Mut-Tour – Predigt zu Markus 1,32-39 von Silke Panthöfer
Ein Samstagvormittag in der Siegener Innenstadt. Hektisch schiebe ich mich mit den anderen Menschen durch die volle Einkaufsstraße. Gegenüber vom Bahnhof, direkt vorm Sieg-Carré, fällt mein Blick auf ein riesiges Spruchband. Ich lese „Mut Tour – raus aus der Depression“. Das Spruchband gehört zu einem Infostand. Neben dem Stand stehen außerdem einige Tandem-Fahrräder mit vollen Packtaschen. Ich gehe langsamer. Zögere etwas. Es ist doch Samstag. Wochenende. Entspannen. Eigentlich mal keine schweren Themen. Ich bleibe aber stehen. Blicke in freundliche Gesichter. Eine Frau ist gerade im Gespräch mit einem Passanten vertieft. Ich nehme mir ein Informationsblatt. Erfahre, dass hier das Bündnis gegen Depression Siegen-Wittgenstein und Olpe auf seine Arbeit aufmerksam macht. Immer noch ist Depression eine Krankheit, über die man kaum spricht. Erst wieder, wenn sich ein Prominenter das Leben nimmt. Ein Musiker oder Sportler. Es gibt so viele Vorurteile und Vorbehalte gegenüber den Menschen, die an Depression erkrankt sind. Solche wie: „Der müsste sich nur mal zusammenreißen.“ Oder: „Da stimmt doch bei denen was in der Ehe nicht.“ Depression bedeutet Makel. Ein Zeichen der Schwäche. Oder des persönlichen Versagens. Das macht dann oft noch einsamer und kränker. Eine gläserne Wand zwischen Gesunden und Kranken. Die Erfahrung machen viele Menschen mit schweren Erkrankungen, nicht nur psychisch Erkrankte.
Und dann weiß ich auch, warum hier diese vollgepackten Tandemräder rumstehen. Die MUT-TOUR ist eine bundesweite Fahrradtour. An Depression erkrankte Fahrer radeln dabei gemeinsam mit Nicht-Betroffenen durch ganz Deutschland. Auf ihren Tandems legen sie rund 7.000 km zwischen der Nordsee und den Alpen zurück und durchqueren dabei über 70 Städte. An diesem Tag sind sie hier bei uns in Siegen. Interessierte sind unterwegs eingeladen, auf Tagestouren mit zu radeln. Mut Tour. Raus aus der Depression. Betroffenen Mut machen, Wege aus der Krankheit zeigen und in der Öffentlichkeit Zeichen setzen. Eine tolle Idee und Aktion.
Mir fällt ein Gespräch mit meinem Nachbarn neulich ein. Wir haben uns eigentlich nur unterhalten, wenn wir uns zufällig beim Müllrausbringen oder auf der Treppe getroffen haben. Er war immer gut gelaunt. Hat mir erzählt, dass er am Wochenende angeln geht oder mit der Freundin auf ein Konzert. So small talk eben. Von Nachbarin zu Nachbar. Vor zwei Wochen habe ich ihn wiedergetroffen, nach längerer Zeit. Ich erfahre, dass er stationär in Herborn in der Psychiatrie war. Wegen einer Depression. „Ich hab mir das selbst nicht eingestehen wollen, dass ich krank bin.“ Sagt er. „Ich hab immer eine Maske aufgesetzt. Und dann konnte ich irgendwann nicht mehr. Meine Freundin hat sich von mir getrennt. Dann bin ich zusammengebrochen. In der Psychiatrie hab ich das begriffen. Das mit meinen Masken.“ Es berührt mich, dass er mir so offen davon erzählt. Ich bin aber auch ein bisschen erschrocken. Er ist mein Nachbar. Mir ist nicht aufgefallen, dass er länger nicht da war. Mir ist überhaupt nichts aufgefallen. Sitzen wir alle in unseren Häusern und Wohnungen und wissen so wenig voneinander?
Auch in Galiläa sitzen die Kranken hinter den Türen ihrer Häuser. Manchmal auch auf der Straße. Blinde, die ihren Lebensunterhalt durch Betteln bestreitet. Wer gesund ist und jung und von der eigenen Hände Arbeit leben kann, hat Glück. Alle anderen müssen um ihr Überleben kämpfen. Harte Regeln in harten Zeiten. Und dann ist da dieser Jesus von Nazareth. Sie alle in Galiläa hören von ihm. „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.“ predigt er in den Synagogen. Dieser Jesus von Nazareth legt die heiligen Schriften auf eine neue Weise aus. „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“
Ein anderer Geist weht durch die Synagogen. Ein befreiender Geist. Und die alteingesessenen Geister bekommen Angst. Dieser Geist der Freiheit und der Gnade treibt die Geister aus, die meinen, wer arm sei oder krank ist, sei selbst schuld oder habe zu wenig gebetet oder noch schlimmer: würde für ein Vergehen, eine Sünde von Gott bestraft! Auch heute gibt es diese gnadenlosen dämonischen Geister noch, die meinen, an einer Krankheit oder Behinderung sei der-oder diejenige selbst schuld. Oder eine Strafe Gottes. Es gehört einfach nur zum Leben und zum Menschsein dazu, dass wir verletzlich und verletzbar sind. Und nicht alles machen und kontrollieren können. Das Gesunde ist nicht das Normale!
Jesu Aufmerksamkeit gilt denen, die wenig Ansehen haben, ausgegrenzt werden, dem Leben verloren gehen, das die Gesunden leben. Für sie gibt es Hoffnung.
Er berührt nicht nur mit Worten. Seine Nähe und Zuwendung, seine Berührungen verwandeln und heilen. Wie erlösend kann es sein, wenn jemand mir einen liebevollen Blick schenkt oder einfach nur die Hand hält. Den Arm um die Schulter legt. Ich bin da. Hab keine Angst.
„Keine Katze mit 7 Leben, keine Eidechse und kein Seestern, denen das verlorene Glied nachwächst, kein zerschnittener Wurm ist so zäh wie der Mensch, den man in die Sonne von Liebe und Hoffnung legt.“ So heißt es in einem Gedicht von Hilde Domin. Jesus legt Menschen in die Sonne von Liebe und Hoffnung. Und so beginnt das Zerbrochene, die Wunden und Verletzungen zu heilen. Das spricht sich in Galiläa wie ein Lauffeuer rum. Am Abend aber, da die Sonne untergegangen war, brachten sie zu ihm alle Kranken und Besessenen. Und die ganze Stadt war versammelt vor der Tür. Und er heilte viele, die an mancherlei Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus. Raus aus den engen Häusern. Raus aus der Depression. Sehen: Ich bin ja nicht allein. So vielen geht es wie mir.
Am Stand des Bündnisses gegen Depression spreche ich mit einem Mann. Er erzählt mir seine Geschichte mit der Krankheit Depression. Einige Aufenthalte in der Psychiatrie. Immer wieder diese Rückschläge. Er muss seinen Beruf aufgeben. Wird vorzeitig berentet. Der Kampf mit der Depression nimmt viel Raum in seinem Leben ein. In einer Gesprächsgruppe hat er Halt gefunden. Eine ambulante Hilfe unterstützt ihn zuhause. Dann aber sagt er diese Worte, die ich nicht vergessen werde. Er sagt: „Manche machen einen Bogen um mich. Sie sehen nur den chronisch psychisch Kranken in mir. Das tut weh. Aber ich bin nicht meine Krankheit. Ich bin mehr als meine Krankheit.“ Dann erzählt er weiter. Er hat eine Aufgabe gefunden, die ihn jetzt ausfüllt und glücklich macht. Da er mit Holz gut umgehen kann und handwerklich begabt ist, repariert er Stühle und andere kleine Dinge in einem Kindergarten in der Nähe seiner Wohnung.
Die Mut-Tour radelt am nächsten Tag wieder weiter, in die nächste Stadt. Aber die Begegnungen bleiben. Eine schreibt sich eine Adresse von einer Selbsthilfegruppe auf. Der andere erzählt vielleicht zuhause am Mittagstisch seiner Familie von der Mut-Tour und der Initiative gegen Depression. Und daraus ergibt sich ein schönes Gespräch miteinander. Und in mir arbeitet dieser Satz weiter. „Ich bin nicht meine Krankheit, ich bin mehr als meine Krankheit.“ Er trotzt seiner Erkrankung Leben ab. Will nicht nur als Opfer von Umständen gesehen werden und sieht sich selbst nicht so. Er ist nicht geheilt im medizinischen Sinne. Aber heil geworden.
Auch Jesus und seine Jünger radeln mit ihrer Mut-Tour weiter durch Galiläa. Die Begegnungen bleiben. Hinterlassen Spuren, legen Samen. Machen heil. Auf zum nächsten Ort, sagt Jesus. Einen gnädigen Gott verkündigen, denen die zerschlagenen Herzens sind. Und Menschen zusammenbringen. Zeichen und Wunder geschehen lassen für mehr Menschlichkeit.
Amen.
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Von der Kunst, Zerbrochenes zu heilen – Predigt zu Markus 1,32-39 von Johanna Klee
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.
Karmesinrot leuchtet der erste Schein des Tages. Er bricht sich sanft an den Wellen des Sees.
Genezareth. Der Morgenstern verblasst im Dämmerlicht. Sanft weht der Wind durch die Farne und Gräser. Ein ferner Ruf nach Einsamkeit. Einer ist gekommen, um zu beten. Um den neuen Tag mit alten Worten zu begrüßen. „Abba. Vater.“
Jesus ist es, der betet. Er sitzt am Ufer des Sees. Noch ehe der Tag beginnt. Müde wirkt er, ein wenig ratlos. Es ist still um ihn herum. Nur der Wind weht weiter sein Lied. Jesus’ Blick richtet sich in die Ferne. Zur Synagoge in Kafarnaum. Dort hat er gestern noch gepredigt. Zu Hunderten oder Tausenden. So viele waren es gestern. Sie wollten ihn alle sehen. Sie wollten geheilt werden von ihren Krankheiten, geheilt werden von ihren inneren Dämonen. So viele.
So viel Zerbrochenes. Und noch so viel mehr zu tun. An so viel mehr Orten noch zu predigen,an so viel mehr Orten noch zu heilen. „Abba. Vater. Nimm diesen Kelch von mir.“ (Mk 14,36)
Und doch: Er ist gekommen. Nicht um seinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der ihn gesandt hat. (Joh 6,38) Und so bricht er auf mit dem ersten Schein des Tages. Wandert in das Karmesinrot des Dämmerlichts. Um zu predigen. Um Zerbrochenes zu heilen in den nächsten Orten.
Viele Jahre sind seitdem vergangen. Noch immer bricht sich der erste Schein des Tages an den Wellen des Sees. Noch immer weht der Wind sanft über die Farne und Gräser. Doch von der einst so prachtvollen Synagoge, bleiben nur noch verschüttete Trümmer. Eine Ruine am Ufer des Sees. Genezareth. Noch immer kommen Menschen: Hunderte und Tausende. Sie wollen verstehen, was damals geschah. Sie wollen geheilt werden von ihren Krankheiten und Dämonen. Sie wollen Jesus näher kommen. Ganz nah.
Dann schwimmen sie morgens im See. Oder füllen sich das Wasser in Phiolen ab. Sie wünschen sich Balsam für ihre Seelen. Heilende Worte. Sanfte Berührungen. Und eigentlich, eigentlich nur Jesus selbst. Jesus, der sie sieht. Ihnen tief in die Augen schaut. Seine Hand auf ihre Herzen legt. Und sieht. Und versteht. Und sieht. Und versteht. Und heilt. Er nimmt ihre Scherben in die Hände. Er fügt das Zerbrochene wieder zusammen.
Innere Dämonen. So nannte man Krankheiten der Seele einst. Innere Dämonen ließen die Menschen verrückt werden. Heute heißen unsere inneren Dämonen: Depression, Manie, Borderline, Schizophrenie. Oder auch: Sucht, Bulimie, Paranoia, Hysterie. Es gibt viele Triebkräfte in unserem Inneren. Als ob eine böse Macht in uns wirkt. Wir stehen ohnmächtig – gelähmt – daneben. Wie fremdbestimmt wandeln wir durch das Leben. Vielleicht war es damals einfacher, als innere Dämonen noch aussahen wie Gargoyles. Geflügelte Unholde. Jesus kam und trieb sie fort. Er kam und sie mussten schweigen.
Und heute? So ein innerer Dämon kann einen Menschen Jahre und Jahrzehnte begleiten. Er wartet still auf seinen nächsten Auftritt. Dann bricht er hervor. Breitet seine Flügel aus und schlägt seine Zähne in das Fleisch. Er saugt sich richtig fest. Er lässt nicht mehr los.
Wie bei dem Autor Thomas Melle: „Die ganze Welt war weg. Es wurde alles weggezerrt. Ein Erdbeben hätte nicht zerstörerischer sein können. Nur war dieses Beben anders: Es ereignete sich ausschließlich in mir, und die Zerstörung, so allumfassend sie um sich griff, geschah im Stillen. Nichts blieb, wie es vorher gewesen war, und doch schien alles, rein äußerlich, gleich. [...] Monströs überzog sich mein Denken mit Geschichte und Gegengeschichte, kein Satz stimmte mehr, alles irrlichterte. Rauchende Ruinen um mich rum und doch nur in mir. Es war der reinste Horror.“ [Thomas Melle, Die Welt im Rücken, Berlin 32016, 67]
So ein innerer Dämon kann ganz plötzlich über dich herfallen. Dann zieht er dich in das Dunkel. Deine Seele kämpft noch mit jedem Atemzug dagegen an. Doch die Finsternis hält dich umklammert. Sie lässt dich nicht mehr los. Bis alles weh tut, bis selbst das Aufstehen weh tut. Und alles sinnlos wird. Das Leben wird sinnlos. Das Sterben wird sinnlos. Jeder Atemzug ist ein Gebet. Du hoffst auf Jesus. Es heißt, er kann das Zerbrochene wieder zusammenfügen. Bis dann auf einmal auch jeder Atemzug sinnlos wird. Und selbst Jesus: Sinnlos. Das Kreuz verbannst du aus deinem Zimmer. Auch die Engel, die alle dir auf einmal schenken. Alles dunkel und kalt. Alles sinnlos.
Innere Dämonen. Sie müssen nicht immer so große Namen tragen wie Depression oder Manie, mit ihrer grausamen Erscheinen, ihrer großen Zerstörungskraft. Es gibt auch die kleinen, die Alltagsdämonen. Sie ärgern dich jeden Tag. Sie setzen dir komische Gedanken in den Kopf. Dann stiehlst du deiner Mutter Geld, oder schaust deinem Arbeitskollegen hinterher. Dann trinkst du ein Bier zu viel, bleibst zulange weg, oder zündest einen Feuerwerkskörper im Stadion an. Es fühlt sich befreiend an zu sagen: Mein innerer Dämon hat mich dazu verleitet. Anstatt sich selbst einzugestehen: Das bin alles ich.
Auch ich kenne diese Momente. Momente, in denen ich alles einem Dämon zuschreiben möchte. Einer bösen Macht, die in mir wirkt. Es ist so viel schmerzhafter, sich selbst wahrhaftig zu sehen. Sich selbst mit allen Schattenseiten zu betrachten. Aber das alles bin ich, ganz ohne dämonisches Wirken. Das alles bin ich, mit meinen Makeln im Leben. In meiner ganzen Zerbrechlichkeit. Mit meinen Scherben und Brüchen.
Ich glaube an Jesus, der all’ das sieht. Der all meine Scherben sieht. Er sieht das noch ehe der Tag beginnt. Manchmal ist er vielleicht auch etwas müde, ratlos. Aber er sieht und versteht. Er sieht und versteht, weil er selbst als Mensch auf die Welt kam. In all’ ihrer Zerbrechlichkeit. Mit dem Kreuz von Golgatha. Er nimmt meine Scherben in die Hände. Er fügt das Zerbrochene wieder zusammen. Er nimmt Goldlack und überzieht damit Scherbe und Scherbe. Setzt alles Stück für Stück zusammen. Bis es wieder ein Ganzes bildet. Nur schöner als zuvor. Durchwirkt mit goldenen Fäden. Bezaubernd in der Zerbrechlichkeit.
Ich glaube, Jesus ist immer noch mitten unter uns. Er zieht von Ort zu Ort. Von einem Ort zum nächsten. Sein Wort wirkt in den Kirchen. Sein Geist weht in den Gemeinden. Und so fügt sich das Zerbrochene wieder zusammen, es heilt zusammen, mit Goldlack überzogen. Das ist es, was Jesus für uns tun kann. Und vielleicht kommt er morgen schon zu uns, wenn der erste Schein des Tages karmesinrot leuchtet und sich sanft an den Wellen des Sees bricht. Wenn der Morgenstern im Dämmerlicht verblasst und der Wind sanft durch die Farne und Gräser weht. Bis wir zu einer Gemeinschaft werden, in all’ ihrer Zerbrechlichkeit. Und doch leuchtend im Goldglanz der Gnade Gottes.
Denn „Gott ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind, und hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben.“ (Ps 34,19) Amen.
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Das aufgebrachte Kamel – Predigt zu Markus 10,17-27 von Martin Burger
Bei einer Oase middla en dr Wüste. A Karawane macht grad Rast. Dia Leut hen ihre Kamel ans Wasser gführt on ruhet sich aus. Die Kamele Iagern sich oms Wasser rom on kommet miteinander ins Gespräch. Sie hen uff ihre Reisa ja scho viel erlebt. Ois von dene Kamel heißt Amir. Des hat bis jetzt bloß zughört on fangt jetzt mit vrzehla an:
„I ben von Nadur aus a äußerst neugieriges on geschwätziges Kamel. Wie schön, dass I euch, liebe Genossa hier droffa han. Nehmet eich ruhig noch en Schluck Wasser, derweil verzehl i euch a Geschichte:
Was mei Jugend ogeht, so kann i ned klaga. Scho meine Leid hen em Haus des reichsten Kaufmanns en dr Stadt gschafft. So isch’s au ned verwunderlich, dass sich meine Verwandte für die vornehmste Kamele der Stadt haldet on bloß Hochdeutsch schwätzet. Meine Wenigkeit wurde dem jonga Herra zom 12. Geburtstag geschenkt. Alles in allem war er en nedda Kerle. Vielleicht a bissle zu stolz uff den Reichtum von seine Eltern. Aber des kann mr ihm au ned verdenka. Er war verantwortungsbewusst on freindlich gegaüber jedermann. On er hat sich Gedanken gmacht über sei Leba. Er hat emmr viele Froga ghet, on wo emmr i die Gelegenheit ghet hab, han i au zughört. I war viele Jahre bei ihm. I ben zomma sehr schdarka on stattlicha Lasttier worda on ben em Dienst von meim jonga Herra blieba, der sich meiner Ansicht nach zemlich brav entwickelt hat. Ja, gestern han i no denkt, dass die Zukunft ons beide nur Gutes beschera könnt. Hen mir doch des Paradies auf Erda ghet.
Bloß, so frog i euch, meine höckrige Freunde, warum grad ons dieser heimatlose Wanderprediger aus Galiläa begegna hat miaßa? Heißt es doch nur allzu wahr emma alta Schbrichwort: „Was ko scho guets aus Hofa…äh aus Galiläa komma“.
Mir zwei sen grad von’ra Verkaufsausstellung aus Kanaan hoimkehrt, als ons dieser Jesus, von dem mir übrigens schon viel ghört hen, gradwegs vor die Hufe glaufa isch. Inwieweit mein jonger Herr des em voraus plant hat, han i ned festschdella kenna. Emmr, wenn’s ebbes über den Jesus zu berichta gäba hat, hat er aufmerksam zughört on au scho so manchen Rabbi mit Froga durchlöchert. Jetzt hat er endlich die Gelegenheit kriagt, die Fragen, die ihn scho seid seiner Jugend über begleitet hen, an jemand zu richta, der uff diesem Gebiet bekanntermaßen die größte Autorität dargestellt hat. Er hat’s halt recht macha wella im Leba, mein Herr. Doch wenn ihr mich froget, war des sein größter Fehler, jetzt hat er den Salat. Aber i schweif ab. Weiter mit dr Gschicht….
Jetzt hat mein Herr ghört, dass der Jesus ganz in der Nähe unterwegs war. Do hat ihn nix meh ghalta, on er isch zu ihm no‘gschbronga – i han grad zu tun ghet, dass I hender ihm her komma ben. On als er vor dem Jesus gschdanda isch, do isch er in die Knie ganga on hat dr Jesus ogschwätzt: „Du Jesus, guter Meischder, was mueß i eigentlich tun, damit I des ewige Leba erb?“ hat mein Chef gfrogt. Dr Jesus hat geantwortet. „Wieso sagsch du, dass i guet ben? Niemand isch guet, außer Gott. Du kennsch doch dia Gebote.“ On schdellat eich vor – jetzt hat der Mensch tatsächlich ogfanga, dia zehn Gebote doher zu sage. Des Völkle dromrom war sichtlich gelangweil. Hen se doch dia Worte von kloi auf nur zu guet kennt. Des hätt sogar no I ihm saga könne! Doch mein jonger Freind war sichtlich beruhigt „Hano! Mich noch de Gebote richta, des dur i scho so lang wia i denka ka! I han no niemand ombrocht, gschdohla han i au no von niemand ebbes, die Ehe han i ned brocha on mein Vatter on mei Muater halt i en Ehra. Wenn des wirklich älles isch, dann dank i schee on wünsch dir no en scheena Dag. Auf dass die Glut der Sonne dir ned so arg uff deim Meckel brennt“ „Halt, halt, mei Freind“ hat dann uff oimal dr Jesus gsagt on er hat ihn dabei ganz liebevolla oguckt, „des war’s no ned ganz. Wie i seh, bisch du reich. Des zeigt dei kostbares Gewand, dr Schmuck, den du romhänga hasch und ned zuletzt bisch du dr Oführer von dera Karawane do.“ „Scho recht“ han i mein Herra saga höra „aber was hat des mit meiner Frog zom dua?“ „Mehr als du denksch! Willst du wirklich ewig läba, dann verkauf älles, was de hasch on gibs de Arme. On wenn du Luschd hasch, dann kannsch glei domit ofanga. Wenn de fertig bisch, dann kannsch mitkomma on mir nachfolga“ Schlag me’s Blechle. Was sagt denn der Jesus da? Do platzt mr grad mei Halfter! Des isch jo unverschämt. Auch als Kamel han i blos a Kamelsgeduld. I han an Zorn kriagt on ben zo dene zwei noglaufa. Des hat der Jesus jo fei nobrocht! Völlig aufgelöst on fassungslos hat mein Herr vor sich noglotzt. On dr Jesus hat ihm sogar no oins drauf gebba: „Eher geht dieses Kamel“ – on dabei hat er auf mi zeigt, „durch a Nadelöhr, als dass en Reicher en dr Himml kommt“ Des war jetzt eindeutig zuviel. Was will er denn jetzt von mir? On warum sollt i jetzt durch a Nadelöhr laufa? So a saudomme Idee. Des geht doch nie im Leba! Au dia ganze Leid, dia do romgschdanda send, sen unruhig worda. „Wer schafft‘s dann no, selig zu werda? Gibt es ned emmer no jemand, der ärmer isch als mr selber on dem mr äbbes gäba miaßt?“ Uff oimal hat sich Jesus von meinem Herra abgwendet on hat zu dera maulenda Menge gsait: „Zom Glick wird Gott euch richta, ned ihr euch selber. Denn was bei de Menscha omeglich isch, des isch bei Gott meglich“
Beim letschda Satz hat mein Besitzer wieder a bissle noch oba guckt. Vielleicht hat er gmerkt, dass es wichtiger isch, auf Gott zu vertrauen, als auf sein ganza Reichtum on was mr so alles en seim Läba angehäuft hat. Denn an dem isch er scho ganz schee g’hengt. So han I mir des zumindest mit meim bescheidenen Kamelhirn zusammag‘reimt. On da han i Jesus die Sache mit dem Nadelöhr au scho a bissle verzeiha könna.
Mein Herr hat sich dann mit seiner Karawane wieder auf den Weg in Richtung Heimat gmacht. Es war scho faschd dunkel, als er den alda Bartholomäus droffa hat, von dem mir ned arg viel meh gwisst hen, als dass er zu de elendschde ond verkommenschte Dagdiab der Unterstadt g‘hört hat. Mein Herr isch schdeha blieba, hat mi on den alda Mo a Weile oguckt, hat ihm dann meine Zügel en dia Händ drückt on gsagt: „Nemm des Kamel, es ghört dir“ Ja wia! Han I do richtig ghört? Was hat denn der Kerle vor? Des kann er doch noch macha! Des war allerdings des letschde, was i von dem jonga Herra ghört hab. Der hat tatsächlich ernschd gmacht. Die Begegnung mit dem Jesus hat wohl en seim Leba einiges uff dr Kopf gstellt. Er wird sich wohl no zwoimal überlega, an was er en Zukunft sei Herz hängt. I ben jo von Nadur aus a äußerschd neigieriges on schwatzhaftes Kamel on han eich jetzt lang gnueg mit meiner Geschicht glangweilt. I weiß ned, ob i des verdient hab, was mir do bassiert isch. Es bleibt mir aber wohl nix anders übrig, als dass I mi mit meim Schicksal abfenda mueß. Doch i han au en Zukunft ned vor, durch a Nadelöhr zu krabbla!“
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Mit Nadel und Faden – Predigt zu Markus 10,17-27 von Nico Szameitat
Als ich den schwarzen Mantel zuknöpfe, merke ich schon, wie er mir durch die Finger gleitet, und – klack klack – liegt er da auf dem Boden: Der Knopf. Ok, dann doch erstmal die andere Jacke. Am Abend mache ich es mir dann auf dem alten Ostfriesensofa gemütlich, mit dem Mantel auf den Schoß; auf dem Tischchen liegen der treulose Knopf, Nähgarn, Nähnadel und eine Schere. Für den Sohn einer Schneiderin ist das Knopfannähen ja das geringste Problem. Am schwierigsten ist es nur, den Faden in die Nadel einzufädeln. Sauber abgeschnitten, einmal kurz angeleckt und dann mit ruhiger Hand… klappt!
Und während ich die Nadel mit dem Faden wieder und wieder durch Knopf und Mantel ziehe, von außen nach innen, von innen nach außen, erinnere ich mich, was meine Mutter früher alles genäht hat. Besonders Kinder sind ja sehr nähintensiv…
Nach dem Sturz auf dem Schotterweg musste erst das Knie verarztet und die erschrockene Seele getröstet werden, aber dann bekam abends auf dem Sofa auch die Hose einen Flicken draufgenäht. Und wie oft wurden die Kuscheltiere geflickt oder gestopft: Wenn Hund – ich glaub, der hieß wirklich nur Hund – ein allzu lockeres Auge hatte. Oder wenn der große Teddy mit dem Reißverschluss hinten, der zugleich als Reisetasche diente, wenn es zu Oma ging, wenn dieser große Teddy, dessen Name ich wirklich vergessen habe, schon allzu wundgeliebt war. Mama fädelte ein, Mama nähte, Mama stopfte, und alles, was ich lieb hatte, hielt wieder eine Kinderewigkeit länger. Ich weiß gar nicht, was aus Hund und Teddy geworden ist, vielleicht sind sie irgendwo zuhause auf dem Dachboden. Irgendwann habe ich sie wohl einfach losgelassen.
Der erste Eindruck täuscht. Man muss Jesus aber auch zugutehalten, dass er ziemlich genervt war ist diesem Tag. Weit gekommen ist er nämlich noch nicht. Da kamen schon morgens die ersten Schriftgelehrten und wollten ihn testen; haben ihn in eine Diskussion verwickelt über Heirat und Scheidung; anstatt einfach über die Liebe zu reden. Na gut, die hatte er abgehängt. Dann war er bis auf den Marktplatz gekommen, wollte den Menschen etwas von Gottes Liebe erzählen, da kam es am Rand zu einem kleinen Tumult. Seine Jünger wollten irgendwelche Eltern fortschicken, nur weil die Kinder angeblich störten. Seine Jünger! Gut, also erst eine Lektion zu den Kindern. Als er sie schließlich gesegnet hatte, und die Eltern mit ihren Kindern fröhlich von dannen zogen, war Jesus aufgestanden, war gerade einmal drei Schritte weit gekommen, da sah er schon wieder jemanden angelaufen kommen. „Jede Wette“, sagte Jesus zu Petrus, „das ist auch einer, der mich testen will.“
Und so fährt Jesus den Mann, der sich doch nach Etikette und Knigge formvollendet benimmt, gleich zu Anfang an: „Warum nennst du mich gut? Gott allein ist gut!“ Aber dann merkt er schnell, dass der Mann kein Tester ist, sondern dass er es ernst meint. Und es entspinnt sich ein wunderbares Gespräch. Und auch hier täuscht der erste Eindruck. Denn es geht nicht um Kamele und Nadelöhre. Es geht auch nicht darum, dass Reiche in die Hölle kommen oder so ähnlich. Sondern es geht um erfülltes Leben, über Liebhaben und Loslassen. Es geht um Sehnsucht.
Da steht ein Mann, der alles hat, der offensichtlich vermögend ist, der sogar alle Gebote befolgt. Ein Mann, der nach menschlichen Maßstäben ziemlich zufrieden, wenn nicht gar glücklich sein müsste. Und doch ist da eine Sehnsucht…
„Meister, was muss ich tun für das ewige Leben?“ Und mit ewigem Leben ist hier nicht ein unendlich langes Leben im Himmel gemeint. Ewig ist nicht unendlich lang, sondern unendlich gut. „Meister, was muss ich tun für ein unendlich gutes Leben, für ein erfülltes Leben? Kann ich das ansatzweise schon jetzt erleben?“
„Ja“, sagt Jesus. „Und wenn Du die Gebote befolgst, bist du schon auf einem guten Weg. Nur eines fehlt dir. Verkaufe alles, was du hast; gib den Erlös den Armen. Und folge mir nach.“
Alles?
Entschuldigung, habe ich richtig gehört: Alles? Mein Haus, mein Garten? Auch die Harry-Potter-Bände und meine CD-Sammlung? Auch den schönen alten Tisch vom Flohmarkt? Der ist doch gar nichts wert. Nur für mich persönlich. Und den edlen Kugelschreiber? Den habe ich doch geschenkt bekommen! Alles, was ich lieb habe? Auch Hund und Teddy?
Der Mann kann nicht. Er kann all das, was er so lieb hat in seinem Leben, nicht einfach loslassen. Ob Jesus das geahnt hat? Vielleicht war Jesus dieses Mal der Tester: „Hey, ich glaube, du kannst deshalb kein erfülltes Leben haben, weil du die Dinge in deinem Leben zu sehr lieb hast. Und das meine ich jetzt im wörtlichen Sinn: „lieb haben“. Können die Dinge dir nicht einfach nur „lieb sein“? Musst du sie denn unbedingt „lieb haben“? Schau doch mal, manche Dinge sind von dir schon regelrecht wundgeliebt. Wenn die Dinge dir nur lieb sind, dann könntest du sie auch loslassen. Dann besitzen sie dich auch nicht. Denk mal drüber nach!“
Der Mann kann nicht. Er kann nicht loslassen. Und Jesus ging traurig davon. Da bin ich mir ziemlich sicher. Es ist nämlich die einzige Stelle in den Evangelien, wo erzählt wird, dass Jesus einen Menschen anschaut und ihn liebgewinnt. Matthäus und Lukas werden später diese Geschichte von Markus abschreiben, aber diesen Halbsatz mit dem „lieb gewinnen“, den lassen sie lieber weg. Jesus spürt: Da meint es einer Ernst mit seiner Sehnsucht nach einem erfüllten Leben. Und diesen Menschen möchte er unter seinen Jüngern, möchte er bei sich haben. Jesus hat ihn lieb gewonnen und möchte ihn nun lieb haben. Das aber geht nicht und so muss Jesus selber loslassen. Das ist für mich die kleine traurige Ironie in der Geschichte, dass derjenige, der vom anderen das Loslassen des Geliebten fordert, am Ende selber das Liebgewonnene loslassen muss. Auch insofern ist diese Geschichte einzigartig. Nur hier wird erzählt, dass Jesus zu einem Menschen sagt „Folge mir nach!“, und derjenige schafft es nicht.
Und so ist auch der Satz von dem Kamel, das nicht durchs Nadelöhr geht, ein großer Seufzer Jesu. Und der Satz, dass bei Gott alle Dinge möglich sind, ist ein großer Hoffnungsfunke Jesu. Ja, wer weiß. Vielleicht gibt es eine zweite Begegnung zwischen Jesus und diesem Mann. Und vielleicht hat dieser in der Zwischenzeit gelernt, dass es einen Unterschied macht, ob ich Dinge wie auch Menschen lieb habe, oder ob mir Dinge wie auch Menschen lieb sind.
Am Abend machen wir es uns auf dem alten Ostfriesensofa gemütlich. Gott hat Tee gekocht. „Kluntjes? Kleinen Schuss Rum?“ „Gerne.“ Mit dem Kissen im Rücken sitzt er da im Schneidersitz, mein Leben wieder einmal auf dem Schoß. Auf dem Tischchen Nähgarn, Nähnadel und Schere. Und dann betrachtet er mein Leben. „Na, das sieht ja mal wieder aus…“ Ich puste auf den heißen Tee und sage liebe nichts.
„Was Du da so alles liebhast! Und komm mir jetzt nicht wieder mit Deinem großen Herzen. Warum schleppst Du denn diesen Traum noch mit Dir rum? Ich kann Dir doch einen neuen geben. Und warum klammerst Du Dich a an diesen alten Gegenstand? Und hier hast Du ja wieder ein ganzes Stück wundgeliebt. Willst Du den Teil nicht mal loslassen?“
„Ach, nee, kann da nicht nochmal ein Flicken drauf? Ich habe das so lieb…“
„Das ist doch schon gestopft! Wie soll das denn noch halten? Du muss auch mal loslassen können.“
Ich puste auf den Tee. Wie viele Abende haben wir hier schon gesessen: Gott fädelte ein, Gott nähte, Gott stopfte, und alles, was ich lieb hatte, hielt wieder eine kleine Menschenewigkeit länger. „Aber ich dachte, du könntest das nochmal flicken. Wie heißt es immer? Bei Gott ist nichts unmöglich.“ Da lacht er. So sehr, dass der Tee aus seiner Tasse schwappt und auf meinem Leben landet. Na toll.
„Ach, Du bist mir ja einer… Am Ende musst Du sowieso alles loslassen! Das ganze Leben.“ „Ja, ich weiß. Ok, dann lasse ich den Teil eben los. Und fange da neu an. Aber das Stückchen da, das geht doch noch, oder?“
„Jaja“, grummelt Gott. Und während er die Nadel mit dem Faden wieder und wieder durch mein Leben zieht, von außen nach innen, von innen nach außen, bin ich ihm unendlich dankbar.
Amen.
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Aus dem Tal der Ohnmacht - Predigt zu Markus 9, 17-27(-29) von Lars Hillebold
Wenn der Körper sich streckt und wie ein Baum zur Erde fällt
Sie kamen als Eltern vom Berg der Freude und der Verzückung über ihr neugeborenes Kind nach Hause. Der zweite Sohn war gesund zur Welt gekommen. Er wuchs heran. Wurde älter. Alles war gut. Das erste Jahr. Das zweite Jahr.
Kurz nach dem dritten Geburtstag dann ohne Vorwarnung: Das Zucken der kleinen Armen und Beine. Das verzerrte Gesicht. Mitansehen. Nicht helfen können. Ein Anfall dauert Sekunden; das Gefühl der Ohnmacht ist ewig. Ihr Stoßgebet schrie nach Hilfe: Gott, mach was.“ Setz dem Unheimlichen ein Ende. Richte ihn auf, der am Boden liegt und nicht weiß, was ihm geschieht. Ihr Blick zum Himmel war Sehnsucht. Die Worte sollen Wahrheit werden: „Jesus, ergreif seine Hand und richte ihn auf, und er steht auf.“ Aber so ist es nicht geworden. Sie kamen vom Berg der Freude über ihr neugeborenes gesundes Kind und sind inzwischen nach Jahren auf der Ebene einer anderen Wirklichkeit angekommen. Ihr Kind hat Epilepsie. Ärzte, Heilpraktikerin, Jünger sollten das Unheimliche austreiben und sie konnten’s nicht. Sie können es nicht erklären und sie finden nicht die Ursache. So ist es geblieben: Wenn der Körper sich streckt und wie ein Baum zur Erde fällt. Wenn die Atmung stockt. Manchmal kommt Schaum aus dem Mund, der sich mit Blut vermischt, wenn er sich auf die Zunge gebissen hat. Das Zucken der inzwischen großen Arme und Beine. Das verzerrte Gesicht. Nach ein bis zwei Minuten ist es überstanden. Der Körper entspannt sich wieder. Sein Schutzhelm bewahrt ihn vor Platzwunden. Peinlich ist ihm, wenn er die Kontrolle verliert über alle Körperfunktionen. Und wenn sie alle drum herumstehen und schauen. Hilflos. Mit jedem unvermeidbaren Anfall, manchmal kleine und unbemerkte am Tag und in der Nacht, gehen Gehirnzellen unwiederbringlich verloren. Unmöglich, sie wiederzuholen. Sie waren damals losgezogen vom Berg. Sie haben Täler durchschritten. Wird es so bleiben?
Er lebt mit dem Unheimlichen und weiß nicht, was wird. Er sehnt sich, was noch möglich werden könnte. Er fürchtet sich aber auch, was ihm alles unmöglich ist. „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt? Sogleich schrie der Vater des Kindes: Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“
Im Tal der Ohnmacht
Petrus, Jakobus und Johannes waren mit Jesus auf dem Berg der Verklärung. Dem Ort, an dem Gott so unmittelbar scheint, dass man gerne Hütten bauen und für immer dort bleiben möchte. Alles leuchtete in klarem Licht und nichts schien unmöglich. „Wir glauben! Wir bekennen! Uns ist alles möglich“, hatten sie von ihrem Berg über die ganze Welt ausgerufen. Alle Sorgen von oben schienen ihnen nichtig und klein. Und sie hätten Hütte um Hütte bauen können. Für Mose, der ein ganzes Volk befreite. Für den Propheten Elia, der unübertroffene Siege und Erfolge errungen hatte. Ja, alles ist möglich denen, die glauben. Für Abraham kam ihnen ein Zelt in den Sinn. Denn dort hatte er Gottes Stimme gehört: „Sollte dem Herrn etwas unmöglich sein? Nächstes Jahr komme ich wieder und deine alte Frau Sara wird einen Sohn haben.“ Schließlich eine Hütte für Hiob. Der hatte Haus und Hof verloren und erkannt: „dass du, Gott, alles vermagst, und nichts, das du dir vorgenommen, ist dir zu schwer.“ So steigen sie leicht und beschwingt vom Berg der Verklärung hinunter und treffen im Tal auf den Dämonen der Ohnmacht.
Sie konnten’s nicht. Mir helfen. Sie konnten es alle nicht: die Jünger, mein Vater, die umstehenden klugen Köpfe, die Schaulustigen - ja vor allem, ich selber konnte es nicht. Ich kann mich nicht wehren. Ich kann mich nicht schützen. Die Macht über meinen eigenen Körper wurde mir geraubt. Das Schalten der Nervenzellen im Gehirn hat eine andere Macht übernommen. Meine Nervenzellen tanzten mit mir. Ich will das nicht. Sie spielen mit meinem Willen. Ich will nicht nichtspielen. Wenn sie doch endlich Ruhe gäben. Da, er hat was gesagt. Ich habe es nicht hören können. Es ist so still. Plötzlich. Er ergriff meine Hand. Er bindet mich an ihn. Sollte es so bleiben? Er hält mich fest. So ruhig. So soll es bleiben. Er hält mich. Werden jetzt die anderen Stimmen in mir ohnmächtig? Wenn sie an der Macht waren, dann kann ich nichts steuern. Das ist auch jetzt so. Steuert er mich? Ohnmächtig war ich. Oder bin ich tot? Nein, er hält mich. Dieser Jesus. Er richtet mich auf. Bestimmt er mich. Ich glaube es; oder doch nicht? Stehe ich wieder? Kann ich es allein? Alleine wieder stehen? Ich glaube. Ich kann es nicht glauben. Was ist geschehen?
Wi(e)der stehen
Ganz andere sind in diesen Tagen aus dem Tal der Dämonen heraus auf dem Gipfel ihres politischen Erfolgs angekommen. Im Sammelbecken hatten sie sich getroffen, die heimlichen Rechten und die unheimlich Enttäuschten. Blühende Landschaften haben sich nicht überall gebildet. Und selbst unter den Gebildeten finden sich Ängste vor den Fremden und einer allzu globalen Welt. Vielleicht ist die Welt so sehr vernetzt, dass viele nur noch darüber zu stolpern scheinen?
Da ergriff er ihre Hände, richtete sie auf, dass sie wieder stehen. Und anders stolz sind auf ihr Land, in dem Fremde willkommen sind. In einem Land, das zu seinem Wohlstand steht und zum Teilen bereit ist. Als ein Volk in Vielfalt aus seiner Geschichte heraus in der Gegenwart dankbar lebt. Für eine Zukunft der Menschen einstehen, die aus Angst und Armut heraus sich vielleicht nicht anders zu helfen wussten, als das zu wählen, was sie nun mal gewählt haben.
Da ergriff er unsere Hände, richtete uns auf, dass wir wieder stehen. So widerstehen wir denen, die ein demokratisches Volk zu ihrem machen wollen, als hätte irgend jemand die Macht zu bestimmen, wer das Volk ist. So widerstehen wir denen, die andere jagen wollen oder gar entsorgen. So widerstehen wir auch denen, die das alles klein reden oder allzu höflich einfangen. Manche wissen nicht, welchen Inhalt sie gewählt haben. Sie haben die alten nicht mehr wählen wollen, die vom Berg angeblich nicht mehr in die Täler kommen. Und da wartete geschickt eine Alternative, die von Alternativen ja sonst wenig wissen will. Manche aber wissen allzu gut, wen sie gewählt haben. Und beides das Nichtwissen und das Zurückwollen in alte Zeiten ist mir unheimlich. Die bisher im Tal verborgenen rechten Tendenzen werden sichtbarer auf dem Gipfel von 12,6 %. Sie sind aus dem Tal nach oben gekommen und sprechen vom Berg herunter wie Machthaber, die jagen und sich ihr Volk zurückholen wollen, was weder ihr Volk noch ihr Recht ist. Ich bin nicht ihr Volk. Mich brauchen sie nicht zurückholen.
Da er ergriff meine Hand, richtete mich auf und hier stehe ich. Auf Bergen und in Tälern. Wir als Kirche stehen nicht über der Politik. Wir stehen auch über keiner Partei. Wir gehen in die Höhen und in die Tiefen einer Gesellschaft mit. Und wenn es dran ist, finden wir deutliche Worte. So war es nicht immer. So kann es aber sein. Wir werden später nicht sagen: wir konnten’s nicht. Wir konnten‘s nicht wissen. Wir konnten‘s nicht hören. Wir konnten‘s nicht sehen. Wir machen uns nicht zum Affen. Denn wir haben es gelesen und gehört: Auch sprachlose Geister sind machtvoll. Sie sind taub auf manchem Ohr. Gerade das macht sie so unheimlich. Sie können Argumente einfach überhören. Wir sollen die gebieterischen Worte Jesu nutzen? Diese Macht haben wir nicht. Auch werfen wir niemanden ins Feuer und niemand soll im Wasser ertrinken.
Da ergriff er deine Hände, richtete dich auf, dass du wieder stehst: Das kann nur jeder für sich sagen. Das kann jede von sich aus sagen. Ich widerstehe. Denn du kannst! Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.
Ins Gebet nehmen
Ich glaube, hilf meinem Unglauben. Am Ende steht das Gebet. Für die Eltern und ihr epileptisches Kind. Den Vater und den Sohn. Vielleicht sogar für sprachlose Geister und taube Ohren. Für Menschen, die irre gehen in der Wahl ihrer Worte und Taten. Für uns. Unsere Kirche. Für mich.
Ich glaube; hilf meinem Unglauben. Das ist der Anfang meines Gebetes. Worte gegen allen Anschein. Worte für den Widerstand. Mit einem Berg voller Fragen. Tälern voller Enttäuschung. Ich glaube, bete ich und fahre fort: hilf meinem Unglauben. Denn beides ist wahr. Ich bitte um Heilung. Doch Wunder gibt es nicht immer wieder. Ich wage die Worte des Widerstands. Ja, vielleicht werden sie verhallen. Ich stehe am Ende mit dem da, mit dem Jesus anfängt: Diese Art - und andere Unarten - kann durch nichts ausfahren als durch Beten. Also bete ich:
An dich, Gott, glaube ich; hilf meinem Unglauben.
Du kannst Menschen heilen. Dir sei geklagt, warum die einen und die anderen nicht.
Ich prüfe mein Herz. Ich kenne es nicht immer genau.
Manches Fremde ist mir unheimlich. Scheu bin ich.
Angst habe ich auch vor dem Morgen und Grauen. Völlig unbegründet.
Meinen Grund hast Du gelegt. Doch schwanke ich hin und her.
Dann wird es plötzlich wie Licht. Stille.
Als wäre es Tod. Doch es wird Leben.
Du hast die Macht. Halt mich fest.
Ich weiß nicht immer wohin mit mir und mit dir.
Doch ich will, dass mein Herz dich festhält und Ruhe findet. In dir.
Nimm mich bei der Hand, richte mich auf,
dass ich stehen kann, widerstehen kann.
Ich war in Tälern und auf Bergen.
Im Glauben und im Unglauben, bist du nah bei mir.
Du tust mir gut. Im Elend war ich. Mit dir nicht allein.
Ich glaube. An dich Gott. Hilf meinem Unglauben.
Amen.
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Ist Heilung möglich?- Predigt zu Markus 9,14-27 von Norbert Stahl
Liebe Gemeinde,
ein Satz aus dieser Heilungsgeschichte treibt mich besonders um. Die steile Aussage Jesu: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ – Ist das wirklich so einfach?
In den Sommerferien besuchten meine Frau und ich in der Nähe von Frankfurt unsere Freundin Sabine. Sie betreibt dort seit einigen Jahren ein christliches Café. Wir hatten uns länger nicht gesehen. So gab es einiges Neues zu berichten. Kaum hatten meine Frau und ich an einem der kleinen Tische Platz genommen und unsere Bestellung aufgegeben, da setzte sich Sabine auch schon zu uns. Sogleich begann sie übersprudelnd zu erzählen. Früher gehörte sie einmal zur Landeskirche. Vor kurzem, so berichtete sie nun, hatte sie sich einer freien Gemeinde angeschlossen. Einer mit stark charismatischer Prägung, in der Heilungsgottesdienste eine wichtige Rolle spielen. Sabine erzählte begeistert von den Gottesdiensten. Beinahe jeden beinahe Sonntag gäbe es die. Sie selbst sei von einem Schulterleiden befreit worden. Jemand anderes von einer schweren Organerkrankung usw. Es sei eigentlich alles ganz einfach, man müsse die Bibel nur beim Wort nehmen. Wirklich beim Wort nehmen. Insbesondere die Stellen, die von Heilung sprechen und dann diese Stellen und Verheißungen ganz für sich in Anspruch nehmen, so als sei die Heilung im Grunde schon passiert – oder so ähnlich. Jedenfalls würden erstaunliche Dinge in dieser Gemeinde passieren. Es sprudelte dermaßen aus Sabine heraus, dass meine Frau und ich zunächst kaum dazwischenkamen. Nur nach und nach gelang es uns. Ich erzählte Sabine die Geschichte von Matthias.
Ich lernte ihn und seine Familie in meinen Jahren auf der Ostalb kennen. Matthias hatte eine ähnliche geistliche Biographie wie Sabine. Wie sie war er lange Landeskirchler gewesen, sogar Kirchengemeinderat. Irgendwann muss ihm die Landeskirche aber zu ungeistlich geworden sein, vielleicht waren ihm auch die Ortspfarrer zu liberal gewesen. Jedenfalls beteiligte er sich an einer Gemeindeneugründung. Die sollte auf jeden Fall geistlicher und moderner sein, als jene, die er vor Ort erlebt hatte. Die Neugründung hatte schnell einigen Erfolg und guten Zuspruch. Die Gottesdienste waren voll, die neuen Lieder wurden von einer Band begleitet, vor der Predigt gab es ein Anspiel. In der Kinder- und Jugendarbeit wurde viel getan. Bis heute hat diese Gemeinde einen guten Zulauf. Dann ereignete sich das Unerwartete. Bei Matthias wurde ein schweres Krebsleiden diagnostiziert. Man kann sich vorstellen, dass in seiner neuen Gemeinde viel für ihn gebetet wurde. Dass viele Gemeindeglieder fest an seine Heilung glaubten. Trotzdem: nach langem, schwerem Leiden ist Matthias verstorben. Ein herber Schlag für alle, die ihn kannten. Was war hier passiert?! Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt!
Hier war fest geglaubt und intensiv gebetet worden – und nun das! Meine Frau und ich haben noch einige Zeit mit Sabine diskutiert.
Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt – ist das wirklich so einfach? Man muss die Verheißung nur ergreifen, nur fest genug glauben, dann klappt das mit der Heilung? Eigentlich lehrt ja schon das Beispiel von Matthias etwas anderes. In seiner neuen Gemeinde war ja fest geglaubt, intensiv gebetet und alles von Gott erwartet worden. Vielleicht mehr noch, als das in seiner früheren landeskirchlichen Gemeinde der Fall gewesen wäre. Aber nicht einmal unter diesen Umständen konnte er geheilt werden.
In der Logik von Sabine müsste ich nun fragen: Hat da jemand zu wenig fest vertraut? Matthias selbst oder vielleicht sein Pastor? Oder vielleicht beide? Hat vielleicht einer von beiden zu wenig auf die eine Karte des Glaubens gesetzt? War da vielleicht doch noch ein leiser Zweifel am erhofften Ergebnis und hat es deshalb nicht funktioniert? Mir widerstreben all diese Überlegungen. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass jemand über die Heilungsgeschichte von heute Morgen gesagt hat, sie sei ein Predigttext „mit Risiken und Nebenwirkungen“.(Michael Werner in a&b 17/2017, 10-16) Ich finde das sehr treffend. Die Geschichte von der Heilung des kranken Jungen hat einerseits das Potential zu helfen. Sie kann Hoffnung spenden, sie kann dazu beitragen, dass ein kranker Mensch sich nicht aufgibt, dass sein Lebenswille gestärkt wird, dass ihn die Barmherzigkeit, mit der sich Jesus dem kranken Jungen zuwendet guttut: Auch mich lässt Jesus in meinem Leiden nicht allein. Auch mir wendet sich Jesus zu. So kann die Geschichte wirken, wie ein gutes Medikament. Aber wir wissen auch: Gerade die hochwirksamen Medikamente haben oft unerwünschte Nebenwirkungen. Manchmal sogar solche, die wiederum gefährlich werden können für den Kranken. Markus 9 – eine Heilungsgeschichte mit Risiken und Nebenwirkungen.
„Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“? Macht dieser Satz angesichts der beschriebenen Gefahren überhaupt Sinn? Der Schlüssel könnte darin liegen, dass Jesus diesen Satz gar nicht zu dem Vater des kranken Jungen sagt. Der Vater bezieht die Worte Jesu zwar gleich auf sich, aber ich glaube, darin liegt zumindest teilweise ein Missverständnis. Lesen wir noch einmal genau! Der Vater bittet Jesus:
„Wenn du etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns! Jesus aber sprach zu ihm: Du sagst, wenn du kannst – alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“(9,22f)
Genau genommen spricht Jesus hier über sich selbst. Er beschreibt sich selbst als denjenigen, der wahrhaft glaubt. Also als jemand, der glaubt ohne jeden Zweifel; als einen, der sein ganzes Vertrauen ohne irgendeinen Vorbehalt in seinen himmlischen Vater setzt, der alles von ihm erhofft, erwartet, erbittet – in großer Gewissheit, auf einzigartige Weise mit Gottes Kraft verbunden zu sein. Für mich ist klar: So kann kein Mensch glauben. So hat nur Jesus geglaubt. Die Jünger beschreibt Markus immer wieder als solche, die das Wesentliche gerade nicht verstehen, die manches Mal sogar in Angst und Schrecken verfallen statt in Lob und Anbetung. Zwar werden auch von den Jüngern Wunder berichtet. Im Markusevangelium allerdings – soweit ich sehe – nur an einer einzigen Stelle, fast beiläufig. Stattdessen betont Markus immer wieder den großen Abstand zwischen Jesus und seinen Jüngern. An vielen Stellen beschreibt er ihr Unverständnis – obwohl sie doch viel näher an Jesus dran waren als alle anderen. Um wieviel mehr hätten sie es eigentlich besser wissen und besser tun können. Wunder vermochten sie allenfalls punktuell zu wirken. Keineswegs in dem Ausmaß und mit einer solchen Verlässlichkeit, wie das Jesus möglich war. Die Geschichte von der Heilung des Jungen beginnt nicht zufällig gerade mit der Diskussion über das Unvermögen der Jünger. Der Vater sagt zu Jesus:
„Meister, ich habe einen Sohn, der hat einen sprachlosen Geist. Ich habe mit deinen Jüngern geredet, dass sie ihn austreiben sollen, aber sie konnten’s nicht.“
Das Risiko der Geschichte von der Heilung des kranken Jungen – um noch einmal auf Risiken und Nebenwirkungen zu sprechen zu kommen – das Risiko besteht darin, genau diesen Abstand, der zwischen Jesus und uns Menschen besteht zu übersehen oder zu überspielen. Die Geschichte von heute Morgen macht sehr deutlich, dass es diesen Abstand gibt. Jenen Abstand, der auch in dem herausgeschrienen Bittruf des Vaters zum Ausdruck kommt: „Herr ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ Über diesen Ausruf kommt kein Glaubender hinaus. Und sei er der Pastor einer charismatischen Gemeinde.
Ich glaube sehr wohl, liebe Gemeinde, dass es Sinn macht um Heilung zu beten. Ich glaube auch, dass es unter Gebet zu erstaunlichen Heilungen kommen kann. Aber wo und wann es passiert, das bleibt letzten Endes unverfügbar. Immer wieder schmerzlich unverfügbar. Kein Mensch kann von sich behaupten, Heilungen in einem solchen Ausmaß und mit einer solchen Verlässlichkeit wie Jesus selbst hinzubekommen. Das sind leicht nachvollziehbare Wünsche und Phantasien. Unheilbare chronische Leiden und lebensbedrohliche akute Erkrankungen sind schwer zu ertragen. Zu allererst für die Betroffenen, oftmals auch für ihre Angehörigen und Freunde. Es ist so verständlich, dass wir uns einen leichteren Weg wünschen. Auch einen, der uns vor langwierigen und belastenden Therapien bewahren könnte. Aber so einfach ist es nicht. „Die Jünger vermochtens nicht.“ – das ist auch unsere Erfahrung. Auch wir vermögen es nicht. Allenfalls hier und dort einmal, ohne aber sagen zu können, wieso es manchmal klappt und so oft auch nicht.
Handauflegung, Salbung und persönliches Gebet sind uns als Christen dennoch aufgegeben. Es ist schön, dass sich auch landeskirchliche Gottesdienste gibt, die Handauflegung, Salbung und persönliches Gebet beinhalten. In der Leonhardskirche in Stuttgart z.B. hat ein Team einen sensiblen Weg gefunden, all diese Dinge anzubieten. Mehrmals im Jahr. Die Gottesdienste heißen allerdings nicht Heilungsgottesdienste sondern Heilsame Gottesdienste für Leib und Seele. Das signalisiert: Mit Heilungsversprechen ist man hier vorsichtig. Vor kurzem war ich mal wieder dort. Die Lieder, die Salbung, das Handauflegen, der persönliche Zuspruch haben mir gut getan. Das Ganze hatte für mich tatsächlich etwas Heilsames. Und das ist auch etwas wert. Das ist auch hilfreich.
Und der Friede Gottes…
Amen.
Vorschlag zur Liturgie
Eingangslied: EG 437,1-4
Psalm 63 (EG 729)
Wochenlied: EG 346,1-3
Predigtlied: EG 369,1.2.7
Schlusslied: EG 171,1-4 oder EG 565,1.4.5
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Vom Leben nach dem Willen Gottes und der familia Dei - Predigt zu Markus 3,31-35 von Lars Charbonnier
„Nur ein Streifen Silberpapier, weiter nichts. Aber das Mädchen mit dem Diamanten im Nasenflügel hatte ihn berührt, und er roch immer noch nach Pfefferminze. Tauber faltete ihn auseinander, bis er ein glänzendes Rechteck ergab, voller knittriger Linien. Sein Zeigefinger zitterte über die Silberbeschichtung, als versuche er, die geheime Botschaft der Linien zu entschlüsseln. Vorsichtig schob er das Papier in die Tasche seines grauen Regenmantels.Seine Augen glitten über den vertrauten Heimweg, ohne sich irgendwo festzuhalten. Was er sah, lag Minuten zurück: Das Mädchen wickelt das Kaugummi aus, wirft das Papier achtlos auf den Bahnsteig, während sie den weichen Streifen in den Mund schiebt. Sie umfasst den Hals des hochgewachsenen, blonden Jungen, bedeckt mit ihren schlanken Händen die kleine Narbe an seinem Nacken. Sie sehen sich in die Augen, versunken in ihrer eigenen Welt, während ihr Kiefer mechanisch vor und zurück mahlt. Sie küssen sich, kurz erst und spielerisch, wie zur Probe; dann noch einmal, sehr lange. Sie holt Luft, lächelt, während er wie benommen dasteht, ein wenig verwirrt und überaus glücklich. Und dann kaut er, kaut ihr Kaugummi, während sie ihm lachend zuwinkt und in der S-Bahn verschwindet.“1
Unscheinbar ist diese Szene. Die wenigsten werden sie überhaupt wahrgenommen haben. Wie so vieles, das passiert, neben uns, um uns herum, vor und nach uns. Unscheinbar ist diese Szene, und doch enthält sie alles, was das Leben schön machen kann: Überraschung und Sinnlichkeit, Zuwendung und Zärtlichkeit, Liebe und Kraft, die sich übertragen, überfließen, sich verschwenden an alle, die sie sehen wollen, die sie spüren wollen. Es sind nicht immer die großen Ereignisse, die besonderen Erfahrungen, die unser menschliches Leben prägen. Ganz oft sind es diese kleinen Begebenheiten mitten im Alltag, die uns berühren, anrühren, in Schwingung versetzen, Verbundenheit fühlen lassen. So, wie Tauber.
„Tauber schloss die Tür der kleinen Wohnung auf, holte das Silberpapier aus der Manteltasche und glättete es mit Daumen und Zeigefinger. Auf dem dritten Regalboden von unten, zwischen dem Schnuller und dem roten Spielzeugauto, fand er einen geeigneten Platz. Das rote Spielzeugauto. Ganz vertieft hatte der kleine Junge damit gespielt, in der Sandkiste auf dem Spielplatz der Wohnsiedlung. Tauber hatte ihn von seinem Fenster aus beobachtet. Selbst auf diese Entfernung hatte er das Vibrieren der Lippen zu erkennen geglaubt, wenn der Junge „Brumm, brumm!“ machte. Dann war der Mann mit dem Bart gekommen. Der Junge hatte aufgeblickt. Einen Moment hatte er geblinzelt, verwirrt, verunsichert. Er war aufgesprungen, auf den Mann zugelaufen, hatte seine Oberschenkel umarmt, und der Mann hatte ihn hochgehoben und gedrückt und in die Luft geworfen und wieder gedrückt. Sie waren gegangen, und das rote Spielzeugauto war zurückgeblieben. Tauber wärmte sich an der Erinnerung wie an einem Kohleofen im Winter, und es tat weh, wie Wärme eiskalten Händen wehtut.“
Von Resonanz spricht der Soziologe Hartmut Rosa2 in seinem faszinierenden Buch einer Soziologie der Weltbeziehung und erklärt damit das Zentrale unserer menschlichen Welt in einer für mich sehr überzeugenden Weise. Es geht für Rosa darum, dass wir Menschen beziehungsweise leben, also in guten, in förderlichen, überhaupt in Beziehungen leben zu uns selbst, unseren Mitmenschen und zur Welt und am Ende darin auch zu Gott. Denn wo das gelingt, sind wesentliche Bedürfnisse des Menschen erfüllt: Dort, wo ich in Resonanz lebe, fühle ich mich zugehörig. Dort, wo ich in Resonanz lebe, entwickle ich Vertrauen. Dort, wo ich in Resonanz lebe, wird mir etwas wichtig. Das kann zeitlich nur ganz kurz sein, wie bei Tauber am Bahnsteig, es kann aber auch länger dauern. Manchmal ein Leben lang, so wie bei Verwandten, in Partnerschaften, in Eltern-Kind-Beziehungen, in Freundschaften, in Verbundenheit zu Orten und Dingen. Zwei wesentliche Faktoren im Einfluss auf das je individuelle Erleben der eigenen Beziehungen zur und in der Welt beschreibt Rosa: Es kommt darauf an, was ich mitbringe, und es kommt darauf an, welche Haltung ich einübe. Und das hängt stark ab von den Erfahrungen, die ich im Leben mache. Wenn es drauf ankommt, ist das zweite wichtiger als das erste.
„In der Nacht lag er lange wach, sah immer wieder das junge Paar auf dem Bahnsteig, empfand die Wärme und Fröhlichkeit und Traurigkeit dieses magischen Augenblicks. Wenn er nicht aufpasste, stahlen sich Bilder dazwischen von roten Lippen und lachenden Augen und kleinen Händen. Bilder, die auf seiner Seele brannten wie Alkohol auf offenem Fleisch.In dieser Nacht hatte er einen beunruhigenden Traum. Das Kaugummipapier spiegelte sein graues Gesicht, verschwommen und zerknittert. Nach einer Weile löste sich das Spiegelbild auf, verschwand einfach, und mit ihm die Hand, die das Papier hielt. Es schaukelte zu Boden wie ein Herbstblatt, landete unbeachtet zwischen den Füßen vieler Menschen, bis es zertreten war, nur noch Unrat am Straßenrand.Tauber wusste, was der Traum bedeutete, obwohl er sich den ganzen Morgen gegen die Erkenntnis gewehrt hatte. Zu groß war seine Furcht, dass sie ihn auslachen oder gleich in eine Anstalt für alte Leute einliefern würden, die irgendwelchen Müll in ihren Regalen sammelten. Fremde Menschen. In seiner Wohnung. Er sah schon ihr schlecht überspieltes Erschrecken, wie sie ihm zuhörten, hin und wieder nickten und dabei ihre Blicke vor Scham in den Teppich bohrten. Aber er wusste, es gab keinen anderen Weg, wenn er das Einzige bewahren wollte, das er in all den langen, leeren Jahren geschaffen hatte.“
Resonanz erlebe ich auf mindestens zwei Weisen: Ich kann sie passiv erfahren oder aktiv gestalten. Ich kann mich hineingeben in diese Welt und alles, was sie mir ermöglicht. Und ich kann diese Welt gestalten, sie mir aneignen, auf mich beziehen, ihre Aufmerksamkeit auf mich richten. Dafür brauche ich Mut, Zuversicht, Vertrauen. Und zaghaft geht es oft los...
„Er begann also mit der alten Frau Schneider. Sie war immer so nett zu ihm, das musste reichen. Er traf sie, als sie mit zwei Plastiktüten von Aldi nach Hause kam, trug ihre Tüten die Treppe hinauf. Er hatte das noch nie getan, also schöpfte sie Verdacht. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, als er sie fragte, ob er ihr etwas zeigen dürfe. „Was denn?“ „Es ist nur ... eine Sammlung.“
Da musste sie lachen. „Doch nicht etwa eine Briefmarkensammlung? Mein Herbert hat Briefmarken gesammelt, wissen Sie. So haben wir uns kennengelernt. Er hat gefragt, ob er mir seine Briefmarkensammlung zeigen dürfte. Und er hat das wirklich so gemeint.“ Sie lächelte, und die junge, anmutige Frau, die noch immer unter all der überschüssigen Haut steckte, lugte aus ihren Augen.
Er führte sie in seine Wohnung. Einen Moment lang standen sie vor dem Regal und wussten beide nicht, was sie sagen sollten. Dann fasste sich Tauber ein Herz und begann zu erzählen. Erst, als der tiefgefrorene Fisch in der Aldi-Tüte in ihrer Wohnung längst aufgetaut war, schloss er: „Das ist sie nun also, meine Sammlung.“ Er zwang sich, sie anzusehen.
Sie stand nur da, schluckte ein-, zweimal, fasste sich ans Auge, als sei ihr ein Insekt hineingeflogen. Dann ging sie, wortlos.“
Da ist es passiert: Der Satz ist gesagt. Die Berührung ist gemacht. Die Email verschickt. Der Termin vereinbart. Und die volle Wucht des Risikos steht im Raum: Wie kommt das an? Hat sich der Mut gelohnt? War es wirklich richtig? Ist das nicht doch alles zu ungewöhnlich, zu anders, so gegen den gesunden Menschenverstand? Einem Fremden helfen? Einer Unbekannten Zuwendung schenken? Einen Kranken pflegen? Einer Bettelnden geben? Tun, was dran ist, jetzt gerade, gegen jede Tradition und Konvention?
„Wenige Minuten später befreite die Türglocke Tauber von seiner Enttäuschung. Frau Schneider hielt einen vergilbten Briefumschlag in beiden Händen. „Ein Liebesbrief. Der erste von meinem Herbert. Er hat eine französische Sondermarke, sehen Sie? Obwohl der Brief in Kaufbeuren abgestempelt ist. Die bei der Post haben es nicht gemerkt!“ Sie lächelte. „Das war dann immer ein Spiel zwischen uns: Er schrieb mir Briefe mit Marken aus Marokko oder Bolivien oder Neuseeland. Ein paar Mal habe ich Nachporto zahlen müssen, aber meistens nicht, und dann haben wir uns immer gefreut.“ Eine kurze Pause entstand. „Ich dachte, vielleicht, für Ihre Sammlung ...“
Es gab nichts, was sich in diesem Moment zu sagen gelohnt hatte. Tauber nahm den Brief mit zitternden Händen und legte ihn neben das rote Spielzeugauto. Er sah ihre Freude, und ehe er es verhindern konnte, zogen sich auch seine Mundwinkel nach oben. Es war ein ungewohntes Gefühl.“
Aus dem Zweifel wird Gewissheit. Ja, es war richtig. Ja, das Wagnis hat sich gelohnt. Ja, eine Beziehung ist entstanden. Und die Welt zeigt ein neues, ein anderes Gesicht.
„Ein paar Tage später klingelte Frau Henke aus dem dritten Stock. Frau Schneider hatte ihr von Taubers Sammlung erzählt, genau wie Herrn Breitkamm. So fing es an.
Immer häufiger ertönte Taubers elektronischer Gong, der so lange unbenutzt gewesen war. Die meisten wollten nur mal gucken und gingen rasch wieder. Manche grinsten, manche lachten, manche machten Witze, manche klopften Tauber auf die Schulter. Doch manchmal hörte auch jemand einfach nur zu. Und verstand. Einige von diesen kamen zweimal, und beim zweiten Mal brachten sie selbst etwas mit: unscheinbare kleine Dinge, nur Müll in den Augen vieler. Sie lächelten, wenn sie ihre eigenen Geschichten vom Glück erzählten. Und manchmal lächelte Tauber mit.“
Menschen kommen zusammen und erzählen. Sie erzählen ihre Geschichte, wie sie waren, wer sie sind. Was sie geprägt hat an Zeit und Umwelt, was sie entschieden haben, welche Schicksalsschläge sie erlitten, welches Glück sie ergriffen hat. Und im Erzählen wächst Verbundenheit. Im Erzählen wird das Glück geteilt und vermehrt. Alles schwingt zusammen. Und Herzen werden weit und Seelen atmen Erlösung.
„An einem Dienstag im Mai, draußen herrschte Schmetterlingsluft, fühlte er sich stark genug. Er holte den Pappkarton hervor, der all die Jahre ganz hinten in der Abstellkammer auf diesen Tag gewartet hatte. Das war noch übrig von seinem eigenen Glück: ein Fotoalbum. Eine Mappe, darin Geburtsurkunden, Schreiben von der Versicherung, das Familienstammbuch. Ein Hase aus abgegriffenem Plüsch. Und das Foto, das Sophie mit den Zwillingen zeigte, ein Picknick am See, in der Woche vor dem Unfall.
Lange saß Tauber auf dem Boden, zwischen Eimer und Staubsauger, und hielt sich mit beiden Händen an dem schmalen Silberrahmen fest. Endlich stand er auf und stellte das Bild in seine Sammlung.“
An ihren Taten sollt Ihr sie erkennen! Dieser Vers des 1. Johannesbriefes könnte eine Überschrift sein für alle prägenden Texte dieses Sonntags: Den Wochenspruch wie das Evangelium und auch den Predigttext. Sie alle antworten auf die Frage, woran denn zu erkennen ist, das ein Mensch nach dem Willen Gottes lebt. Sie alle zeigen auf, dass die Gemeinschaft derer, die nach dem Willen Gottes leben, trägt und hält, mehr noch als alle Beziehungen und Lebensmuster, die wir sonst so kennen. Wer so lebt, kennt Erlösung. Wer so lebt, spürt Heil. Wer so lebt, fragt danach, wem er Nächster werden kann. Wer so lebt, fragt danach, welchem der Geringsten sie Gutes tun kann. Wer so lebt, lebt im engen Netz seiner wahren Familie. Und das ist weniger skandalös oder anstößig als vielmehr Konsequenz einer Theologie, die in ihrer Mitte von Erlösung und Heil spricht und die Beziehung, die Resonanzverhältnisse als ihr wesentliches Mittel und Ziel versteht.
Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir. Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.
1 Die Geschichte, die diese Predigt durchzieht, trägt den Titel „Taubers Sammlung“, Quelle: Karl Olsberg, Ein Streifen Silberpapier. Geschichten vom Glück, Frankfurt a.M., 2005.
2 Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.