Fürchtet euch nicht vor ihnen! - Predigt zu Matthäus 10, 26-33 von Gerhard Ulrich
Liebe Gemeinde!
„Fürchtet euch nicht…!!! Dreimal hämmert der Text, den wir eben als Evangelium gehört haben, uns das ins Gehör. Fürchtet euch nicht vor ihnen, die euch Böses wollen. Die euch nachstellen. Die Falsches behaupten: fake News über euch verbreiten und über die Welt. Fürchten müsst ihr euch nur vor dem, was nicht vor aller Augen offen daliegt. Es ist aber „…nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird.“ Keine Verschwörung Gottes, keine Manipulation der Sinne. Die Menschen damals, vor mehr als 500 Jahren, die sich ausgeliefert sahen den Mächten und Mächtigen, die keine Chance hatten, zu verstehen oder gar sich einzumischen: sie fürchteten sich vor denen, die sie klein hielten und ausbeuteten, abhängig machten. Ihnen galt das „Fürchtet euch nicht“ Jesu, das die Reformatoren verstärkten: Ihr seid Gottes geliebte Kinder! Euch gilt seine Gnade, seine Liebe. Euch will er brauchen.
Fürchtet euch nicht: diese Ermutigung können wir brauchen in einer Zeit, in der wir uns sehr wohl fürchten um unser Leben, das bedroht ist von einem unsichtbaren Virus. Der eben nicht offenbar ist, außer in seiner Wirkung. Der unser tägliches Leben, wie wir es gewohnt waren und wie wir es brauchen, zu Teilen außer Gefecht setzt. Der dafür sorgt, dass Kultur und Gemeinschaft, dass alles, was Leben fördert, bedrohlich wird, weil zu große Nähe und zu kleine Abstände zwischen uns nicht heil, sondern krank machen. Der unsere täglichen Freiheiten einschränkt. Wir fürchten uns vor dem Erreger, der Millionen Menschen weltweit infiziert und Hunderttausende getötet hat, der Gesundheitssysteme an ihr Limit bringt und darüber hinaus, der Menschen und Betriebe in den Konkurs treibt, der die Kluft zwischen Armen und Reichen weltweit übel vergrößert. Es ist zum Fürchten, finde ich, wenn Existenzen zu Boden gehen und Arbeitsplätze wegbrechen und der Schrecken offenbar kein Ende nimmt und wir mittendrin sind, unausweichlich, ausgeliefert. Und der in unserer Gesellschaft ein Gesicht offenlegt, das nicht freundliche Solidarität, Empathie und Verantwortung zeigt, sondern zu oft Egoismus, Hass und Leugnung dessen, was offenbar ist. Aber die wahre Hölle ist woanders: da, wo der Virus den Hunger verstärkt, wo Klimakatastrophen Leben unmöglich machen; wo Menschen im Meer ertrinken auf der Flucht; wo in Flüchtlingslagern der Welt Menschen umkommen und dem Virus und anderen Schrecken nicht entkommen können; wo die Welt zurecht-gelogen wird und der Blick verweigert wird über den Tellerrand der eigenen bürgerlichen Sattheit hinaus. Die Hölle ist nicht da, wo wir uns einschränken müssen, um uns und andere zu schützen. Die Hölle ist nicht der Mund- Nasenschutz.
Ich finde schon zum Fürchten jene, die keinen Respekt zeigen gegenüber der Realität der Welt – weil sie die offenbare Realität der Welt nicht wahrhaben wollen in ihrer Angst und Schuldige suchen, Mahnerinnen und Mahner bedrohen: um so zum Schweigen zu bringen, was Angst macht, eng und lahm. Ich finde zum Fürchten, wenn Hunderttausende, die an dem Virus gestorben sind, nicht gesehen, nicht betrauert werden und nicht zur Umkehr bringen. Ich finde zum Fürchten manche, die sich brüsten, sich nicht zu fürchten
„Fürchte dich nicht vor ihnen“. Jesus ermutigt die Seinen, den Kopf zu heben, sich der Anziehungskraft des Fürchterlichen zu entziehen: da ist nicht nur die Realität der Welt, da ist auch Gottes Realität in ihr! Er macht offenbar, was verborgen ist. Und er selbst bleibt nicht verborgen, zeigt sich in dem, den er gesandt hat zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen! Rauf auf die Dächer. Auf den Mund!
Matthäus überliefert die Worte unseres Predigttextes innerhalb der so genannten „Aussendungsrede“ an die Seinen: „Siehe, ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe“, hatte er gesagt. Geht hin. Erzählt vom nahen Himmelreich. Heilt. Geht an der Seite der Schwachen und Elenden. Habt Acht auf Euch und sie. Und stellt euch darauf ein, dass euer Weg kein Spaziergang ist, sondern rechnet mit Widerspruch, Widerstand. Und vertraut darauf, dass aller Schrecken nicht die Sprache verschlagen muss.
„Was ich euch sage in der Finsternis, redet im Licht; und was euch gesagt wird ins Ohr, das verkündigt von den Dächern.“ Damit offenbar ist beides: was zum Fürchten ist und was aufhilft, heilt und zurechtbringt.
Zu einer der vielen Talkshow-Runden zu Corona war die Schriftstellerin Thea Dorn zu Gast. Sie sei kein gläubiger Mensch, sagt sie. Überhaupt: „Wir sind eine vom Glauben abgefallene Gesellschaft“, die nicht mehr an ein Paradies oder das ewige Leben glaubt. Dann aber erzählt Frau Dorn, wie sie auf dem Weg zum Studio an einer Kirche vorbeigekommen sei. Draußen hing ein großes Transparent mit einem Zitat aus einem der Paulusbriefe. „Und ich“, so Dorn, „hätte nicht gedacht, dass ich mal in einem Fernsehstudio sitzen würde und sagen werde: Der klügste Satz, den ich heute gehört habe, war ein Bibelzitat von Paulus! Und zwar stand da drauf: ‚Gott hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit‘.“ Der Satz habe sie „in einer gewissen Weise umgehauen, weil ich den Eindruck habe, wir lassen uns im Augenblick massiv vom Geist der Furcht leiten und nicht vom Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Und ich glaube, dass das nicht gut ist, wenn die Gesellschaft anfängt, sich vom Geist der Furcht bestimmen zu lassen.“
Von Gottes Wort regierte Herzen regieren die Welt anders: mit Liebe, zur Freiheit, barmherzig. Solche Herzen sind unruhige Herzen, die sich nicht zufrieden geben mit dem, was immer schon so war. Was wir erleben und erleiden, ist nicht alles. Da ist nicht nur Hölle, da ist auch Himmel. Die heben den Blick und sehen die Welt, nicht nur sich selbst: nicht müssen bleiben Hass und Verfolgung; Ungerechtigkeit zwischen Arm und Reich ist nicht gottgewolltes Schicksalsgefüge, sondern von Menschen entfachter Irrsinn; das Recht der Starken gegen die Schwachen ist nicht der Weg des göttlichen Heils, sondern menschlicher Irrweg; der Wert des Menschen und seine Würde hängen nicht ab von Leistung und Reichtum, Schönheit und Klugheit! Das Wort Gottes selbst will frei machen von Zwängen. Frei machen, indem es offenbart beides: die Realität der Welt und die Realität Gottes in ihr.
„Fürchtet euch nicht“ – das heißt ja nicht: es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Den gibt es sehr wohl: ein außer Rand und Band geratener Markt macht Angst; Diktatoren, die auf ihr eigenes Volk losgehen, machen Angst. Nicht wissen, ob der Lohn für die eigene Arbeit zum Leben reicht, macht Angst.
Fürchte dich nicht, heißt: schau hin, ruf es von den Dächern, was Gott will; sieh hin, wie er sich stellt an die Seite der Armen und Schwachen, der Elenden Stimme ist.
Ich weiß natürlich: das Offenbar-Werden, das Offenbar-Machen ist noch kein Wert an sich. Eine Befreiung wird das erst, wenn zugleich offenbar, hörbar, sichtbar und glaubbar wird Gottes Liebe, Gottes Geschichte mit der Welt. Das „Fürchtet euch nicht“ ist nur im Zusammenhang mit der Gottesfurcht eine befreiende Kraft, eine Realität. „Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle. Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater.“
Auch das ist offenbar, ist Realismus Gottes: Gott wirkt. Ihm ist nicht gleichgültig, was geschieht. Gott sagt nicht, dass kein Spatz mehr zu Boden fällt und kein Mensch ohne Leid bleibt. Er sagt nicht, dass alle genesen, dass alle überleben und dass alles gut wird. Er leugnet nicht das Kreuz – Zeichen des Lebens und der Hoffnung durch den Tod hindurch. Aber er verheißt seine Gegenwart im finsteren Tal und auf satten Wiesen – durch Himmel und Hölle. Er ist es, der in Händen hält Anfang und Ende. „Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge.“
Ich bin dankbar für die vielen furchtlosen Gottesfürchter an meinem Lebensweg, die mich gelehrt haben, hinzuschauen, den Mund aufzutun und die Hände. Die mich ermutigt haben, gewiss zu sein, dass wirklich Furcht nicht ist, wo Gott selbst hörbar ist:
Dass offenbar wird, dass nicht verborgen bleibt das Schreckliche, ist eine Befreiung, wenn zugleich gewiss ist, dass offenbar wird der Wille Gottes, sein liebevolles Wort, das zurechtbringt.
Der Glaube, der die Realität der Welt sieht und die Gottes darin gleichermaßen, führt zu der Tat des Friedens, in den Widerspruch gegen Ungerechtigkeit, in die Konfrontation mit dem wieder aufstehenden Hass gegen alles Fremde. Und dieser Glaube hat Trost parat für die, die in Ängsten gefangen sind und im Hass.
Himmel und Erde kommen zusammen, wo Menschen aufstehen, den Mund auftun und die Hände und die Herzen. Wo sie nicht nur um des eigenen Vorteils willen ihre Entscheidungen treffen, sondern weil sie den Nächsten im Blick haben, den Bruder, die Schwester. Zur Reformation in die Nähe Gottes hinein sind wir gerufen.
Was uns in das Ohr gesagt wurde, das werden wir weiter von den Dächern rufen in alle Welt. „Fürchtet euch nicht vor ihnen! Schaut allein auf Christus – den Gekreuzigten und Auferstandenen!“
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es kann nicht anders sein: die dramatische Zuspitzung der Pandemie und die Sorgen der Menschen, die damit verbunden sind, stehen mir vor Augen. Jesu „Fürchtet euch nicht…“ kommt da gerade recht.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Text bietet keinen falschen Trost: Gottes Realismus schließt die Bedrohung an Leib und Seele nicht aus, sondern ein. Entscheidend: es ist Gott, der uns nicht aus den Au-gen und aus den Händen lässt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass offenbar wird, also auf den Tisch kommt die Realität der Welt und die Realität Gottes in ihr: das ist der Grund der Freiheit und für die Überwindung aller Furcht: das Fürchterliche und das Rettende sind gleichermaßen offenbar.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich muss nicht Martin Luther zitieren, um eine Predigt zum Reformationsfest zu ver-fassen…
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24.10.2021 - 21. So. n. Trinitatis
01.08.2021 - 9. So. n. Trinitatis
11.07.2021 - 6. So. n. Trinitatis
Vergnügte Ruh - Predigt zu Matthäus 11,25-31 von Dr. Wolfgang Vögele
Friedensgruß
Der Predigttext für den 2.Sonntag nach Trinitatis steht Mt 11,25-30:
„Zu der Zeit fing Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies Weisen und Klugen verborgen hast und hast es Unmündigen offenbart. Ja, Vater; denn so hat es dir wohlgefallen. Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will. Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.“
Liebe Gemeinde,
seit einiger Zeit finden wieder Gottesdienste statt, wenn auch in ungewohnter Gestalt, mit Abstand und ohne Singen, oft noch als Video. Aber es sieht so aus, als habe sich das Virus mit all diesen drastischen Maßnahmen eindämmen lassen. Alltag hat sich anhaltend verändert, jeder mußte sich erst einmal auf die neue Situation einstellen. Sachbearbeiterinnen stellten den Laptop auf den Eßtisch. Schüler lassen sich Hausaufgaben per Mail zustellen. Joggingrunden im Stadtwald ersetzen das Gerätetraining im Fitneß-Studio. Fehlende Betreuung im Kindergarten wurde und wird unter großem Aufwand zuhause organisiert. Die jungen Leute aus der WG erledigten die Besorgungen für die gefährdeten Senioren im zweiten und vierten Stock mit. Mit Phantasie und Improvisation ist vieles gelungen, es kostete aber auch unendlich viel Kraft, Nerven und Anstrengung. Es ist nun der Zeitpunkt gekommen, sich eine Pause zu nehmen. Ich möchte Sie einladen, das „Joch“ der Anspannung für einen Moment abzulegen, einmal zu seufzen und innezuhalten. Wo kann ich die Lasten meines Lebens abladen? Bei wem kann ich neuen Mut und neue Kraft schöpfen?
Auf einem bekannten Streamingportal ist im Moment ein Dokumentarfilm über Michelle Obama zu sehen, die Frau des amerikanischen Ex-Präsidenten Barack Obama. Sie hat ein Buch geschrieben über ihre Lebensgeschichte und die Jahre als First Lady im Weißen Haus. Dieses Buch hat sie bei einer mehrwöchigen Lesereise durch die Vereinigten Staaten vorgestellt. Die Dokumentation zeigt Bilder von dieser Lesereise. Mit ihren Lesungen und Interviews lockte Michelle Obama tausende von Menschen in riesige Hallen. Am ergreifendsten fand ich die Bilder von Besuchen, die Michelle Obama meist am Nachmittag vor den abendlichen Großveranstaltungen unternimmt. Sie spricht mit den Schülern von High Schools, Absolventinnen von Community Colleges, mit Leseclubs, mit den alten Damen des Frauenkreises in einer kleinen Gemeinde. Michelle Obama versteht sich wie ihr Mann sehr bewußt als Christin. Sie wuchs als Methodistin auf und wechselte später in die United Church of Christ, eine unierte protestantische Kirche, die mit der badischen und der westfälischen Landeskirche in Partnerschaften verbunden ist.
Bei diesen Nachmittagsgesprächen wollte Michelle Obama keineswegs für ihr Buch Werbung machen. Das war ohnehin ein Bestseller. Ihr Anliegen war es vielmehr, Mut zu machen. Viele ihrer Gesprächspartner kommen aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Dem setzt sie in vielen Varianten die Botschaft entgegen: Jeder kann aus seinem Leben etwas Sinnvolles und Gutes machen. Schwierigkeiten lassen sich überwinden. Und Michelle Obama ermutigt immer wieder: Laßt euch von Hindernissen und Durststrecken nicht entmutigen, haltet fest an euren Lebensträumen. Und dafür lieben sie die Menschen, die mit ihr reden, oft zu Tränen gerührt. Das mag jetzt sehr amerikanisch klingen, beinahe kitschig, zu optimistisch. Der Polizistenmord an George Floyd in Minneapolis zeigt aber, wie unüberwindlich sich der Rassismus in den USA, aber auch anderswo zu einem Hindernis für Gleichheit und politische Freiheit auftürmt. Es geht nicht nur um eine psychologische Frage, sondern auch um ein politisches Problem.
Ich fand es sehr anrührend zu sehen, wie die Gesprächspartner Obamas diese Botschaft förmlich aufsaugten und die Hoffnung annahmen. Das Leben ist eine Mischung aus Freude und Enttäuschungen. Manchmal drückt das Joch schwer, von dem Jesus spricht; manchmal ist es leichter zu tragen. Es geht darum, sich Mut zusprechen zu lassen. Es geht darum, in ausweglos erscheinenden Situationen Hoffnung zu schöpfen.
Solchen Mut schöpften die Collegeabsolventen und die Buchklub-Damen, mit denen Michelle Obama sprach. Solchen Mut benötigen wir angesichts der Corona-Epidemie, an die wir uns immer noch nicht richtig gewöhnt haben. Solchen Mut benötigten schon die Menschen des Mittelalters, die mit Seuchen wie der Pest konfrontiert waren. Anstelle von Gesprächen und Lektüren fanden sie einen ganz anderen geistlichen Weg. Das Leben war für sie eine Black Box von unvorhersehbaren Risiken und Gefahren. Deswegen betete man zu Heiligen, die jeweils für eine Gefahr, ein Risiko, eine Krankheit zuständig waren. Es entwickelte sich früh die Tradition der ‚Vierzehn Nothelfer‘: Vierzehn Heilige waren zuständig für vierzehn Gruppen von Lebensrisiken: Barbara für die Bergleute, Georg gegen Seuchen, Fieber und Krieg, Vitus gegen Tollwut und Epilepsie. Dem frommen Katalog der Heiligen entspricht ein Alltagskatalog der Gefahren und Risiken. Diesen vierzehn Nothelfern waren Altäre gewidmet, sie waren auf Bildern versammelt. Ganze Wallfahrtskirchen waren diesen vierzehn Nothelfern geweiht.
Liebe Schwestern und Brüder, ich will Sie nicht zur Erneuerung der Heiligenverehrung anregen. Ich finde aber diese Tradition wichtig, weil sie geistliches Leben und Alltagsleben miteinander verbindet. Risiken im Alltag werden geistlich bearbeitet. Aus seelsorglichen Gründen hat Martin Luther diese Tradition der vierzehn Nothelfer in einer frühen, heute vergessenen Schrift aufgenommen. Schon im Jahr 1519, also zwei Jahre nach seiner reformatorischen Entdeckung schrieb Luther die kleine Schrift „Vierzehn Tröstungen für die Mühseligen und Beladenen“ für seinen Kurfürsten Friedrich den Weisen, der schwer erkrankt war. Es heißt, Luther habe sich, als er im fortgeschrittenen Alter selbst unter Krankheiten und Sorgen litt, diese kurze Schrift immer wieder vorgelesen. Ihr Inhalt soll jetzt nicht referiert werden. Aber es ist deutlich, daß bei Luther der theologische Trost an die Stelle der Heiligenverehrung tritt. Beiden Tröstungsversuchen ist aber gemeinsam, daß die Sorgen, Risiken und Nöte des Alltagslebens sehr ernst genommen werden. Alltagsbeschwernisse und geistlicher Trost verbinden sich wie Diagnose und Therapie. Und Luther nimmt schon im Titel seiner Schrift den heutigen Predigttext auf: Tröstungen für die Mühseligen und Beladenen.
Wer ist überhaupt mühselig und beladen? Am Anfang hören sich Jesu Worte so an, als seien sie gegen Weisheit, Klugheit und Vernunft gerichtet. Seine Worte sollen sich an die Unmündigen richten im Gegensatz denjenigen, die versuchen, ihr Leben, wo es möglich ist, vernünftig zu planen und vorausschauend zu gestalten. Man könnte aus diesen Worten ein wenig väterliche Aufdringlichkeit heraushören. So sind sie aber nicht gemeint.
Viele Menschen bemühen sich sehr, ihr Leben unter Kontrolle zu behalten. Sie wollen nichts dem Zufall überlassen, alles im Griff haben. Darin steckt etwas Richtiges – aber nur solange niemand meint, ein Lebensweg lasse sich durch Klugheit, Vernunft und Weisheit vollständig beherrschen.
Ich will nichts dem Zufall überlassen: Diese Wendung ist verräterisch. Denn jeder, auch der weiseste, vernünftigste und klügste Mensch kommt einmal in Situationen, in denen er sich hilflos, wehrlos, ohnmächtig und schwach fühlen wird. Er kommt in Situationen, die er nicht vorausgesehen hat – wie die Corona-Epidemie, wie ein Tumor, der plötzlich auftritt, wie ein unverschuldeter Verkehrsunfall, wie ein nicht bestandenes Examen, wie plötzliche Arbeitslosigkeit. Jeder Schüler, jeder alte Mensch, jeder, der fröhlich und unverzagt mitten im Leben steht, wird unausweichlich mit Situationen konfrontiert, die ihm zu schaffen machen. Er muß dann erst einmal einen Anfang finden und versuchen, sie zu überwinden oder durchzustehen. Irgendwann muß sich jeder Mensch Trost und Hilfe suchen, bei Freunden im Gespräch, bei den vierzehn heiligen Nothelfern, bei Martin Luther und Michelle Obama – oder bei Jesus von Nazareth.
„Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Diese Worte sollen kräftigen, stärken, trösten. Und sie tun das auch. Aber Vorsicht: Wer sie zu oft hört, dem werden sie schal. Sie verlieren dann an Frische und Glaubenskraft. Nicht der Inhalt ist das Besondere an diesen Worten, sondern derjenige, der sie ausspricht.
Es fällt auf, wie eindringlich Jesus an dieser Stelle im Matthäusevangelium über Vater und Sohn redet. Er denkt nach über die einzigartige Beziehung zwischen Gott, dem Vater und Gott, dem Sohn, dem Menschensohn Jesus von Nazareth. Eigentlich ist das eher für das Johannesevangelium typisch. Das Ergebnis dieser Überlegungen lautet ganz einfach: Wer über Gott etwas wissen will, kann das nur erreichen, wenn er sich dem Leben des Menschen Jesus zuwendet. Die Liebe Gottes ist weder Theorie noch Dogmatik. Sie ist vielmehr zuerst an einem menschlichen Leben zu erfahren und zu erkennen. Gott ist Mensch geworden, aber eben kein beliebiger Mensch, sondern ein Sohn mit Eigenschaften. Söhne sind durch eine enge Beziehung zum Vater geprägt. In seinem Umgang mit Kranken und Schwachen läßt sich Jesus von Demut und Sanftmut bestimmen.
Demut ist in der Gegenwart ein unpopuläres Wort geworden. Viele Menschen halten das für eine verdruckste und verkniffene Form der Zurückhaltung und orientieren sich lieber am öffentlich zur Schau gestellten Selbstbewußtsein von Sängerinnen, Schauspielern und Politikern. Aber dieses erscheint in seiner Mischung aus fehlendem Selbstzweifel und Selbstliebe eher als aufdringlich und penetrant. Ich bin überzeugt, daß sich Demut und angemessenes Selbstbewußtsein nicht ausschließen. Demut sorgt dafür, daß ich in meiner Lebenswelt nicht nur mich selbst sehe, sondern daß ich anderes gelten lassen und – noch mehr - respektieren kann. Demut sagt: Ich bin nicht allein in dieser Welt. Ich sehe meine Mitmenschen, die nahen und die fernen. Ich rede mit ihnen. Ich weiß, daß dieses, mein Leben endlich und verletzlich ist. Ich weiß, daß ich altern werde. Ich weiß, daß ich mit weiteren Krankheiten konfrontiert sein werde. Und so wunderbar ich dieses Leben finden mag: Ich weiß auch, daß ich sterben werde.
Das Leben ist nicht nur schön, es besitzt furchtbare Tiefen. Jesus sprach von „Dämonen“, Paulus von „Mächten und Gewalten“. Keiner kommt durch sein Leben, ohne mit diesen Mächten und Gewalten aneinander zu geraten. Das Spielfeld des Lebens ist von Mächten besetzt, die jedem gefährlich werden können. Im Moment haben die Mächte die Gestalt eines Virus angenommen. Das kann einen Menschen unruhig und trostbedürftig machen. Die unruhige Seele sucht nach Trost und Rast. Jesus spricht davon, daß die Seelen „Ruhe finden“ sollen. Eine Kantate von Johann Sebastian Bach heißt darum nicht umsonst: „Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust“.
Mir gefällt dieser Ausdruck sehr. Das Leben kann sehr unruhig werden, wenn die Zeitläufe plötzlich und unkontrolliert viele feindliche Mächte bereithalten, die sich der eigenen Seele bemächtigen wollen. Ruhe der Seelen meint in diesem Fall weit mehr als den beschaulichen Kaffee am Sonntagnachmittag, getrunken beim Verzehr eines Stücks Torte. Nichts dagegen einzuwenden! Aber hier ist eine Gelassenheit gemeint, die über den Tod hinausreicht. Jesus wirbt für Glauben und Vertrauen in Gott, die über die riskanten Mächte dieser Welt, am Ende auch über Sterben und Tod hinausreichen. Im Leben ist diese Ressource nicht immer vorhanden, man muß sie sich stets von anderen neu zusagen, übergeben lassen. Nimmt also Jesus wirklich Sorgen ab? Nicht in einem faktischen Sinn. Beim „leichten Joch“ geht es darum, sich auf ein Bild einzulassen. Wer es ernst nimmt, der merkt sofort, daß die Sorgen dann eine geringere, nachlassende Schwerkraft annehmen.
Liebe Schwestern und Brüder, niemand sollte sich seiner Mühseligkeit, seiner Lasten und Beladenheit schämen. Sich das in Demut einzugestehen, daß das Leben Hindernisse und Schwierigkeiten bereithält, ist der erste Schritt, dafür einen guten, überwindenden Umgang zu finden. Im Glauben ist dieser Umgang davon bestimmt, sich nicht mit sich selbst zu beschäftigen, sondern Trost zu suchen bei einem anderen, bei einer anderen Person oder bei Gott. Aus Jesu Worten und aus Jesu Leben läßt sich das lernen. Glauben ist täglicher, wiederkehrender Trost im Alltag.
Und der Friede Gottes, welcher im Alltag Trost spendet und uns in Demut aufrichtet, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
Nachbemerkung: Der in der Predigt erwähnte Film über Michelle Obamas Buch „Becoming“ ist auf Netflix, leider nur hinter einer Bezahlschranke, abrufbar: Nadia Hallgreen, Becoming, 2020, Netflix.
Informationen zu Bildern, Texten, Altären und Kirchen über die vierzehn Nothelfer finden sich unter den folgenden beiden Links: https://de.wikipedia.org/wiki/Vierzehn_Nothelfer und https://www.heiligenlexikon.de/Glossar/Vierzehn_heilige_Nothelfer.html.
Luthers Schrift über die vierzehn Nothelfer für Mühselige und Beladene ist ursprünglich auf Latein geschrieben. Es existiert eine Übersetzung ins Deutsche, aber diese ist leider nur sehr schwer in spezialisierten Bibliotheken zugänglich.
Der Text der erwähnten Bach-Kantate BWV 170 „Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust“ findet sich auf dieser Seite: https://webdocs.cs.ualberta.ca/~wfb/cantatas/170.html.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich predige gelegentlich in wechselnden Gemeinden im Karlsruher Raum. Auf der einen Seite sind das im Moment Menschen, die von den Auswirkungen der Pandemie immer noch betroffen sind. Auf der anderen Seite werden diese Maßnahmen im Moment im-mer weiter gelockert. Dieser Wechsel stand mir besonders vor Augen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Wort von den Mühseligen und Beladenen gehört zu denen, die im kirchlichen Raum zu Tode zitiert worden sind. Ich kam sehr schnell auf den Film über Michelle Obama, den ich mir aus einem anderen Grund kurz zuvor angeschaut hatte. Daß der Film durch den Polizistenmord in Minneapolis zusätzliche Aktualität gewann, war gar nicht vorauszusehen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Menschen, Christen, wir alle bleiben stets bedürftig nach Trost.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Diese Predigt ist einer der wenigen Fälle, in denen ich das Stichwortmanuskript, wel-ches ich vorher anfertige, vollständig umgesetzt habe. In der abschließenden Korrek-tur habe ich nur noch sprachliche Details geschärft und geglättet.
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Der Erste und der Letzte - Predigt zu Matthäus 20,1-16 von Kathrin Oxen
Meistens ging er vor uns. Wir gingen hinterher. So war es von Anfang an gewesen, eigentlich schon ganz am Anfang, als wir vom Ufer des Sees und von den Booten weggegangen waren. Immer ging er voraus, manchmal allein, manchmal auch mit einem von uns an der Seite, in ein Gespräch vertieft. Dann war es besonders schwer für die anderen, einfach nur hinterherzugehen. Meistens hielten wir dann ein bisschen Abstand von den beiden da vorne und wir gingen dann zu dritt oder zu viert nebeneinander.
Wenn wir so miteinander gingen, war es leichter, nicht immer auf den einen zu sehen, der bei ihm sein konnte, so nah an seiner Seite. Ein Platz, um den wir uns stritten, ganz ohne Worte. Denn wer mochte ihn schon aussprechen, diesen Wunsch, bei ihm zu sein, neben ihm gehen zu dürfen. Wie kleine Kinder wären wir uns vorgekommen und waren doch alle schon längst erwachsen. Aber wie Kinder achteten wir sehr sorgfältig darauf, dass die, die nach uns dazukamen, auch hinter uns blieben. Wen er zu sich nach vorne holte, darauf hatten wir keinen Einfluss. Das entschied sich, wenn wir aufbrachen. Aber in der Gruppe hinter ihm, zwischen uns, da gab es eine Ordnung. Angeordnet ohne Worte, eingehalten nur durch Blicke und Gesten. Sehr selten einmal gab es eine Hand, die den anderen beim Ärmel nahm und ihn auf seinen Platz verwies.
So gingen wir, Tage und Monate, durch Dörfer und Städte, immer in der gleichen stummen Ordnung, von niemandem angeordnet, aber von uns eingehalten. So würden wir eines Tages ankommen am Ziel unserer Wege, dachten wir. Wir meinten, es wäre gut, dann unter den Ersten zu sein, nahe bei ihm.
Das änderte sich erst, als wir uns der Stadt näherten. Nun wendete er sich öfter als sonst uns allen zu und sprach davon, was geschehen würde in der Stadt, in Jerusalem. Dass er dort leiden müsste und sterben, sagte er. Wir hörten das und wir erschraken darüber, so sehr, dass wir gar nicht mehr hörten, was er noch sagte: Dass dies nicht das Ende sein werde.
Denn für uns klang es wie ein Ende und zu Ende wäre es dann wohl auch mit unserer stummen Ordnung und mit den Plätzen, die wir unter uns schon verteilt hatten. Einer von uns wagte es, ihn darauf anzusprechen. Gott bewahre dich, Herr! Das widerfahre dir nur nicht!1 Und obwohl er das so sagte und wohl auch so meinte, bekam er eine sehr schroffe Antwort. Du bist ein Ärgernis! Dir geht es gar nicht um mich. Dir geht es um dich und um das, was aus dir wird, wenn ich nicht mehr da bin. Meinst du wirklich, ich merke es nicht, was es für eine Ordnung unter euch gibt, hinter meinem Rücken?
Wir wurden stumm nach diesen Worten. Und wir versuchten, unsere Fragen von nun an so zu verkleiden, als hätten sie mit uns gar nichts zu tun. Wer ist doch der Größte im Himmelreich?2 fragten wir. Er nahm ein Kind bei der Hand und zog es in unsere Mitte, stellte es unter uns Erwachsene. Es reichte uns nicht einmal bis zur Hüfte und über seinen Kopf hinweg sahen wir uns an.
Wie oft muss ich meinem Bruder, der gegen mich sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal?3 fragten wir. Und er nahm die Zahl, die uns schon so hoch vorgekommen war und vervielfältigte sie und gab sie uns zurück. Siebzigmal siebenmal.
Was soll ich Gutes tun, damit ich das ewige Leben habe?4 fragte einer und hatte schon eine Antwort. Und der bekam von ihm noch eine Antwort, eine, die ihn stumm werden ließ: Geh hin, verkaufe, was du hast und gib’s den Armen und komm und folge mir nach. Der reihte sich danach nicht ein in unsere Gruppe, sondern ging traurig weg.
Nach solchen Antworten ging er immer allein voran, weiter in Richtung der Stadt. Und wir gingen hinter ihm her und wussten nichts mehr zu reden. Denn es waren unsere Fragen, die er beantwortet hatte. Es waren seine Antworten, die uns stumm werden ließen.
Dann war die Stadt ganz nah. Wenn es stimmte, was er gesagt hatte, waren wir damit bald am Ende unseres gemeinsamen Weges. Bald würde es keine Gelegenheit mehr geben, ihn irgendetwas zu fragen, das spürten wir alle. Und einer von uns, Petrus, nahm allen Mut zusammen und fragte ihn noch einmal und zeigte diesmal auf uns alle dabei. Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt, was wird uns dafür gegeben?5
Das war seine Frage und unsere Frage, nicht länger verkleidet, sondern plötzlich ganz nackt. Wir sind mit dir gegangen, ohne noch einmal zurückzublicken auf den See, an dem wir schon als Kinder gespielt haben und auf die Boote mit den Fischen darin für unsere Frauen und unsere Kinder. Wir gehen mit dir, jeden Tag, ohne zu wissen, wo wir am Abend schlafen werden. Wir leben, wie du es gesagt hast, bloß von dem, was uns zufällt auf dem Weg. Wir haben doch so viel hinter uns gelassen. Was erwartet uns? Wir haben doch so viel aufgegeben. Was werden wir bekommen? Was wird uns dafür gegeben?
Zu seinem Rücken sagte er das. Er musste sie ihm nachrufen, diese nackte Frage, da auf dem Weg in die Stadt. Da blieb Jesus stehen. Er drehte sich um und sagte zu uns: Ihr werdet bei mir sein im Himmel. Ihr bekommt die besten Plätze. Niemand muss mehr hinterher gehen. Und was ihr aufgegeben habt für mich, das bekommt ihr zurück. Das verspreche ich euch. Und er lächelte uns an.
Da sahen wir einander an und waren ganz erleichtert von dieser Antwort. Wir konnten es kaum glauben. Es wird sich also doch lohnen für uns, dachten wir. Wir bekommen etwas dafür, sagten wir uns. Es war uns in diesem Moment egal, was all die anderen über uns dachten. Er hat es doch versprochen.
Gerade wollten wir uns wieder auf den Weg machen, in der gewohnten Ordnung, die uns längst in Fleisch und Blut übergegangen war. Aber er ging nicht vor uns her, sondern blieb einfach stehen. Kommt alle her, hört mir noch einmal zu, sagte er:
Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen.
Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere müßig auf dem Markt stehen und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. Und sie gingen hin.
Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe.
Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere und sprach zu ihnen:
Was steht ihr den ganzen Tag müßig da?
Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand eingestellt. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg.
Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten.
Da kamen, die um die elfte Stunde eingestellt waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und auch sie empfingen ein jeder seinen Silbergroschen.
Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben.
Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen?
Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir.
Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin? (Mt 20,1-15)
Als wir das gehört hatten, war es ganz still. Diesmal war es keine Antwort, die uns stumm werden ließ, sondern eine Frage. Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin? Wir sahen uns an, wie wir da standen in unserer Ordnung. Die er am Ufer des Sees zuerst angesprochen hatte, ganz nahe bei ihm, dann die anderen, dann die, die erst seit ein paar Wochen bei uns waren. Daran hatte sich nichts geändert, auch nicht nach seinem großen Versprechen.
Und wir merkten: Diese stumme Ordnung unter uns, unsere ewigen Reihenfolgen, all das Messen und Zählen und Berechnen, das alles hat mit ihm nichts zu tun. Es interessiert ihn einfach nicht. Er holt die zu sich, die er bei sich haben will. Das wussten wir doch eigentlich, wir hatten es ja oft genug erlebt auf dem Weg mit ihm. Aber es hatte uns noch nicht dazu gebracht, die Ordnung unter uns aufzugeben.
Hört endlich auf zu rechnen und zu vergleichen, sagte er. Wenn ihr mit mir gehen wollt, dann geht. Lasst die Ordnungen hinter euch, die ihr kennt. Freut euch an dem Weg, den wir gemeinsam gehen und an der Zeit, die ihr mit mir verbracht habt. Vom Morgen bis zum Abend bei mir zu sein, das zählt doch. Auch durch die Stunden der Mittagshitze kommen wir hindurch. Und wer nur ein kurzes Stück Weg bei mir war, der hatte doch auch so wenig von mir. Also kommt, lasst uns gehen.
Amen
Eingangsgebet:
Gott, Geber aller guten Gaben,
wir danken dir
dass du uns manches gelingen lässt.
Wir freuen uns über unsere Stärken,
sind stolz auf unsere Erfolge.
Lass uns darüber nicht selbstgerecht werden
Und auf andere herabsehen,
die weniger leisten,
oder deren Gaben unseren Augen verborgen sind.
Befreie uns von eitlem Rechnen und Vergleichen
Und schärfe uns ein,
dass wir alle
von deiner großen Barmherzigkeit leben.
(Sylvia Bukowski)
Epistel: Röm 9,14-24
Lesung aus dem Alten Testament: Jer 9, 22f.
Liedvorschläge:
EG 384 (Lasset uns mit Jesus ziehen)
EG 391 (Jesu geh voran)
EG 393 (Kommt Kinder, lasst uns gehen)
EG 409 (Gott liebt diese Welt)
EG 452 (Er weckt mich alle Morgen)
1 I Mt 16,22
2 I Mt 18,1.
3 I Mt 18,21.
4 I Mt 19,16.
5 I Mt 19,27.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt nimmt die gottesdienstliche Situation noch vor dem Beginn der Passionszeit auf. In dieser Zwischenzeit können grundsätzliche Aspekte der Nachfolge Jesu in Ruhe, auch meditativ, in jedem Fall existenziell bedacht werden. Die Predigt erzählt von da-mals und lädt gleichzeitig ein, dies aufs Heute zu übertragen. Wie steht es um Macht und Hierarchie in der Kirche Jesu Christi? Die aktuelle Debatte um den „synodalen Weg“ in der katholischen Kirche kann als Aktualisierung dieser Frage verwendet werden.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich habe endlich verstanden, dass es bei den Arbeitern im Weinberg weniger um den Gerechtigkeitsbegriff als vielmehr um das Wesen der Nachfolge geht. Und ich wollte schon immer einmal den Predigttext an das Ende einer Predigt rücken.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Meine Entdeckung war die Kontextualisierung des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg, das seinen Platz zwischen der zweiten und dritten Leidensankündigung findet. Insofern enthält es aus meiner Sicht keine abstrakten, sondern höchst konkrete Aussagen über den Charakter der Nachfolge Jesu.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die konsequente Einhaltung der gewählten Perspektive und die Kraft, auf Übertra-gungen und Kommentare ganz zu verzichten.