Advent ist Schwellenzeit - Predigt zu Matthäus 21,1 - 11 von Christian Stasch
Lieber adventlicher Mensch,
eine Schwelle hast du übertreten, heute. Türschwelle. Nur so hast du dein Haus verlassen können. Hast dich auf den Weg gemacht. Hast dann hier die Schwelle an der Kirchentür übertreten, bist hereingekommen, eingezogen, bist nun da. Wie schön. Und wenn du sagst, „mein Haus ist ganz eben, das hat gar keine Schwellen mehr“, dann antworte ich dir: „Doch, es hat noch Schwellen. Die bleiben. Immer.“ Lasst uns an diesem 1. Advent auf die Schwellen achten.
Er übertritt die Schwelle nach Jerusalem hinein, ganz in weiß. 39 Jahre alt ist er und wird eine Woche in der Stadt bleiben. Er übernachtet in einem Zeltlager vor dem Stadttor, mit luxuriösen Möbeln, mit Extrazelten für das Kochen und für Empfänge. „Bereitet dem Herrn den Weg“, hat man sich wohl gesagt: Ein Graben ist extra für ihn aufgefüllt worden, vor dem Stadttor schön eigeebnet, der Mann kann nun einziehen in die Stadt, nicht zu Fuß, sondern reitend, hoch zu Ross, 90 weitere festlich gekleidete Menschen in seinem Gefolge. Eine Kapelle macht Musik ihm zu Ehren. „Tochter Zion?“
Nein: Die türkische Kapelle des Sultans spielt die deutsche Nationalhymne, für ihn, für Kaiser Wilhelm II, vor ziemlich genau 120 Jahren. Jerusalem ist damals eine Station auf seiner Palästinareise; vom Reisebüro Thomas Cook organisiert. Der Monarch ist aus Berlin hierhergekommen, er will die neu gebaute evangelische Erlöserkirche einweihen. Großer Bahnhof für ihn, die Stadt ist damals extra gereinigt worden, wochenlang, damit es ein würdiger Empfang wird. Das war 1898 und es ist weitgehend vergessen.
Lange Zeit zuvor zieht ein anderer durchs Tor. Unvergessen. Auf einem Esel, oder waren es sogar zwei Esel? Egal. Sein Aufenthalt: nicht mal ganz eine Woche, fünf Tage nur. Er ist so um die 30, er kommt vom Lande, jetzt ist er auf der Schwelle zwischen Stadt und Land. Genauer gesagt: zwischen Land und Stadt. Wir nennen immer die Stadt zuerst, sagen z.B. „Stadt-Land-Gefälle“, betonen dabei die boomenden Städte (mit ihren viel zu wenigen Wohnungen) und dann kommen die abgehängten Dörfer (mit ihren viel zu wenigen Bussen und Ärzten). Die Evangelien in der Bibel sind aber zu 80 % Landgeschichten und nur das Finale ist städtisch. Die Reise in die Stadt wird für den jungen Mann vom Lande das Ende bedeuten, sein Einzug also: der Anfang vom Ende - das sich dann, nachadventlich, als Neuanfang entpuppt.
Jesus, jetzt, auf der Schwelle. Adventszeit.
Wir feiern heute nicht den Anfang vom Ende, sondern den Anfang vom Advent. Das neue Kirchenjahr beginnt heute. Kann man gut am Gesangbuch erkennen: Lied Nr. 1 als Türschwellen-Song: „Macht hoch die Tür“, fast alle Lieder heute im Gottesdienst haben einstellige Nummern. Die Adventslieder eröffnen das Gesangbuch. Jetzt geht’s los!
Neuanfang. Schwellenzeit.
Wenn die Adventszeit beginnt, denke ich immer auch: „Mensch, geht dies Jahr schon wieder zu Ende …!“ Also das Kalenderjahr. Die Tage werden kürzer, die Dunkelheit nimmt zu, die Bäume tragen kein letztes Laub mehr. Dinge auf dem Schreibtisch müssen noch zu Ende gebracht werden in der Adventszeit. Da ich die Adventszeit aber sehr mag, denke ich auch: „Endlich Advent.“ Zum Glück. Zum Glück geht’s los. Und ich habe auch bis zum 1.Advent heute meiner großen Lust auf Lebkuchen noch nicht nachgegeben, da bin ich altmodisch..
Endlich. Ende, Anfang. Schwellenzeit.
Jesus ist so ziemlich am Ende. Ob er das ahnt, was ihn am Ende seines Weges erwartet, dass er in diese Situation gerät, leiden muss, sterben muss, eine neue Schwelle überschreitet? Man weiß es nicht. Der Dichter des Adventsliedes „Es kommt ein Schiff geladen“ ist sich sicher: „Zu Bethlehem geboren im Stall ein Kindelein, gibt sich für uns verloren, gelobet muss es sein.“ (EG 8,4)
Schwellenzeit.
Auf der Tür-Schwelle stehend kann ich reingehen oder rauslaufen. Sehe was war und erahne was kommt. Bin im Übergang, zwischen Wehmut und Vorfreude. Schaue zurück auf die Adventsgefühle meiner Kindheit, in den 1970er Jahren. Damals machte mich der Schokoladenkalender 24 Tage lang komplett glücklich. Mein bester Freund Stefan, der arme, hatte jedes Jahr einen Adventskalender mit kleinen Bildchen. Tür auf, und dann nur ein Bildchen, nichts zu essen. Er fand das gut. Sagte er jedenfalls. Ich hätte mit ihm nicht tauschen wollen. Stefan tat mir leid.
Ein Schoko-Kalender war mir dann später nicht mehr wichtig. Heute auch nicht. Dafür aber: Musik, Adventslieder, ja, oder ein schönes Konzert, außerdem Backen, ja, Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt trinken, klar, Mandarinen verputzen, und die Finger riechen so schön nach der Schale, adventliche Gottesdienste feiern, die Weihnachstage planen. Mein Kalender ist inzwischen im Grunde ähnlich wie damals der von Stefan, bloß gibt’s außer einem Bild auch noch einen kurzen Text: „Der andere Advent“, so heißt der Kalender. Macht anders satt als Schokolade.
Advent. Den Fuß über eine Schwelle setzen. Vorankommen.
Unser adventlicher Eseltext malt ein Bild von Mobilität. Nicht daheim hocken, sondern sich auf den Weg machen. Jesus verkörpert göttliche Bewegung.
Uns bewegt derzeit allerdings gar nicht so sehr Pferd oder Esel, sondern Diesel. Wir fanden unsere Autos samt Dieselmotor eigentlich ganz prima und sparsam – und ahnten beim Kauf noch nichts von Schummelauto, Dreckschleuder, Ladenhüter. In viele deutsche Städte gelangt man inzwischen leichter mit einem Esel als mit einem Diesel.
Jesus kann auch nicht ohne, nicht ohne Esel. Als die beiden Esel ihrem Besitzer ausgeborgt werden, lautet die Begründung dafür: „Der Herr bedarf ihrer“. Also: Jesus bedarf ihrer. Er braucht diese Esel. Jesus ist tierisch bedürftig an dieser besonderen Schwelle.
Der Esel ist nicht zufällig gewählt. Der langsame, sture, aber auch geduldige und belastbare Esel. Eben gerade kein hochgezüchtetes Pferd, obwohl das schicker und majestätischer aussehen würde. Der schlichte Esel erinnert an die alte Hoffnung in der Bibel Israels, dass eines Tages ein gerechter König kommen werde, uneigennützig, sanftmütig, friedfertig. Arm, auf einem Esel, so wird er kommen, heißt es da wörtlich im Alten Testament. Und Kampfwagen und Kriegspferde werden ausdrücklich erwähnt: die sollen dann nämlich ausgedient haben, sie werden überwunden sein. Und wir könnten ergänzen: das Geld für die deutschen Verteidigungsausgaben 2019 könnte dann auch anders eingesetzt werden, das sind immerhin 43 Milliarden Euro, das ist übrigens, hingeschrieben, eine 43 mit neun Nullen dran – was übrigens bei einem Eselpreis von 500,- Euro einen Esel für jeden einzelnen Bundesbürger ergeben würde.
Manche also haben damals den Eindruck, dass diese lang gehegte Friedenssehnsucht sich gerade jetzt mit Jesus erfüllt, in diesen Begegnungen, in diesen kostbaren Wochen und Monaten mit ihm. Weil ihr Leben ganz neu aufblüht. Weil sie sich wie verwandelt fühlen, versöhnt, befreit. So folgen ihm Menschen nach. Und sie halten nicht damit hinterm Berg, dass Jesus gut bei ihnen ankommt. Sie sind keine stillen Genießer, sondern Lautsprecher, sogar Schreihälse. Dreimal wird das Schreien erwähnt: Kurz vor dem Einzug in Jerusalem: Zwei Blinde merken, dass Jesus in der Nähe ist. Sie sprechen ihn nicht etwa höflich und dezent an, sondern sie schreien: „Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich unser!“ Dann die Menschenmenge, die mit Jeus mitgepilgert ist nach Jerusalem, die flüstert nicht etwa „Also ich find ihn ganz okay“, sondern sie schreit: „Hosianna dem Sohn Davids!“ Und als Jesus als erstes in Jerusalem in den Tempel geht, schreien dort Kinder das gleiche nochmal: „Hosianna dem Sohn Davids.“ Auf einer einzigen Seite der Bibel also dreimal: Schreien. Menschen geraten adventlich aus dem Häuschen. „Tochter Zion freue dich, jauchze LAUT, Jerusalem!“
Jauchze laut. Bist du laut? Ein lauter Typ? Rufst du, kreischst du, schreist du manchmal? Singst und jauchzt du laut? Ich sage dir, wie es mir damit geht: ich tue mich eigentlich schwer damit. Es steckt mir in den Gliedern, dass diese Wochen im Dezember besinnlich und leise sein sollten, schon mal heruntergedimmt in Richtung „Stille-Nacht“. Dabei stimmt das ja gar nicht unbedingt mit der leisen Zeit: Unser Advents-Bibeltext ist laut, wie wir gehört haben. Und wenn es dann Weihnachten wird, Geburt des Kindes, da ist bei so einem Neugeborenen das erste Schreien doch auch die halbe Miete.
Wann habe ich denn zuletzt so richtig geschrien, nicht jemanden angebrüllt, sondern Befreiungsschrei, Freudenjauchzer? Ich habe beim ersten Sieg von Hannover 96 in dieser Saison befreit herausposaunt: „Jaah!“. Und ich habe als Kind, wenn ich in den Keller gehen sollte zum Kartoffeln holen, oft Angst gehabt (war das Schwellenangst?) und ich habe dann im Keller dagegen angesungen, schön laut.
Ich will das in diesen Adventswochen mal ausprobieren mit der Lautstärke. Wenn ich vor einer Lebensschwelle schlapp mache, will ich mir selber zurufen: „So, jetzt ist Schluss mit Trauerkloß. Denn Jesus kommt und macht mich groß!“ Und ich will die eine Stelle doppelt kräftig singen: „Ho-si-i-an-na, Da-a-a-a-a-vids Sohn. Ja-a-a-a-auchze LAUT … -
… A-a-a-aa-amen“
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Nachhaltige Ostern! – Predigt zu Matthäus 28,1-10 von Christian Bogislav Burandt
Liebe Gemeinde,
die neue Bundesregierung ist an die Arbeit gegangen und auch das Referat „Heimat“ im Innenministerium ist zu einer ersten Sitzung zusammengekommen. Durch eine Indiskretion gelangten erste Ergebnisse an die Öffentlichkeit. Die Frage war: Wie kann die Stimmung in der Heimat besser werden; so dass die Menschen auch wieder näher zusammenrücken. Der erste Referent schlug vor: Wir geben Geld aus für eine millionenfache Kampagne auf Facebook, soll ja bei der Wahl von Donald Trump geholfen haben. Der Einwand dagegen war: Facebook ist im Moment kein gutes Thema, die Nachhaltigkeit ist zu bezweifeln. Der zweite Referent schlug vor: Wir senken während der Fußball-Weltmeisterschaft die Alkoholsteuer und treten als Sponsoren für unsere Jungs auf. Auch hier gab es Einwände: Das letzte Spiel haben sie verloren, ein gutes Abschneiden der Deutschen ist nicht garantiert. Außerdem: Wie nachhaltig kann diese Aktion sein? Alle blickten dann auf die dritte Referentin, die bisher noch nichts gesagt hatte: Plötzlich glitt ein Strahlen über ihr Gesicht: „Wir übertragen die Feier einer Osternacht im Fernsehen“, rief sie. „Ostern verbreitet Freude, Zuversicht und Zusammenhalt seit 2000 Jahren. Nichts ist nachhaltiger!“
Immerhin, liebe Gemeinde, das ist nicht zu bezweifeln: Die Botschaft von Ostern ist wirkmächtig bis in unsere Zeit. Und ohne die Botschaft, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, wüssten wir nichts von Jesus, gäbe es den christlichen Glauben nicht.
Der Evangelist Matthäus erzählt auf seine Weise, was für ein weltbewegendes Ereignis an Ostern geschah: Ein Erdbeben erschüttert die Region, ein Engel erscheint wie ein Blitz und wälzt den Stein vom Grabe weg. Die Wachen erbeben vor Furcht und fallen um, als wären sie tot. Deutlicher kann Matthäus es gar nicht sagen: Gott selber ist am Werk. Er weist den Tod und die Wächter des Todes in die Schranken. Er ist es, der Jesus von den Toten auferweckt hat.
Dabei aber bleibt das Eigentliche den menschlichen Augen verborgen: Matthäus schildert uns nicht den Vorgang der Auferstehung. So machtvoll und weltbewegend Gottes Handeln auch ist, es entzieht sich menschlicher Beobachtungsgabe und menschlicher Vorstellungskraft.
Stattdessen beschreibt der Evangelist zwei Frauen auf dem Weg, die einem lieben Menschen den letzten Liebesdienst erweisen wollen: Sie wollen seinen Leichnam salben. Ganz früh am morgen sind sie unterwegs. Schon durch die Zeitangabe will Matthäus uns damit nahe bringen: Ostern ist die Geburt des Lichts aus tiefster Dunkelheit.
Im Zentrum unserer Geschichte stehen zwei Begegnungen: erst die Begegnung der Frauen mit dem Engel und dann die Begegnung mit dem auferstandenen Jesus selbst.
Fürchtet euch nicht! So geht es los. Der Engel verweist auf Jesus den Gekreuzigten, der nicht mehr im Grab sei. Geht eilends hin und sagt seinen Jüngern, dass er auferstanden ist von den Toten. Und siehe, er wird vor euch hingehen nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen.
Der Engel lädt die Frauen ein, das leere Grab anzuschauen, aber dies tut er mehr nebenbei. Kein Wunder. Ein leeres Grab an sich sagt gar nichts. Entscheidend ist vielmehr die Aussage: Jesus der Gekreuzigte ist von Gott auferweckt worden. Die Frauen hören die Verheißung, dass der Auferstandene ihnen erscheinen wird. Und damit verbindet sich die Aufforderung, die Osterbotschaft den Jüngern Jesu weiter zu sagen, also selber gewissermaßen zu Osterengeln zu werden.
Eine besonders schöne Umsetzung von dem, was Matthäus wichtig ist mit seiner Geschichte, habe ich im letzten Jahr in Ravenna bewundert. Ich meine damit das Mosaik in der Basilica di Sant’Apollinare Nuovo. Man sieht auf der rechten Seite der Darstellung, wie die beiden Marien mit traurigem Gesichtsausdruck mit ihren rechten Armen auf das Innere des Grabes weisen. Noch sind sie der alten Welt, der düsteren Vergangenheit verhaftet. Auf der linken Seite der Darstellung sitzt der Engel mit munterer Miene auf dem Grabstein und grüßt mit seiner rechten Hand; fast so, als wollte er ein Kreuzeszeichen schlagen!1 – Denn darauf läuft es ja hinaus: Der Gekreuzigte lebt und mit ihm verbindet sich Segen: Gottes Kraft für Liebe und Leben auch über den Tod hinaus!
Die Frauen laufen vom Grab weg mit Furcht und mit großer Freude. Eine nie gehörte und erfahrene Botschaft wie die von der Auferweckung Jesu, die muss ja Verunsicherung und daher Furcht auslösen, aber zugleich auch Freude wecken; Freude darüber, dass das Grab Jesu nicht das Ende aller Hoffnung ist. – Und die Worte des Engels bewahrheiten sich, die Frauen begegnen dem Auferstandenen und fallen vor ihm als vor ihrem Heiland nieder. Und Jesus sendet sie wie zuvor der Engel zu seinen Jüngern und verheißt sein Erscheinen in Galiläa.
Und wir liebe Gemeinde? Riskieren wir es mit der Osterbotschaft? Ich gestehe: Auch mich überfallen beim Hören Furcht und große Freude!
Furcht, dass die Botschaft von der Auferstehung Jesu Christi zu groß ist: für meinen engen Kopf, für mein kleines Herz, für meine schweren Beine.
Aber mich erfüllt auch große Freude: Wenn Gott den hält, den alle fallen gelassen haben, welche Mächte der Sünde, der Hölle und des Todes halten dann noch stand? Wer soll mich abhalten von einem Leben, das auf die Liebe Gottes in Christus Jesus setzt? Wer will mir die Hoffnung auf Zukunft ausreden?
Ich komme dann doch nicht mehr auf die Idee, meinen engen Kopf, mein kleines Herz, meine schweren Beine für das Maß aller Dinge zu halten! Die Welt und mit ihr ich selber kann mir jede Menge Vorhaltungen machen. Aber was soll mich da verunsichern, wenn Christus mein Heiland lebt und nachhaltig hält? Sich an den halten, der dich hält. Dann kannst Du
Mut behalten,
Ängste fernhalten,
Sorgen abhalten,
Treue einhalten
Leid aushalten
an Hoffnung anhalten,
weil der Auferstandene dir Leben erhält.
AMEN
1 Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament I/4, Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26-28), Düsseldorf 2002, S.410.
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Was ist richtig oder falsch? – Predigt zu Matthäus 12,33-35(36-37) von Barbara Bockentin
Mann oder Frau? Gerade hat das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts gezeigt, dass es so einfach nicht ist. Im Geburtenregister der Standesämter soll danach auch die Möglichkeit für die Angabe eines dritten Geschlechts vorhanden sein. Das, was für die einen endlich ein längst überfälliger Schritt ist, ist für die anderen ein Zeichen für den Untergang aller Werte.
Richtig oder falsch? In der Stadt, in der ich arbeite, hat die Stadtverwaltung zwei große Wohnblocks geräumt und versiegelt. Lange hatten die Bürgerinnen und Bürger das Vorgehen der Stadtverwaltung mit Sympathie begleitet. Dann die Nachricht, dass eine seit kurzem obdachlose Frau ermordet worden war. Sie wohnte vorher in einem der Häuser. Jetzt wird das Vorgehen der Verwaltung für ihren Tod verantwortlich gemacht.
Das sind nur zwei Beispiele, an denen deutlich wird, dass es gar nicht so einfach ist, Entscheidungen zu treffen. Und mal ehrlich, wer von uns übersieht denn die Auswirkungen der eigenen Entscheidungen? Das was heute richtig erscheint, kann schon morgen falsch sein. Der Maßstab für mein Handeln ist verloren gegangen oder zumindest unscharf geworden.
Entweder – oder: so klar redet Jesus. „Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich.“ auch dieser Satz stammt aus seinem Mund. „Glaubst du?“, so forscht Jesus bei seinem jeweiligen Gegenüber immer wieder. Entweder ganz oder gar nicht. Ausweichen, das ist gar nicht möglich. Und so finden die Menschen, denen Jesus begegnet, auch immer eine Position zu ihm. Entweder sie lassen alles stehen und liegen und folgen ihm nach oder sie legen ihm Fallstricke, an denen sie sein Auftreten und seine Worte messen. Entweder sie unterstützen ihn und jubeln ihm zu oder sie verlangen seinen Tod.
Diese Einstellung ist verführerisch, weil alles so klar erscheint. So sind die Geschichten, die wir unseren Kindern vorlesen. Diesem Schema folgen viele Filme, die im Fernsehen oder im Kino laufen. In unserem Leben geht es ganz anders zu. Da gibt es zwischen Schwarz und Weiß viele Grautöne. Da kann morgen schon falsch sein, was heute noch richtig ist. Da wäre es bequem, wenn es nur schwarz oder weiß, gut oder böse gäbe.
Welche Konsequenzen so eine Weltsicht hat, erleben wir oft genug hautnah: Menschen müssen ihre angestammte Heimat verlassen, weil der Klimawandel geleugnet wird. Der Lebensraum für die Tierwelt wird immer kleiner, weil Monokulturen den größeren Gewinn versprechen.
Diese Einstellung ist verführerisch, weil sie mir zu einer Zuschauerposition verhilft. Ich kann nichts tun, weil ich in so vieles eingebunden bin. Ob ich mitmache bei der Aktion „Zukunft einkaufen“ oder nicht, ändern tut es nichts. Ob ich versuche, Energie zu sparen oder nicht, deswegen wird kein Kohlekraftwerk abgestellt. Ich würde ja gerne – aber die Umstände erlauben es nicht. Sie sind falsch und schlecht.
Entweder - oder: so klar redet Jesus. Er verlangt eine Stellungnahme. Ein Ausweichen ist nicht möglich. „Entweder der Baum ist gut … oder der Baum ist schlecht…“ Eine klare Diagnose, die ein klares Handeln verlangt. Sich wegducken gilt nicht. Sich vor der Verantwortung drücken ist unstatthaft.
Diese Einstellung ist schmerzhaft, weil sie mich trifft. „Wie könnt ihr Gutes reden, wenn ihr böse seid?“ Mit diesen Worten richtet Jesus den Fokus auf seine Zuhörer, auf mich. Das Scheinwerferlicht, in dem ich mich unversehens wiederfinde, ist eine Zumutung. Nichts mehr mit meiner Zuschauerhaltung. Nichts mehr damit, das große Ganze verantwortlich zu machen. Nichts mehr damit, mich selbst für zu klein und unbedeutend zu halten, als das ich etwas ändern könnte.
„Wie könnt ihr Gutes reden, wenn ihr böse seid? Denn wovon das Herz voll ist, davon redet auch der Mund.“ Die Widersprüchlichkeit, in der wir leben, malt uns dieser Satz Jesu vor Augen. Die Widersprüchlichkeit, in der wir uns gut eingerichtet haben, tritt uns hier entgegen. Änderungsvorschläge, die andere betreffen, habe ich rasch bei der Hand. Man müsste…. Da sollte man… Alles bleibt schön im Ungefähren. Ich kann mich weiter aufregen. Ich kann weiter über die Kurzsichtigkeit der Entscheidungen anderer lamentieren. Und täusche mich selbst damit darüber hinweg, dass ich auch selbst etwas ändern kann.
Jesu Worte kratzen an Oberfläche meiner Selbstzufriedenheit. Und dahinter sieht es längst nicht so strahlend und überzeugend aus, wie ich es mir immer wieder gerne vormache. „Wasch mich, aber mach mich nicht nass.“, sagt ein Sprichwort. Die Klarheit, mit der Jesus Entscheidungen fordert, bringt mich an meine Grenzen. Macht mir schmerzhaft klar, dass ich von anderen die Konsequenz erwarte, die ich dann selber schuldig bleibe.
Den Klimawandel und die dafür Schuldigen anprangern, ist ein Einfaches und sogar en vogue. Sollen die doch ändern, was zu ändern ist: Kraftwerke abschalten, Filteranlagen installieren, umweltfreundlichere Autos bauen und, und, und… Mein Scherflein dazu beizutragen, fällt schon bedeutend schwerer. Das erfordert Konsequenz. Das hat zur Folge, dass ich Selbstkritik üben muss. Das macht Verhaltensänderungen unumgänglich.
„Denn an seinen Früchten könnt ihr den Baum erkennen.“ – Mein Tun bleibt nicht ohne Auswirkungen. Das ist mehr als eine Feststellung. Das ist die Zusage, die Jesus gibt. Sie lockt mich. Die Entscheidung, die ich fälle, hat Folgen. Nicht nur für mich, sondern für alle, mit denen ich das Leben teile, in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Kirchengemeinde, in meinem Ort. So kann es sein – nicht nur für mich, auch für euch. So zu leben, erfordert manchmal Mut, weil es unbequem werden kann. Manches, was bisher selbstverständlich war, ist es nun nicht mehr.
Für die Fahrt zum Arbeitsplatz beispielsweise brauche ich jetzt etwas länger, weil ich auf der Autobahn nicht mehr als 120 km/h fahre oder besser noch ein Stück auf der parallel laufenden Landstraße. Das schadet der Umwelt weniger. Mich entspannt es.
Das was für andere gelten soll, gilt auch für mich. Wenn ich dieses Prinzip anwende, fällt es mir viel schwerer, die Welt und die Menschen um mich herum aus einer Zuschauerhaltung zu betrachten. Ich selbst trage dazu bei, wie das Leben auf dieser Erde funktioniert. Ich kann mich entscheiden und für diese Entscheidung einstehen. Dann bin ich kenntlich. Dann kann ich darauf hoffen, dass mein Leben gute Früchte trägt.
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Verwegene Lesarten – Predigt zu Matthäus 12,33–35 (36–37) von Matthias Storck
Einspruch
„Jeder Mensch ist ein stiller Schrei, anders gelesen zu werden.“
Dieses Wort der französischen Schriftstellerin Simone Weil (1909-1943) dreht mir die bekannten Sätze des Matthäusevangeliums im Gedächtnis um. Jesus betrachtet das Wort von seinen Folgen her. Es steht am Ende eines Prozesses. Die Frucht reift erst, wenn Same und Blüte vergehen. Gelesen wird das Ergebnis. Das Wort wächst, ehe es zur Sprache kommt. Geht es über die Lippen, gibt es Auskunft über seine Herkunft und verrät den inneren Zustand des Menschen, der es ausspricht. Ehe das Innerste nach außen gekehrt werden kann, reift das Wort. Gehörtes, Verschwiegenes, Bewahrtes und Verborgenes muss zuvor entziffert und erwogen werden. Zuletzt muss sich die Wahrheit gegen das Gewohnte behaupten. Das Sprechen beginnt lange vor dem Reden und erfüllt das Herz.
„Zerstörte Stadt“
Der Bildhauer Ossip Zadkine (1890-1967) schuf zum Gedenken an die Bombennacht des Jahres 1940, in der deutsche Flugzeuge die Stadt Rotterdam innerhalb weniger Stunden in ein Trümmerfeld verwandelten, ein einprägsames Denkmal: Ein Mensch reißt verzweifelt Arme und Schultern in den Himmel, als fürchte er von dort einen neuen Angriff. Sein Herz tut mir weh, denn es ist nicht mehr da. Dort, wo es hingehörte, klafft ein riesiges Loch. Ich weiß nicht, wann ich die einprägsame Skulptur zum ersten Mal sah. Der Bilder-Vorrat meiner Seele bringt sie schnell und genau zum Vorschein. Vielleicht habe ich den versteinerten Schmerz dieses Mannes erst begriffen, als ich sah, dass dort, wo das Herz der Stadt einmal schlug, ausschließlich neue Häuser stehen. Der Stadt, die er beweint, hat damals mit Herz und Geschichte auch ihr schönes Gesicht verbrannt. Im Hebräischen ist das Herz die Mitte der Person. Gefühl, Verstand und Gedächtnis haben dort ihren gemeinsamen Ort. Es ist Raum der Entscheidung und Wohnung Gottes. Der Bildhauer wusste das. Darum machte er ein großes Loch in die Mitte seines Denkmals. „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“, heißt es in der Mitte des Textes. Das schöne Wort möchte einem angesichts des steinernen Mannes im Halse stecken bleiben. Dem bringt kein volles Herz mehr den Mund zum Überlaufen. Aber der Himmel schreit blau durch das Loch im steinernen Brustkorb. Eine klaffende Wunde gegen das Vergessen, durch die Gott selbst zum Zeugen aufgerufen wird. Dann kann keine Macht der Welt mehr verhindern, dass unsere Worte unsere Worte und unsere Taten unsere Taten bleiben. Aber der Mann ohne Herz sieht aus, als hätte er Angst, jetzt den Himmel zu verlieren.
Zuspruch
Verantwortung für das Wort führt zurück in die Stille. Die Unerbittlichkeit, mit der Jesus hier von der Frucht auf den Baum, vom Schatz auf den Menschen, vom Wort auf das Herz schließt, lässt, im Gegensatz zu anderem biblischen Gebrauch, keinen Raum für Gegenrede oder Ausflucht. Ihm geht es nicht um Äußerungen. Ihm geht es um das Sein. Das stellt mir einen weiteren Prüfstein für das Wort vor Augen. Wenn die Morgensonne im Maßwerk der hohen Chorfenster der Herforder Marienkirche innehält, entrollt sich im Mittelgang auf dem Steinfußboden ein leuchtender Teppich aus buntem Glas, der bis an die westliche Empore reicht. Dort springt das Licht aufwärts und malt einer Sandstein-Madonna aus dem 12. Jahrhundert und dem Kind auf ihrem Arm bildschöne, helle Gesichter. Beiden scheinen die lichten Augenblicke willkommen. Sie antworten mit einer innigen Anmut, wie ich sie selten sah. Das ist erstaunlich, denn der Mutter wurde das Gesicht zertrümmert und dem göttlichen Kind auf ihrem Arm der Kopf zerschlagen. Die junge Mutter hat durch alle Zerstörung hindurch ihre Haltung bewahrt. An ihrem beredten Schweigen kann sich niemand vorbeireden.
Was mag in den Herzen derer gesteckt haben, die ihr das Gesicht zerschlugen? Zweierlei vermochte alle rohe Gewalt nicht zu besiegen. Die Schönheit und die Botschaft dieser Marienfigur überstanden alle Anschläge. Aussage und Ausdruck kamen nun erst recht zur Geltung. Mit der Zerstörung des Gesichts schien jede Falte des Gewandes an Bedeutung zu gewinnen, und jede Wunde am Stein geriet zu einer eigenen Predigt. Es steht eine große Wahrhaftigkeit in diesen leuchtenden Linien. Der Meißel des Bildhauers war nur der Anfang. Alles, was sich in fünfhundert Jahren hier gesammelt hat, spricht nun mit und hat den stummen Wortschatz vermehrt. Viele Menschen haben seither in diese entstellten Züge geschaut, vielleicht Anhalt oder Trost gefunden, ehe sie die Kirche verließen. Die stille Aussage hat manches unnütze Wort zum Schweigen gebracht. Sie ist außerdem eine verwegene Lesart des Pauluswortes, das sich Albert Schweitzer als Kompass für seine theologische Arbeit wählte (2. Korinther 13,8): „Wir vermögen nichts gegen die Wahrheit, sondern nur für die Wahrheit.“
Wenn das Licht sich immer wieder in den steinernen Tüchern sammelt, malt es Innigkeit. Mutter und Säugling müssen ohne Worte miteinander reden. Aber sie können einander ins Herz sehen. Ihre Gesichter lernten sie gegenseitig auswendig. Das haben die Zerstörer in ihrer rohen Eile vergessen. Nun leihen sich Mutter und Kind alle Menschenworte immer aufs Neue von den Lippen derer, die sie anschauen, und warten darauf, neu gelesen zu werden. Damit ist aber die Handschrift der Geschichte noch lange nicht zu Ende buchstabiert.
Es liegt bei uns, immer von Neuem wahrzunehmen, was der Säugling ohne Kopf und Arme in unserer Zeit für Lasten aushalten muss. „Die Herrschaft ist auf seiner Schulter“, hatte es bei Jesaja (9,6) geheißen. Worte, die schon nach dem ersten Hören im Herzen wohnen bleiben und immer wieder aufwachen. Sie passen gut zu dem Kind, das auf seinen Schultern nun das Wüten der ganzen Welt zu tragen scheint. Ich weiß nicht, was diejenigen beseitigen wollten, die den kleinen Kopf zerschlugen. Getroffen haben sie Gottes menschliches Gesicht. Alle Sehnsucht nach Veränderung stand darin geschrieben.
Aber in dem kindlichen Torso schlägt Gottes Menschenherz weiter. Das hat kein Bildhauer erdacht. In solchen Bildern fällt Gott selbst der menschlichen Geschichte ins Wort und macht aus der Zerstörung, tröstlichen Zuspruch.
Anspruch
Wir werden beim Wort, bei den Wörtern genommen. Die Spruchfassaden, der falsche Schein, die „unnützen“ Täuschungen einer medienbesessenen Welt hindern uns nicht, genau zu lesen. Und sie bewahren uns nicht davor, genau gelesen zu werden. Gott kann nicht nur der Welt, sondern auch mir ins Wort fallen. Matthäus nennt das Gericht. Wahr ist und bleibt dann, was durch mein Inneres gedeckt ist. Ich werde gelesen. Es fragt sich nur, wer mich liest und wie ich gelesen werde. Deshalb kann ich die Bilder von Frucht und Baum, von leerem Wort und vollem Herzen nur aushalten, wenn ich auf den schaue, der sie gebraucht. Wenn dieser Christus mich entziffert, wird mein Stückwerk (1. Kor 13,9) zusammengelesen. Nur in dieser Gewissheit kann angesichts der Umbrüche und Einbrüche eines Leben wirklich Wort gehalten werden.
Der Dichter Rainer Maria Rilke (1875-1926) hat in einem Sonett über einen Torso Auguste Rodins das Unvollständige zur tragenden Aussage gemacht. Seine Zeilen sind eine Brücke von den schweigsamen Prüfsteinen in meinem Gedächtnis zum Bußtag. Der Torso, den Rilke vor Augen hat, liest die Betrachtenden so lange und genau, bis sie verstehen: „ … da ist keine Stelle,/ die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“ Nicht von ungefähr, sondern mit gutem Grund ist es das Unvollständige, das uns am ehesten zu trösten und zu ändern vermag. Gott selbst sammelt die Bruchstücke ein.
Die Abendsonne macht dem düsteren Mahner in Rotterdam aus tausend Strahlen ein Bündel Licht ins Herzloch. Die helle Gegenwart Gottes erfüllt auch seine anhaltende Mahnung mit Wahrheit. Buße kann ja nur heißen, dass das Herz von einem anderen Licht erfasst wird. Der innere Wortschatz wird mit anderen Augen buchstabiert und „bewahrheitet“. Es ist die verwegene Lesart Gottes, die unser Wort ergreift. Ihr geht seine Wahrheit voraus. Die schon zitierte Simone Weil schrieb von dieser Wahrheit, dass sie mit Christus deckungsgleich ist. Darum kann Christus es ertragen, wenn die Menschen, vor die Wahl gestellt, der Wahrheit oder ihm den Vorzug zu geben, sich für die Wahrheit entscheiden. „Denn“, so bemerkt sie gelassen, „er war schon die Wahrheit, ehe er Mensch wurde.“
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Wer nicht den rechten Glauben hat, der muss zweifeln - Predigt zu Matthäus 10,32-39 von Thomas Thieme
Wer an einen Gott glaubt, der wird zweifeln; und wer an seinem Gott zweifelt wegen Christus, der wird glauben.
Sie war schon immer ein neugieriges Mädchen und der Stolz ihrer Mutter. Vater mochte die Söhne mehr – behauptete er und zog sie groß mit harter Hand und im rechten Glauben. Seine kleine Prinzessin hatte es da leichter – sie durfte mehr, schon immer. Und so fiel es nicht weiter auf, als sie das erste Mal nicht mit beim Freitagsgebet war. Als sich ihre Abwesenheit häufte, machten sich Vater und Mutter Sorgen. Sie baten zwei der Söhne, ein Auge auf sie zu haben.
„Wir dürfen sie nicht verlieren.“ Sagte Vater, nachdem er es wusste. „Meine Kleine, ach meine Kleine“ rief Mutter immer wieder aus und Tränen rannen ihr über das Gesicht.
„Dann ist es beschlossen,“ sprach der älteste Sohn, „wir werden ihr helfen.“ Am nächsten Tag stiegen der Älteste und der Mittlere in das Auto, passten ihre Schwester auf dem Weg von der Arbeit in das Christenhaus ab, zerrten sie ins Auto, fuhren mit ihr hinaus zur Psychiatrie und wiesen sie ein. Ihre Schwester musste geheilt werden mit allem, was der Medikamentenschrank hergab. Kein gesunder Mensch würde doch vom Glauben abfallen und erst recht nicht, einen anderen Glauben annehmen.
„Kaum auszudenken, wenn sie uns alle angesteckt hätte“ sprach der mittlere Sohn auf dem Heimweg. „Ja, fürchterlich,“ meinte der Ältere, „sie hätten uns aus dem Haus gezerrt, alles zerschlagen und uns mit Knüppeln aus dem Dorf gejagt.“ Die Brüder hatten Angst und ihre Angst war berechtigt.
Wer an einen Gott glaubt, der wird zweifeln; und wer an seinem Gott zweifelt wegen Christus, der wird glauben.
So, wie der Ungenannten erging es Maryam aus dem Iran und Rashad aus Jordanien, erging es Raymond Koh Keng Joo aus Malaysia und Su-Xing aus China, erging es Ruben aus Kolumbien. Wenige Namen für 200 Millionen Christen, die weltweit verfolgt werden. Rashad ist Priester, seine Kirche wurde zerstört, als er Muslime einlud. Ruben ist Missionar, er wurde entführt auf dem Weg zu den indigenen Bewohnern. Auch Raymond wurde von Nachbarn entführt.
Das Schwert, das Christus bringt, ist keine Waffe, die Christen führen. Es ist die Waffe, die wir spüren, wenn wir uns zu ihm bekennen. Bei uns mag das Spott sein oder Ignoranz. In China oder Malaysia ist es staatliche Drangsalierung ähnlich wie zu DDR-Zeiten – es sind keine scharfen Schwerter. Dennoch braucht es Mut, sich in solchen Situationen öffentlich zu Christus zu bekennen, zum Beispiel, indem man ein Kreuz trägt, das mehr ist als nur ein Schmuckstück – das ein Bekenntnis ist.
„Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden.“
Ist das der Sinn dieser Sätze? Sind sie für Maryam gesagt und Rashad, für Raymond und Ruben? Ist das der Sinn dieser Sätze für Somalis oder Saudis, für Afghanen, Nord-Sudanesen oder Iraner – in allen diesen Ländern droht auf den „Abfall vom Islam“ die Todesstrafe und sie wird in der Regel mit einem Schwert vollzogen. Der Übertritt zum Christentum gilt als Geisteskrankheit. Was für eine unmenschliche Zumutung, in so einer Welt glauben zu wollen, glauben zu müssen.
„Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Was für eine Zumutung.
Wer an einen Gott glaubt, der wird zweifeln; und wer an seinem Gott zweifelt wegen Christus, der wird glauben.
Ein scharfes Schwert spüren auch diejenigen Christen, die von ihrer eigenen Familie entführt, eingewiesen oder „nur“ verstoßen werden. Der Glaube an Christus schneidet sie ab von allem, was ihnen vertraut war, was Sicherheit gab und Geborgenheit. Ihre eigenen Familien schneiden sie aus sich heraus wie ein faulendes Stück Fleisch. Zu diesen Christen spricht Christus:
„Ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein.“
Wie schwer wiegt das Kreuz dieser Christen – die ein Leben mit Gott finden und dafür alles verlieren, was bisher ihr Leben war. Die ihr Leben verlieren und trotzdem weiter leben müssen. Wie schwer wiegt das Kreuz dieser Christen und wie schwer ist es für mich, mir das überhaupt vorzustellen in unserer friedlichen und heimeligen kleinen Welt, unserer Insel der Glücksseligkeit, wo wir uns alle lieb haben. „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.“ Das ist unsere Zumutung, wenn auch auf ganz andere Weise, als Verfolgung oder Entführung.
Würden sie sagen: sie lieben Gott? Klar würden sie – warum auch nicht. Aber ihn mehr lieben als die eigene Mutter, den eigenen Vater. Mehr als die eigenen Kinder – können wir das als Helikoptereltern, als allumfassend fürsorgliche Behüter unserer kleinen Prinzen und Prinzessinnen – wer könnte diesen Glaubenssatz für sich sagen? Andererseits – mit der Familie, das kann schon ein Kreuz sein. Streit und Ärger, Zorn und Groll – wir tragen sie nicht vor uns her, aber es gibt sie. Und Streit ist ja etwas sehr Menschliches. Selbst Ablehnung kann ich ertragen, wenn sie friedlich bleibt – ich muss weißgott nicht jeden lieben, der unter Gottes Sonne auf dieser Erde wandelt.
Aber die eigenen Kinder ablehnen, oder die Eltern – das macht betroffen, das soll doch so nicht sein und das steht doch auch ganz anders in unserer Bibel. Da steht doch, du sollst Vater und Mutter ehren – und ich will noch mehr, ich will sie lieben dürfen, will sie lieben können. Und was könnte ich mehr, als zu lieben, als mich an sie zu binden, so wie sie sind – ein Band zwischen uns zu knüpfen, dass fester ist als Macken und Marotten, als Gesinnung oder Lebenswandel.
Ich habe durch meine Eltern, durch meine Familie gelernt, was es heißt zu lieben und geliebt zu werden. Und ich habe gelernt und erfahren, auch Gott so zu lieben und von ihm so geliebt zu werden – ich kann nicht mehr als dieses Lieben. Und wem das nicht vergönnt ist, dem wünschen ich von Herzen, er möge doch den umgekehrten Weg finden. Er möge Gott erfahren als den, der Liebe möglich macht, zu den Eltern, zu den Kindern. „Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der HERR über die, die ihn fürchten.“ Psalm 103. „Ich will euch trösten, wie einen seinen Mutter tröstet.“ Jesaja 66.
Wer an einen Gott glaubt, der wird zweifeln; und wer an seinem Gott zweifelt wegen Christus, der wird glauben.
Christus bringt das Schwert und entzweit die Familie. Entscheidet euch, wen ihr mehr liebt. In diesen Sätzen stecken Erfahrungen, die uns fremd sind und die eine Zumutung für meinen Glauben sind. Ich könnte sie historisch einordnen und einbetten in weiches Wissen und ihnen so ihre Schärfe nehmen – aber was hülfe das Maryam oder Ruben und all den ungenannten Verfolgten, was hülfe das Christian oder Marianne und all den Unbekannten, die schwer an ihrem Leben tragen.
Wie leicht wiegen doch meine Zweifel, wenn sie für diese Menschen ein Grund zu glauben sind und eine Möglichkeit, zu erfahren, was Welt und Menschen ihnen verwehren: den Frieden Gottes, jenen Frieden, der höher ist als all unsere Vernunft.
Um diesen Frieden bitte ich für sie und für uns, das er Eure und Ihre Herzen und Sinne bewahren möge in Christus Jesus.
Amen.
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Jesus erhebt das Schwert - Predigt zu Matthäus 10, 34-39 von Prof. Dr. Reinhold Mokrosch
- Ein erschreckender Text
„Brutal! Schrecklich! Grässlich! Widerwärtig!“ reagierte mein atheistisch gesonnener Freund, als ich ihm diesen Text vorlas. „Da sieht man’s mal, dass auch Euer angeblich so friedlicher Jesus ein Spalter gewesen ist! Wie alle Religionsverkünder und Religionsgründer! Wiederhol noch mal: Was sagte er?“ Ich wiederholte: ‚Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert!‘
„Sieh mal an“, wütete er, „Sicher wirst Du gleich beschwichtigen: Damit ist ja kein reales Schwert gemeint, sondern das ‚Schwert der Zunge‘ oder gar noch das ‚Schwert der Wahrheit‘! Egal! Jesus spaltete die Familien, denn - wie heißt es dann noch weiter im Text?“ Ich zitierte: ,Ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter!‘ „Und dann ging’s doch noch weiter! Lies mal weiter!“ Ich rezitierte: ‚Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Und wer Sohn und Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert! ‘ „Und noch weiter?“ Ich las den letzten Vers: ‚Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden! ‘
„Grauenhaft!“ wiederholte mein Freund; „Grässlich, brutal, widerwärtig!“ Er ließ nicht locker. „Weißt Du was, woran mich das erinnert? Ich will’s Dir vorlesen. Er nestelte auf seinem Handy herum. Einige Minuten vergingen. Dann legte er los:
„Ihr alle seid Kinder Gottes, Children of God! Ihr seid hierher gekommen in unser Gemeinschaftszentrum, in Eure neue Welt, um Euer altes Leben abzulegen und ein neues Leben zu führen! Nehmt die Lehren Eures Heilands Moon an! Liebt ihn, sucht ihn. Wenn Ihr um seinetwillen Euer altes Leben aufgebt, dann werdet Ihr ein neues Leben finden. - Brecht alle Brücken zu Euren Familien ab. Wenn Ihr Euch mit Euren Eltern und Schwiegereltern um meinetwillen entzweit, dann seid stolz darauf. Ihr könnt nicht Vater und Mutter lieben und gleichzeitig mich, Euren neuen Heiland!“
Ich erstarrte. „Von welcher Sekte stammt denn das?“ fragte ich erschrocken. „Von der Moon-Sekte, den Children of God“ antwortete mein Freund brav und heimlich triumphierend.
- Abmilderungsversuche
Ich stehe, ehrlich gesagt, vor einem Scherbenhaufen. Ich will nichts und kann nichts beschönigen. War Jesus Christus nicht nur ein Friedensstifter, sondern auch ein brutaler Spalter? Oder war er gar ein Revolutionär? Wollte er bewusst Streit und Krieg in die jüdischen Familien bringen? Oder war das nur Matthäus, der diese Worte Jesus in den Mund legte? Wie können wir mit diesem Text fertig werden?
Es hat viele Versuche gegeben, ihn abzumildern, wie mein atheistischer Freund bereits erahnt hat:
- Der erste Versuch sagt aus, dass nicht die Jünger und wir Christen das Schwert ziehen und gebrauchen sollen, sondern dass das Schwert gegen uns gerichtet ist. Christen mit ihrer Ethik der Feindesliebe und ihrem Glauben an Gottes Nahes Reich werden verfolgt. Sie müssen leiden, - oft sogar das Schwert erleiden.
- Der zweite Versuch, Jesu Rede abzumildern, redet vom Geistlichen Schwert, das unseren inneren Kampf zwischen Fleisch und Geist führen soll. Wir müssten, so erwartet es Jesus Christus von uns, uns immer wieder nötigen, den Feind zu lieben, nicht zu verurteilen und auf Gottes Nahes Reich zu vertrauen. Und dazu bräuchten wir ein Geistliches Schwert, um unseren inneren Widerspruch zu überwinden.
- Ein dritter Versuch interpretiert „Mutter und Schwiegermutter“ symbolisch, nämlich als jüdische Synagoge. Jesus wollte sagen: Vom jüdischen Glauben und von der jüdischen Synagoge müsse man sich trennen. Mit den Feinden des Christentums kann es keinen Frieden geben.
- Schließlich meinten – viertens – einige, dass Jesus mit dem Satz „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen“ zum Ausdruck bringen wollte: „Ich bin nicht der erwartete Friedensfürst“. Ich bin nicht die Erfüllung der jüdischen Erwartungen.
Wir können es nicht ausschließen, dass einige dieser vier Abmilderungsversuche tatsächlich zutreffen: Jesus sagt Verfolgungen durch das Schwert voraus. Oder: Jesus ruft zum inneren Kampf mit einem Geistlichen Schwert auf. Oder: Mutter, Schwiegermutter usw. sind symbolisch zu verstehen. Oder: Jesus lehnt die Rolle eines Friedensfürsten ab. Es mag sein, dass einige dieser vier Interpretationen zutreffen.
- Matthäus sieht Jesus in der Endzeit
Aber ich verstehe es anders: Matthäus sieht, so meine ich, seine eigene Gemeinde nämlich in der Endzeit. Der endzeitliche Kampf zwischen Gott und Teufel hat begonnen. Und: Der Messias steht vor der Tür. Dazu kam, dass die jüdische Tradition besagte, dass es z.Zt. der Ankunft des Messias Spaltungen und Konflikte in den Familien und in der Gesellschaft geben werde.
Genau diese Erfahrungen machte die Gemeinde von Matthäus reichlich: Ihre Glieder wurden von jüdischen Behörden verfolgt; und die Familien zerstritten sich, weil sich einige ihrer Mitglieder der neuen christlichen Sekte angeschlossen und von der Synagoge Abstand genommen hatten. Das war im Orient besonders bitter, da dort die Familienbande viel enger waren als bei uns heute. Wenn da eine Familie zerbrach, dann war das eine apokalyptische Katastrophe.
Jesus hatte sich ja selbst von seiner Familie getrennt. Als seine Mutter und seine Geschwister vor der Synagoge standen, während er drinnen lehrte, da machten ihn einige darauf aufmerksam, dass seine Familie draußen wartet: „Deine Mutter und Deine Geschwister warten draußen auf Dich“. Aber Jesus antwortete nur abweisend: „Wer sind meine Mutter und meine Geschwister? Ihr seid meine Mutter und meine Geschwister!“ (Mk 3,31-35)
Und als Zwölfjähriger entschwand er seinen Eltern, die tagelang nicht wussten, wo er abgeblieben war. Sie suchten ihn drei Tage, bis sie ihn im Tempel fanden. Und auf die Frage der erschrockenen und erschöpften Mutter, warum er so lange weggeblieben sei, antwortete er nur: „Wisst Ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ Er hatte sich schon früh von seiner Familie getrennt. (Lk 2, 41-52) Jesus selbst hatte eine Spaltung seiner Familie in Kauf genommen.
Warum? Weil die Endzeit angebrochen war. Und da ging es um das Bekenntnis zur Wahrheit, welches immer Streit und Konflikte hervorruft, zumal in der Endzeit.
- Auch Martin Luther fühlte sich in der Endzeit und provozierte familiäre u.a. Konflikte
Vor wenigen Tagen haben wir den 500. Reformationstag begangen. Ich fragte mich den ganzen Tag: Hätte auch Martin Luther diese Sätze sprechen können „Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert! Der Vater wird sich vom Sohn, die Mutter von der Tochter trennen. Familien werden zerreißen!“ Er hatte sich ja selbst von seinem Vater getrennt, als er gegen dessen Willen Mönch wurde. Und er nahm es in Kauf, dass auch andere Familien aufgrund seiner neuen Lehre zerbrachen. Er fühlte sich – wie Matthäus – in der Endzeit. Außerdem: gegen die Bauern, gegen die sog. Wiedertäufer und gegen die Juden hatte er staatliche, obrigkeitliche Gewalt befürwortet. Der Fürst dürfe und solle gegen Bauern, Täufer und Juden Gewalt anwenden, diese aber nicht gegen die Fürsten, - so lautete sein mittelalterliches Obrigkeits-Credo.
Trotzdem vermute ich: Er hätte diese Sätze nicht im realen Verständnis des Schwertes gesprochen. Die Wahrheit, - z.B. dass jeder durch Gottvertrauen, nicht aber durch Bußübungen gerecht und gut werde -, solle man, so Luther, allein mit dem Wort und nicht mit dem Schwert bezeugen. Insofern hätte er wohl von einem „inneren, geistlichen“ Schwert des Wortes reden können, das Christen gegen sich selbst, aber auch gegen werkgerechte Falschgläubige führen sollten; nicht aber von einem realen Schwert.
Aber man hätte diese Sätze im Realsinn Luther in den Mund legen können. Denn Kriege hat die Reformation hervorgebracht. Kriege – die allerdings nicht um der Wahrheit, sondern um der Macht willen geführt wurden. Und das widersprach Luthers Reform des Glaubens und der Kirche vollkommen.
Nein, Luther ging es um die Wahrheit des Evangeliums, nämlich, dass Gott uns gut und gerecht macht und dass nicht wir selbst uns gut und gerecht machen. Luther hätte, trotz Endzeit und Apokalypse, diese Sätze nur im Sinne eines „Geistlichen, inneren“ Schwertes sprechen können.
- Für die Wahrheit muss gekämpft und gestritten werden
Mit Blick auf Luther kann ich diese erschreckenden Sätze Jesus Christi im Matthäus-Evangelium deshalb auch nur als Bekenntnis verstehen, dass wir für das Evangelium kämpfen und streiten sollen. Es gibt Streit, wenn wir meinen, dass der Feind geliebt und nicht bekämpft werden soll. Es gibt Streit, wenn wir uns für Gewaltlosigkeit einsetzen. Es gibt Streit, wenn wir uns nicht nur für Nächsten- sondern auch Fernstenliebe einsetzen. Es gibt Streit, wenn wir uns gegen Obergrenzen und für eine friedliche Integration friedlicher (!) Flüchtlinge einsetzen. Es gibt Streit, wenn wir uns für die Gottebenbildlichkeit auch des Verbrechers einsetzen. Und es gibt Streit, wenn wir uns für kritische (!) Toleranz auch gegenüber uns fremden Religionen einsetzen.
Ich sehe keine andere Möglichkeit, als Jesu Worte in diesem Sinn eines Kampfes und Streites um des Evangeliums willen einsetzen. Dafür gibt Gott uns den Geist Jesu Christi, der bis zum Tod für das Reich Gottes gekämpft und gestritten hat.
Der Friede Gottes – ohne jegliches weltliche Schwert -, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen
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Predigt beim Festgottesdienst zum Reformationsjubiläum am 31. Oktober 2017 in der Schlosskirche in Wittenberg
Liebe Gemeinde,
der Evangelist Matthäus berichtet davon, dass Jesus Jünger aussendet ihn die Welt. Sie sollen vom Glauben erzählen und er gibt ihnen geradezu praktische Tipps, wie sie sich verhalten sollen. Aber er macht auch deutlich, dass sie Schwierigkeiten erleben werden. Dabei ermutigt er sie, keine Angst zu haben, sondern sich zu Gott zu bekennen. Hören wir den Predigttext für den heutigen Reformationstag, der ein so besonderer ist. Er steht im Matthäusevangelium, im 10. Kapitel, die Verse 26b bis 33:
Lesung
Drei Themen möchte ich mit Blick auf den Text aufgreifen.
Zuerst: Das Ringen um Wahrheit.
Manchmal könnten wir derzeit ja verzweifeln an all dem Hype um so genannte „Fake news“. Stimmt nun, was Donald Trump getwittert hat oder stimmt, was eine Kongressabgeordnete sagt? Ist es wahr, dass vom Dieselskandal die VW Manager schon lange wussten, oder waren sie so überrascht wie die überrumpelten Autokäufer? Immer öfter höre ich: Denen da oben glaub ich gar nichts mehr! Oder: Die Zeitungen schreiben doch nur, was sie wollen.
Da klingt es ja geradezu beruhigend, wenn Jesus in diesen Bibelversen erklärt: Nichts ist verborgen, was nicht offenbar wird und nichts ist geheim, was man nicht wissen wird! Ja, sicher, er meint damit den Glauben. Die Jünger sollen ermutigt werden, dass sich am Ende der Tage zeigen wird: Der Glaube an Jesus ist der rechte Weg zu Gott, Jesus lässt uns die Wahrheit über Gott erkennen. Jesus ermutigt diejenigen, die ihm nachfolgen wollen, dazu zu stehen, sich zu diesem Glauben zu bekennen, auch wenn es schwierig wird im Leben.
Um solche Wahrheit in Glaubensfragen ging es auch dem Reformator Martin Luther vor 500 Jahren. Als er für seine Vorlesungen intensiv die Bibel gelesen hat, wurde ihm immer mehr klar: Es stimmte schlicht nicht, was seine Kirche behauptete. Die Kirche kann nicht die Strafe für Sünden im Fegefeuer gegen die Zahlung von Geld verkürzen. Davon fand er nichts in der Bibel. Darüber wollte Luther diskutieren. Und deshalb hat er 95 Thesen verfasst und an die Tür der Kirche angeschlagen, die damals hier, an dieser Stelle stand. Vielleicht hat er die Thesen auch nur verschickt, das mag sein. Wir haben weder Beweisfotos noch ein Youtubevideo von der Situation. Aber ob angeschlagen oder nicht, die Thesen schlugen ein wie der Blitz. Wie konnte ein kleiner Professor aus Wittenberg wagen, die Lehre der Kirche anzuzweifeln?
Wahrheit wurde so zur Machtfrage. Denn trotz aller Widerstände legte Luther nach: Was ist mit dem Zölibat? Auch davon ist in der Bibel nichts zu finden! Oder: Wenn Christus unter uns präsent ist, warum brauchen wir dann einen Papst als seinen Stellvertreter? Warum soll Leben im Kloster ein besseres Leben vor Gott sein, als Leben mitten in der Welt, in der Familie, als Handwerker? Wo steht denn das geschrieben? Mit solchen Fragen hat Luther eine Auseinandersetzung angetreten, die die Kirche, aber auch ganz Europa, ja die Welt verändern sollte.
Dabei lag ihm daran, dass alle sich an diesem Streit um die Wahrheit auch beteiligen können. Darum hat er die Bibel in die deutsche Sprache übersetzt und Schulen für alle gefordert. Wahrheit ist nie ein Besitz, den ich habe, sondern wir alle je einzeln und auch eine Gemeinschaft hat, um Wahrheit zu ringen. Unsere evangelische Kirche ist deshalb eine, in der nicht ein Bischof, eine Pfarrerin oder eine Glaubenskongregation entscheidet, was richtig oder falsch ist. Nein, wir diskutieren darüber, alle miteinander. Evangelische Synoden beispielsweise sind zusammengesetzt aus Männern und Frauen, Jungen und Alten, Ordinierten und Laien. Jeder und jede hat da das gleiche Stimmrecht. Und da kann es vorkommen, dass jemand aufsteht und sagt: Ich sehe das anders. Das ist gut, das ist wichtig. Die Gemeinde ist bei uns keine schweigende, sondern sie kann, darf, ja soll sich beteiligen.
Das ist gar nicht immer so leicht auszuhalten. Manchmal schreiben mir Menschen, jetzt sollte aber jemand mal ein Machtwort sprechen. So viele Meinungen, da muss einmal ein echtes Basta! her. Wahrheit aber klärt sich, indem ich mein Gewissen je neu an der Bibel orientiere. Das war Luthers Grundsatz. Und so steht die Bibel im Mittelpunkt unseres Glaubens, wir bringen sie je neu in einen Dialog mit unserem Kontext und versuchen, Wegweisung für uns zu finden.
Der zweite Aspekt: Glaube fordert Bekenntnis
In der Geschichte der letzten hundert Jahre haben in Deutschland Menschen immer wieder ihr Bekenntnis zum christlichen Glauben. Ich denke beispielsweise an einen Mann im christlichen Widerstand gegen das Hitlerregime: Friedrich Weißler. Er war Bürochef der Bekennenden Kirche. 1936 gibt er einen kritischen Text, der den Antisemitismus, die Unterdrückung der Kirche und die Konzentrationslager benennt, an Freunde aus der internationalen Ökumene weiter. Der Text wird in der New Yorker Herald Tribune abgedruckt. Dem Nazi-Regime passt das gar nicht, will es doch in diesem Jahr mit den Olympischen Spielen in Berlin international glänzen. Weißler wird verhaftet, er erhält wenig Unterstützung seiner Kirche, seine Frau und seine Kinder bleiben ungeschützt, ohne Hilfe zurück. Ganz anders wird es wenig später bei Martin Niemöller sein, der große Solidarität erfährt. Lag es daran, dass seine Familie jüdischer Herkunft war? Spielte das auch in der Bekennenden Kirche eine Rolle? 1937, vor 80 Jahren also, wird Weißler ins Konzentrationslager Sachsenhausen überführt und als „Jude“ von SS-Männern innerhalb weniger Tage zu auf brutalste Weise zu Tode geprügelt. Die Täter erklärten, sie meinten, einen „Juden“ erschlagen zu dürfen. Weißlers Vater war zum Christentum übergetreten…
Wir können aber auch manches Schicksal in der DDR-Zeit in Erinnerung rufen. Konfirmation oder Jugendweihe? Das konnte darüber entscheiden, ob jemand studieren durfte, einen Arbeitsplatz erhielt. Eine schwere Frage, die viele Familien zerrissen hat. Im Westen ließ es sich da wesentlich leichter leben mit dem christlichen Glauben.
Heute gibt es in ganz Deutschland rein rechtlich Freiheit in Sachen Glauben. Aber manchen fällt es trotzdem schwer, sich als Christ bzw. Christin zu outen, weil das fast peinlich erscheint. Hast du das nötig? Wir leben doch in einem Zeitalter, in dem die Naturwissenschaft alles erklären kann. Ein bisschen Spiritualität ja, Gott an sich, okay, vielleicht. Aber konkreter Glauben an Jesus Christus, vielleicht gar Mitglied in der Kirche? Also ich weiß nicht, das ist mir ein bisschen eng, heißt es dann.
Ich bin in diesem Jahr oft gefragt worden: Was würde Martin Luther dazu sagen? Das kann ich oft nicht beantworten! Von Fracking, homosexuellen Lebenspartnerschaften oder Embryonenforschung hatte er keine Ahnung. Aber er wäre schockiert, wie wenig vom Glauben die Rede ist in unserem Land. Wettern würde er wahrscheinlich von dieser Kanzel: „Macht‘s Maul auf! Tretet fest auf!“. Er könnte nicht verstehen, dass wir manchmal so stumm sind, weil für ihn die Lebensfragen doch immer mit dem Glauben zusammenhingen. Luther hat am Ende die Kirchen und die Welt verändert, aber zuallererst ging es ihm um den Glauben. Darum sollten die Menschen doch ringen!
Das gilt umso mehr, als wir in einem Land leben, in dem jeder Mensch in Fragen des Glaubens frei ist. Ja, ich weiß, der um sich greifende neue Antisemitismus stellt diese Glaubensfreiheit manches Mal in Zweifel. Und ja, der Islam ist zum innenpolitischen Kampfthema avanciert, Muslime werden beschimpft. Und es stimmt auch, dass die Frage, wo Christen politisch stehen sollten in der Flüchtlingsfrage, strittig ist. Aber unser Recht und Gesetz garantieren die Freiheit zu glauben, anders zu glauben, nicht zu glauben. Deshalb müssen wir auch für diese Freiheit kämpfen. Und wenn wir an Jesus Christus glauben, dürfen wir das doch nicht verstecken! Christen in Ägypten riskieren ihr Leben, wenn sie einen Gottesdienst besuchen. Hindus in Indien versuchen, Konversion zu einem anderen Glauben unter Strafe zu stellen. In Saudi-Arabien oder dem Iran sind Christen für ihren Glauben mit dem Tode bedroht.
Kurzum: In unserem Land ist ein Bekenntnis zum christlichen Glauben heute keine Heldentat. Umso mehr sollten wir uns ermutigt fühlen, damit nicht hinter dem Berg zu halten, so sehr andere uns auch belächeln oder gar beleidigen mögen dafür. Das gilt gerade auch, wenn beispielsweise Herr Hampel, Bundesvorstandsmitglied der AfD unter dem Gejohle seiner Parteimitglieder zum Austritt aus der Kirche aufruft. Im Grunde macht ein solcher Vorgang klar, dass die Christen heute in Deutschland wissen, wo sie zu stehen haben. Das Volk Gottes hängt für uns eben nicht an Herkunft oder nationaler Identität, sondern es existiert als Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern über nationale Grenzen hinweg. Da ist ein „frei Bekenntnis“ heute gefragt.
Das Reformationsjubiläum hier in Wittenberg war gerade auch deshalb ein Fest, weil wir das erlebt haben in diesem Sommer. Christinnen und Christen aus Tansania und Brasilien, Korea und den Philippinen, aus Mexiko und den USA und aus ganz Europa haben mit uns gefeiert. Sie alle waren begeistert von der Gastfreundschaft der Wittenberger, niemand wurde ausgegrenzt. Damit hat das Jubiläum 2017 einen ganz anderen Akzent gesetzt als die deutsch-national geprägten Jubiläen 1817 oder 1917. Und das ist in einer Zeit, in der rückwärtsgewandte Nationalisten neue Grenzen setzen wollen, ein ganz besonderes, ein sehr klares Signal. Es knüpft an das Erbe der evangelischen Kirchen in der DDR an, die sich für Offenheit, Meinungsfreiheit und Gewaltfreiheit stark gemacht haben.
Und drittens: Die Reformation geht weiter, auch fünfhundert Jahre nach Luthers 95 Thesen.
Ich bin in diesem Jahr auch oft gefragt worden, wo denn die Reformation weitergeht. Was sind denn die Themen heute?
Das eine ist sicher die Weitergabe des Glaubens. Gerade in Ostdeutschland, aber längst auch an vielen Orten in Westdeutschland sind Christen in der Minderheit. Ich finde, wir haben hier im Sommer dafür gute Modelle erprobt. Denken wir an die Abendandacht auf dem Marktplatz. Erst waren es immer nur vier oder fünf, mal zehn Menschen, die teilgenommen haben. Am Ende waren es 250 bis 300. Ein Mann sagte mir, ohne das Lied „Jeder Mensch braucht einen Engel“ mochte er den Tag nicht mehr beschließen. Vielleicht ist das der Weg in die Zukunft: Kleine öffentliche Formen der Spiritualität.
Oder ich denke an die Begegnungsstätten. In der Denk-Bar, bei Maultaschen bei den Württembergern, im Gasthaus Ökumene kamen Menschen bei Essen und Trinken zusammen und haben über Gott und die Welt geredet – das ist niedrigschwellig, vielleicht die Form, in unserer Zeit und Gesellschaft im besten Sinne missionarisch zu sein. Weil, so habe ich gelernt, missionarisch sein bedeutet, so zu leben, dass andere dich fragen, warum du so lebst. Luther kannte ja solche Tischgemeinschaft als Ort des guten Gesprächs. Zu seiner Zeit hat er die Tischreden wohl meist selbst gehalten. Aber es entspricht seiner Theologie, dass alle sich beteiligen können.
Gelernt haben wir bei all den Gesprächen auch: Es geht in einer säkularen und zunehmend multireligiösen Gesellschaft darum, die eigene Wahrheit zu bekennen, ohne anderen abzuerkennen, dass sie ihre Wahrheit gefunden haben. Wir können nur verhindern, dass Kriege geführt werden um religiöse Fragen, wenn wir sagen: Ich habe meine Wahrheit im Glauben gefunden. Jesus ist für mich der Weg zu Gott. Aber ich respektiere, dass andere Menschen eine andere Wahrheit über Gott für sich erkennen oder eben auch ohne Gott leben. Auch das haben wir in Wittenberg erlebt in diesem Sommer. Es gab eine große Bereitschaft zum Respekt voreinander. Ich denke an den Freitag, als wir im nachgebauten House of One morgens eine christliche Andacht, mittags ein muslimisches Freitagsgebet und abends das erste Shabbat Shalom seit 75 Jahren in dieser Stadt gefeiert haben. Das war bewegend. Und ich dachte: Ja, wir können als religiöse Menschen in Frieden miteinander leben. Wittenberg im Reformationssommer 2017, das war ein ökumenisches, internationales Fest der Beteiligung, des interessierten Gesprächs und des respektvollen Umgangs miteinander. Das wird den Menschen im Gedächtnis bleiben, die dabei waren.
Der Streit um die Wahrheit, das Ringen um das rechte Bekenntnis, sie sind auch in unserer Zeit aktuell, das ist sehr klar geworden. Aber das ist ja nicht belastend, sondern für die Kirchen der Reformation Teil des Christseins. Es gibt keine vorgefertigten unhinterfragbaren Antworten der Kirche oder anderer Obrigkeiten, das hat uns Martin Luther gelehrt. Jeder und jede (!) darf nachlesen in der Bibel, mitdenken, sich beteiligen, das ist reformatorisch. Und genau so werden sich unsere Gemeinden auch erneuern, indem sie nicht neue Regeln und Formen von oben erwarten, sondern vor Ort erproben, wie das Wort Gottes lebendig werden kann bei ihnen.
Zuletzt:
Martin Luther hat gesagt „Glaube ist eine lebendige, verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade. Und solche Zuversicht macht fröhlich, mutig und voll Lust zu Gott und allen Geschöpfen.“ Das ist eine großartige Zusammenfassung der Lebenshaltung eines Christenmenschen bis heute, finde ich: Fröhlich, mutig und voll Lust zu Gott und allen Geschöpfen. Wenn wir unsere Kirche und unser Glaubensleben heute reformieren, dann wohl auch dahin, dass das sichtbar wird. Also lasst uns diesen Reformationstag feiern und diese Haltung zeigen. Das wird dann auch andere anstecken: Fröhlich, mutig und voll Lust zu Gott!
Amen.