Dass Herz braucht Kronen – Predigt zu Matthäus 2,1-12 von Nico Szameitat
Das Herz braucht Kronen. Wer einmal Anfang Januar in Köln ist, der sollte unbedingt am 6. in den Dom gehen. Festlicher und strahlender geht kaum ein Gottesdienst, die Orgel braust, alle singen dazu „Stern über Bethlehem“ und am Ende bildet die Gemeinde eine lange Prozession, die vorne am goldenen Schrein entlangzieht. Denn nur an diesem Tag ist an dem Schrein die Frontplatte abgenommen und hinter dem goldenen Gitter ahnt man - mehr als dass man sie sieht - , drei menschliche Schädel mit Kronen darauf. Das Herz braucht Kronen.
Ja, der Kölner Dom rühmt sich, seit dem 12. Jahrhundert die Gebeine der Heiligen Drei Könige in diesem goldenen Schrein zu beherbergen. Die Heilige Helena soll sie im 4. Jahrhundert in Jerusalem gefunden haben. Eigentlich komisch, wo es doch bei Matthäus heißt, dass die Weisen zurückzogen in ihr Land. Aber vielleicht gab es ja in Jerusalem ein Altersheim für Könige.
Wohl kaum eine andere Geschichte aus der Bibel ist im Laufe der Jahrhunderte durch den Volksglauben, durch Herz und Seele der Menschen so sehr ausgeschmückt worden wie die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland. Aus einer ungenannten Anzahl von Weisen werden aufgrund der Dreizahl der Geschenke schnell drei Personen, aufgrund der Kostbarkeit der Geschenke aus den drei Personen schnell drei Könige. Und dann erhalten diese drei Könige Namen: Caspar, Melchior und Balthasar. Sie kommen von den drei im Mittelalter bekannten Kontinenten Europa, Asien und Afrika – darum ist auch einer schwarz – und sie haben drei unterschiedliche Lebensalter: Der Junge, der Mittlere und der Alte.
Und dann entstehen im ausgehenden Mittelalter die Krippenspiele und erste Krippenlandschaften und die Heiligen Drei Könige bekommen kostbarste Gewänder und Turbane sowie Karawanen mit Kamelen und Knechten. Und natürlich Kronen. Das Herz braucht Kronen.
Dabei klang die Geschichte für die ersten Hörer und Hörerinnen keineswegs märchenhaft. Matthäus greift tief in die Erzählungen und Weisheiten der jüdischen Bibel, unseres Alten Testaments, und wirft sie in seine Gegenwart.
Was Luther mit dem wunderschönen Begriff „Morgenland“ übersetzt, klang für damalige Ohren zum Beispiel eher bedrohlich. Die Weisen kamen aus dem Osten. Aber aus dem Osten konnte nichts Gutes kommen. Seit Jahrhunderten lag Israel mit den östlichen Völkern Krieg. Uralt war die Feindschaft - hatten die Völker des Ostens nicht schon Mose und das Volk auf ihrer Wanderung in das Gelobte Land immer wieder hinterrücks angegriffen? Tückische Menschen waren das. Fremde von dort konnten nichts Gutes bringen.
Eigentlich gab es nur eine Friedenszeit und die war lange her. Das war, als König Salomo, der Davidssohn, Besuch bekam von der Königin des Ostens, der Königin von Saba. Beide überschütteten sich gegenseitig mit Geschenken, mit Gold, Sandelholz und Spezereien. Und die Königin von Saba bewunderte vor allem die Weisheit Salomos. Eine uralte Geschichte von Freundschaft, Frieden und Weisheit, die auch am Horizont bei Matthäus wieder aufleuchtet, als die drei Weisen mit Geschenken aus dem Osten aufbrechen. Die Konstellation der Sterne verriet ihnen die Geburt eines neuen Königs in Israel. Und so gehen sie natürlich in die Königsstadt Israels, nach Jerusalem, nichts Böses ahnend.
Jerusalem ist die Stadt aller Völker. Hier sollen die Völker einst friedlich zusammen kommen. Hier könnten Weise und Könige aus Ost und West sich auf einem Gipfeltreffen einigen. Aber der Machthaber in der Königsstadt will keinen Friedensgipfel.
König Herodes ist entsetzt. Der Mächtige fürchtet um seine Macht, um seine Krone. Das darf nicht wahr sein! Und was nicht wahr sein darf, das soll auch nicht wahr sein. Ein neuer König an seiner statt? FakeNews! Wären sie Minister, hätte Herodes sie gleich entlassen, aber da die Weisen nicht in seinem Dienste stehen, kann er nur versuchen, sie zu instrumentalisieren und schickt sie weiter von der Königsstadt zur Davidsstadt, von Jerusalem nach Bethlehem. Ein Stern führt sie, wie schon Bileam es prophezeite. Und sie schenken Gold und Weihrauch, wie schon Jesaja es weissagte. Aber nicht nur.
„Für den König aller Lande!“ sagt der erste, legt ein Goldstück vor die Krippe und kniet nieder. Der zweite hat ein Säckchen mit Weihrauchkörnern. „Für den König aller Himmel!“ sagt er und kniet nieder. Der dritte hat einen Balsam dabei. Maria erkennt den bitteren Geruch: Myrrhe. Sie weiß, damit werden Wunden behandelt. Und damit werden Tote balsamiert. „Für den Menschen mitten unter uns!“ sagt der Dritte leise und kniet nieder. Drei Weise, knieend, still. Wie einst bei der Königin von Saba bleibt nur ein stilles Staunen vor dem Davidssohn, wenn der Reichtum abgelegt ist. Was für eine Weisheit ist das hier, in dem Stall? Was für eine Weisheit ist das, das dieses Kind Gottes Sohn sein sollte?
Zweitausend Jahre später ziehen Caspar, Melchior und Balthasar, als Vertreter aller Völker und aller Lebensalter von Haus zu Haus und klingeln an den Türen. Die Sternsinger sind in diesen Wochen wieder unterwegs. Vielerorts sind sie ökumenisch und vielerorts übersteigt die Nachfrage das Angebot. Das heißt, es gibt viel mehr Menschen, die einen Besuch von den Sternsingern wünschen, als es sternsingende Kinder und Termine gibt. Die Sternsinger kommen und singen. Anders als ihre Urahnen bringen sie keine Schätze, sondern sammeln Geld ein. Dafür bringen sie etwas anderes. Wie ein Schutzzeichen prangen die Buchstaben, Zahlen und Sterne, mit simpler Kreide gemalt an den Türen. C M B, 2019, Christus mansionem benedicat, Christus segne dieses Haus. Und die Sehnsucht der Menschen nach diesem Segen ist groß. Sie kommen verkleidet wie Märchenfiguren. Sie kommen singend und sie bringen den Segen in die Häuser. Der Segen, der aus einem kleinen Haus, einem Stall nur ausging. Von einem König, des Himmels und der Erden, des Weihrauchs und des Goldes. Wahrer Gott und wahrer Mensch, Myrrhenkind.
Das Herz braucht Kronen.
Und so ziehe ich durch die Wüste des Lebens,
stürmende Wolken, wirbelnder Sand,
irgendwo hinten in der Karawane.
Der Stern zieht mich voran,
die Sehnsucht nach ein wenig Glanz für mein Leben.
Die Taschen meines weiten Mantels sind voll:
mit Wüstenstaub wie mit Himmelskram.
Ich ziehe durchs Leben und brauche mich nicht zu schämen.
Weder für meine Sehnsüchte und Ängste,
noch für die Schrammen, die die Wüstendornen
schon in mein Herz gekratzt haben.
Denn unter dem Stern ist ein König,
der trägt eine Krone von Dornen
und teilt die Myrrhe mit mir.
Der streicht mir Balsam auf die wunde Seele
und flüstert mir zu:
Fürchte dich nicht.
Was auch immer dein Herz braucht,
ich bin da
und segne dich.
Amen.
Liedvorschläge
EG 45 Herbei, o ihr Gläubgen
EG 70 Wie schön leuchtet der Morgenstern
EG.E 1 Stern über Bethlehem
EG 73 Auf, Seele, auf und säume nicht
EG 24,8.15 Sei mir willkommen, edler Gast
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Z-U-K-U-N-F-T - Predigt zu Matthäus 2, 1-18 von Pfarrer Christoph Maier
Z-U-K-U-N-F-T
Z wie Zeit
U wie Unvorhergesehenes
K wie Kinder
U wie Ungewissheit
N wie Neugierde
F wie Freude
T wie Träume
Was wird die Zukunft bringen? Zwischen den Jahren ist mancher schon dabei Bilanz zu ziehen. In den ruhigen Tagen zwischen den Jahren ist Zeit die guten Vorsätze für das neue Jahr zu bedenken. Was wird die Zukunft bringen? Wie wird das mit der Gesundheit weiter gehen? Was werden die Kinder brauchen? Wo will ich Dinge ändern? Was sollte auf jeden Fall so bleiben, wie es ist? Was werden die politischen Entwicklungen bringen? (In Sachsen werden 2019 Landtagswahlen sein).
Zukunft – sie kommt. Mal freudig erwartet, mal von sorgenvollem Blick begleitet. Manche nehmen die Herausforderung, die Zukunft zu gestalten, gerne an und manche schwelgen lieber in der Vergangenheit, wo alles viel, viel besser war.
„Maria, wach auf! Es geht um unsere Zukunft. Wir müssen weg von hier. Jetzt! Sofort! Unser Baby, unser Kind, unsere Zukunft ist in Gefahr.“
Eine böse Ahnung, ein schlechter Traum, ein Engel Gottes treibt die heilige Familie zur Flucht. Der Evangelist beschreibt den Fluchtgrund so: ... damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht (Hosea 11,1): „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.“ Ob diese Story der Glaubwürdigkeitsprüfung deutscher Asylverfahren standhalten würde? Ich wage es zu bezweifeln.
Aber darum geht es nicht. Es geht um Zukunft. Darum überhaupt eine Zukunft zu haben. Kinder sind Zukunft. Sie zu bewahren ein angeborener Reflex der Elternschaft.
Es geht auch um unsere Zukunft. Daran erinnert der Evangelist Matthäus, wenn er die Geburt Jesu mit der Prophetie des ersten Testaments zusammen spricht. Der Evangelist erinnert an die Propheten der Vergangenheit, um zu zeigen, dass auch in Zukunft Vertrauen möglich sein wird; trotz Ungewissheit, trotz schlechter Prognosen, trotz widriger Umstände.
Und noch ein anderer bangt um seine Zukunft. Herodes. Er fühlt sich um seine Zukunft betrogen. Die fremden Gelehrten haben ihn hinters Licht geführt. Herodes begnügt sich nicht damit, darauf zu vertrauen, dass die Zukunft kommt. Er nimmt seine Zukunft lieber selbst in die Hand, denn es soll alles so bleiben, wie es ist. Zumindest für ihn. Und damit alles so bleibt, wie es ist, muss er vielen Anderen die Zukunft nehmen.
Der Kindermord von Bethlehem steht für die geraubte Zukunft. Ein Kind zu töten ist ein ungeheuerliches Verbrechen. Ein Kind steht für das Vertrauen in die Zukunft, die sich erfüllen wird. Wer ein Kind tötet, tötet die Zukunft. Ein Kind ist die Frucht der Liebe. Zwei Menschen haben sich aufeinander eingelassen und sind bereit Ungewissheit und Entbehrung, schlaflose Nächte und andere Sorgen auf sich zu nehmen, um eine gemeinsame Zukunft zu haben. Der Kindermord von Bethlehem soll diese Zukunft ausrotten. Einer allein möchte sich der Zukunft bemächtigen, sie bestimmen und prägen.
Aber so funktioniert die Zukunft nicht. Wer die Zukunft bestimmen möchte, wird sie verlieren. Wer möchte, dass alles so bleibt, wie es ist, wer meint sich vor Veränderungen schützen zu können, begeht ein Verbrechen an der Zukunft.
Die Vorlage für den Kindermord aus Bethlehem findet der Evangelist Matthäus im 2. Buch Mose. Zu viele Ausländer lebten in Ägypten. Das macht Angst, verändert die Zusammensetzung der Bevölkerung, bringt eine fremde Religion ins alte Ägypten. Die gehört da nicht hin. So kann das nicht weitergehen. Also befiehlt der Pharao, alle Neugeborenen der Hebräer umzubringen.
Damit alles so bleibt, wie es ist, muss er vielen Anderen die Zukunft nehmen. Mose entkommt im Weidenkörbchen und wird die Zukunft dieses Volkes und dieser Religion herausführen zu einer Zukunft, die bis zu uns heute reichen wird.
Der Evangelist Matthäus ist ein konservativer Theologe. Er erinnert mit dem Beginn seines Evangeliums an die Vergangenheit. Historisch lässt sich der Kindermord von Bethlehem kaum plausibel machen. Herodes war zwar bekannt dafür nicht zimperlich zu sein, auch vor der Ermordung seiner eigenen Kinder und Thronfolger schreckte er nachweislich nicht zurück, um sich seiner eigenen Zukunft zu bemächtigen. Aber hinter dem Kindermord von Bethlehem steckt eher die theologische Aussageabsicht des Evangelisten, als die historischen Fakten.
Wahr bleibt allerdings: Wer die Zukunft bestimmen möchte, wird sie verlieren. Wer möchte, dass alles so bleibt, wie es ist, wer meint sich vor Veränderungen schützen zu können, begeht ein Verbrechen an der Zukunft.
Konservativ bedeutet bewahren. Wer die Zukunft bewahren möchte, muss bereit sein zur Veränderung. Die Erinnerung an die Vergangenheit, wie Matthäus sie seinem Evangelium aufprägt, führt zum Vertrauen in die Zukunft. Mit der Erinnerung an die Vergangenheit, an Mose und die Geschichte seiner Geburt, gewinnt Matthäus die Verheißung für die Zukunft seiner christlichen Gemeinde. Die Zukunft – sie kommt. Mal freudig erwartet, mal von sorgenvollem Blick begleitet. Wir dürfen die Herausforderung annehmen, die Zukunft zu gestalten. Dabei muss auch der Evangelist eingestehen: Etwas Besseres, oder mehr Sicherheit als die Verheißung hat er nicht zu bieten. Wir sind ohnmächtig beim Heraufführen der Zukunft und können im besten Falle nur vertrauen, dass sie kommt und Gutes bringen wird. Wir begeben uns auf die Flucht ins Ungewisse, auf die Flucht nach vorne. Wir müssen weiter, es hilft ja nichts, sonst ist unsere Zukunft in Gefahr! Mit uns geht die Verheißung.
Die Erinnerung an die Verheißung ist aber nicht zu verwechseln mit dem Festhalten des Bewährten. Das Festhalten an dem, was schon immer so war verspielt die Zukunft. Wer Besitzstand wahren, Herrschaft sichern und Dynastien bewahren will, wie Herodes, verspielt die Zukunft. Diese Spielart konservativ zu sein, führt eben gerade nicht zum Vertrauen, sondern zur Skepsis gegenüber der Zukunft und dem, was sie an Herausforderung bringt. Diese Spielart, konservativ zu sein, hat einen Hang zur Bemächtigung, zum Beherrschen der Zukunft. Hier verwandelt sich die Verheißung in Versuchung. Hier droht die Gefahr, Anderen mit Gewalt die Zukunft zu nehmen, damit alles bleiben kann, wie es ist. Was bleiben will, muss sich ändern, muss aufbrechen, muss die Flucht in die Zukunft antreten.
Was bleiben will, muss sich ändern …
von Inge Müller
Wie das Meer,
das bleibt
in Ebbe und Flut.
Der Baum im Wechsel
der Jahreszeiten.
Die schwingende Brücke.
ein Klang …
Was bleiben will,
muss sich ändern.
Das Leben.
Einatmen und Ausatmen.
Das, woraus ich
Kraft schöpfe.
Meine Wurzeln.
Meine Wege.
Was bleiben will,
muss sich ändern.
Liebe,
die ihre Gezeiten hat
wie das Meer.
Freundschaft.
Glück.
Eine Aufgabe.
ein Erfolg …
Was bleiben will,
muss sich ändern.
Meine Bilder
von der Vergangenheit
von der Zukunft
vom Sinn
von Gott
Meine wichtigsten Bilder.
Ich will, dass sie bleiben
Was bleiben will,
muss sich ändern.
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06.01.2019 - Epiphanias
30.12.2018 - 1. So. nach Christfest
Advent ist Schwellenzeit - Predigt zu Matthäus 21,1 - 11 von Christian Stasch
Lieber adventlicher Mensch,
eine Schwelle hast du übertreten, heute. Türschwelle. Nur so hast du dein Haus verlassen können. Hast dich auf den Weg gemacht. Hast dann hier die Schwelle an der Kirchentür übertreten, bist hereingekommen, eingezogen, bist nun da. Wie schön. Und wenn du sagst, „mein Haus ist ganz eben, das hat gar keine Schwellen mehr“, dann antworte ich dir: „Doch, es hat noch Schwellen. Die bleiben. Immer.“ Lasst uns an diesem 1. Advent auf die Schwellen achten.
Er übertritt die Schwelle nach Jerusalem hinein, ganz in weiß. 39 Jahre alt ist er und wird eine Woche in der Stadt bleiben. Er übernachtet in einem Zeltlager vor dem Stadttor, mit luxuriösen Möbeln, mit Extrazelten für das Kochen und für Empfänge. „Bereitet dem Herrn den Weg“, hat man sich wohl gesagt: Ein Graben ist extra für ihn aufgefüllt worden, vor dem Stadttor schön eigeebnet, der Mann kann nun einziehen in die Stadt, nicht zu Fuß, sondern reitend, hoch zu Ross, 90 weitere festlich gekleidete Menschen in seinem Gefolge. Eine Kapelle macht Musik ihm zu Ehren. „Tochter Zion?“
Nein: Die türkische Kapelle des Sultans spielt die deutsche Nationalhymne, für ihn, für Kaiser Wilhelm II, vor ziemlich genau 120 Jahren. Jerusalem ist damals eine Station auf seiner Palästinareise; vom Reisebüro Thomas Cook organisiert. Der Monarch ist aus Berlin hierhergekommen, er will die neu gebaute evangelische Erlöserkirche einweihen. Großer Bahnhof für ihn, die Stadt ist damals extra gereinigt worden, wochenlang, damit es ein würdiger Empfang wird. Das war 1898 und es ist weitgehend vergessen.
Lange Zeit zuvor zieht ein anderer durchs Tor. Unvergessen. Auf einem Esel, oder waren es sogar zwei Esel? Egal. Sein Aufenthalt: nicht mal ganz eine Woche, fünf Tage nur. Er ist so um die 30, er kommt vom Lande, jetzt ist er auf der Schwelle zwischen Stadt und Land. Genauer gesagt: zwischen Land und Stadt. Wir nennen immer die Stadt zuerst, sagen z.B. „Stadt-Land-Gefälle“, betonen dabei die boomenden Städte (mit ihren viel zu wenigen Wohnungen) und dann kommen die abgehängten Dörfer (mit ihren viel zu wenigen Bussen und Ärzten). Die Evangelien in der Bibel sind aber zu 80 % Landgeschichten und nur das Finale ist städtisch. Die Reise in die Stadt wird für den jungen Mann vom Lande das Ende bedeuten, sein Einzug also: der Anfang vom Ende - das sich dann, nachadventlich, als Neuanfang entpuppt.
Jesus, jetzt, auf der Schwelle. Adventszeit.
Wir feiern heute nicht den Anfang vom Ende, sondern den Anfang vom Advent. Das neue Kirchenjahr beginnt heute. Kann man gut am Gesangbuch erkennen: Lied Nr. 1 als Türschwellen-Song: „Macht hoch die Tür“, fast alle Lieder heute im Gottesdienst haben einstellige Nummern. Die Adventslieder eröffnen das Gesangbuch. Jetzt geht’s los!
Neuanfang. Schwellenzeit.
Wenn die Adventszeit beginnt, denke ich immer auch: „Mensch, geht dies Jahr schon wieder zu Ende …!“ Also das Kalenderjahr. Die Tage werden kürzer, die Dunkelheit nimmt zu, die Bäume tragen kein letztes Laub mehr. Dinge auf dem Schreibtisch müssen noch zu Ende gebracht werden in der Adventszeit. Da ich die Adventszeit aber sehr mag, denke ich auch: „Endlich Advent.“ Zum Glück. Zum Glück geht’s los. Und ich habe auch bis zum 1.Advent heute meiner großen Lust auf Lebkuchen noch nicht nachgegeben, da bin ich altmodisch..
Endlich. Ende, Anfang. Schwellenzeit.
Jesus ist so ziemlich am Ende. Ob er das ahnt, was ihn am Ende seines Weges erwartet, dass er in diese Situation gerät, leiden muss, sterben muss, eine neue Schwelle überschreitet? Man weiß es nicht. Der Dichter des Adventsliedes „Es kommt ein Schiff geladen“ ist sich sicher: „Zu Bethlehem geboren im Stall ein Kindelein, gibt sich für uns verloren, gelobet muss es sein.“ (EG 8,4)
Schwellenzeit.
Auf der Tür-Schwelle stehend kann ich reingehen oder rauslaufen. Sehe was war und erahne was kommt. Bin im Übergang, zwischen Wehmut und Vorfreude. Schaue zurück auf die Adventsgefühle meiner Kindheit, in den 1970er Jahren. Damals machte mich der Schokoladenkalender 24 Tage lang komplett glücklich. Mein bester Freund Stefan, der arme, hatte jedes Jahr einen Adventskalender mit kleinen Bildchen. Tür auf, und dann nur ein Bildchen, nichts zu essen. Er fand das gut. Sagte er jedenfalls. Ich hätte mit ihm nicht tauschen wollen. Stefan tat mir leid.
Ein Schoko-Kalender war mir dann später nicht mehr wichtig. Heute auch nicht. Dafür aber: Musik, Adventslieder, ja, oder ein schönes Konzert, außerdem Backen, ja, Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt trinken, klar, Mandarinen verputzen, und die Finger riechen so schön nach der Schale, adventliche Gottesdienste feiern, die Weihnachstage planen. Mein Kalender ist inzwischen im Grunde ähnlich wie damals der von Stefan, bloß gibt’s außer einem Bild auch noch einen kurzen Text: „Der andere Advent“, so heißt der Kalender. Macht anders satt als Schokolade.
Advent. Den Fuß über eine Schwelle setzen. Vorankommen.
Unser adventlicher Eseltext malt ein Bild von Mobilität. Nicht daheim hocken, sondern sich auf den Weg machen. Jesus verkörpert göttliche Bewegung.
Uns bewegt derzeit allerdings gar nicht so sehr Pferd oder Esel, sondern Diesel. Wir fanden unsere Autos samt Dieselmotor eigentlich ganz prima und sparsam – und ahnten beim Kauf noch nichts von Schummelauto, Dreckschleuder, Ladenhüter. In viele deutsche Städte gelangt man inzwischen leichter mit einem Esel als mit einem Diesel.
Jesus kann auch nicht ohne, nicht ohne Esel. Als die beiden Esel ihrem Besitzer ausgeborgt werden, lautet die Begründung dafür: „Der Herr bedarf ihrer“. Also: Jesus bedarf ihrer. Er braucht diese Esel. Jesus ist tierisch bedürftig an dieser besonderen Schwelle.
Der Esel ist nicht zufällig gewählt. Der langsame, sture, aber auch geduldige und belastbare Esel. Eben gerade kein hochgezüchtetes Pferd, obwohl das schicker und majestätischer aussehen würde. Der schlichte Esel erinnert an die alte Hoffnung in der Bibel Israels, dass eines Tages ein gerechter König kommen werde, uneigennützig, sanftmütig, friedfertig. Arm, auf einem Esel, so wird er kommen, heißt es da wörtlich im Alten Testament. Und Kampfwagen und Kriegspferde werden ausdrücklich erwähnt: die sollen dann nämlich ausgedient haben, sie werden überwunden sein. Und wir könnten ergänzen: das Geld für die deutschen Verteidigungsausgaben 2019 könnte dann auch anders eingesetzt werden, das sind immerhin 43 Milliarden Euro, das ist übrigens, hingeschrieben, eine 43 mit neun Nullen dran – was übrigens bei einem Eselpreis von 500,- Euro einen Esel für jeden einzelnen Bundesbürger ergeben würde.
Manche also haben damals den Eindruck, dass diese lang gehegte Friedenssehnsucht sich gerade jetzt mit Jesus erfüllt, in diesen Begegnungen, in diesen kostbaren Wochen und Monaten mit ihm. Weil ihr Leben ganz neu aufblüht. Weil sie sich wie verwandelt fühlen, versöhnt, befreit. So folgen ihm Menschen nach. Und sie halten nicht damit hinterm Berg, dass Jesus gut bei ihnen ankommt. Sie sind keine stillen Genießer, sondern Lautsprecher, sogar Schreihälse. Dreimal wird das Schreien erwähnt: Kurz vor dem Einzug in Jerusalem: Zwei Blinde merken, dass Jesus in der Nähe ist. Sie sprechen ihn nicht etwa höflich und dezent an, sondern sie schreien: „Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich unser!“ Dann die Menschenmenge, die mit Jeus mitgepilgert ist nach Jerusalem, die flüstert nicht etwa „Also ich find ihn ganz okay“, sondern sie schreit: „Hosianna dem Sohn Davids!“ Und als Jesus als erstes in Jerusalem in den Tempel geht, schreien dort Kinder das gleiche nochmal: „Hosianna dem Sohn Davids.“ Auf einer einzigen Seite der Bibel also dreimal: Schreien. Menschen geraten adventlich aus dem Häuschen. „Tochter Zion freue dich, jauchze LAUT, Jerusalem!“
Jauchze laut. Bist du laut? Ein lauter Typ? Rufst du, kreischst du, schreist du manchmal? Singst und jauchzt du laut? Ich sage dir, wie es mir damit geht: ich tue mich eigentlich schwer damit. Es steckt mir in den Gliedern, dass diese Wochen im Dezember besinnlich und leise sein sollten, schon mal heruntergedimmt in Richtung „Stille-Nacht“. Dabei stimmt das ja gar nicht unbedingt mit der leisen Zeit: Unser Advents-Bibeltext ist laut, wie wir gehört haben. Und wenn es dann Weihnachten wird, Geburt des Kindes, da ist bei so einem Neugeborenen das erste Schreien doch auch die halbe Miete.
Wann habe ich denn zuletzt so richtig geschrien, nicht jemanden angebrüllt, sondern Befreiungsschrei, Freudenjauchzer? Ich habe beim ersten Sieg von Hannover 96 in dieser Saison befreit herausposaunt: „Jaah!“. Und ich habe als Kind, wenn ich in den Keller gehen sollte zum Kartoffeln holen, oft Angst gehabt (war das Schwellenangst?) und ich habe dann im Keller dagegen angesungen, schön laut.
Ich will das in diesen Adventswochen mal ausprobieren mit der Lautstärke. Wenn ich vor einer Lebensschwelle schlapp mache, will ich mir selber zurufen: „So, jetzt ist Schluss mit Trauerkloß. Denn Jesus kommt und macht mich groß!“ Und ich will die eine Stelle doppelt kräftig singen: „Ho-si-i-an-na, Da-a-a-a-a-vids Sohn. Ja-a-a-a-auchze LAUT … -
… A-a-a-aa-amen“
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Nachhaltige Ostern! – Predigt zu Matthäus 28,1-10 von Christian Bogislav Burandt
Liebe Gemeinde,
die neue Bundesregierung ist an die Arbeit gegangen und auch das Referat „Heimat“ im Innenministerium ist zu einer ersten Sitzung zusammengekommen. Durch eine Indiskretion gelangten erste Ergebnisse an die Öffentlichkeit. Die Frage war: Wie kann die Stimmung in der Heimat besser werden; so dass die Menschen auch wieder näher zusammenrücken. Der erste Referent schlug vor: Wir geben Geld aus für eine millionenfache Kampagne auf Facebook, soll ja bei der Wahl von Donald Trump geholfen haben. Der Einwand dagegen war: Facebook ist im Moment kein gutes Thema, die Nachhaltigkeit ist zu bezweifeln. Der zweite Referent schlug vor: Wir senken während der Fußball-Weltmeisterschaft die Alkoholsteuer und treten als Sponsoren für unsere Jungs auf. Auch hier gab es Einwände: Das letzte Spiel haben sie verloren, ein gutes Abschneiden der Deutschen ist nicht garantiert. Außerdem: Wie nachhaltig kann diese Aktion sein? Alle blickten dann auf die dritte Referentin, die bisher noch nichts gesagt hatte: Plötzlich glitt ein Strahlen über ihr Gesicht: „Wir übertragen die Feier einer Osternacht im Fernsehen“, rief sie. „Ostern verbreitet Freude, Zuversicht und Zusammenhalt seit 2000 Jahren. Nichts ist nachhaltiger!“
Immerhin, liebe Gemeinde, das ist nicht zu bezweifeln: Die Botschaft von Ostern ist wirkmächtig bis in unsere Zeit. Und ohne die Botschaft, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, wüssten wir nichts von Jesus, gäbe es den christlichen Glauben nicht.
Der Evangelist Matthäus erzählt auf seine Weise, was für ein weltbewegendes Ereignis an Ostern geschah: Ein Erdbeben erschüttert die Region, ein Engel erscheint wie ein Blitz und wälzt den Stein vom Grabe weg. Die Wachen erbeben vor Furcht und fallen um, als wären sie tot. Deutlicher kann Matthäus es gar nicht sagen: Gott selber ist am Werk. Er weist den Tod und die Wächter des Todes in die Schranken. Er ist es, der Jesus von den Toten auferweckt hat.
Dabei aber bleibt das Eigentliche den menschlichen Augen verborgen: Matthäus schildert uns nicht den Vorgang der Auferstehung. So machtvoll und weltbewegend Gottes Handeln auch ist, es entzieht sich menschlicher Beobachtungsgabe und menschlicher Vorstellungskraft.
Stattdessen beschreibt der Evangelist zwei Frauen auf dem Weg, die einem lieben Menschen den letzten Liebesdienst erweisen wollen: Sie wollen seinen Leichnam salben. Ganz früh am morgen sind sie unterwegs. Schon durch die Zeitangabe will Matthäus uns damit nahe bringen: Ostern ist die Geburt des Lichts aus tiefster Dunkelheit.
Im Zentrum unserer Geschichte stehen zwei Begegnungen: erst die Begegnung der Frauen mit dem Engel und dann die Begegnung mit dem auferstandenen Jesus selbst.
Fürchtet euch nicht! So geht es los. Der Engel verweist auf Jesus den Gekreuzigten, der nicht mehr im Grab sei. Geht eilends hin und sagt seinen Jüngern, dass er auferstanden ist von den Toten. Und siehe, er wird vor euch hingehen nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen.
Der Engel lädt die Frauen ein, das leere Grab anzuschauen, aber dies tut er mehr nebenbei. Kein Wunder. Ein leeres Grab an sich sagt gar nichts. Entscheidend ist vielmehr die Aussage: Jesus der Gekreuzigte ist von Gott auferweckt worden. Die Frauen hören die Verheißung, dass der Auferstandene ihnen erscheinen wird. Und damit verbindet sich die Aufforderung, die Osterbotschaft den Jüngern Jesu weiter zu sagen, also selber gewissermaßen zu Osterengeln zu werden.
Eine besonders schöne Umsetzung von dem, was Matthäus wichtig ist mit seiner Geschichte, habe ich im letzten Jahr in Ravenna bewundert. Ich meine damit das Mosaik in der Basilica di Sant’Apollinare Nuovo. Man sieht auf der rechten Seite der Darstellung, wie die beiden Marien mit traurigem Gesichtsausdruck mit ihren rechten Armen auf das Innere des Grabes weisen. Noch sind sie der alten Welt, der düsteren Vergangenheit verhaftet. Auf der linken Seite der Darstellung sitzt der Engel mit munterer Miene auf dem Grabstein und grüßt mit seiner rechten Hand; fast so, als wollte er ein Kreuzeszeichen schlagen!1 – Denn darauf läuft es ja hinaus: Der Gekreuzigte lebt und mit ihm verbindet sich Segen: Gottes Kraft für Liebe und Leben auch über den Tod hinaus!
Die Frauen laufen vom Grab weg mit Furcht und mit großer Freude. Eine nie gehörte und erfahrene Botschaft wie die von der Auferweckung Jesu, die muss ja Verunsicherung und daher Furcht auslösen, aber zugleich auch Freude wecken; Freude darüber, dass das Grab Jesu nicht das Ende aller Hoffnung ist. – Und die Worte des Engels bewahrheiten sich, die Frauen begegnen dem Auferstandenen und fallen vor ihm als vor ihrem Heiland nieder. Und Jesus sendet sie wie zuvor der Engel zu seinen Jüngern und verheißt sein Erscheinen in Galiläa.
Und wir liebe Gemeinde? Riskieren wir es mit der Osterbotschaft? Ich gestehe: Auch mich überfallen beim Hören Furcht und große Freude!
Furcht, dass die Botschaft von der Auferstehung Jesu Christi zu groß ist: für meinen engen Kopf, für mein kleines Herz, für meine schweren Beine.
Aber mich erfüllt auch große Freude: Wenn Gott den hält, den alle fallen gelassen haben, welche Mächte der Sünde, der Hölle und des Todes halten dann noch stand? Wer soll mich abhalten von einem Leben, das auf die Liebe Gottes in Christus Jesus setzt? Wer will mir die Hoffnung auf Zukunft ausreden?
Ich komme dann doch nicht mehr auf die Idee, meinen engen Kopf, mein kleines Herz, meine schweren Beine für das Maß aller Dinge zu halten! Die Welt und mit ihr ich selber kann mir jede Menge Vorhaltungen machen. Aber was soll mich da verunsichern, wenn Christus mein Heiland lebt und nachhaltig hält? Sich an den halten, der dich hält. Dann kannst Du
Mut behalten,
Ängste fernhalten,
Sorgen abhalten,
Treue einhalten
Leid aushalten
an Hoffnung anhalten,
weil der Auferstandene dir Leben erhält.
AMEN
1 Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament I/4, Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26-28), Düsseldorf 2002, S.410.
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Was ist richtig oder falsch? – Predigt zu Matthäus 12,33-35(36-37) von Barbara Bockentin
Mann oder Frau? Gerade hat das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts gezeigt, dass es so einfach nicht ist. Im Geburtenregister der Standesämter soll danach auch die Möglichkeit für die Angabe eines dritten Geschlechts vorhanden sein. Das, was für die einen endlich ein längst überfälliger Schritt ist, ist für die anderen ein Zeichen für den Untergang aller Werte.
Richtig oder falsch? In der Stadt, in der ich arbeite, hat die Stadtverwaltung zwei große Wohnblocks geräumt und versiegelt. Lange hatten die Bürgerinnen und Bürger das Vorgehen der Stadtverwaltung mit Sympathie begleitet. Dann die Nachricht, dass eine seit kurzem obdachlose Frau ermordet worden war. Sie wohnte vorher in einem der Häuser. Jetzt wird das Vorgehen der Verwaltung für ihren Tod verantwortlich gemacht.
Das sind nur zwei Beispiele, an denen deutlich wird, dass es gar nicht so einfach ist, Entscheidungen zu treffen. Und mal ehrlich, wer von uns übersieht denn die Auswirkungen der eigenen Entscheidungen? Das was heute richtig erscheint, kann schon morgen falsch sein. Der Maßstab für mein Handeln ist verloren gegangen oder zumindest unscharf geworden.
Entweder – oder: so klar redet Jesus. „Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich.“ auch dieser Satz stammt aus seinem Mund. „Glaubst du?“, so forscht Jesus bei seinem jeweiligen Gegenüber immer wieder. Entweder ganz oder gar nicht. Ausweichen, das ist gar nicht möglich. Und so finden die Menschen, denen Jesus begegnet, auch immer eine Position zu ihm. Entweder sie lassen alles stehen und liegen und folgen ihm nach oder sie legen ihm Fallstricke, an denen sie sein Auftreten und seine Worte messen. Entweder sie unterstützen ihn und jubeln ihm zu oder sie verlangen seinen Tod.
Diese Einstellung ist verführerisch, weil alles so klar erscheint. So sind die Geschichten, die wir unseren Kindern vorlesen. Diesem Schema folgen viele Filme, die im Fernsehen oder im Kino laufen. In unserem Leben geht es ganz anders zu. Da gibt es zwischen Schwarz und Weiß viele Grautöne. Da kann morgen schon falsch sein, was heute noch richtig ist. Da wäre es bequem, wenn es nur schwarz oder weiß, gut oder böse gäbe.
Welche Konsequenzen so eine Weltsicht hat, erleben wir oft genug hautnah: Menschen müssen ihre angestammte Heimat verlassen, weil der Klimawandel geleugnet wird. Der Lebensraum für die Tierwelt wird immer kleiner, weil Monokulturen den größeren Gewinn versprechen.
Diese Einstellung ist verführerisch, weil sie mir zu einer Zuschauerposition verhilft. Ich kann nichts tun, weil ich in so vieles eingebunden bin. Ob ich mitmache bei der Aktion „Zukunft einkaufen“ oder nicht, ändern tut es nichts. Ob ich versuche, Energie zu sparen oder nicht, deswegen wird kein Kohlekraftwerk abgestellt. Ich würde ja gerne – aber die Umstände erlauben es nicht. Sie sind falsch und schlecht.
Entweder - oder: so klar redet Jesus. Er verlangt eine Stellungnahme. Ein Ausweichen ist nicht möglich. „Entweder der Baum ist gut … oder der Baum ist schlecht…“ Eine klare Diagnose, die ein klares Handeln verlangt. Sich wegducken gilt nicht. Sich vor der Verantwortung drücken ist unstatthaft.
Diese Einstellung ist schmerzhaft, weil sie mich trifft. „Wie könnt ihr Gutes reden, wenn ihr böse seid?“ Mit diesen Worten richtet Jesus den Fokus auf seine Zuhörer, auf mich. Das Scheinwerferlicht, in dem ich mich unversehens wiederfinde, ist eine Zumutung. Nichts mehr mit meiner Zuschauerhaltung. Nichts mehr damit, das große Ganze verantwortlich zu machen. Nichts mehr damit, mich selbst für zu klein und unbedeutend zu halten, als das ich etwas ändern könnte.
„Wie könnt ihr Gutes reden, wenn ihr böse seid? Denn wovon das Herz voll ist, davon redet auch der Mund.“ Die Widersprüchlichkeit, in der wir leben, malt uns dieser Satz Jesu vor Augen. Die Widersprüchlichkeit, in der wir uns gut eingerichtet haben, tritt uns hier entgegen. Änderungsvorschläge, die andere betreffen, habe ich rasch bei der Hand. Man müsste…. Da sollte man… Alles bleibt schön im Ungefähren. Ich kann mich weiter aufregen. Ich kann weiter über die Kurzsichtigkeit der Entscheidungen anderer lamentieren. Und täusche mich selbst damit darüber hinweg, dass ich auch selbst etwas ändern kann.
Jesu Worte kratzen an Oberfläche meiner Selbstzufriedenheit. Und dahinter sieht es längst nicht so strahlend und überzeugend aus, wie ich es mir immer wieder gerne vormache. „Wasch mich, aber mach mich nicht nass.“, sagt ein Sprichwort. Die Klarheit, mit der Jesus Entscheidungen fordert, bringt mich an meine Grenzen. Macht mir schmerzhaft klar, dass ich von anderen die Konsequenz erwarte, die ich dann selber schuldig bleibe.
Den Klimawandel und die dafür Schuldigen anprangern, ist ein Einfaches und sogar en vogue. Sollen die doch ändern, was zu ändern ist: Kraftwerke abschalten, Filteranlagen installieren, umweltfreundlichere Autos bauen und, und, und… Mein Scherflein dazu beizutragen, fällt schon bedeutend schwerer. Das erfordert Konsequenz. Das hat zur Folge, dass ich Selbstkritik üben muss. Das macht Verhaltensänderungen unumgänglich.
„Denn an seinen Früchten könnt ihr den Baum erkennen.“ – Mein Tun bleibt nicht ohne Auswirkungen. Das ist mehr als eine Feststellung. Das ist die Zusage, die Jesus gibt. Sie lockt mich. Die Entscheidung, die ich fälle, hat Folgen. Nicht nur für mich, sondern für alle, mit denen ich das Leben teile, in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Kirchengemeinde, in meinem Ort. So kann es sein – nicht nur für mich, auch für euch. So zu leben, erfordert manchmal Mut, weil es unbequem werden kann. Manches, was bisher selbstverständlich war, ist es nun nicht mehr.
Für die Fahrt zum Arbeitsplatz beispielsweise brauche ich jetzt etwas länger, weil ich auf der Autobahn nicht mehr als 120 km/h fahre oder besser noch ein Stück auf der parallel laufenden Landstraße. Das schadet der Umwelt weniger. Mich entspannt es.
Das was für andere gelten soll, gilt auch für mich. Wenn ich dieses Prinzip anwende, fällt es mir viel schwerer, die Welt und die Menschen um mich herum aus einer Zuschauerhaltung zu betrachten. Ich selbst trage dazu bei, wie das Leben auf dieser Erde funktioniert. Ich kann mich entscheiden und für diese Entscheidung einstehen. Dann bin ich kenntlich. Dann kann ich darauf hoffen, dass mein Leben gute Früchte trägt.
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Verwegene Lesarten – Predigt zu Matthäus 12,33–35 (36–37) von Matthias Storck
Einspruch
„Jeder Mensch ist ein stiller Schrei, anders gelesen zu werden.“
Dieses Wort der französischen Schriftstellerin Simone Weil (1909-1943) dreht mir die bekannten Sätze des Matthäusevangeliums im Gedächtnis um. Jesus betrachtet das Wort von seinen Folgen her. Es steht am Ende eines Prozesses. Die Frucht reift erst, wenn Same und Blüte vergehen. Gelesen wird das Ergebnis. Das Wort wächst, ehe es zur Sprache kommt. Geht es über die Lippen, gibt es Auskunft über seine Herkunft und verrät den inneren Zustand des Menschen, der es ausspricht. Ehe das Innerste nach außen gekehrt werden kann, reift das Wort. Gehörtes, Verschwiegenes, Bewahrtes und Verborgenes muss zuvor entziffert und erwogen werden. Zuletzt muss sich die Wahrheit gegen das Gewohnte behaupten. Das Sprechen beginnt lange vor dem Reden und erfüllt das Herz.
„Zerstörte Stadt“
Der Bildhauer Ossip Zadkine (1890-1967) schuf zum Gedenken an die Bombennacht des Jahres 1940, in der deutsche Flugzeuge die Stadt Rotterdam innerhalb weniger Stunden in ein Trümmerfeld verwandelten, ein einprägsames Denkmal: Ein Mensch reißt verzweifelt Arme und Schultern in den Himmel, als fürchte er von dort einen neuen Angriff. Sein Herz tut mir weh, denn es ist nicht mehr da. Dort, wo es hingehörte, klafft ein riesiges Loch. Ich weiß nicht, wann ich die einprägsame Skulptur zum ersten Mal sah. Der Bilder-Vorrat meiner Seele bringt sie schnell und genau zum Vorschein. Vielleicht habe ich den versteinerten Schmerz dieses Mannes erst begriffen, als ich sah, dass dort, wo das Herz der Stadt einmal schlug, ausschließlich neue Häuser stehen. Der Stadt, die er beweint, hat damals mit Herz und Geschichte auch ihr schönes Gesicht verbrannt. Im Hebräischen ist das Herz die Mitte der Person. Gefühl, Verstand und Gedächtnis haben dort ihren gemeinsamen Ort. Es ist Raum der Entscheidung und Wohnung Gottes. Der Bildhauer wusste das. Darum machte er ein großes Loch in die Mitte seines Denkmals. „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“, heißt es in der Mitte des Textes. Das schöne Wort möchte einem angesichts des steinernen Mannes im Halse stecken bleiben. Dem bringt kein volles Herz mehr den Mund zum Überlaufen. Aber der Himmel schreit blau durch das Loch im steinernen Brustkorb. Eine klaffende Wunde gegen das Vergessen, durch die Gott selbst zum Zeugen aufgerufen wird. Dann kann keine Macht der Welt mehr verhindern, dass unsere Worte unsere Worte und unsere Taten unsere Taten bleiben. Aber der Mann ohne Herz sieht aus, als hätte er Angst, jetzt den Himmel zu verlieren.
Zuspruch
Verantwortung für das Wort führt zurück in die Stille. Die Unerbittlichkeit, mit der Jesus hier von der Frucht auf den Baum, vom Schatz auf den Menschen, vom Wort auf das Herz schließt, lässt, im Gegensatz zu anderem biblischen Gebrauch, keinen Raum für Gegenrede oder Ausflucht. Ihm geht es nicht um Äußerungen. Ihm geht es um das Sein. Das stellt mir einen weiteren Prüfstein für das Wort vor Augen. Wenn die Morgensonne im Maßwerk der hohen Chorfenster der Herforder Marienkirche innehält, entrollt sich im Mittelgang auf dem Steinfußboden ein leuchtender Teppich aus buntem Glas, der bis an die westliche Empore reicht. Dort springt das Licht aufwärts und malt einer Sandstein-Madonna aus dem 12. Jahrhundert und dem Kind auf ihrem Arm bildschöne, helle Gesichter. Beiden scheinen die lichten Augenblicke willkommen. Sie antworten mit einer innigen Anmut, wie ich sie selten sah. Das ist erstaunlich, denn der Mutter wurde das Gesicht zertrümmert und dem göttlichen Kind auf ihrem Arm der Kopf zerschlagen. Die junge Mutter hat durch alle Zerstörung hindurch ihre Haltung bewahrt. An ihrem beredten Schweigen kann sich niemand vorbeireden.
Was mag in den Herzen derer gesteckt haben, die ihr das Gesicht zerschlugen? Zweierlei vermochte alle rohe Gewalt nicht zu besiegen. Die Schönheit und die Botschaft dieser Marienfigur überstanden alle Anschläge. Aussage und Ausdruck kamen nun erst recht zur Geltung. Mit der Zerstörung des Gesichts schien jede Falte des Gewandes an Bedeutung zu gewinnen, und jede Wunde am Stein geriet zu einer eigenen Predigt. Es steht eine große Wahrhaftigkeit in diesen leuchtenden Linien. Der Meißel des Bildhauers war nur der Anfang. Alles, was sich in fünfhundert Jahren hier gesammelt hat, spricht nun mit und hat den stummen Wortschatz vermehrt. Viele Menschen haben seither in diese entstellten Züge geschaut, vielleicht Anhalt oder Trost gefunden, ehe sie die Kirche verließen. Die stille Aussage hat manches unnütze Wort zum Schweigen gebracht. Sie ist außerdem eine verwegene Lesart des Pauluswortes, das sich Albert Schweitzer als Kompass für seine theologische Arbeit wählte (2. Korinther 13,8): „Wir vermögen nichts gegen die Wahrheit, sondern nur für die Wahrheit.“
Wenn das Licht sich immer wieder in den steinernen Tüchern sammelt, malt es Innigkeit. Mutter und Säugling müssen ohne Worte miteinander reden. Aber sie können einander ins Herz sehen. Ihre Gesichter lernten sie gegenseitig auswendig. Das haben die Zerstörer in ihrer rohen Eile vergessen. Nun leihen sich Mutter und Kind alle Menschenworte immer aufs Neue von den Lippen derer, die sie anschauen, und warten darauf, neu gelesen zu werden. Damit ist aber die Handschrift der Geschichte noch lange nicht zu Ende buchstabiert.
Es liegt bei uns, immer von Neuem wahrzunehmen, was der Säugling ohne Kopf und Arme in unserer Zeit für Lasten aushalten muss. „Die Herrschaft ist auf seiner Schulter“, hatte es bei Jesaja (9,6) geheißen. Worte, die schon nach dem ersten Hören im Herzen wohnen bleiben und immer wieder aufwachen. Sie passen gut zu dem Kind, das auf seinen Schultern nun das Wüten der ganzen Welt zu tragen scheint. Ich weiß nicht, was diejenigen beseitigen wollten, die den kleinen Kopf zerschlugen. Getroffen haben sie Gottes menschliches Gesicht. Alle Sehnsucht nach Veränderung stand darin geschrieben.
Aber in dem kindlichen Torso schlägt Gottes Menschenherz weiter. Das hat kein Bildhauer erdacht. In solchen Bildern fällt Gott selbst der menschlichen Geschichte ins Wort und macht aus der Zerstörung, tröstlichen Zuspruch.
Anspruch
Wir werden beim Wort, bei den Wörtern genommen. Die Spruchfassaden, der falsche Schein, die „unnützen“ Täuschungen einer medienbesessenen Welt hindern uns nicht, genau zu lesen. Und sie bewahren uns nicht davor, genau gelesen zu werden. Gott kann nicht nur der Welt, sondern auch mir ins Wort fallen. Matthäus nennt das Gericht. Wahr ist und bleibt dann, was durch mein Inneres gedeckt ist. Ich werde gelesen. Es fragt sich nur, wer mich liest und wie ich gelesen werde. Deshalb kann ich die Bilder von Frucht und Baum, von leerem Wort und vollem Herzen nur aushalten, wenn ich auf den schaue, der sie gebraucht. Wenn dieser Christus mich entziffert, wird mein Stückwerk (1. Kor 13,9) zusammengelesen. Nur in dieser Gewissheit kann angesichts der Umbrüche und Einbrüche eines Leben wirklich Wort gehalten werden.
Der Dichter Rainer Maria Rilke (1875-1926) hat in einem Sonett über einen Torso Auguste Rodins das Unvollständige zur tragenden Aussage gemacht. Seine Zeilen sind eine Brücke von den schweigsamen Prüfsteinen in meinem Gedächtnis zum Bußtag. Der Torso, den Rilke vor Augen hat, liest die Betrachtenden so lange und genau, bis sie verstehen: „ … da ist keine Stelle,/ die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“ Nicht von ungefähr, sondern mit gutem Grund ist es das Unvollständige, das uns am ehesten zu trösten und zu ändern vermag. Gott selbst sammelt die Bruchstücke ein.
Die Abendsonne macht dem düsteren Mahner in Rotterdam aus tausend Strahlen ein Bündel Licht ins Herzloch. Die helle Gegenwart Gottes erfüllt auch seine anhaltende Mahnung mit Wahrheit. Buße kann ja nur heißen, dass das Herz von einem anderen Licht erfasst wird. Der innere Wortschatz wird mit anderen Augen buchstabiert und „bewahrheitet“. Es ist die verwegene Lesart Gottes, die unser Wort ergreift. Ihr geht seine Wahrheit voraus. Die schon zitierte Simone Weil schrieb von dieser Wahrheit, dass sie mit Christus deckungsgleich ist. Darum kann Christus es ertragen, wenn die Menschen, vor die Wahl gestellt, der Wahrheit oder ihm den Vorzug zu geben, sich für die Wahrheit entscheiden. „Denn“, so bemerkt sie gelassen, „er war schon die Wahrheit, ehe er Mensch wurde.“