gestern han i no denkt, dass die Zukunft ons beide nur Gutes beschera könnt. Hen mir doch des Paradies auf Erda ghet.

Bloß, so frog i euch, meine höckrige Freunde, warum grad ons dieser heimatlose Wanderprediger aus Galiläa begegna hat miaßa? Heißt es doch nur allzu wahr emma alta Schbrichwort: „Was ko scho guets aus Hofa…äh aus Galiläa komma“.

Mir zwei sen grad von’ra Verkaufsausstellung aus Kanaan hoimkehrt, als ons dieser Jesus, von dem mir übrigens schon viel ghört hen, gradwegs vor die Hufe glaufa isch. Inwieweit mein jonger Herr des em voraus plant hat, han i ned festschdella kenna. Emmr, wenn’s ebbes über den Jesus zu berichta gäba hat, hat er aufmerksam zughört on au scho so manchen Rabbi mit Froga durchlöchert. Jetzt hat er endlich die Gelegenheit kriagt, die Fragen, die ihn scho seid seiner Jugend über begleitet hen, an jemand zu richta, der uff diesem Gebiet bekanntermaßen die größte Autorität dargestellt hat. Er hat’s halt recht macha wella im Leba, mein Herr. Doch wenn ihr mich froget, war des sein größter Fehler, jetzt hat er den Salat. Aber i schweif ab.  Weiter mit dr Gschicht….

Jetzt hat mein Herr ghört, dass der Jesus ganz in der Nähe unterwegs war. Do hat ihn nix meh ghalta, on er isch zu ihm no‘gschbronga – i han grad zu tun ghet, dass I hender ihm her komma ben. On als er vor dem Jesus gschdanda isch, do isch er in die Knie ganga on hat dr Jesus ogschwätzt: „Du Jesus, guter Meischder, was mueß i eigentlich tun, damit I des ewige Leba erb?“ hat mein Chef gfrogt. Dr Jesus hat geantwortet. „Wieso sagsch du, dass i guet ben? Niemand isch guet, außer Gott.  Du kennsch doch dia Gebote.“ On schdellat eich vor – jetzt hat der Mensch tatsächlich ogfanga, dia zehn Gebote doher zu sage. Des Völkle dromrom war sichtlich gelangweil. Hen se doch dia Worte von kloi auf nur zu guet kennt. Des hätt sogar no I ihm saga könne! Doch mein jonger Freind war sichtlich beruhigt „Hano! Mich noch de Gebote richta, des dur i scho so lang wia i denka ka! I han no niemand ombrocht, gschdohla han i au no von niemand ebbes, die Ehe han i ned brocha on mein Vatter on mei Muater halt i en Ehra. Wenn des wirklich älles isch, dann dank i schee on wünsch dir no en scheena Dag. Auf dass die Glut der Sonne dir ned so arg uff deim Meckel brennt“ „Halt, halt, mei Freind“ hat dann uff oimal dr Jesus gsagt on er hat ihn dabei ganz liebevolla oguckt, „des war’s no ned ganz. Wie i seh, bisch du reich. Des zeigt dei kostbares Gewand, dr Schmuck, den du romhänga hasch und ned zuletzt bisch du dr Oführer von dera Karawane do.“ „Scho recht“ han i mein Herra saga höra „aber was hat des mit meiner Frog zom dua?“ „Mehr als du denksch! Willst du wirklich ewig läba, dann verkauf älles, was de hasch on gibs de Arme. On wenn du Luschd hasch, dann kannsch glei domit ofanga. Wenn de fertig bisch, dann kannsch mitkomma on mir nachfolga“ Schlag me’s Blechle. Was sagt denn der Jesus da? Do platzt mr grad mei Halfter! Des isch jo unverschämt. Auch als Kamel han i blos a Kamelsgeduld. I han an Zorn kriagt on ben zo dene zwei noglaufa. Des hat der Jesus jo fei nobrocht! Völlig aufgelöst on fassungslos hat mein Herr vor sich noglotzt. On dr Jesus hat ihm sogar no oins drauf gebba: „Eher geht dieses Kamel“ – on dabei hat er auf mi zeigt,  „durch a Nadelöhr, als dass en Reicher en dr Himml kommt“ Des war jetzt eindeutig zuviel. Was will er denn jetzt von mir? On warum sollt i jetzt durch a Nadelöhr laufa? So a saudomme Idee. Des geht doch nie im Leba! Au dia ganze Leid, dia do romgschdanda send, sen unruhig worda. „Wer schafft‘s dann no, selig zu werda? Gibt es ned emmer no jemand, der ärmer isch als mr selber on dem mr äbbes gäba miaßt?“ Uff oimal hat sich Jesus von meinem Herra abgwendet on hat zu dera maulenda Menge gsait: „Zom Glick wird Gott euch richta, ned ihr euch selber. Denn was bei de Menscha omeglich isch, des isch bei Gott meglich“

Beim letschda Satz hat mein Besitzer wieder a bissle noch oba guckt. Vielleicht hat er gmerkt, dass es wichtiger isch, auf Gott zu vertrauen, als auf sein ganza Reichtum on was mr so alles en seim Läba angehäuft hat. Denn an dem isch er scho ganz schee g’hengt. So han I mir des zumindest mit meim bescheidenen Kamelhirn zusammag‘reimt. On da han i Jesus die Sache mit dem Nadelöhr au scho a bissle verzeiha könna.

Mein Herr hat sich dann mit seiner Karawane wieder auf den Weg in Richtung Heimat gmacht. Es war scho faschd dunkel, als er den alda Bartholomäus droffa hat, von dem mir ned arg viel meh gwisst hen, als dass er zu de elendschde ond verkommenschte Dagdiab der Unterstadt g‘hört hat. Mein Herr isch schdeha blieba, hat mi on den alda Mo a Weile oguckt, hat ihm dann meine Zügel en dia Händ drückt on gsagt: „Nemm des Kamel, es ghört dir“ Ja wia! Han I do richtig ghört? Was hat denn der Kerle vor? Des kann er doch noch macha! Des war allerdings des letschde, was i von dem jonga Herra ghört hab. Der hat tatsächlich ernschd gmacht. Die Begegnung mit dem Jesus hat wohl en seim  Leba einiges uff dr Kopf gstellt. Er wird sich wohl no zwoimal überlega, an was er en Zukunft sei Herz hängt. I ben jo von Nadur aus a äußerschd neigieriges on schwatzhaftes Kamel on han eich jetzt lang gnueg mit meiner Geschicht glangweilt. I weiß ned, ob i des verdient hab, was mir do bassiert isch. Es bleibt mir aber wohl nix anders übrig, als dass I  mi mit meim Schicksal abfenda mueß. Doch i han au en Zukunft ned vor, durch a Nadelöhr zu krabbla!“

Perikope
15.10.2017
10,17-27

Mit Nadel und Faden – Predigt zu Markus 10,17-27 von Nico Szameitat

Mit Nadel und Faden – Predigt zu Markus 10,17-27 von Nico Szameitat
10,17-27

Als ich den schwarzen Mantel zuknöpfe, merke ich schon, wie er mir durch die Finger gleitet, und – klack klack – liegt er da auf dem Boden: Der Knopf. Ok, dann doch erstmal die andere Jacke. Am Abend mache ich es mir dann auf dem alten Ostfriesensofa gemütlich, mit dem Mantel auf den Schoß; auf dem Tischchen liegen der treulose Knopf, Nähgarn, Nähnadel und eine Schere. Für den Sohn einer Schneiderin ist das Knopfannähen ja das geringste Problem. Am schwierigsten ist es nur, den Faden in die Nadel einzufädeln. Sauber abgeschnitten, einmal kurz angeleckt und dann mit ruhiger Hand… klappt!
Und während ich die Nadel mit dem Faden wieder und wieder durch Knopf und Mantel ziehe, von außen nach innen, von innen nach außen, erinnere ich mich, was meine Mutter früher alles genäht hat. Besonders Kinder sind ja sehr nähintensiv…
Nach dem Sturz auf dem Schotterweg musste erst das Knie verarztet und die erschrockene Seele getröstet werden, aber dann bekam abends auf dem Sofa auch die Hose einen Flicken draufgenäht. Und wie oft wurden die Kuscheltiere geflickt oder gestopft: Wenn Hund – ich glaub, der hieß wirklich nur Hund – ein allzu lockeres Auge hatte. Oder wenn der große Teddy mit dem Reißverschluss hinten, der zugleich als Reisetasche diente, wenn es zu Oma ging, wenn dieser große Teddy, dessen Name ich wirklich vergessen habe, schon allzu wundgeliebt war. Mama fädelte ein, Mama nähte, Mama stopfte, und alles, was ich lieb hatte, hielt wieder eine Kinderewigkeit länger. Ich weiß gar nicht, was aus Hund und Teddy geworden ist, vielleicht sind sie irgendwo zuhause auf dem Dachboden. Irgendwann habe ich sie wohl einfach losgelassen.

Der erste Eindruck täuscht. Man muss Jesus aber auch zugutehalten, dass er ziemlich genervt war ist diesem Tag. Weit gekommen ist er nämlich noch nicht. Da kamen schon morgens die ersten Schriftgelehrten und wollten ihn testen; haben ihn in eine Diskussion verwickelt über Heirat und Scheidung; anstatt einfach über die Liebe zu reden. Na gut, die hatte er abgehängt. Dann war er bis auf den Marktplatz gekommen, wollte den Menschen etwas von Gottes Liebe erzählen, da kam es am Rand zu einem kleinen Tumult. Seine Jünger wollten irgendwelche Eltern fortschicken, nur weil die Kinder angeblich störten. Seine Jünger! Gut, also erst eine Lektion zu den Kindern. Als er sie schließlich gesegnet hatte, und die Eltern mit ihren Kindern fröhlich von dannen zogen, war Jesus aufgestanden, war gerade einmal drei Schritte weit gekommen, da sah er schon wieder jemanden angelaufen kommen. „Jede Wette“, sagte Jesus zu Petrus, „das ist auch einer, der mich testen will.“
Und so fährt Jesus den Mann, der sich doch nach Etikette und Knigge formvollendet benimmt, gleich zu Anfang an: „Warum nennst du mich gut? Gott allein ist gut!“ Aber dann merkt er schnell, dass der Mann kein Tester ist, sondern dass er es ernst meint. Und es entspinnt sich ein wunderbares Gespräch. Und auch hier täuscht der erste Eindruck. Denn es geht nicht um Kamele und Nadelöhre. Es geht auch nicht darum, dass Reiche in die Hölle kommen oder so ähnlich. Sondern es geht um erfülltes Leben, über Liebhaben und Loslassen. Es geht um Sehnsucht.
 

Da steht ein Mann, der alles hat, der offensichtlich vermögend ist, der sogar alle Gebote befolgt. Ein Mann, der nach menschlichen Maßstäben ziemlich zufrieden, wenn nicht gar glücklich sein müsste. Und doch ist da eine Sehnsucht…
„Meister, was muss ich tun für das ewige Leben?“ Und mit ewigem Leben ist hier nicht ein unendlich langes Leben im Himmel gemeint. Ewig ist nicht unendlich lang, sondern unendlich gut. „Meister, was muss ich tun für ein unendlich gutes Leben, für ein erfülltes Leben? Kann ich das ansatzweise schon jetzt erleben?“
„Ja“, sagt Jesus. „Und wenn Du die Gebote befolgst, bist du schon auf einem guten Weg. Nur eines fehlt dir. Verkaufe alles, was du hast; gib den Erlös den Armen. Und folge mir nach.“
 

Alles?
Entschuldigung, habe ich richtig gehört: Alles? Mein Haus, mein Garten? Auch die Harry-Potter-Bände und meine CD-Sammlung? Auch den schönen alten Tisch vom Flohmarkt? Der ist doch gar nichts wert. Nur für mich persönlich. Und den edlen Kugelschreiber? Den habe ich doch geschenkt bekommen! Alles, was ich lieb habe? Auch Hund und Teddy?
Der Mann kann nicht. Er kann all das, was er so lieb hat in seinem Leben, nicht einfach loslassen. Ob Jesus das geahnt hat? Vielleicht war Jesus dieses Mal der Tester: „Hey, ich glaube, du kannst deshalb kein erfülltes Leben haben, weil du die Dinge in deinem Leben zu sehr lieb hast. Und das meine ich jetzt im wörtlichen Sinn: „lieb haben“. Können die Dinge dir nicht einfach nur „lieb sein“? Musst du sie denn unbedingt „lieb haben“? Schau doch mal, manche Dinge sind von dir schon regelrecht wundgeliebt. Wenn die Dinge dir nur lieb sind, dann könntest du sie auch loslassen. Dann besitzen sie dich auch nicht. Denk mal drüber nach!“
 

Der Mann kann nicht. Er kann nicht loslassen. Und Jesus ging traurig davon. Da bin ich mir ziemlich sicher. Es ist nämlich die einzige Stelle in den Evangelien, wo erzählt wird, dass Jesus einen Menschen anschaut und ihn liebgewinnt. Matthäus und Lukas werden später diese Geschichte von Markus abschreiben, aber diesen Halbsatz mit dem „lieb gewinnen“, den lassen sie lieber weg. Jesus spürt: Da meint es einer Ernst mit seiner Sehnsucht nach einem erfüllten Leben. Und diesen Menschen möchte er unter seinen Jüngern, möchte er bei sich haben. Jesus hat ihn lieb gewonnen und möchte ihn nun lieb haben. Das aber geht nicht und so muss Jesus selber loslassen. Das ist für mich die kleine traurige Ironie in der Geschichte, dass derjenige, der vom anderen das Loslassen des Geliebten fordert, am Ende selber das Liebgewonnene loslassen muss. Auch insofern ist diese Geschichte einzigartig. Nur hier wird erzählt, dass Jesus zu einem Menschen sagt „Folge mir nach!“, und derjenige schafft es nicht.
Und so ist auch der Satz von dem Kamel, das nicht durchs Nadelöhr geht, ein großer Seufzer Jesu. Und der Satz, dass bei Gott alle Dinge möglich sind, ist ein großer Hoffnungsfunke Jesu. Ja, wer weiß. Vielleicht gibt es eine zweite Begegnung zwischen Jesus und diesem Mann. Und vielleicht hat dieser in der Zwischenzeit gelernt, dass es einen Unterschied macht, ob ich Dinge wie auch Menschen lieb habe, oder ob mir Dinge wie auch Menschen lieb sind.
 

Am Abend machen wir es uns auf dem alten Ostfriesensofa gemütlich. Gott hat Tee gekocht. „Kluntjes? Kleinen Schuss Rum?“ „Gerne.“ Mit dem Kissen im Rücken sitzt er da im Schneidersitz, mein Leben wieder einmal auf dem Schoß. Auf dem Tischchen Nähgarn, Nähnadel und Schere. Und dann betrachtet er mein Leben. „Na, das sieht ja mal wieder aus…“ Ich puste auf den heißen Tee und sage liebe nichts.
„Was Du da so alles liebhast! Und komm mir jetzt nicht wieder mit Deinem großen Herzen. Warum schleppst Du denn diesen Traum noch mit Dir rum? Ich kann Dir doch einen neuen geben. Und warum klammerst Du Dich a an diesen alten Gegenstand? Und hier hast Du ja wieder ein ganzes Stück wundgeliebt. Willst Du den Teil nicht mal loslassen?“
„Ach, nee, kann da nicht nochmal ein Flicken drauf? Ich habe das so lieb…“
„Das ist doch schon gestopft! Wie soll das denn noch halten? Du muss auch mal loslassen können.“
Ich puste auf den Tee. Wie viele Abende haben wir hier schon gesessen: Gott fädelte ein, Gott nähte, Gott stopfte, und alles, was ich lieb hatte, hielt wieder eine kleine Menschenewigkeit länger. „Aber ich dachte, du könntest das nochmal flicken. Wie heißt es immer? Bei Gott ist nichts unmöglich.“ Da lacht er. So sehr, dass der Tee aus seiner Tasse schwappt und auf meinem Leben landet. Na toll.
„Ach, Du bist mir ja einer… Am Ende musst Du sowieso alles loslassen! Das ganze Leben.“ „Ja, ich weiß. Ok, dann lasse ich den Teil eben los. Und fange da neu an. Aber das Stückchen da, das geht doch noch, oder?“
„Jaja“, grummelt Gott. Und während er die Nadel mit dem Faden wieder und wieder durch mein Leben zieht, von außen nach innen, von innen nach außen, bin ich ihm unendlich dankbar.
 

Amen.

Perikope
15.10.2017
10,17-27

Aus dem Tal der Ohnmacht - Predigt zu Markus 9, 17-27(-29) von Lars Hillebold

Aus dem Tal der Ohnmacht - Predigt zu Markus 9, 17-27(-29) von Lars Hillebold
9,17-27(-29)

Wenn der Körper sich streckt und wie ein Baum zur Erde fällt

Sie kamen als Eltern vom Berg der Freude und der Verzückung über ihr neugeborenes Kind nach Hause. Der zweite Sohn war gesund zur Welt gekommen. Er wuchs heran. Wurde älter. Alles war gut. Das erste Jahr. Das zweite Jahr.

Kurz nach dem dritten Geburtstag dann ohne Vorwarnung: Das Zucken der kleinen Armen und Beine. Das verzerrte Gesicht. Mitansehen. Nicht helfen können. Ein Anfall dauert Sekunden; das Gefühl der Ohnmacht ist ewig. Ihr Stoßgebet schrie nach Hilfe: Gott, mach was.“ Setz dem Unheimlichen ein Ende. Richte ihn auf, der am Boden liegt und nicht weiß, was ihm geschieht. Ihr Blick zum Himmel war Sehnsucht. Die Worte sollen Wahrheit werden: „Jesus, ergreif seine Hand und richte ihn auf, und er steht auf.“ Aber so ist es nicht geworden. Sie kamen vom Berg der Freude über ihr neugeborenes gesundes Kind und sind inzwischen nach Jahren auf der Ebene einer anderen Wirklichkeit angekommen. Ihr Kind hat Epilepsie. Ärzte, Heilpraktikerin, Jünger sollten das Unheimliche austreiben und sie konnten’s nicht. Sie können es nicht erklären und sie finden nicht die Ursache. So ist es geblieben: Wenn der Körper sich streckt und wie ein Baum zur Erde fällt. Wenn die Atmung stockt. Manchmal kommt Schaum aus dem Mund, der sich mit Blut vermischt, wenn er sich auf die Zunge gebissen hat. Das Zucken der inzwischen großen Arme und Beine. Das verzerrte Gesicht. Nach ein bis zwei Minuten ist es überstanden. Der Körper entspannt sich wieder. Sein Schutzhelm bewahrt ihn vor Platzwunden. Peinlich ist ihm, wenn er die Kontrolle verliert über alle Körperfunktionen. Und wenn sie alle drum herumstehen und schauen. Hilflos. Mit jedem unvermeidbaren Anfall, manchmal kleine und unbemerkte am Tag und in der Nacht, gehen Gehirnzellen unwiederbringlich verloren. Unmöglich, sie wiederzuholen. Sie waren damals losgezogen vom Berg. Sie haben Täler durchschritten. Wird es so bleiben?

Er lebt mit dem Unheimlichen und weiß nicht, was wird. Er sehnt sich, was noch möglich werden könnte. Er fürchtet sich aber auch, was ihm alles unmöglich ist. „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt? Sogleich schrie der Vater des Kindes: Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“

Im Tal der Ohnmacht

Petrus, Jakobus und Johannes waren mit Jesus auf dem Berg der Verklärung. Dem Ort, an dem Gott so unmittelbar scheint, dass man gerne Hütten bauen und für immer dort bleiben möchte. Alles leuchtete in klarem Licht und nichts schien unmöglich. „Wir glauben! Wir bekennen! Uns ist alles möglich“, hatten sie von ihrem Berg über die ganze Welt ausgerufen. Alle Sorgen von oben schienen ihnen nichtig und klein. Und sie hätten Hütte um Hütte bauen können. Für Mose, der ein ganzes Volk befreite. Für den Propheten Elia, der unübertroffene Siege und Erfolge errungen hatte. Ja, alles ist möglich denen, die glauben. Für Abraham kam ihnen ein Zelt in den Sinn. Denn dort hatte er Gottes Stimme gehört: „Sollte dem Herrn etwas unmöglich sein? Nächstes Jahr komme ich wieder und deine alte Frau Sara wird einen Sohn haben.“ Schließlich eine Hütte für Hiob. Der hatte Haus und Hof verloren und erkannt: „dass du, Gott, alles vermagst, und nichts, das du dir vorgenommen, ist dir zu schwer.“ So steigen sie leicht und beschwingt vom Berg der Verklärung hinunter und treffen im Tal auf den Dämonen der Ohnmacht.

Sie konnten’s nicht. Mir helfen. Sie konnten es alle nicht: die Jünger, mein Vater, die umstehenden klugen Köpfe, die Schaulustigen - ja vor allem, ich selber konnte es nicht. Ich kann mich nicht wehren. Ich kann mich nicht schützen. Die Macht über meinen eigenen Körper wurde mir geraubt. Das Schalten der Nervenzellen im Gehirn hat eine andere Macht übernommen. Meine Nervenzellen tanzten mit mir. Ich will das nicht. Sie spielen mit meinem Willen. Ich will nicht nichtspielen. Wenn sie doch endlich Ruhe gäben. Da, er hat was gesagt. Ich habe es nicht hören können. Es ist so still. Plötzlich. Er ergriff meine Hand. Er bindet mich an ihn. Sollte es so bleiben? Er hält mich fest. So ruhig. So soll es bleiben. Er hält mich. Werden jetzt die anderen Stimmen in mir ohnmächtig? Wenn sie an der Macht waren, dann kann ich nichts steuern. Das ist auch jetzt so. Steuert er mich? Ohnmächtig war ich. Oder bin ich tot? Nein, er hält mich. Dieser Jesus. Er richtet mich auf. Bestimmt er mich. Ich glaube es; oder doch nicht? Stehe ich wieder? Kann ich es allein? Alleine wieder stehen? Ich glaube. Ich kann es nicht glauben. Was ist geschehen?  

 

Wi(e)der stehen

Ganz andere sind in diesen Tagen aus dem Tal der Dämonen heraus auf dem Gipfel ihres politischen Erfolgs angekommen. Im Sammelbecken hatten sie sich getroffen, die heimlichen Rechten und die unheimlich Enttäuschten. Blühende Landschaften haben sich nicht überall gebildet. Und selbst unter den Gebildeten finden sich Ängste vor den Fremden und einer allzu globalen Welt. Vielleicht ist die Welt so sehr vernetzt, dass viele nur noch darüber zu stolpern scheinen?

Da ergriff er ihre Hände, richtete sie auf, dass sie wieder stehen. Und anders stolz sind auf ihr Land, in dem Fremde willkommen sind. In einem Land, das zu seinem Wohlstand steht und zum Teilen bereit ist. Als ein Volk in Vielfalt aus seiner Geschichte heraus in der Gegenwart dankbar lebt. Für eine Zukunft der Menschen einstehen, die aus Angst und Armut heraus sich vielleicht nicht anders zu helfen wussten, als das zu wählen, was sie nun mal gewählt haben.

Da ergriff er unsere Hände, richtete uns auf, dass wir wieder stehen. So widerstehen wir denen, die ein demokratisches Volk zu ihrem machen wollen, als hätte irgend jemand die Macht zu bestimmen, wer das Volk ist. So widerstehen wir denen, die andere jagen wollen oder gar entsorgen. So  widerstehen wir auch denen, die das alles klein reden oder allzu höflich einfangen. Manche wissen nicht, welchen Inhalt sie gewählt haben. Sie haben die alten nicht mehr wählen wollen, die vom Berg angeblich nicht mehr in die Täler kommen. Und da wartete geschickt eine Alternative, die von Alternativen ja sonst wenig wissen will. Manche aber wissen allzu gut, wen sie gewählt haben. Und beides das Nichtwissen und das Zurückwollen in alte Zeiten ist mir unheimlich. Die bisher im Tal verborgenen rechten Tendenzen werden sichtbarer auf dem Gipfel von 12,6 %. Sie sind aus dem Tal nach oben gekommen und sprechen vom Berg herunter wie Machthaber, die jagen und sich ihr Volk zurückholen wollen, was weder ihr Volk noch ihr Recht ist. Ich bin nicht ihr Volk. Mich brauchen sie nicht zurückholen.

Da er ergriff meine Hand, richtete mich auf und hier stehe ich. Auf Bergen und in Tälern. Wir als Kirche stehen nicht über der Politik. Wir stehen auch über keiner Partei. Wir gehen in die Höhen und in die Tiefen einer Gesellschaft mit. Und wenn es dran ist, finden wir deutliche Worte. So war es nicht immer. So kann es aber sein. Wir werden später nicht sagen: wir konnten’s nicht. Wir konnten‘s nicht wissen. Wir konnten‘s nicht hören. Wir konnten‘s nicht sehen. Wir machen uns nicht zum Affen. Denn wir haben es gelesen und gehört: Auch sprachlose Geister sind machtvoll. Sie sind taub auf manchem Ohr. Gerade das macht sie so unheimlich. Sie können Argumente einfach überhören. Wir sollen die gebieterischen Worte Jesu nutzen? Diese Macht haben wir nicht. Auch werfen wir niemanden ins Feuer und niemand soll im Wasser ertrinken.

Da ergriff er deine Hände, richtete dich auf, dass du wieder stehst: Das kann nur jeder für sich sagen. Das kann jede von sich aus sagen. Ich widerstehe. Denn du kannst! Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.

 

Ins Gebet nehmen

Ich glaube, hilf meinem Unglauben. Am Ende steht das Gebet. Für die Eltern und ihr epileptisches Kind. Den Vater und den Sohn. Vielleicht sogar für sprachlose Geister und taube Ohren. Für Menschen, die irre gehen in der Wahl ihrer Worte und Taten. Für uns. Unsere Kirche. Für mich.

Ich glaube; hilf meinem Unglauben. Das ist der Anfang meines Gebetes. Worte gegen allen Anschein. Worte für den Widerstand. Mit einem Berg voller Fragen. Tälern voller Enttäuschung. Ich glaube, bete ich und fahre fort: hilf meinem Unglauben. Denn beides ist wahr. Ich bitte um Heilung. Doch Wunder gibt es nicht immer wieder. Ich wage die Worte des Widerstands. Ja, vielleicht werden sie verhallen. Ich stehe am Ende mit dem da, mit dem Jesus anfängt: Diese Art - und andere Unarten - kann durch nichts ausfahren als durch Beten. Also bete ich:

 

An dich, Gott, glaube ich; hilf meinem Unglauben.

Du kannst Menschen heilen. Dir sei geklagt, warum die einen und die anderen nicht.

Ich prüfe mein Herz. Ich kenne es nicht immer genau.

Manches Fremde ist mir unheimlich. Scheu bin ich.

Angst habe ich auch vor dem Morgen und Grauen. Völlig unbegründet.

Meinen Grund hast Du gelegt.  Doch schwanke ich hin und her.

Dann wird es plötzlich wie Licht. Stille.

Als wäre es Tod. Doch es wird Leben.

Du hast die Macht. Halt mich fest.

Ich weiß nicht immer wohin mit mir und mit dir.  

Doch ich will, dass mein Herz dich festhält und Ruhe findet. In dir.

Nimm mich bei der Hand, richte mich auf,

dass ich stehen kann, widerstehen kann.

Ich war in Tälern und auf Bergen.

Im Glauben und im Unglauben, bist du nah bei mir.

Du tust mir gut. Im Elend war ich. Mit dir nicht allein.

Ich glaube. An dich Gott. Hilf meinem Unglauben.

 

Amen.

Perikope
08.10.2017
9,17-27(-29)

Ist Heilung möglich?- Predigt zu Markus 9,14-27 von Norbert Stahl

Ist Heilung möglich?- Predigt zu Markus 9,14-27 von Norbert Stahl
9,14-27

Liebe Gemeinde,

ein Satz aus dieser Heilungsgeschichte treibt mich besonders um. Die steile Aussage Jesu: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ – Ist das wirklich so einfach?

In den Sommerferien besuchten meine Frau und ich in der Nähe von Frankfurt unsere Freundin Sabine. Sie betreibt dort seit einigen Jahren ein christliches Café. Wir hatten uns länger nicht gesehen. So gab es einiges Neues zu berichten. Kaum hatten meine Frau und ich an einem der kleinen Tische Platz genommen und unsere Bestellung aufgegeben, da setzte sich Sabine auch schon zu uns. Sogleich begann sie übersprudelnd zu erzählen. Früher gehörte sie einmal zur Landeskirche. Vor kurzem, so berichtete sie nun, hatte sie sich einer freien Gemeinde angeschlossen. Einer mit stark charismatischer Prägung, in der Heilungsgottesdienste eine wichtige Rolle spielen. Sabine erzählte begeistert von den Gottesdiensten. Beinahe jeden beinahe Sonntag gäbe es die. Sie selbst sei von einem Schulterleiden befreit worden. Jemand anderes von einer schweren Organerkrankung usw. Es sei eigentlich alles ganz einfach, man müsse die Bibel nur beim Wort nehmen. Wirklich beim Wort nehmen. Insbesondere die Stellen, die von Heilung sprechen und dann diese Stellen und Verheißungen ganz für sich in Anspruch nehmen, so als sei die Heilung im Grunde schon passiert – oder so ähnlich. Jedenfalls würden erstaunliche Dinge in dieser Gemeinde passieren. Es sprudelte dermaßen aus Sabine heraus, dass meine Frau und ich zunächst kaum dazwischenkamen. Nur nach und nach gelang es uns. Ich erzählte Sabine die Geschichte von Matthias.

Ich lernte ihn und seine Familie in meinen Jahren auf der Ostalb kennen. Matthias hatte eine ähnliche geistliche Biographie wie Sabine. Wie sie war er lange Landeskirchler gewesen, sogar Kirchengemeinderat. Irgendwann muss ihm die Landeskirche aber zu ungeistlich geworden sein, vielleicht waren ihm auch die Ortspfarrer zu liberal gewesen. Jedenfalls beteiligte er sich an einer Gemeindeneugründung. Die sollte auf jeden Fall geistlicher und moderner sein, als jene, die er vor Ort erlebt hatte. Die Neugründung hatte schnell einigen Erfolg und guten Zuspruch. Die Gottesdienste waren voll, die neuen Lieder wurden von einer Band begleitet, vor der Predigt gab es ein Anspiel. In der Kinder- und Jugendarbeit wurde viel getan. Bis heute hat diese Gemeinde einen guten Zulauf. Dann ereignete sich das Unerwartete. Bei Matthias wurde ein schweres Krebsleiden diagnostiziert. Man kann sich vorstellen, dass in seiner neuen Gemeinde viel für ihn gebetet wurde. Dass viele Gemeindeglieder fest an seine Heilung glaubten. Trotzdem: nach langem, schwerem Leiden ist Matthias verstorben. Ein herber Schlag für alle, die ihn kannten. Was war hier passiert?! Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt!

Hier war fest geglaubt und intensiv gebetet worden – und nun das! Meine Frau und ich haben noch einige Zeit mit Sabine diskutiert.

Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt – ist das wirklich so einfach? Man muss die Verheißung nur ergreifen, nur fest genug glauben, dann klappt das mit der Heilung? Eigentlich lehrt ja schon das Beispiel von Matthias etwas anderes. In seiner neuen Gemeinde war ja fest geglaubt, intensiv gebetet und alles von Gott erwartet worden. Vielleicht mehr noch, als das in seiner früheren landeskirchlichen Gemeinde der Fall gewesen wäre. Aber nicht einmal unter diesen Umständen konnte er geheilt werden.

In der Logik von Sabine müsste ich nun fragen: Hat da jemand zu wenig fest vertraut? Matthias selbst oder vielleicht sein Pastor? Oder vielleicht beide? Hat vielleicht einer von beiden zu wenig auf die eine Karte des Glaubens gesetzt? War da vielleicht doch noch ein leiser Zweifel am erhofften Ergebnis und hat es deshalb nicht funktioniert? Mir widerstreben all diese Überlegungen. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass jemand über die Heilungsgeschichte von heute Morgen gesagt hat, sie sei ein Predigttext „mit Risiken und Nebenwirkungen“.(Michael Werner in a&b 17/2017, 10-16) Ich finde das sehr treffend. Die Geschichte von der Heilung des kranken Jungen hat einerseits das Potential zu helfen. Sie kann Hoffnung spenden, sie kann dazu beitragen, dass ein kranker Mensch sich nicht aufgibt, dass sein Lebenswille gestärkt wird, dass ihn die Barmherzigkeit, mit der sich Jesus dem kranken Jungen zuwendet guttut: Auch mich lässt Jesus in meinem Leiden nicht allein. Auch mir wendet sich Jesus zu. So kann die Geschichte wirken, wie ein gutes Medikament. Aber wir wissen auch: Gerade die hochwirksamen Medikamente haben oft unerwünschte Nebenwirkungen. Manchmal sogar solche, die wiederum gefährlich werden können für den Kranken. Markus 9 – eine Heilungsgeschichte mit Risiken und Nebenwirkungen. 

Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“? Macht dieser Satz angesichts der beschriebenen Gefahren überhaupt Sinn? Der Schlüssel könnte darin liegen, dass Jesus diesen Satz gar nicht zu dem Vater des kranken Jungen sagt. Der Vater bezieht die Worte Jesu zwar gleich auf sich, aber ich glaube, darin liegt zumindest teilweise ein Missverständnis. Lesen wir noch einmal genau! Der Vater bittet Jesus:

„Wenn du etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns! Jesus aber sprach zu ihm: Du sagst, wenn du kannst – alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“(9,22f)

Genau genommen spricht Jesus hier über sich selbst. Er beschreibt sich selbst als denjenigen, der wahrhaft glaubt. Also als jemand, der glaubt ohne jeden Zweifel; als einen, der sein ganzes Vertrauen ohne irgendeinen Vorbehalt in seinen himmlischen Vater setzt, der alles von ihm erhofft, erwartet, erbittet – in großer Gewissheit, auf einzigartige Weise mit Gottes Kraft verbunden zu sein. Für mich ist klar: So kann kein Mensch glauben. So hat nur Jesus geglaubt. Die Jünger beschreibt Markus immer wieder als solche, die das Wesentliche gerade nicht verstehen, die manches Mal sogar in Angst und Schrecken verfallen statt in Lob und Anbetung. Zwar werden auch von den Jüngern Wunder berichtet. Im Markusevangelium allerdings – soweit ich sehe – nur an einer einzigen Stelle, fast beiläufig. Stattdessen betont Markus immer wieder den großen Abstand zwischen Jesus und seinen Jüngern. An vielen Stellen beschreibt er ihr Unverständnis – obwohl sie doch viel näher an Jesus dran waren als alle anderen. Um wieviel mehr hätten sie es eigentlich besser wissen und besser tun können. Wunder vermochten sie allenfalls punktuell zu wirken. Keineswegs in dem Ausmaß und mit einer solchen Verlässlichkeit, wie das Jesus möglich war. Die Geschichte von der Heilung des Jungen beginnt nicht zufällig gerade mit der Diskussion über das Unvermögen der Jünger. Der Vater sagt zu Jesus:

„Meister, ich habe einen Sohn, der hat einen sprachlosen Geist. Ich habe mit deinen Jüngern geredet, dass sie ihn austreiben sollen, aber sie konnten’s nicht.“

Das Risiko der Geschichte von der Heilung des kranken Jungen – um noch einmal auf Risiken und Nebenwirkungen zu sprechen zu kommen – das Risiko besteht darin, genau diesen Abstand, der zwischen Jesus und uns Menschen besteht zu übersehen oder zu überspielen. Die Geschichte von heute Morgen macht sehr deutlich, dass es diesen Abstand gibt. Jenen Abstand, der auch in dem herausgeschrienen Bittruf des Vaters zum Ausdruck kommt: „Herr ich glaube, hilf meinem Unglauben!“  Über diesen Ausruf kommt kein Glaubender hinaus. Und sei er der Pastor einer charismatischen Gemeinde.

Ich glaube sehr wohl, liebe Gemeinde, dass es Sinn macht um Heilung zu beten. Ich glaube auch, dass es unter Gebet zu erstaunlichen Heilungen kommen kann. Aber wo und wann es passiert, das bleibt letzten Endes unverfügbar. Immer wieder schmerzlich unverfügbar. Kein Mensch kann von sich behaupten, Heilungen in einem solchen Ausmaß und mit einer solchen Verlässlichkeit wie Jesus selbst hinzubekommen. Das sind leicht nachvollziehbare Wünsche und Phantasien. Unheilbare chronische Leiden und lebensbedrohliche akute Erkrankungen sind schwer zu ertragen. Zu allererst für die Betroffenen, oftmals auch für ihre Angehörigen und Freunde. Es ist so verständlich, dass wir uns einen leichteren Weg wünschen. Auch einen, der uns vor langwierigen und belastenden Therapien bewahren könnte. Aber so einfach ist es nicht. „Die Jünger vermochtens nicht.“ – das ist auch unsere Erfahrung. Auch wir vermögen es nicht. Allenfalls hier und dort einmal, ohne aber sagen zu können, wieso es manchmal klappt und so oft auch nicht.

Handauflegung, Salbung und persönliches Gebet sind uns als Christen dennoch aufgegeben. Es ist schön, dass sich auch landeskirchliche Gottesdienste gibt, die Handauflegung, Salbung und persönliches Gebet beinhalten. In der Leonhardskirche in Stuttgart z.B. hat ein Team einen sensiblen Weg gefunden, all diese Dinge anzubieten. Mehrmals im Jahr. Die Gottesdienste heißen allerdings nicht Heilungsgottesdienste sondern Heilsame Gottesdienste für Leib und Seele. Das signalisiert: Mit Heilungsversprechen ist man hier vorsichtig. Vor kurzem war ich mal wieder dort. Die Lieder, die Salbung, das Handauflegen, der persönliche Zuspruch haben mir gut getan. Das Ganze hatte für mich tatsächlich etwas Heilsames. Und das ist auch etwas wert. Das ist auch hilfreich.

Und der Friede Gottes…

Amen.

 

Vorschlag zur Liturgie
Eingangslied: EG 437,1-4
Psalm 63 (EG 729)
Wochenlied: EG 346,1-3
Predigtlied: EG 369,1.2.7
Schlusslied: EG 171,1-4 oder EG 565,1.4.5

Perikope
08.10.2017
9,14-27