Entzweiungen auf einem Grund – Predigt zu Matthäus 10, 34-39 von Dr. Dörte Gebhard
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.
Liebe Gemeinde,
Niemand kann einen anderen Grund legen als den, der schon gelegt ist. Und das ist Jesus Christus (1. Kor 3, 11).
Auf den einen, vor uns gelegten Grund sind Kirchen gebaut. Fest gegründet, aber entzweit. Nicht erst seit 500 Jahren, seit der Reformation, gibt es mehr als eine Kirche. Sie gründen auf Jesus Christus, haben sich aber in unterschiedliche Richtungen entwickelt und gewandelt, restauriert und reorganisiert, reformiert. Die Gemeinschaft aller Christinnen und Christen ist daher entzweit.
Wir hören den Predigttext aus dem Matthäusevangelium im 10. Kapitel:
Jesus spricht: Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden.
Liebe Gemeinde
Es sind nicht nur entscheidende, sondern einschneidende Worte. Soll man so an einem runden Reformationsfest predigen?
Dass Jesus ein scharfes, entscheidendes Schwert bringt? Ein Schwert, an dem sich die Geister schieden und scheiden? Man muss nicht nach diesem Wortschwert suchen, es steckt genau in diesen Worten. Jesu Wortschwert versteckt sich nicht! Verstecken wir uns also vor seinem Schwertwort nicht!
Reformation bedeutet beides: Rückbesinnung auf den einen festen Grund, den wir nicht legen können und nicht gelegt haben, Jesus Christus und die Einsicht, dass zu dieser Umbruchszeit auch Spaltungen und Schmerz, Leid und Not, kurz, das Kriegsschwert gehören. Fangen wir mit Letzterem an.
Ich nenne nur ein einziges, berühmt-berüchtigtes Beispiel: In der zweiten, entscheidenden Schlacht von Kappel am 11. Oktober 1531 wurde viel Blut vergossen. Anna Zwingli verlor an diesem einen Tag fünf Angehörige: ihren Mann Ulrich Zwingli, ihren ältesten Sohn, einen Schwiegersohn, einen Bruder und einen Schwager. Sie blieb als alleinerziehende Witwe mit zwei kleinen Kindern zurück. Am Morgen hatte sie ihren Mann noch gewarnt, nicht in diese Schlacht zu ziehen ...
Wollen wir der Reformation gedenken, kommen wir an den Kriegsschwertern nicht vorbei. Nun schauen wir zurück auf den Anfang, auf bei Jesus Christus. Er kommt mit seinem Wortschwert zur Welt und schneidet den faulen Frieden, den er vorfindet, entzwei. Nein, dem Frieden in der Welt traut er nicht: Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht (Joh 14, 27), sagt er seinen Jüngern.
Jesus kommt beileibe nicht mit Waffengewalt, sondern mit wortgewaltiger Entschiedenheit – und muss deshalb selbst Gewalt erleiden. Er hat nicht zu Mord und Totschlag aufgerufen, sondern klargemacht, dass es keine harmlose, naive, christliche Sicht auf den Lauf der Welt gibt. Die christlichen Perspektiven sind entscheidend – und damit auch entzweiend.
I
Jesus musste den Realitäten ins Auge sehen. Das Neue Testament gibt immer wieder Hinweise auf die frühen Entzweiungen in seiner Familie.
Seit er 12 Jahre alt war, verstanden ihn seine Eltern nicht mehr, fanden ihn seine Eltern nicht mehr. Sie suchen ihn überall, nur nicht im Tempel, wo er mit den Schriftgelehrten klug disputiert. Seine Eltern wollen ihn erziehen, aber er zieht los, entzieht sich seiner Sippe, entzieht auch seine Jünger ihren Familien. Zur Entzweiung kommt es unter den Allernächsten. Matthäus nennt in seinem Evangelium die brutalen Fakten, die seit Menschengedenken gelten.
Wir müssen den Realitäten ins Auge sehen. Gerade nicht vor Fremden, vor Flüchtlingen sollten wir uns fürchten. Das versuchen nur Populisten uns immer wieder weiszumachen. Die häusliche Gewalt hat ganz andere Ausmasse. Neun von zehn misshandelten Kindern werden von den eigenen Familienangehörigen missbraucht und oft im Verborgenen gequält.
Und die allererste Gewalttat, die die Bibel überhaupt überliefert, ist nicht ein Kampf zwischen Unbekannten, die sich nicht kennen und nichts gönnen, sondern Mord unter Brüdern, die beide ihre Arbeit und ihr Auskommen hatten. 1
II
Liebe Gemeinde
Auch Matthäus musste den Realitäten ins Auge sehen. Schon zwischen den Generationen in seiner noch so jungen Gemeinde lag die Entscheidung für oder gegen Jesus Christus; der Sohn dabei, der Vater nicht, die Schwiegermutter wohl, aber die Tochter dagegen. Die engsten Familienbande entzweien sich. Lapidar heisst es bei Matthäus: Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein.
III
Auch Die Reformatoren mussten den Realitäten ins Auge sehen. Vor 500 Jahren kamen zwischen den allernächsten Nächsten die ärgsten, späteren Feinde hervor. In den Gemeinden und an den Universitäten, in Kirchen und Klöstern, Staaten und Städten gab es aufgrund der Reformen nicht nur Aufbruch und Begeisterung, sondern auch Streit und Unfrieden, bald auch Mord und Totschlag. Es wurde um ein neues, besseres Verständnis der Bibel gerungen – und es wurden Bürgerkriege zwischen den Konfessionen angezettelt und durchlitten.2 Dass Jesus friedlich, nur mit seinem Wortschwert, zur Welt kam, geriet und gerät immer wieder in Vergessenheit, sogar zu den Zeiten, in denen man sich an die Reform der Missstände macht(e). Wir müssen den Realitäten ins Auge sehen. Die Gewalt ist noch nicht aus der Welt – und wir sind immer noch daran zu lernen, unsere Auseinandersetzungen nur mit Worten statt mit Waffen zu führen.
Das gilt seit biblischer Zeit besonders unter Brüdern, Verwandten und Bekannten, laut Matthäus auch in Kirchgemeinden, unter den Allernächsten. 2001, das entsetzlich berühmte Jahr wegen der Terroranschläge am 11. September hat in Amerika knapp 3000 Terroropfer gefordert. Im selben Jahr aber sind in Amerika ca. 30'000 Menschen durch Schusswaffen umgekommen, Unfälle daheim und Suizide mitgerechnet.3
Geht uns das hierzulande etwas an? Im „Tagesanzeiger“ stand kürzlich zu lesen: „Allerdings gehört auch die Schweiz punkto Waffendichte zur weltweiten Spitze, die neue Waffengesetzgebung wurde gerade entschärft, und die Waffenkäufe nehmen zu.“ „In praktisch allen Kantonen haben vor allem im letzten Jahr die Gesuche für Waffenerwerbsscheine rekordmässig zugenommen. Einen solchen muss jeder Käufer bei seiner Wohngemeinde beantragen, wenn er eine Schusswaffe (Pistole, Revolver oder halbautomatisches Gewehr) erwerben will. Der Schein berechtigt dazu, sie zu Hause aufzubewahren. Der Bund rechnet damit, dass in Schweizer Haushalten zwei Millionen Waffen lagern.“4
Man führt solches Tun auf verstärkte Terrorangst zurück. Aber ist das nicht eine verheerende Furcht?
IV
Viel entscheidender aber ist: Woher kommt verheissungsvolle Hoffnung? Für Matthäus, für die Reformatoren, für uns? Auch die Hoffnung ist in scharfe Worte gefasst: Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden. Nicht nur, wer Streit hat wie die Eltern und Kinder in Matthäus’ Gemeinde, sogar, wer sein Leben verliert (wie Zwingli und die Seinen), wird das Leben in Christus finden. So gross ist Gottes Verheissung und Gnade, dass sie nur in so dramatische und entscheidende Worte passt.
Wir feiern 500 Jahre Reformation und haben unzählige, sehr gute Gründe zur Hoffnung, weil sich die Zeiten rasant geändert haben: Wir können nach Kappel fahren und die Augen in Ruhe über das ehemalige Schlachtfeld schweifen lassen, müssen dabei keinen Angriff von Katholiken aus dem Luzernischen mehr fürchten, sondern können viel mehr angeregte Gespräche mit ihnen im Haus der Stille führen. Nach Jahrhunderten der Entzweiung ist es möglich, die Reformationen der Kirchen gemeinsam und in ökumenischem Frieden zu feiern. Welch eine Reformation!
Aber wo können wir, 2017, die Grösse von Gottes Gnade am besten spüren? Wo kommt uns die Reformation persönlich nahe? Wahrscheinlich nicht auf dem Acker vor dem Kloster Kappel! Eine aufrechte Protestantin in unserer Gemeinde hatte schon vor einiger Zeit die entscheidende Idee: dort, wo wir jeden Tag hineinschauen, was wir regelmässig zur Hand nehmen ... im Portemonnaie! Der Geldbeutel ist ein sehr sensibler Ort, dort fühlen und spüren wir alles sehr genau. Da schauen wir genau hin. Auf die Geldbörse achten wir.
Zum Reformationsfest ist in Deutschland ein besonderer Geldschein5 herausgekommen, den auch wir ab heute immer im Portemonnaie haben sollten. Er ist sehr speziell: Er kann nur verschenkt werden, aber kaufen kann man nichts damit. So wie Gottes Gnade, die er uns schenkt, die wir aber nicht kaufen, geschweige denn erarbeiten können. Weil Luther diese frohe Botschaft wiederentdeckt hat, ist er auf dieser Banknote abgebildet.
Der Schein ist echt! Es ist kein Spielgeld, Gottes Gnade ist ernst gemeint! Der Schein ist echt, nach allen Regeln der Geldscheinproduktionskunst hergestellt. Er hat ein Wasserzeichen und einen Kupferstreifen, ein Hologramm und einen Sicherheitshintergrund, sogar fluoreszierend unsichtbare Tinte, sichtbar unter UV-Licht. Diese Banknote ist sicher, Gottes Gnade ist gewiss!
Ausserdem hat jeder Schein eine individuelle Seriennummer, ist also einmalig und unverwechselbar – wie wir Menschen bei Gott. So bleibt mir nun nur noch übrig, dieses Geld sehr fröhlich zu verteilen. Gottes Gnade ist umsonst, gratis, aber niemals vergeblich.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der stärke unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen.
1 I Vgl. Carel van Schaik/Kai Michel, Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät, Hamburg 2016, S. 78ff.
2 I Ulrich Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014, S. 8, zit. Odo Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S. 117-146, S. 129: Ulrich Luz, Berner Neutestamentler, zeigt, „dass die Schrift nicht die Einheit der Kirche begründete, sondern ihre verschiedenen Interpretationen die Vielzahl der christlichen Konfessionen. Von Anfang an geriet die Bibel in den Strudel konfessioneller Debatten; von Anfang an wurde sie von allen Konfessionen zur Selbstlegitimation verwendet. Die Berufung auf das sola scriptura läutete das Zeitalter des Konfessionalismus ein, das – nach den bissigen Worten des Philosophen Odo Marquard – gekennzeichnet war durch einen ‚konfessionellen Bürgerkrieg ... um den absoluten Text’. Die Geschichte des Protestantismus ist eine Geschichte von Abweichungen, Spaltungen, andauernden Aufbrüchen neuer reformatorischer Bewegungen.“
3 I Vgl. Stefan Tomik, Waffengewalt in Amerika. Die ernüchternde Sprache der Zahlen, in: FAZ vom 4.10.2015; Quelle: CNN mit Daten des Centers for Disease Control and Prevention sowie des amerikanischen Aussenministeriums, abgerufen am 9.10.2017.
4 I Vgl. Werner Schüepp, Zürcher decken sich mit Waffen ein. Schusswaffen sind nicht nur in den USA ein Thema: In fast allen Schweizer Kantonen nehmen die Gesuche für Waffenscheine stark zu – insbesondere auch in Zürich, in: Tagesanzeiger vom 4.10.2017, abgerufen am 9.10.2017.
5 I 0-Euro-Schein, zu beziehen auf www.gott.net.
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Umkehr ist möglich – Predigt Matthäus 21,28-32 von Norbert Stahl
Bei unserer diesjährigen Urlaubsfahrt durch Frankreich fielen mir einmal mehr die vielen Kriegsdenkmäler auf. In beinahe jedem Dorf, manchmal sogar in kleinen Weilern, lässt sich ein solches finden. Viele von ihnen erinnern an die Gefallenen im ersten Weltkrieg. Allein aus der ohnehin nicht allzu sehr besiedelten Bretagne – unserem diesjährigen Urlaubsziel – fielen 250.000 Männer. Was für ein schrecklicher Blutzoll! Bei unserer Fahrt durch die Champagne stimmten mich die viele Hinweistafeln auf die Schlachtfelder von Verdun, auf Weltkriegsmuseen und Gedenkstätten sehr nachdenklich. Verdun - hier lieferten sich Franzosen und Deutsche 1916 einen unerbittlichen, brutalen und besonders verlustreichen Stellungskrieg. Alleine auf deutscher Seite wurden weit über eine Million Soldaten durch die „Hölle von Verdun“ geschickt; bei den Franzosen verhielt es sich ähnlich.
Mit Verdun verbinde ich aber auch noch ein anderes Bild. Ein ganz gegenteiliges: 22. September 1984. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Staatspräsident François Mitterrand treffen sich auf dem Gelände eines riesigen Soldatenfriedhofs nördlich von Verdun. Ein Meer von 16.000 weißen Kreuzen ist zu sehen. Außerdem ein riesiges Beinhaus. Hier lagern die sterblichen Überreste von 130.000 unbekannten Kriegstoten. Es ist ein trüber Septembertag. Nieselregen geht nieder. Kohl und Mitterrand stehen nebeneinander mit Blick auf das Beinhaus. Kränze wurden niedergelegt. Jetzt werden die Nationalhymnen gespielt. Die französische Militärkapelle spielt zuerst die deutsche, danach die deutsche Kapelle die Marseillaise. In dem Moment, in dem die ersten Töne der französischen Hymne erklingen, passiert das Unerwartete: Mitterand streckt spontan seine Hand seitlich in Richtung Helmut Kohl aus. Kohl erfasst sie und die beiden Staatsmänner verharren in dieser Haltung bis zum Ende der Marseillaise. Das Bild macht Geschichte. Nicht, dass damit die deutsch-französische Freundschaft begründet worden wäre. Das Verdienst der Umkehr aus jahrhundertelanger Feindschaft hin zu Freundschaft und Vertrauen kommt den deutsch-französischen Politikergenerationen vor Kohl und Mitterand zu. Mitte der 1980er Jahre, als Kohl und Mitterand in Verdun stehen, ist die deutsch-französische Freundschaft längst Teil der Staatsräson beider ehemals verfeindeter Staaten. Dennoch war und ist der Händedruck von Verdun bedeutsam. Er gab und gibt dem in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg neu gewachsenen Vertrauen einen starken, treffenden Ausdruck. Er ist auch Ausdruck dafür, dass Umkehr selbst aus schlimmsten Verstrickungen und Irrtümern heraus möglich ist. Dass auch aus dem Bösesten – wenn alle es wollen – Gutes entstehen kann. Dass es einen Weg gibt vom Tod zum Leben. Dieser Weg führt über Umkehr und Vergebung.
Umkehr – das ist auch das Thema im heutigen Predigttext. Jesus befindet sich in Jerusalem. Im Tempel kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit den Hohenpriestern und Schriftgelehrten, also den religiösen Führern. Jesus erscheint einigermaßen erbost. Schließlich fragt er:
Was meint ihr aber? Es hatte ein Mann zwei Söhne und ging zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, geh hin und arbeite heute im Weinberg. Er antwortete aber und sprach: Nein, ich will nicht. Danach reute es ihn und er ging hin. Und der Vater ging zum zweiten Sohn und sagte dasselbe. Der aber antwortete und sprach: Ja, Herr!, und ging nicht hin. Wer von den beiden hat des Vaters Willen getan? Sie antworteten: Der erste. Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr. Denn Johannes kam zu euch und lehrte euch den rechten Weg, und ihr glaubtet ihm nicht; aber die Zöllner und Huren glaubten ihm. Und obwohl ihr's saht, tatet ihr dennoch nicht Buße, sodass ihr ihm dann auch geglaubt hättet. (Mt 21,28-32)
Jesus übt hier eine harsche Kritik an den religiösen Führern seiner Zeit. Wie er, so hatten doch auch sie die deutlichen Predigten von Johannes dem Täufer gehört. Zur Lebensänderung, zu Schuldbekenntnis und persönlicher Umkehr hatte er aufgerufen. Viele hatte sein Bußruf angesprochen. Sie kamen zu ihm an den Jordan und ließen sich von ihm taufen. Er sprach ihnen Vergebung und Gottes Nähe zu. Unter denen, die die Botschaft von Johannes ganz ernst nahmen, waren auch Zöllner und Prostituierte gewesen. Sie stellt Jesus nun als besonders vorbildlich heraus. Die religiösen Führer seiner Zeit finden offenbar keine Gnade vor seinen Augen. Zu sicher scheinen sie ihm in ihrem religiösen System, das sie sich geschaffen haben. „Ja, ja!“, sagen sie und wähnen sich auf der richtigen Seite des Glaubens. Für Jesus aber sind da zu viele Gesetze, die peinlich genau befolgt werden sollen, jedoch fehlt Barmherzigkeit. Da sind so viele Reglungen – alle gut gemeint, sicher. Aber die Liebe bleibt zu oft auf der Strecke. Besonders zu den Armen, Kranken, Schwachen, zu den Witwen und Waisen. Umkehr wäre nötig. Hinwendung zu dem, was wesentlich ist. Hinwendung zum Nächsten. „Barmherzigkeit will ich und keine Opfer!“ – so predigten es schon die Propheten. So redet auch Jesus. Bei den religiösen Führern sieht er zu viel religiösen Betrieb und zu wenig echtes Fragen nach dem Willen Gottes. Das macht ihn wütend. Deshalb dieses harsche Wort. Umkehr wäre nötig. Weg auch vom religiösen Betrieb, hin zu mehr persönlichem Glauben, zu mehr Gebet. „Der Tempel soll ein Bethaus sein!“, hatte Jesus kurz zuvor den konsternierten Priestern und Leviten entgegenrufen.
Was könnte eine solche Umkehr befördern? Auch in meinem Leben? Was hilft mir, selbstkritisch und ehrlich werden zu können – vor mir selbst, vor anderen, vor Gott? Ich glaube, ich brauche dafür ein Klima ohne Angst. Offene Arme, die mich freundlich empfangen, helfen mir. Wohlwollen, das mir entgegengebracht wird. Es würde mir die Umkehr erleichtern, wenn ich wüsste, dass ich nicht kleingemacht werde mit hämischen oder besserwisserischen Worten, wie: „Siehst du, ich hab es dir ja gleich gesagt!“, oder so etwas Ähnlichem. So etwas turnt ab. Mich motiviert ein Wort wie dieses: „Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht der Herr, und nicht vielmehr, daran, dass er umkehre von seinem Weg und lebe?“ Das hat der Prophet Hesekiel einmal gesagt (Hes 18,23). An anderer Stelle sagt Jesus: „Im Himmel ist Freude über einen Sünder, der umkehrt, mehr als über 99 Gerechte.“(Lk 15,7.10) Und Jesus erzählt die Geschichte von dem Sohn, der sich von seiner Familie losgesagt hatte, unter die Räder kam und schließlich reumütig zurückkehrte. Dem hält der Vater keine Moralpredigt, als er zurückkommt. Vielmehr hatte der Vater tagtäglich vor der Haustür gesessen und sehnsuchtsvoll auf die Rückkehr des Sohnes gewartet. Nun, da er seinen Sohn am Horizont auftauchen sieht, springt er auf, läuft ihm entgegen und schließt ihn voller Freude in die Arme.(Lk 15) „So ist Gott!“, will Jesus sagen. Gnädig und barmherzig, geduldig und von großer Güte! (Ps 103) Umkehr ist möglich. Versöhnung kann dort gelingen, wo beide Seiten dazu bereit sind.
In seinem Buch „Das Wesen des Judentums“ schreibt der 1956 verstorbene Rabbiner Leo Beck: „Der Mensch … kann umkehren. Er kann zum Gebot und zum Ursprung seines Lebens … zurückgelangen und damit zu Gott immer wiederkehren. Er kann, wenn er gesündigt hat, immer wieder anders werden… Er kann sich immer wieder entscheiden, immer wieder beginnen. Dem Leben des Menschen wird der Anfang immer neu gewährt, der Anfang bleibt ihm die stete … Möglichkeit. … (In der Umkehr) kann sich das Leben des Menschen immer erneuern.“(61960, S.178f)
Bis auf den heutigen Tag begehen Juden in aller Welt in den Monaten August und September ihren Monat Elul. Das bedeutet 40 Tage lang ein kritisches Nachdenken über das eigene Verhältnis zu sich selbst, zum Mitmenschen und zu Gott. Die christliche Fastenzeit vor Ostern hat hier ihr Vorbild. Der Monat Elul bedeutet eine Zeit der Buße. Diese soll sich auch in ganz konkreten Handlungen gegenüber den Mitmenschen zeigen. Das können ganz einfache Dinge sein. Z.B. der Besuch bei einem kranken Nachbarn. Die Unterstützung eines sozialen Projektes. Hilfe für einen bedürftigen Menschen. Die 40 Tage des Monats Elul stehen unter dem Motto: »Wachet auf, ihr Schlafenden, lasst euch erwecken aus eurem Schlummer, überprüfet eure Taten und kehret reuig zurück.«(Maimonides).
Umkehr ist möglich. Jeden Tag. Auch für mich: Umkehr zum Leben.
Und der Friede Gottes…
Amen.
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Fragen bringt weiter – Predigt zu Matthäus 21,28-32 von Bogislav Burandt
Fragen, liebe Gemeinde, bringt weiter. Ohne Fragen gibt es keine Entwicklung und keinen Fortschritt. Ohne eine richtige und genaue Frage läuft die Antwort ins Leere. Unsere Schüler sind möglicherweise von den vielen Fragen der Lehrer nicht begeistert. Aber eine glasklare Frage - die schätzen sie.
Fragen führen weiter. Vielleicht sind es heutzutage gerade die Künstler, die besonders scharf und unbequem Fragen aufwerfen. Letzte Woche habe ich die Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ in Wittenberg besucht. Die italienische Künstlerin Marzia Migliora gestaltete einen Raum zum Thema „Schuld“. Und was sah der Betrachter? Den Tresorraum einer Bank mit Schließfächern!
Fragen bringt weiter. Auch Jesus von Nazareth stellt Fragen. Ganz bewusst. Er weiß, dass seine Zuhörer alles zu wissen meinen. Und so kommt ganz schlicht seine Frage daher: Was meint ihr aber? Ansichtsfragen sind einfach. Jesus bezieht seine Frage auf die Geschichte, die er erzählt, und das fängt ganz harmlos an. Ein Vater hat zwei Kinder. So steht es wörtlich im griechischen Urtext. Auch wenn es sich, wie der Fortgang zeigt, bei den Kindern um Söhne handelt, ist durch die Wortwahl klar: Alle Mädchen und Frauen dürfen und sollen sich mit angesprochen fühlen!1
Der Vater äußert eines Tages gegenüber dem ersten Kind eine Bitte: Mein Sohn, geh hin und arbeite heute im Weinberg. Die Anrede ist liebevoll. Mein Sohn, sagt der Vater. Er äußert also eine Bitte und keinen Befehl. Arbeite heute, sagt der Vater. Offensichtlich muß der Sohn nicht jeden Tag auf dem elterlichen Hof mitarbeiten. Aber just heute möge er es tun: im Weinberg arbeiten.
Spätestens hier, liebe Gemeinde, ist es mit der Harmlosigkeit der Geschichte vorbei. Die Zuhörerinnen und Zuhörer Jesu wissen jetzt, daß von Gott die Rede ist. Die Reihenfolge Vater, Sohn und Arbeit im Weinberg läßt keinen anderen Schluß zu. Wo aber von Gott die Rede ist, ist Harmlosigkeit fehl am Platz.
Die Antwort auf die Bitte des Vaters erfolgt prompt: Ich will nicht, spricht der Sohn. Wie schockierend! Geht man so mit einer freundlichen Bitte seines Vaters um? Die Antwort des Sohnes ist in ihrer Schroffheit kaum zu überbieten, ein unfreundliches „mach deinen Kram alleine“ können wir da durchaus mithören.
Aber immerhin. Der Sohn bleibt nicht bei seinem Nein. Etwas kommt ihm dazwischen. Vielleicht weiß er selbst gar nicht genau, was es eigentlich ist. Jedenfalls schlägt seine Stimmung um. Das Gesagte tut ihm leid. Es tut ihm leid, so mit seinem Vater umgesprungen zu sein. Er geht hin in den Weinberg und macht sich an die Arbeit. Aus dem verbiesterten, geradezu unversöhnlichen Nein wurde doch noch ein Ja. Zwar nicht in einer ausdrücklichen Entschuldigung gegenüber dem Vater, aber doch durch stillschweigendes Arbeiten im Weinberg. Das Tun im Stillen bringt das Ja gegenüber der Bitte des Vaters zum Ausdruck.
Derweil hatte der Vater auch seinen zweiten Sohn angesprochen und ihn ebenfalls gebeten in den Weinberg zu gehen: Ja, Herr!, antwortet der zweite Sohn. Das klingt geradezu unterwürfig, so wie ein Sklave zu seinem Herrn spricht. Aber als Antwort gegenüber dem Gott, dem wir unser Leben verdanken, ist das absolut angemessen. Ja, Herr! - An so einer Antwort hat jeder fromme Zuhörer von Jesus seine Freude dran.
Und wie geht es weiter? Dieser Satansbraten von Sohn geht einfach nicht hin! Seinem großartigen Ja folgt in der Tat ein Nein. Ohne großes Nachdenken. Zu beneiden ist dieser Vater wirklich nicht. Seine Söhne sind alles andere als Musterknaben. Zwielichtige und unzuverlässige Ja - und Neinsager.
Und wir? Hören wir zu, wenn Gott uns etwas bittet? Das ist ja die Voraussetzung. Gott will etwas von uns, er möchte mit uns im Gespräch bleiben, er möchte, daß wir handeln nach seinem Willen. Unter uns Christen dürfte klar sein: Gott hat alle Rechte, uns um etwas zu bitten. Hat er uns doch um Christi willen die Seligkeit geschenkt, wie wir in der Epistel gehört haben. Wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, daß wir darin wandeln sollen, soweit Paulus im Epheserbrief (Eph 2,10).
Natürlich, einfach ist es nicht, im eigenen Leben die Stimme Gottes zu vernehmen. Und trotzdem gibt es sie. Die je und je sich ereignende Bitte, die an jeden persönlich ergeht: Heute gehe du hin. Gott hat seinen Willen kundgetan: Es gibt die 10 Gebote und die Aufforderung Jesu, Gott und den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Das ist kinderleicht und altersgerecht zugleich: ein Anruf bei einem Bekannten, der ziemlich allein ist; eine Entschuldigung bei einer Freundin für eine schroffe Antwort; das Angebot, mit dem hilflosen Banknachbarn Hausaufgaben zusammen zu machen; ein Engagement in Kirche und Gemeinde, achtsame Rücksichtnahme auf Gebrechliche in der U-Bahn und und und.
Die Arbeit im Weinberg Gottes ist nicht für die Pastoren reserviert. Im Blick auf das Reformationsjubiläum und den Gedanken vom Priestertum aller Glaubenden können wir uns das erneut klarmachen. Vielleicht lässt uns Gott auch schlicht die Arbeit sehen. Ein Lehrer der Christenheit meint: „Wenn wir die einen krank, andere arm und ohne allen Besitz, wieder andere in einem Zerwürfnis und niedergeschlagen sehen – sei es an Leib oder Geist, dann sollen wir daran denken: Ja, er gehört zu unserem Leib. Und dann sollen wir gleich durch die Tat zeigen, dass wir barmherzig sind.“2
Und? Werden wir hingehen? Oder sind wir auch wankelmütige Gestalten, die Gott eine Absage erteilen, weil seine Bitte uns gerade nicht in den Kram paßt? Das sind Fragen, die uns unangenehm berühren. Denn sie sind unbequem und zwingen dazu, die eigene Lebenshaltung zu überprüfen. So ergeht es allen, die Jesus zuhören. Er fragt: Wer von den beiden hat des Vaters Willen erfüllt? Die Antwort kommt ohne Zögern: Der Erste.
Was meint ihr aber? Die Zuhörer Jesu werden gezwungen, Farbe zu bekennen. Sie müssen wohl oder übel dem den Vortritt geben, der sein ausdrückliches Nein durch die Tat verneint hat. Dem, der an seinem Nein nicht haften geblieben ist. Unbequem ist, dass die überzeugten Alleswisser unter den Zuhörern sich mit dem Sohn identifizieren, von dem Jesus gar nicht erzählt hat: von dem, der ganz selbstverständlich, in Wort und Tat, ohne Probleme die Bitte des Vaters erfüllt. Möglicherweise sind daher einige Zuhörer sauer. Will Jesus etwa sagen, dass sie, die sie laut Gott bejahen, durch ihre Taten dem Willen Gottes widersprechen?
Jesus spürt die Ablehnung und reagiert: Wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr! Denn Johannes kam zu euch und lehrte euch den rechten Weg, und ihr glaubtet ihm nicht; aber die Zöllner und Huren glaubten ihm. Und obwohl ihr’s saht, tatet ihr dennoch nicht Buße, so daß ihr ihm dann auch geglaubt hättet.
Die Alleswisser zur Zeit Jesu, die hatten Johannes den Täufer links liegengelassen. Warum auch auf jemandem hören, der Heuschrecken und wilden Honig zu sich nimmt. Die Steuerbetrüger und Prostituierten dagegen sagt Jesus, die haben durch Johannes den Willen Gottes vernommen und eine Kehrtwendung vollzogen. Die haben sich durch Johannes in einer gottwohlgefälligen Weise verunsichern lassen und ihr Leben verändert!
Der Ärger der allwissenden Zuhörer steigt. Ich vermute, liebe Gemeinde, daß sich die Gegner Jesu auch deshalb so stark ärgern, weil sie irgendwo spüren, daß Jesus Recht hat. Das würden sie nie zugeben. Aber das, was sie selber an und in sich unterdrücken, das macht sich im Ärger Luft. Es ist traurig aber folgerichtig, daß am Ende des Kapitels erzählt wird, wie einige dieser Leute Jesus ergreifen wollen. So, als ob mit dem unbequemen Fragesteller auch die unbequeme Anfrage Gottes zu erledigen wäre! Andersherum wird ein Schuh daraus. In der Nachfolge Jesu Christi können und dürfen wir uns befreien lassen; befreien von den vielen Neins, die wir Gott gegenüber aussprechen.
Ich erinnere mich an eine Begegnung vor vielen Jahren in Walsrode. Da hatte ich eine Zeitlang mit einem Mann mittleren Alters zu tun. Er war bald nach der Konfirmation aus der Kirche ausgetreten und hatte gemeint, Gott sei in einem vernünftigen Weltbild nicht nötig. Arbeit, Fernsehen, Kinder und Bier, das war seine Welt, bis die Ehe zerbrach und er sich allein vorfand. Seine eigenen vernünftigen Anstrengungen machten ihn mehr krank als gesund. Und so begann er, sein Nein gegenüber Gott zu überdenken. Er begann nach Gott zu fragen und klopfte auch bei mir an. Ich versuchte ihm zu vermitteln, daß es eine Hilfe fürs Leben ist, sich von Gott in den Weinberg geschickt zu wissen. Das ist keine Überforderung sondern geschenkter Lebenssinn. Und schließlich wurde bei dem Mann aus dem Nein ein Ja. Fragen bringt weiter!
Herr Jesus Christus, hab Dank, daß du dich nicht abfindest mit einem Nein zum himmlischen Vater. Mache uns von neuem willig und bereit, auf sein Wort und seine Weisung zu hören. Gib uns Kraft zum Bekennen und Handeln. Lass uns erfahren, wie lebensförderlich ein Ja zum himmlischen Vater um deinetwillen ist.
AMEN
1 I Marlene Crüsemann, Die unterschiedlichen Kinder und die erfüllte Gerechtigkeit, GPM 71 Heft 3, (382-387) S.382.
2 I Matthias Freudenberg (Hg.), Calvin-Brevier, Neukirchen 2008, S.60; in den Predigten in unserer ev.-luth. Lukaskirche begegnet bis zum 31.10. jeweils ein Reformatorenzitat, das die Gottesdienstbesucherinnen- und Besucher beim Kirchenkaffee raten sollen, um dann einen kleinen Preis zu erhalten.
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Der Acker am Waldrand – Predigt zu Matthäus 21,28-32 von Gerlinde Feine
Zuständigkeiten
Es ist Sommer. Alles blüht, die Felder reifen, die Bäume sind voller Obst. Am Ende des Tages machen der Bauer und der Pfarrer einen Spaziergang durchs Dorf, vorbei an den Brombeerhecken, hinaus aufs Feld.
Sie kommen an ein Weizenfeld, reif zur Ernte. Die Ähren wiegen sich im Abendwind. „Schau mal“, sagt der Pfarrer, „wie wunderbar Gott doch das Korn hat reifen lassen, damit wir Brot haben.“ Der Bauer sagt nichts.
Dann erreichen sie die Weinberge, die sich rund um den Ort an die Hänge schmiegen. „Sieh doch nur“, schwärmt der Pfarrer: „All die herrlichen Reben, die Gott hat werden lassen, damit wir Wein haben!“ Wieder schweigt der Bauer.
Schließlich kommen sie ganz ans Ende der Markung, nahe an den Waldrand. Dort, auf dem letzten Feld des Ortes, schaut es aus wie Kraut und Rüben. Disteln und Dornen, soweit das Auge reicht. Erschrocken fragt der Pfarrer: „Was hast du denn mit diesem schönen Acker gemacht?“ – „Moment!“ wehrt der Bauer ab. „Hier war ich gar nicht zuständig. Das hat der liebe Gott ganz allein gemacht!“
Es hatte ein Mann zwei Söhne und ging zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, geh hin und arbeite heute im Weinberg.
Geh. Kümmere dich. Es ist dein Land. Dein Erbe. Schau, dass es ihm gut geht. Jäte das Unkraut und schneide die Dornen. Lichte die Sträucher, damit die Sonne die Blätter kitzeln kann.
Er antwortete aber und sprach: Nein, ich will nicht.
Ich habe gar keine Zeit mehr dafür. Und keine Ahnung. Was soll ich in deinem Weinberg? Ich bin nicht zuständig. Und ich kann auch nicht alles machen. Lass mich in Ruhe. „Ich kann mich nicht um alles kümmern.“ sagt der Bauer.
„Ich bin nicht zuständig.“ sage ich zu dem Mann an meiner Tür, der mir gerade eine traurige Geschichte erzählt hat und Geld von mir haben will. Ich gebe ihm einen Gutschein für den Tafelladen und schicke ihn weiter zur Beratungsstelle. Im Briefkasten war ein Flyer: Eine Bürgerinitiative will meine Unterstützung. Es geht um etwas Wichtiges – aber ich kann mich nicht um alles kümmern! Der Kollege bittet um Mithilfe bei der Notfallseelsorge. Nein. Ich will nicht. Ich kann nicht. Ich bin doch schon so eingespannt und kümmere mich um so viel! Schau auf die vielen Dinge, für die ich schon Sorge trage! Es geht nicht mehr.
Unkraut jäten
Und der Vater ging zum zweiten Sohn und sagte dasselbe: Mein Sohn, geh hin und arbeite heute im Weinberg.
Sorg dafür, dass die Ähren geradestehen und die Reben genügend Wasser bekommen. Halte die Füchse fern, die an den jungen Trieben knabbern wollen. Schütze die Saat vor Schädlingen. Und kümmere dich nicht nur um die Felder, an denen du oft vorbeikommst. Oder den Weinberg dort am Hang, der den Ort schmückt. Sorge auch für die Flächen am Waldrand.
Schau nach den Kindern, die nach der Schule herumtrödeln, weil zuhause niemand auf sie wartet. Setz dich zu der alten Frau im Pflegeheim, die dir ihre Geschichte erzählen will. Sprich mit dem Mann, der im Stehcafé auf die Politik schimpft. Schick das Brautpaar nicht weg, das nicht weiß, zu welcher Gemeinde es gehört und welche Formulare es braucht. Ich weiß, dass du für Strukturen gesorgt und viel Geld gegeben hast. Aber es reicht nicht. Kümmere dich um den Weinberg. Schau nach den Leuten.
Mein Kind, geh hin und arbeite heute im Weinberg. Und der Sohn antwortete und sprach: Ja, Herr!, und ging nicht hin.
Der Pfarrer und der Bauer besehen sich den Acker am Waldrand näher. Anscheinend ist ihm übel mitgespielt worden. Die Spuren da hinten, die könnten von einer Rotte Schwarzwild stammen. Dort, unter den Dornen, das sieht nach Müllsäcken aus und Flaschen, die hier jemand entsorgt hat.
„Wie ist das eigentlich?“ fragt der Bauer. „Gott gibt Sonne und Wärme, Regen und Wind. Er lässt die Felder reifen und schickt im Herbst letzte Süße in den schweren Wein. Nichts können wir dazu tun. Nichts gelingt ohne ihn. Und doch braucht er uns. Zum Säen, Jäten und Ernten, da nimmt er uns in die Pflicht…“ – „Und nie hört die Arbeit auf“, seufzt der Pfarrer. „wo es keine Äcker gibt, da stehen heute Fabriken. Die geben auch Arbeit und Brot, aber es hängt auch an uns, ob sie gedeihen können. Ob die Menschen von dem leben können, was da erwirtschaftet wird. Ob sie gesund bleiben und noch Zeit haben für sich und ihre Lieben.“
Inzwischen hat der Bauer ein paar Steine weggeräumt. „Sieh nur,“ sagt er. „Das ist ein ganz seltenes Kraut. Es wächst nicht überall. Aber wo man es entdeckt, da ist der Boden kostbar! Man muss es freilich pflegen. Sonst geht es ein und verliert seine Heilkraft.“
Der Pfarrer bückt sich. „Vielleicht machen wir es uns zu leicht mit unseren Vereinbarungen und Regelungen, mit den Formularen und Zuständigkeiten. Wir brauchen sie, weil wir sonst gar nicht mehr wissen, wohin vor lauter Arbeit. Aber wer weiß, wie viele von diesen kostbaren Pflanzen wir übersehen, wenn wir nicht losgehen und nachschauen?“
Gemeinsam geht es leichter
Mein Kind, geh hin und arbeite heute im Weinberg. Der Sohn antwortete und sprach: Nein, ich will nicht. Danach reute es ihn und er ging hin.
Er spürt die Verantwortung und nimmt sie an. Denn der Weinberg soll wachsen und Frucht bringen, Wein bringen für das Fest und Ertrag für die Familie. Er hat nicht „Ja“ gesagt zu dieser Arbeit. Aber er tut sie.
„Der andere Sohn antwortete und sprach: Ja, Herr! Aber er ging nicht hin.“
Er bleibt im Haus. Ganz in der Nähe des Vaters. Er weiß genau, was getan werden müsste. Aber er bekommt seinen Fuß nicht vor die Tür.
Der Bauer und der Pfarrer haben angefangen, den verlassenen Acker aufzuräumen. Zu zweit kommen sie gut voran.
„Wie ist das eigentlich mit dir, Pfarrer?!?“ fragt der Bauer nach einer Weile. „Den ganzen Weg über hast du mir erklärt, wie ich das Land bewirtschaften soll. Dabei kannst du doch auch etwas dafür tun!“ – „Und du siehst bei vielen Dingen tiefer und genauer hin ich.“ lacht der Pfarrer. „Du kennst alle Kräuter und weißt viel besser als ich, was dieser Acker wert ist!“ – „Aber du kannst mir helfen, ihn wieder in Ordnung zu bringen. Vielleicht nicht mehr heute Abend. Aber im Lauf der Zeit?!?“
„Wer von den beiden hat des Vaters Willen getan?“ fragt Jesus.
Dass der eine sein „Nein“ zurückgenommen hat und aktiv geworden ist, war nicht einfach Gehorsam. Er tat es, weil es ihn reute. Weil er Mitleid hatte und Liebe zu diesem besonderen Weinberg und zu dem, der ihn dort haben wollte.
Darum dreht sich alles. Denn auch der zweite Sohn wollte dem Vater recht sein. Doch es reicht eben nicht, wenn einer „Ja“ sagt und nicht dabei bleibt. Wenn nur die Form gewahrt wird, aber die Folgen ausbleiben, weil Liebe fehlt. Und Mitleid. Und der achtsame Blick auf das, was unter den Dornen liegt.
Es muss ja nicht so bleiben, dass der eine Sohn „Nein“ sagt und „Ja“ tut – und der andere bleibt zuhause und tut nur so, als ob. Und es kann auch nicht sein, dass der eine vor lauter Arbeit nicht mehr weiß, wo anfangen und wann aufhören – und der andere delegiert und fordert am Ende den Ertrag. „Ja“ sagen – und es auch tun, gemeinsam und voller Dankbarkeit über Gottes Weinberg – das wäre wirklich im Sinne Jesu. Da käme das Reich Gottes zum Vorschein mitten unter uns, so wie die seltenen Kräuter auf dem Acker am Waldrand. Und dann ist es keinem zu viel und doch nicht zu wenig.
„Was meint ihr aber? Wer hat des Vaters Willen getan?“
Das Fest auf der Wiese
Es ist Sommer. Alles blüht, die Felder reifen, die Bäume sind voller Obst.
Und Gott geht durch seine Welt und sieht nach seinen Menschen.
In den Fabriken ist Feierabend. Die Geschäfte machen Ladenschluss. Die Tiere im Stall sind versorgt und die Felder bestellt. Die Kinder sind mit den Schularbeiten fertig und auch in der Kirche gibt es nichts mehr zu tun.
Draußen auf der Wiese haben sie ein Feuer gemacht. Gemüse, Käse und Wurst liegen auf dem Grill. Jemand hat ein paar Decken gebracht für das große Picknick. Frisches Brot geht von Hand zu Hand. Schwer lässt es sich reißen und duftet so wunderbar! Krüge mit Wein und Traubensaft machen die Runde. Schmeckt und seht, was uns geschenkt ist.
Amen.
Diese Predigt ist auch erschienen bei "Der Prediger und Katechet" http://www.schwabenverlag-online.de/der-prediger-und-katechet-p-481.html?cPath=33
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05.11.2017 - 21. Sonntag nach Trinitatis
Ein Fundament aus Worten - Predigt zu Matthäus 7,24-27 von Kathrin Oxen
Das wichtigste sind die Schippen! Wer Kinder oder Enkelkinder hat, weiß das. Am besten richtige Schippen aus Holz, nicht solche Baby-Dinger aus Plastik. Denn wenn die Kinder größer werden, sind die Schippen beim Strandausflug das wichtigste. Ein Handtuch kann man ruhig vergessen, aber die Schippe muss mit! Denn am Strand wird gebaut. Die klassische Burg, ein Kanalsystem oder ein schönes Schloss. Die Kinder ertragen es mit Fassung, wenn am Ende auch die schönsten Bauwerke nur noch Matsch sind. Was auf Sand gebaut ist, hält eben nicht lange. Am Strand ist das ja nicht so schlimm.
Um das Bauen geht es auch im Predigttext. Jesus sagt:
Jeder, der meine Worte hört und danach handelt, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels gebaut hat. Da gingen Regengüsse nieder, Sturzbäche kamen, und Winde wehten und warfen sich gegen das Haus, aber: es stürzte nicht ein. Denn sein Fundament stand auf Fels. (Mt 7,24f)
Erfrischend aktuell, finde ich. In fast jedem Sommer sind unerwartete Regengüsse und Sturzbäche ein Thema. Strand ja, Sonne nein, einfach zum Verzweifeln. Besonders die Camper können einem doch leidtun. Schwimmende Luftmatratzen, nicht auf der kalten Ostsee, sondern im Zelt. Und die Hoffnung, dass es vielleicht doch noch trockener werden könnte, treibt in manchen Sommern jeden Tag ein Stück weiter hinaus.
Und selbst, wessen Haus sozusagen auf Fels steht, hat als Hausbesitzer immer damit zu tun. Schön, so ein Keller. Nicht schön, wenn er voller Wasser steht.
Regengüsse, Sturzbäche, matschige Zeltböden, absackende Burgen aus Sand, nasse oder trockene Keller: alles eine Frage des Fundaments. Worauf baust du? fragt dieser Sommer. Worauf baust du? Eine Frage für das Leben. Und die Geschichte geht noch weiter.
Und jeder, der diese meine Worte hört und nicht danach handelt, der ist wie ein Mann, der sein Haus auf Sand gebaut hat. Da gingen Regengüsse nieder, Sturzbäche kamen, Winde wehten und schlugen gegen das Haus, und es stürzte ein, und sein Sturz war gewaltig. (Mt 7,26f)
Eine ganz kurze Geschichte, eine klare Sache. Wenn die Regengüsse und Sturzbäche kommen, braucht man ein gutes Fundament, sonst rutscht alles ab. Auf das Fundament kommt es an, weil es einem festen Halt gibt. Und das hilft auch bei allen schweren Entscheidungen. So ein festes Fundament im Leben, und ein Keller, der immer trocken ist – das wäre ja schön. So einfach, wie es sich anhört, ist das aber nicht, finde ich. Ich habe so meine Schwierigkeiten mit Menschen, die immer genau wissen, was richtig und was falsch ist, die keinen Zweifel kennen. Die Kinder gucken sich am Strand immer voller Begeisterung an, wenn die Sandburg zwar noch steht, aber dann von unten das Wasser kommt und alles anfängt zu bröckeln. Bis alles ins Rutschen kommt und nur noch Matsch ist.
Aber wenn im wirklichen Leben etwas ins Wanken gerät, was einen bisher doch so gut getragen hat, fühlt sich das überhaupt nicht gut an. Den Keller immer schön trocken halten im Leben: Dafür gibt es keine Garantie. Jede und jeder macht doch Erfahrungen mit Regengüssen und Sturzbächen im Leben. Sie kommen so unverhofft wie ein Schauer an einem Sommertag, der doch eigentlich so schön angefangen hatte.
Zum Beispiel, wenn man schon einige Jahre verheiratet ist, Kinder und Beruf ganz gut unter einen Hut bekommen hat – aber irgendwie nur noch nebeneinander her lebt. Oder man freut sich schon auf den Ruhestand zu zweit, auf einen schönen gemeinsamen Lebensabend: und dann ist man auf einmal allein.
Eine Untersuchung, so wie jedes Jahr, nur zur Vorsorge und plötzlich macht der Arzt ein ganz ernstes Gesicht. Da rutscht weg, was doch das Leben tragen sollte. Worauf habe ich eigentlich gebaut? Was hält mich jetzt, hält mich überhaupt noch etwas oder stürze ich ins Bodenlose?
Die Frage nach dem Fundament stellt sich dann, wenn es angegriffen wird. Das kann nach einem Platzregen passieren oder schleichend ins Leben sickern. Das wissen nicht nur Hausbesitzer.
Worauf baust du? Was trägt dich? Wer diese meine Worte hört und danach handelt, der ist klug, sagt Jesus, der baut richtig, der hat ein Fundament, dem kein Regenguss und kein Sturzbach etwas anhaben kann. Bausteine nicht nur für das eigene Leben, sondern auch für das Leben in Gemeinschaft mit anderen.
Ich höre: Selig sind die Armen, die Traurigen, die Gewaltlosen, alle Menschen, die Frieden suchen – solche Menschen können sich glücklich preisen, sagt Jesus, wer das hört und so handelt und so lebt, hat ein gutes Fundament fürs Leben.
Arm und traurig, ohnmächtig und ohne großen Einfluss, anderen zugewandt und friedlich und trotzdem verfolgt und verspottet? „Entweder ist dies nicht das Evangelium – oder wir sind keine Christen“, soll der englische Mathematiker Thomas Linacre gesagt haben, nachdem er sich dieses Fundament angesehen hatte. Ich frage mich: Wer will denn so sein?
Wer meine Worte hört und danach handelt, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baut, sagt Jesus und meint: Wer darauf baut, dass am Ende den Gewaltlosen alles gehört. Dass sich am Ende die Friedfertigen durchsetzen und nicht die, die sich mit allen Tricks an der Macht halten. Dass es überhaupt nicht um Macht und Einfluss geht und darum, sich durchzusetzen.
Will ich wirklich so sein, wie es in den Seligpreisungen so leichthin geschrieben steht? Denn manches, was Jesus da als Fundament empfiehlt, hat einen hohen Preis. Ich möchte doch nicht arm oder ohnmächtig sein. Und barmherzig und gerecht bin ich auch nicht immer, selbst wenn ich mir die allergrößte Mühe gebe, fragen Sie mal die Menschen um mich herum!
Statt mir Halt zu geben, bringen mich die Worte Jesu erst einmal ins Rutschen, weil sie mir zeigen, wie ich sein sollte, aber nun mal nicht bin. Ich will nicht so sein, ich kann nicht so sein und ich bin nicht die Einzige, die solche Einwände gegen dieses merkwürdige Fundament hat. So kann man doch nicht leben! Wer arm und traurig und ohne Einfluss ist, der gehört doch wohl zu den Abgerutschten, zu denen mit dem nassen Keller, die es irgendwie nicht hingekriegt haben.
So kann man nicht leben, sagen deswegen alle ganz schnell, vor allem nicht, wenn es um das große Ganze geht, um den politischen Bereich. Denn das ist das Häufigste, was man über die Bergpredigt hört: dass sie als Fundament nichts taugt.
„Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen“, habe ich ganz oft gehört. Aber ich habe (hier) im Osten Deutschlands viele Menschen kennen gelernt, die diese Worte gehört und danach gehandelt haben. Sie haben es als Christen in der DDR-Zeit bewusst in Kauf genommen, arm und ohne Einfluss zu bleiben in einer Gesellschaft, die aus allem und mit allem Politik gemacht hat.
Nur eine kleine Auskunft hätten sie geben müssen darüber, wer im Nachbarhaus so ein und aus geht und schon hätte die Tochter den Studienplatz bekommen. Der Stift für die Unterschrift lag schon bereit. Aber sie sind aufgestanden und haben sich höflich verabschiedet und sind gegangen, traurig und glücklich zugleich.
Erfahrungen mit einem Fundament, das angeblich nichts taugt. Worte, wie weiß auf schwarz geschrieben in einem atheistischen Staat. Und heute sehen wir, was längeren Bestand hatte. Der Mut, die Hoffnung und der Glaube der Menschen, die auf Jesu Worte gebaut haben - oder das Bauwerk, das da ganz schnell errichtet werden sollte, das bessere Deutschland innerhalb einer Generation. Die Mauer steht jedenfalls nicht mehr. Die Gewaltlosen haben das Land geerbt. Und ich spüre heute noch die Kraft der Worte Jesu und den Halt, den sie geben können. Und die zeigen: dass man mit der Bergpredigt doch Politik machen kann. Vielleicht nicht als Regierungschef, aber als Volk.
Und wenn man mit der Bergpredigt doch Politik machen kann, dann kann man mit diesen Worten Jesu auch leben. Wenn mein Leben ins Rutschen kommt und der Keller vollläuft, gibt es mir Kraft und Halt, dass die Armen und Traurigen und Ohnmächtigen glücklich gepriesen werden. Es stimmt ja nicht, was alle sagen, es heißt ja nicht: „Nur wenn du arm und traurig bist, bist du glücklich“. Es heißt: Auch wenn du arm bist und traurig und schon ganz verzweifelt, kannst du glücklich sein.
Worauf baust du?, hat mich der Sommer gefragt. Ich baue auf die Worte Jesu, Worte, so eindeutig, wie wir es uns immer wünschen, Ich baue auf Worte, die mich beschämen, wenn ich auf die Uneindeutigkeiten in meinem Leben sehe. Ich baue auf Worte, die mich befreien von falschen Kompromissen. Ich baue auf Worte, die mich berauschen, weil sie sagen: Du kannst anders leben – und die mich reizen, weil sie sagen: Du musst anders leben. Worte, die mich trösten, im Leben und im Sterben. Worte, auf die ich bauen kann, in einem Sommer voller Regengüsse und Sturzbäche und mein ganzes Leben lang.
Amen.
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Nicht nur Hörer des Wortes - Predigt zu Matthäus 7,24-27 von Claudia Trauthig
1
„Wieder mal geschafft!“, denkt sie im Stillen für sich, atmet tief durch und will die schwere Holztür „ihrer“ alten Kirche gerade kräftig hinter sich schließen. Der heutige Predigttext, das Schreiben der Predigt, haben ihr einiges abverlangt, sie regelrecht ins Schwitzen gebracht. Wieder und wieder hat sie die Worte leise murmelnd abgeklopft, die Löschtaste ihres Computers benutzt, eine Idee verworfen - und eine andere probiert.
Aber jetzt liegt der Gottesdienst hinter ihr und die junge Vikarin freut sich auf das Mittagessen zuhause mit ihrem Mann und der kleinen Tochter. Sie ist gut in der Zeit.
Als sie die Tür schließt, fällt ihr Blick unwillkürlich noch einmal auf das Bibelwort, das über dem Spitzbogen des Seitenportals angebracht wurde:
Seid Täter des Wortes und nicht bloß Hörer allein. (Jak 1,22)
„Wohl wahr“, denkt sie und läuft mit federndem Schritt die wenigen Meter bis zu ihrem kleinen Auto auf dem Gemeindeparkplatz. Da sieht sie Frau Braungart stehen. Am Rande des Parkplatzes und mit suchender Miene. Heute hat Frau Braungart ihren Rollator nicht dabei, nur einen Stock, auf den sie sich wackelig stützt. „Einen schönen Sonntag, Frau Braungart“, will die Vikarin grade wünschen, da seufzt die alte Dame: „Auf meinen Enkel ist doch kein Verlass! Nun warte ich schon über eine Viertelstunde - und er ist immer noch nicht da.“ Verunsichert und müde blickt Frau Braungart die Straße hinunter. „Wohnt sie nicht ganz hinten im Neubaugebiet, bei ihrer Tochter?“, überlegt die Vikarin, während sie Frau Braungart sanft an der Schulter berührt und tätschelt. „Das ist genau die entgegengesetzte Richtung von mir.“
2
Hören wir den Predigttext für den heutigen 9. Sonntag nach Trinitatis:
Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, fiel es doch nicht ein; denn es war auf Fels gegründet. Und wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf Sand baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, da fiel es ein und sein Fall war groß. (Mt 7,24-27)
Liebe Gemeinde, nur vier Verse sind es heute, aber die haben es in sich.
Vermutlich ist Ihnen klar, dass es Worte Jesu sind, (den Konfirmanden und Konfirmandinnen sei es hiermit gesagt) und vielleicht fällt Ihnen auch ein, wo diese Beispielgeschichte im Evangelium steht? Richtig - am Ende der Bergpredigt - also jener langen und vielschichtigen Rede, die Jesus oberhalb vom See Genezareth dem Volk gehalten haben soll. Manche sagen, diese Bergpredigt sei so etwas wie „die Regierungserklärung“ Jesu, „die neue Verfassung für das Reich Gottes“. Wer diese meine Rede hört – und tut sie (…). Wer diese meine Rede hört – und tut sie nicht (…). (Mt 7,24.26)
Durch zwei unmissverständliche Bilder veranschaulicht Jesus am Ende seiner „Regierungspredigt“, was es bedeutet, danach zu handeln – oder eben nicht: Da ist das eine Haus, das auf festem Grund gebaut, allen Stürmen und Wettern standhält. Und da ist das andere, das -wenn das Leben tobt- wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt, weil das Fundament nicht trägt.
Nicht nur im Lande der Häuslebauer erschließt sich dieser Gegensatz ganz von allein: Ein sicheres Zuhause ist eines der tiefsten Grundbedürfnisse jedes Menschen.
Wer diese meine Worte hört und tut sie…Wer diese meine Worte hört und tut sie nicht…(Mt 7,24.26)
3
„Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen.“
Diesen schroffen Satz, des von mir eigentlich verehrten Kanzlers Helmut Schmidt, habe ich noch im Ohr. „Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen!“
Der Kanzler sprach jene Worte auf einem Kirchentag in den 1980er Jahren des letzten Jahrhunderts, in jener Zeit, in der nicht nur ich, sondern viele junge Menschen in West und Ost für den Frieden auf die Straße gingen, Menschenketten bildeten und gegen den sogenannten Nato-Doppelbeschluss protestierten. Fragen Sie mich jetzt bitte nicht, was das genau war. Unzweifelhaft ging es um eine Welt, in der Menschen friedlich zusammenleben, ohne immer weiter Milliarden in Rüstung und Abschreckungspolitik zu pumpen.
„Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen.“
So sehr ich mich als Studentin über diese simple Schroffheit geärgert habe, so sehr, ich gestehe es, habe ich sie doch im Laufe der Jahre übernommen - und irgendwie zu meiner eigenen Haltung gemacht.
Die Bergpredigt ist in der Tat die andere Welt Jesu, ein schöner Traum vom neuen Leben bei Gott, vom Reich der Himmel, in Ewigkeit. Amen.
Außerdem sind wir doch schließlich evangelisch, wie ja auch der Altkanzler, trotz aller Zweifel, bis zum Schluss seiner evangelischen Kirche in Hamburg treu blieb.
Evangelisch und damit bewahrt vor der seltsamen Vorstellung, man müsse sich durch gutes Leben und Tun einen Platz im Himmel verdienen.
Wir Evangelischen sind doch Kirche der Freiheit, wir müssen gar nichts, weder sonntags in die Kirche gehen noch werktags die Bergpredigt tun. Das ist es doch, was Luther vor 500 Jahren mit starker Hand an die Schlosskirche zu Wittenberg gehämmert hat. Oder nicht?
4
Zu Beginn der Bergpredigt sagt Jesus seinen Zuhörerinnen und Zuhörern:
Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen um aufzulösen, sondern um zu erfüllen. (Mt 5,17)
Auf Schritt und Tritt durch die Evangelien und sein Leben begegnet uns in Jesus ein Mensch mit einem unvergleichlichen Respekt vor der Heiligen Schrift, den Propheten, dem Gesetz.
Jesus ist Jude, und wie alle Juden sieht er „das Gesetz“, also die Tora mit ihren Geboten, nicht als ein Joch, das auf dem Menschen lastet, belastet, gar erdrückt. Für Juden und Jüdinnen wohnt Gott selbst in den Geboten, ist dort zu finden. Sie sind die Brücke zum Himmel.
Wussten Sie, dass die gesamte Tora, also die fünf Bücher Mose, und damit „das Gesetz“ im Laufe eines Jahres weltweit in allen jüdischen Gemeinden im Gottesdienst gelesen und wieder gelesen und ausgelegt werden - für heute?
Die Gebote Gottes und nicht weniger die Bergpredigt Jesu sind also ganz und gar keine Last auf meiner Schulter, sondern der Weg des wahren Lebens.
Wer diese meine Rede hört und tut sie, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute. (Mt 7,24)
5
Liebe Gemeinde, nicht falsch verstehen: Es ist und es bleibt richtig, fest zu vertrauen, dass ich mir Gottes Liebe nicht durch ein angespanntes Abarbeiten der Gebote verdienen kann oder muss. Davon ist auch an keiner Stelle der Bergpredigt die Rede. Allein der Gedanke ist ganz absurd. Für jeden Juden und für Jesus erst recht. Für Luther natürlich auch.
Wir sind und bleiben Menschen, Menschen, die jenseits von Eden, als Christenmenschen hoffentlich ihr Bestes versuchen, aber dennoch immer wieder scheitern, vermutlich jeden Tag.
Wir sind Menschen, die angewiesen bleiben auf jenen viel Größeren, dem wir die Letztverantwortung für alles und alle auch getrost übergeben.
Das gibt uns aber nicht das Recht, mit den Schultern zu zucken und zu resignieren. Es gibt mir nie das Recht zu denken: „Ich Einzelne kann ja doch nichts machen.“
„Selbst wenn morgen die Welt unterginge“, soll Luther ja auch gesagt haben, „will ich noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen.“ So wollen auch wir nicht nachlassen, Hoffnung zu pflanzen, dem Leben zu dienen, den Frieden auf Erden zu suchen und die Liebe zum Nächsten zu üben. Denn wo immer Gottes gute Gebote zum Leben missachtet werden, da wird Gott an den Rand geschoben und die Nächsten missachtet, vor allem die Schwachen. Oder die Natur. Schöpfung, die sich nicht wehren kann oder sich so wehrt, dass wir erst nicht begreifen und dann in Panik geraten.
Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, fiel es doch nicht ein; denn es war auf Fels gegründet. Und wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf Sand baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, da fiel es ein und sein Fall war groß. (Mt 7,24-27)
6
Darum: Lassen Sie uns mit diesem Vertrauen in die neue Woche gehen. Jesu Wort trägt. Es trägt uns ins Leben - und im Tun. Gottes Gebot ist der feste Grund unseres Lebens. Durch den Heiligen Geist zielt es immer wieder nicht nur auf unseren Kopf, sondern will im Herzen wohnen, damit es in die Hände fließt.
„Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“, will die Vikarin grade vorschlagen, als vor ihrem inneren Auge erneut die Losung vom Kirchenportal aufersteht: Täter des Wortes, nicht bloß Hörer allein. (Jak 1,22)
Wir müssen uns nicht den Himmel verdienen. Aber ein Stück Himmel auf Erden kann es sein, wenn Menschen auf der Basis guter Gebote liebevoll miteinander umgehen. Es sind die kleinen alltäglichen Entscheidungen, die darüber Auskunft geben, wie ernst es uns ist mit dem Glauben.
Beherzt hakt die Vikarin Frau Braungart unter. „Wissen Sie was - ich fahr Sie jetzt heim.
Und Sie erzählen mir ein wenig von Ihrem Enkel - und warum Sie eigentlich im Neubaugebiet wohnen.“ „Einverstanden.“ Frau Braungart nickt und kann erst gar nicht viel sagen. Aber im Auto, da löst sich die Zunge. „Also, Ihre Predigt, Frau Vikarin, die hat mir heute ganz besonders gut gefallen.“
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»Ein schweres Evangelium« - Predigt zu Matthäus 22,1-14 von Michael Greßler
I. Jerusalem
Ein großer Krieg war gekommen.
Heulen und Zähneklappern.
Blut und Tod.
Es ist das Jahr 70. Die Römer zerstören Jerusalem. Töten die Menschen. Sie verbrennen die Stadt. Der Tempel liegt in Schutt und Asche.Grausiger Höhepunkt eines Krieges, der schon vier Jahre tobt.
Jerusalem war danach sechzig Jahre lang unbewohnbar. 1,1 Millionen Juden waren umgekommen. Siebenundneunzigtausend wurden in die Sklaverei verkauft. Der Preis auf dem Sklavenmarkt ging in den Keller.Überangebot. Und auch der Goldpreis brach ein. Massenhaft wurde Kriegsbeute verkauft. Tempelgeräte und Privatschmuck.
Ein paar Jahre später. Der Evangelist Matthäus sitzt und schreibt. Irgendwo in Syrien, ein Stück weg von Jerusalem. Er schreibt die Geschichte von Jesus auf. Das Evangelium. Wort des Lebens.
Matthäus schreibt und er fragt sich: Wie konnte es geschehen?
Da fällt ihm eine Jesusgeschichte ein. Die von der großen Einladung. Vom Gastmahl Gottes. Von den Menschen, die kommen. Und von denen, die wegbleiben.
Er denkt sich: »Ja, so muß es sein. Sie wollten ja nicht an Jesus glauben. Und das haben sie nun davon. So einfach ist das.«
Dann fängt er an, zu schreiben.
Ein bisschen anders, als Jesus es wohl gemeint hat. Auf seine Weise:
Das Himmelreich gleicht einem König, der seinem Sohn die Hochzeit ausrichtete. Und er sandte seine Knechte aus, die Gäste zur Hochzeit zu rufen; doch sie wollten nicht kommen. Abermals sandte er andere Knechte aus und sprach: Sagt den Gästen: Siehe, meine Mahlzeit habe ich bereitet, meine Ochsen und mein Mastvieh ist geschlachtet und alles ist bereit; kommt zur Hochzeit! Aber sie verachteten das und gingen weg, einer auf seinen Acker, der andere an sein Geschäft. Die Übrigen aber ergriffen seine Knechte, verhöhnten und töteten sie. Da wurde der König zornig und schickte seine Heere aus und brachte diese Mörder um und zündete ihre Stadt an. (Mt 22,1-14)
Ist es wirklich so einfach? So einfach, wie Matthäus schreibt? Einfach so: »Das kommt davon«?
Der große Krieg – eine Strafe Gottes für sein eigenes Volk?
Ich bin mir da nicht so sicher. Im Gegenteil.
Wir wissen heute ziemlich genau Bescheid über jenen großen Krieg. Matthäus hätte es eigentlich auch wissen können. Da ging es um Steuern und Macht, um Aufstand und militärische Gewalt, es ging um Strategie und Politik.
Da ging es um lauter Dinge, die Menschen machen. Schlimm genug das alles. Aber von einer Strafe Gottes höre ich nichts.
II. Wittenberg
1531 in Wittenberg. Es ist der 22. Oktober. Martin Luther steigt auf die Kanzel von Sankt Marien. Zweimal, einmal am Vormittag, am Nachmittag dann noch einmal.
Er liest das Evangelium – die Worte, wie sie Matthäus einst aufgeschrieben hat.
Das Himmelreich gleicht einem König, der seinem Sohn die Hochzeit ausrichtete. Und er sandte seine Knechte aus, die Gäste zur Hochzeit zu rufen; … aber sie verachteten das und gingen weg, einer auf seinen Acker, der andere an sein Geschäft. Die Übrigen aber ergriffen seine Knechte, verhöhnten und töteten sie. Da wurde der König zornig und schickte seine Heere aus und brachte diese Mörder um und zündete ihre Stadt an. Dann sprach er zu seinen Knechten: Die Hochzeit ist zwar bereit, aber die Gäste waren's nicht wert. (Mt 22,2.5-8)
Luther auf der Kanzel. Das Volk steht unten – zwei seiner Schüler haben Schreibzeug dabei und schreiben mit.
Dann fängt er an zu predigen: »Dies Evangelium ist einfach, wie ihr seht, und es ist schrecklich, weil es von denen gesagt ist, die Gottes Wort verachten.«
Eigentlich ganz einfach. Und einfach ganz schrecklich.
Luther steht auf der Kanzel und predigt ein Evangelium, das so recht keins sein will.
Er hatte ja selbst schon wieder einen Krieg erlebt, damals vor sieben Jahren, als der Bauernkrieg tobte.
Damals war er entsetzt von der Gewalt. Aber es ist ihm nicht viel mehr eingefallen, als neue Gewalt.
»Wider die aufrührerischen und mörderischen Rotten der Bauern« hat er geschrieben. Und die Fürsten haben seinen Ruf nur zu gern gehört. Bei Frankenhausen kam die Entscheidungsschlacht. Achttausend Bauern gegen sechstausend Landsknechte. Es dauerte nur drei Stunden. Dann waren etwa zwanzig Landsknechte tot. Und sechstausend Bauern.
Nein, in seiner Predigt am 22. Oktober 1531 zu Wittenberg ist Luther nicht darauf eingegangen. Vielleicht sind sie ihm ja noch einmal durch den Kopf gegangen, die vielen Opfer. All die Toten. Mord und Blut. Heulen und Zähneklappern.
Und so predigt er. Er predigt klug. Und richtig.
Er sucht das Evangelium in unserer Geschichte. Das Wort des Lebens. Und, ja, er findet es. Die »Große Einladung«.
Das Himmelreich gleicht einem König, der seinem Sohn die Hochzeit ausrichtete. Und er sandte seine Knechte aus, die Gäste zur Hochzeit zu rufen; […]Sagt den Gästen: Siehe, meine Mahlzeit habe ich bereitet, meine Ochsen und mein Mastvieh ist geschlachtet und alles ist bereit; kommt zur Hochzeit! (Mt 21,2.4b)
»Kommt, denn es ist alles bereit! Schmeckt und seht, wie freundlich der Herr ist. …Kommt her, ihr seid geladen!« (Ps 34,9f)
Aber dann macht Martin Luther dasselbe, wie Matthäus. Er weiß ja auch von jenem großen Krieg damals, als Jerusalem zerstört wurde. Er sieht die Juden in seiner Stadt, Gottes Volk, zerstreut unter alle Völker. Wenige Meter hinter ihm, draußen an der Stadtkirche, da ist dieses schreckliche Schmäh- und Hassbild: Die Judensau.
Und er predigt vom abschreckenden Beispiel. »Seht euch die Juden an! Sie haben Propheten getötet und am Ende Gottes Sohn zu Tode gebracht. Und nun seht ihr, wie es ihnen geht: Der Tempel ist zerstört, sie sind verstreut in alle Welt. Lasst euch warnen, sonst geht’s euch genauso. ‚Das kommt davon.’ Heulen und Zähneklappern.«
»Dies Evangelium ist einfach, wie ihr seht, und es ist schrecklich, weil es von denen gesagt ist, die Gottes Wort verachten.«
Ist es wirklich so einfach? Auch, wenn Luther es so gepredigt hat am 22. Oktober 1531 – ich bin ich mir da nicht so sicher. Im Gegenteil.
III. Camburg
2017, 25. Juni.
Die Geschichte ist weitergegangen.
Juden und Christen gingen getrennte Wege, immer wieder Schuld und Gewalt gegen Gottes Volk. Es kam ein zwanzigstes Jahrhundert. Es kamen Kriege, größer als alle, die bisher gewesen waren. Es kam der Holocaust.
Und wo Matthäus eins saß und schrieb, in Syrien, tobt ein aktueller großer Krieg. Menschengemacht wie alle anderen.
Heulen und Zähneklappern. Es hört nicht auf.
Dann sprach der König zu seinen Knechten: Die Hochzeit ist zwar bereit, aber die Gäste waren's nicht wert. Darum geht hinaus auf die Straßen und ladet zur Hochzeit ein, wen ihr findet. Und die Knechte gingen auf die Straßen hinaus und brachten zusammen, alle, die sie fanden, Böse und Gute; und der Hochzeitssaal war voll mit Gästen. (Mt 21,8-10)
So kennen wir’s, und so hören wir es gern. Evangelium. Wort des Lebens. »Kommt, denn es ist alles bereit.«
Der Hochzeitssaal voll von Gästen. Es könnte so einfach sein. Und ist es doch nicht.
Wo wir doch die »eine, heilige, allgemeine und apostolische Kirche« bekennen.
Wo doch alle eins sein sollten. Alle Christen und alle Menschen. Gäste bei Gott.
»Dies Evangelium ist einfach, wie ihr seht, und es ist schrecklich, weil es von denen gesagt ist, die Gottes Wort verachten.«
So hat Martin Luther einst gepredigt. »Schwer für die anderen. Und einfach für uns. Wir hier drinnen und die da draußen – und sie werden schon sehen, was sie davon haben – und ‚Heulen und Zähneklappern’. Das kommt davon«.
Nein. So einfach ist es nicht.
Wo stehen wir selbst?
Da ging der König hinein zum Mahl, sich die Gäste anzusehen, und sah da einen Menschen, der hatte kein hochzeitliches Gewand an, und sprach zu ihm: Freund, wie bist du hier hereingekommen und hast doch kein hochzeitliches Gewand an? Er aber verstummte. Da sprach der König zu seinen Dienern: Bindet ihm Hände und Füße und werft ihn in die äußerste Finsternis! Da wird sein Heulen und Zähneklappern. Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt. (Mt 21,11-14)
Wo stehe ich?
Wo stehe ich nach meiner langen Geschichte – und nach einer Weltgeschichte voll großer Kriege und Blut und Tod, Heulen und Zähneklappern?
Wo stehe ich mit meinen eigenen Gedanken?
Ich denke ja auch manchmal: »Richtig so. Selber schuld. Hat er aber auch verdient!«
Ich ertappe mich auch bei solchen Gedanken: »Wir hier … und die anderen dort«. Ich mache selbst die Dinge schwer, die Gott eigentlich einfach gemeint hat. Und ich gebe einfache Antworten, wo ich viel genauer hinschauen müsste.
Wo stehe ich in diesem Evangelium, das so recht keins sein will?
Ich habe keine Antwort. Eine einfache schon gar nicht.
Ich weiß es auch nicht besser als Matthäus oder Martin Luther.
»Dies Evangelium ist einfach, wie ihr seht, und es ist schrecklich, weil es von denen gesagt ist, die Gottes Wort verachten.«
Nein, dieses Evangelium ist nicht leicht. Auch nicht für mich. Und wer sagt, es sei leicht, der macht es sich zu einfach. Dies Evangelium ist ein schweres Evangelium. Auch für mich.
Aber ich will es hören. Und nicht aufhören damit.
Das Wort des Lebens will ich hören. Selbst in einer Geschichte, die so dunkel daherkommt. Und auch in einer Welt voll Blut und Tod. Auch mit meiner eigenen Geschichte und in meiner eigenen Schuld.
Ich will hören. Diesen einen Satz. Das Wort, auf das es ankommt:»Kommt, denn es ist alles bereit.«
Und ich will kommen. So gut ich kann. Amen.
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Das Fest machen die Gäste - Predigt zu Matthäus 22,1-14 von Kathrin Oxen
Ein, zwei sind immer dabei. An ihren Plätzen noch die Tischkarte mit dem Namen, aber kein Gesicht dazu, keine Gestalt, kein Geschenk und kein Gefühl außer Bedauern. Sie konnten nicht kommen. Es hat sie etwas gehindert, etwas lange Geplantes, etwas Unvorhergesehenes, etwas Schlimmes, etwas Besseres etwa?
Etwas Wichtigeres. Erkrankt, zur Kur, im Urlaub, kein Urlaub, woanders eingeladen, auf Dienstreise, unabkömmlich, die Reise zu weit, nun zu alt, die Kinder zu klein.
Es tut ihnen leid, sie entschuldigen sich, sie lassen herzlich grüßen, sie wären so gerne gekommen, es sollte nicht sein. Man kann nicht auf zwei Hochzeiten tanzen, nur auf einer und nicht auf dieser.
Wir nippen am Sekt und nicken und verstehen das, wer hätte nicht schon einmal absagen müssen oder absagen wollen, „ganz plötzlich“ ins Telefon gelogen, „die Kinder“, „die Arbeit“, was auch immer, jedenfalls nicht dieses Fest, mit echtem Bedauern oder ohne. Wir nippen am Sekt und wissen, wie das ist. Ein, zwei sind immer dabei. Und die sind damit anwesender als die Anwesenden. Die bieten Gesprächsstoff am Abend und sind noch Jahre später präsent. „Die waren nicht bei unserer Hochzeit“.
Ein Stich ins Herz der Gastgeber, für die kein Tag wichtiger sein kann als dieser. Das Fest, vorbereitet und geplant mit dem nervösen Wissen aller Gastgeber, dass es am Ende die Gäste sind, die das Fest machen, ihre Gesichter, ihre Gestalten, ihre Geschenke, ihre Gefühle. Jede Absage rührt an die Oberfläche aus Konventionen und Höflichkeit. Und oft dringt sie durch und kommt an eine Stelle, wo es wehtut. Natürlich, wir verstehen das. Aber wir verstehen es auch so: Es gibt etwas Wichtigeres als die Einladung. Es gibt etwas Wichtigeres als uns.
Ein König richtete für seinen Sohn die Hochzeit aus. Und er sandte seine Knechte aus, die Geladenen zur Hochzeit zu rufen, doch die wollten nicht kommen. Darauf sandte er andere Knechte aus und sprach: Sagt den Geladenen: Seht, mein Mahl habe ich bereitet, meine Ochsen und das Mastvieh sind geschlachtet, und alles ist bereit. Kommt zur Hochzeit! Sie aber achteten nicht darauf und gingen ihres Wegs, der eine auf seinen Acker, der andere an sein Geschäft. Die übrigen aber ergriffen seine Knechte, misshandelten und töteten sie. Da wurde der König zornig und schickte seine Heere aus, ließ jene Mörder umbringen und ihre Stadt anzünden. (Mt 22,2b-14)
Ein, zwei sind immer dabei. Aber gleich alle? Und das nach „Save the date“ und „Um Antwort wird gebeten“, nach Gästeliste und Essensbestellung, Sitzplan und Tischdekoration. Jetzt ist es soweit, kurz vor dem Fest noch einmal „Ihr kommt doch?“. Aber keiner will kommen. Keine Gesichter zu sehen, keine Gestalten, keine Geschenke, keine Gefühle. Keiner will feiern, auch dann nicht, als die Boten noch einmal wiederkommen mit der Menükarte in der Hand. Sie achten gar nicht darauf.
Und mit einem Mal zerreißt die Oberfläche aus Höflichkeit und Konventionen. Es tut weh. Gleichgültigkeit schlägt um in Aggression und dann Liebe in Zorn. Das Fest endet, bevor es angefangen hat, in Mord und Totschlag.
Dann sagte er zu seinen Knechten: Die Hochzeit ist zwar bereit, die Geladenen aber waren es nicht wert. Geht also an die Ecken der Straßen und ruft zur Hochzeit, wen immer ihr findet. Da gingen die Knechte auf die Straßen hinaus und brachten alle, die sie fanden, Böse und Gute, und der Hochzeitssaal füllte sich mit Gästen. (Mt 22,8-10)
Einer, zwei, so betreten sie zögernd den Saal. Treten sich wieder und wieder die Füße ab, streichen ihre zerknitterten Kleider glatt, so gut es geht und fahren sich durch das Haar. Unsicher suchen sie sich einen Platz. Die Tischordnung gilt ja wohl nicht mehr. Vor ihnen noch die Karte mit einem Namen. Die nehmen sie vorsichtig und legen sie umgedreht auf den Tisch, bevor sie sich setzen. Wie gut, dass Musik gespielt wird. Sie wüssten ja gar nicht, was sie reden sollten an diesen Tischen voller fremder Gesichter. Als das Essen kommt und der Wein, greifen sie zu. Fleisch und Brot und Wein, reichlich und köstlich, beruhigend konkrete Zeichen für ein Fest.
Und nun auch der Blick des Sitznachbarn, des Gegenübers. Ein vorsichtiges Lächeln beim Anheben des Glases. Die ersten Worte werden gewechselt, über das Essen, über den Saal und von welchem Ende welcher Straße man hier hinein gefunden hat.
Aber die Gespräche verstummen wieder, als der König den Saal betritt. Er hat Ruß an den Kleidern und Blut an den Händen.
Als aber der König eintrat, sich die Gäste anzusehen, sah er da einen, der kein Hochzeitskleid trug. Und er sagte zu ihm: Freund, wie bist du hier hereingekommen ohne ein Hochzeitskleid? Der aber blieb stumm. Da sagte der König zu seinen Dienern: Bindet ihm Hände und Füße und werft ihn hinaus in die äußerste Finsternis; dort wird Heulen und Zähneklappern sein. Denn viele sind berufen, wenige aber auserwählt. (Mt 22,11-14)
Es ist still geworden im Saal. Nein, keiner möchte mehr nachnehmen. Keiner lässt sich nachschenken. Sie essen auf und trinken aus und dann verabschieden sie sich höflich, aber eilig und verschwinden in der Dunkelheit, einer, zwei, jeder für sich, dorthin, wo sie hergekommen sind und wo sich die Straße verliert im Weglosen.
Denn viele sind berufen, wenige aber auserwählt. Ein, zwei sind immer dabei.
Aber wer bin ich?
Es ist schwer, seinen Platz zu finden in dieser Geschichte. Die Tischkarten bleiben alle umgedreht, die Zuordnungen sind schwierig bis unmöglich. Wer wer ist, möchte man ja zu gerne wissen, wer dazugehört und wer nicht, wer drinnen ist und wer draußen. Aber das entscheidet jemand anderes. Die Geschichte ändert sich in jedem Augenblick, sie nimmt unvorhersehbare Wendungen. Eine heilsame Unsicherheit, nicht nur im Themenjahr Reformation und Toleranz. Sie macht alle Zuschreibungen und Identifizierungen unmöglich.
„Unser Herrgott behüte uns davor, dass wir solche Verächter und Verfolger werden, wie es die Papisten sind“ hat Martin Luther in seiner Predigt zu dieser Geschichte gesagt. Ja, unser Herrgott behüte uns vor solchen und ähnlichen Zuschreibungen.
Daraus wird nichts als eine endlose Geschichte voll Finsternis und Ruß und Blut und Tod und Tränen. Denn wir haben kein Herrschaftswissen darüber, wie es mit dem Himmelreich ist, wer dazugehört und wer hineinkommt. Während wir fleißig dabei sind, Tischkärtchen zu malen, betritt schon der König den Saal. Er nimmt uns die Karten aus der Hand.
Ich sehe ihn vor mir, den König, mit Ruß an den Kleidern und Blut an den Händen und diesem unbarmherzigen Blick. Ich habe Angst vor ihm. Und ich höre, dass der Weisheit Anfang die Furcht des Herrn ist.
Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem König, der für seinen Sohn die Hochzeit ausrichtete.(Mt 22,2) Am Anfang war der König der Gastgeber. Am Anfang ging es ihm, wie es allen Gastgebern geht. Er möchte von Herzen gerne seine Gäste sehen, ihre Gesichter, ihre Gestalten, ihre Geschenke, ihre Gefühle. Sie tun ihm weh, weil sie so gleichgültig sind, so achtlos und nachlässig, lieblos und roh. Sie tun ihm weh, weil es für sie immer etwas Wichtigeres gibt. Jede Absage ein Stich ins Herz. Und am Ende steht er da, alleine im Hochzeitssaal, eine dunkle, unverständliche Gestalt.
Die Geschichte könnte so viel kürzer sein, so viel heller und fröhlicher. Wir Gäste sind es doch, die das Fest machen.
Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem König, der für seinen Sohn die Hochzeit ausrichtete. Und er sandte seine Knechte aus, die Geladenen zur Hochzeit zu rufen, und sie kamen alle. Und das Fest beginnt, Essen und Wein, reichlich und köstlich, Lichter und Musik. Kein Tag ist wichtiger als dieser.
Und wir hören eine Stimme, die sagt: Kommt, es ist alles bereit, schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist. (Ps 36,9)
Ein, zwei sind immer dabei.
Ich komme.
Amen.